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Shadowy - Episode 2

Teil 3

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Hallo, hier ist nun der dritte und letzte Teil von „Shadowy Episode 2 - News Of The World“. Noch immer gilt, über ein paar Kommentare würde ich mich freuen.

Dann wird es auch wieder Zeit, dass ich die Leistung der Beta-Leser hervorhebe, die seit Episode 1 auch die Erstkorrektur machen. Durch ihre Anregungen und Hinweise konnte ich viele Ungenauigkeiten und Unstimmigkeiten bereinigen.

Gleichzeitig möchte ich mich an dieser Stelle aber auch bei den wenigen Lesern bedanken, die sich dazu überwinden konnten mir ihre Kritik zu senden. Das Feedback zu Episode 1, hat mich sehr überrascht.

Bei Fragen zu der Geschichte könnt ihr auch auf meiner Homepage www.shadowy.de vorbeischauen.

Also, jetzt viel Spaß mit:

10. - Stormy Monday

They call it stormy Monday, yes but Tuesday's just as bad.
Wednesday's even worse; Thursday's awful sad.
The eagle flies on Friday, Saturday I go out to play.
aus „Stormy Monday“ von Eric Clapton

Campus-Occursus, Montag, 17.12.2035

Die Luft war erfüllt von dem Geruch nach Ozon. Gerade wieder hatte eine gewaltige Entladung meine telekinetische Sperre durchschlagen. Gegen solche Kräfte kamen wir noch immer nicht an. Wenn ich nicht in einem, einen Meter über dem Boden schwebenden, Stahlkäfig stehen würde, dann sähe nicht nur mein neuer Kampfanzug sehr verkohlt aus. Dabei hatte Marc noch immer nicht mit aller „Macht“ zugeschlagen. Er traute den Versicherungen von Scotty nicht so recht, dass mir in dem Käfig überhaupt nichts geschehen konnte. Wobei, wenn ich Scottys bleiches Gesicht sah, dann kamen auch mir Zweifel. Doch so viel von Physik verstand ich dann doch, dass mir innerhalb dieses Faradaykäfigs nichts geschehen konnte, solange Marc es nicht darauf anlegte.

Wahrscheinlich lag da auch der Kern des Problems, das Scotty in Wirklichkeit zu schaffen machte. Wenn Marc wollte, begann er mit der Ladungsverschiebung eben erst innerhalb meines Käfigs, und dann hatte ich wirklich keine Chance. Die Elektronen, die Marc mittels Elektrokinese zu einem Pulk zusammendrängte, konnten ja nicht wissen, dass sie innerhalb eines Faradaykäfigs waren und dies eigentlich nicht sollten.

Die PSI-Kraft „Elektrokinese“ ließ sich von einem Faradaykäfig genauso wenig beirren, wie die Telekinese von der Luft oder der Schwerkraft. Wenn Marc die Elektronen zwang sich zu „versammeln“, dann taten sie es auch. Nur solange die „Zusammenballung“ außerhalb des Käfigs erfolgte, und ich innerhalb des Selben blieb, konnte mir nichts geschehen.

Schließlich hatten sich Toms EMP-Impulse auch nicht an der EMP-Abschirmung der Mark-13 gestört. Das Feld war einfach innerhalb des Roboters entstanden, da nutzte die Abschirmung recht wenig. Es war das Gleiche wie mit einem Panzer. Wenn die Bombe innerhalb des Panzers explodiert, dann nützt die äußere Panzerung nichts.

»Diesmal hast du ca. 60 Prozent der Ladung neutralisiert«, rief mir Marc aufmunternd zu. Doch wenn ich daran dachte, was die restlichen 40 Prozent mit mir gemacht hätten, dann fühlte ich mich nicht sonderlich aufgemuntert. Noch immer musste ich an die Überreste denken, die Danny von einem Anzug gleicher Ausführung übrig gelassen hatte. Und Marc war noch mindestens eine Größenordnung stärker als Danny. Marc war ja auch Mutant 1. Klasse, wobei unsere „drei Musketiere“, Marc, Louis und Dirk, sich bemühten, es nicht mehr so oft herauszustellen.

Missmutig dachte ich daran, dass auch meine von King Roy „geerbte“ Conturbation mir nicht allzu viel brachte. Zwar konnte mich Marc, dank des PSI-Störfeldes nicht mehr so genau anvisieren, doch die „losgelassenen“ Elektronen fanden in über 90 Prozent aller Versuche trotzdem ihren Weg.

Aber auch sonst war ich nicht sonderlich gut gelaunt. Zwar war unser Wochenende mit Louis, Marc und Dirk wirklich schön gewesen, letztlich, im Bezug auf Benny, auch noch sehr informativ, doch nun nervte mich unsere Suspendierung gewaltig.

»»Dafür haben wir nun genügend Zeit um mit den dreien zu üben. Morgen oder spätestens übermorgen bekommen wir dann auch einen zertifizierten Hololehrer. Dann verpassen wir wenigstens nichts in der Schule und Schmitty wird sich noch mehr ärgern««, vernahm ich die vertraute „Stimme“ von Julian, der wie üblich bei mir mitdachte.

»»Wer weiß, was er sich dann Neues ausdenkt, um uns zu ärgern!««, gab ich grollend zu bedenken.

Nun war es Lukas, der sich einschaltete: »Der hat eine offizielle Untersuchung an seinem fetten Ar... Hintern, da wird er sich um uns nur wenig Gedanken machen.«

Seit dem zweiten „Unfall“ von Benny ermittelte die Mordkommission und unser geschätzter Direktor hatte eine Untersuchung wegen Verschleierung an der Backe. Dafür erholte sich Benny nun bei uns, und seinen Pflegevater Takashi hatten wir als Trainer gewinnen können.

Mit einem lauten Knall schlug der nächste Blitz nun in Julians Käfig ein. Auch seine Werte sahen nicht viel besser aus. Wenn wir es wirklich mit einem so starken Elektrokineten wie Marc zu tun bekamen, konnten wir uns nur noch mittels Larualisation retten. Dann machten wir einen auf „Ghost“ und die Blitze konnten uns nicht erreichen. Doch dazu mussten wir natürlich erst wissen, dass unser Gegenüber uns auch elektrisch rösten will.

Nacheinander waren nun Lukas und Tom an der Reihe. Bei ihnen hatten weder Julian noch ich ein Problem ihre „Blitze“ abzuwehren. Auch als sie in den Käfigen standen, war das Ergebnis das gleiche: Marc kam durch, Julian und ich wurden abgewehrt.


Campus-Occursus, Montag, 17.12.2035

Wir saßen gerade beim Mittagessen, als wir das brummende Geräusch eines landenden Flugschraubers hörten. Verwundert sah ich zu Julian: »Will uns Prof. Heller mal wieder für seine Forschung „missbrauchen“ oder hat sich jemand in der Hausnummer geirrt?« Neugierig wie wir nun mal waren, sondierten wir die Umgebung. Lukas hatte den Flugschrauber sofort in der Teleortung, doch auch er konnte uns nur mitteilen, dass zwei Personen ausgestiegen waren. Da der Flugschrauber sofort wieder abhob, wollten die Personen offensichtlich länger bleiben.

»Beide sind abgeschirmt! Einer davon trägt einen Blockadechip«, stellte Julian leise fest.

»Und der andere ist Pascal!«, ergänzte ich.

Dass Pascal uns, genauer Stefan, hier ab und zu besuchte, war alles andere als außergewöhnlich. Doch nur selten kam er mit einem Flugschrauber, und noch seltener, eigentlich noch nie, meldete sich dabei mein „Gefahreninstinkt“. So wie Lukas und Tom mich ansahen, ging es ihnen genauso. Unser „Gefahreninstinkt“, einen anderen Namen hatten wir bisher nicht gefunden, denn echte Präkognition war es nicht, meldete sich hin und wieder. Es war überhaupt eine der wenigen Fähigkeiten, die wir weder verstanden, noch wirklich beherrschten. Dennoch konnten wir uns darauf verlassen, wenn er sich so wie gerade meldete, dann lag auch etwas in der Luft. Manchmal, bei unmittelbarer Gefahr, meldete er sich entsprechend stärker, doch es gab auch Situationen, bei denen er überhaupt nicht angesprochen hatte. Sammy war sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt eine PSI-Fähigkeit war.

Wir hätten also nicht einmal mehr Pascals Nachricht bedurft, um zu wissen, dass da etwas in der Luft lag. Denn der meldete sich, noch bevor er das Gebäude richtig betreten hatte: »»Jungs, bitte kommt zu Stefan ins Büro, es ist dringend!««

»»OK, wir warten dort auf dich!«, gab ich ihm zur Antwort, während ich Louis die Hand reichte. Zusammen mit Julian, Tom, Lukas, Marc und Dirk erschienen wir in der gleichen Sekunde vor Stefans Büro. Wieder einmal war bewiesen, dass die Teleportation die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten war.

Kaum hatte ich den Summer betätigt, da glitten die beiden Türhälften auch schon zur Seite. Der Weg in Stefans „heilige Hallen“, also sein Büro, stand für uns offen. Aus schlechter Erfahrung hatten wir es unseren Teleportern eingeschärft, niemals in Stefans Büro hineinzuteleportieren.

Nico hatte einmal diesen Fehler begangen und war erst 20 Minuten später wieder ansprechbar gewesen. Wer konnte auch damit rechnen, dass Stefan die Raumüberwachung permanent auf Verteidigung eingestellt ließ. Diese hatte Nico mit einem Elektroschock vorübergehend kaltgestellt. Und solche Leute nannten uns „paranoid“, das war doch wirklich…

Es dauerte dann auch nur noch einige Minuten, bevor Arne und Pascal ebenfalls den Raum betraten. Sichtlich überrascht, und auch ein wenig misstrauisch, betrachtete Arne unseren „Nachwuchs“. Zwar war er weitgehend über Marc, Louis und Dirk unterrichtet, doch wie fast alle „Normalos“ konnte er es nicht begreifen, weswegen wir drei ehemaligen „Anhängern“ von „King Roy“ nun plötzlich vertrauten.

Dass die drei nicht freiwillig zu dessen „Spartanern“ gehört hatten, war ihm zwar bekannt, dennoch wollte er nicht so recht begreifen, weshalb wir sie nun bei uns aufnahmen. Es war eben einer der großen Vorteile, den wir als Telepathen hatten. Wir wussten, dass die drei auf „unserer Linie“ lagen, auch wenn es noch Erläuterungsbedarf in gewissen Punkten gab, wie zum Beispiel beim „Mutant erster Klasse“-Problem. Doch diese Punkte waren letztlich nur unschön und nicht wirklich entscheidend.

»Arne! - Wir vertrauen ihnen, also kannst du es auch.«

Ein kurzer Blickwechsel zwischen den „älteren Herrschaften“, dieser Titel war Nicos „Rache“ für den Elektroschock, und Arne nickte zustimmend.

»Was ich euch jetzt sage, darf niemand erfahren! Vor allem nicht Dr. Neckler!«, Arnes Stimme klang sehr ernst und mein Lächeln war wie weggewischt. Wir verdankten Dr. Neckler sehr viel, vielleicht sogar unser Leben. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, was gerade Arne, seinen Sicherheitschef, dazu bewog, ihn hintergehen zu wollen.

»Es ist nicht so wie ihr denkt! Ich fürchte nur, Dr. Neckler macht einen sehr schweren Fehler. Chris ist am Freitag entführt worden!«

Mir war es, als hätte mir jemand einen Tiefschlag versetzt. Chris war der Sohn von Dr. Neckler und er war unser Freund. Wir alle mochten ihn unheimlich gerne und es war einfach nicht zu glauben. »Warum habt ihr nichts gesagt?«, Lukas klang so wütend, wie ich jetzt ebenfalls langsam wurde.

Doch Stefan und Pascal gelang es, uns mit einigem Zureden erstmal zum Schweigen und Zuhören zu bringen. So konnte Arne erklären: »Wie ihr wisst, geht Chris auf ein Sportinternat, da er alle anderen „elitären Bildungseinrichtungen“ verabscheut.

Am Freitag war er mit seinem Kajak, zusammen mit noch einem Mitschüler und dem Trainer, auf dem Fluss. Dann wurde auf die Boote des Trainers und des Mitschülers geschossen. Beide konnten sich gerade noch an das Ufer retten. Doch in dem Trubel, anscheinend wurde auch eine Nebelbombe gezündet, ist Chris mitsamt Kajak verschwunden«, nervös wischte sich Arne den Schweiß aus dem Gesicht.

So verstört hatte ich ihn noch nie erlebt, doch er fuhr fort: »Ihr wisst vielleicht, dass Frau Neckler vor einigen Jahren entführt und ermordet wurde. Damals wurde gefordert, dass niemand hinzugezogen werden durfte, doch Dr. Neckler schaltete die Behörden ein. Damals wie heute wurde Thermonectit gefordert; ihr kennt ja dessen Wirkung. Letztlich war das auch der Grund, weshalb sich die Abwehr eingeschaltet hatte - doch leider zu spät.

Diesmal will Dr. Neckler alles tun, was die Entführer verlangen. Aber ich denke, dass es ein Fehler ist. Erstens dürfen wir auf keinen Fall zulassen, dass Thermonectit in die falschen Hände kommt. Und zweitens bin ich der Überzeugung, dass, wenn ihr uns helft, wir Chris eher lebend zurückbekommen, als wenn wir auf deren Forderungen eingehen.«

Tom brachte es dann wieder für uns alle auf den Punkt: »Was sollen wir tun?«

»Niemand weiß, dass ich hier bin. Auch für Dr. Neckler bin ich offiziell auf Sicherheitsinspektion in Australien, wohin er mich geschickt hat. Ich wurde auf einem Zwischenstopp in Madrid von der Abwehr ausgetauscht. Der persönliche Referent von Dr. Neckler hatte mich zum Glück vorab informiert, so dass ich diesen Austausch arrangieren konnte. Dann erst konnte ich Pascal voll informieren. Die Übergabe soll auf dem Flugdeck des Europolis-Tower um 18 Uhr stattfinden. Wir haben also nur noch vier Stunden Zeit.«, Arne wirkte echt verzweifelt. Nun sah Pascal uns an, zog vier Plastikkarten aus seinem Ledermantel und warf sie nacheinander Tom, Lukas, Julian und mir zu: »Ab jetzt seid ihr aktive Agenten der Europäischen Abwehr, Abteilung 23: „Sonderprojekte“!«

»Du hast vergessen zu sagen: “Hebt die rechte Hand und sagt: Ich schwöre.“«, witzelte Stefan mit spürbar belegter Stimme und sah dabei sehr nachdenklich aus.

Agenten der Abwehr! Wer hätte das gedacht. Damit erhielten wir sehr umfangreiche Vollmachten. Leider wusste ich nicht genau, welche. »»Was denen sicherlich einigen Ärger ersparen wird!««, spottete Lukas mal wieder.

Dann sah Lukas zu Louis: »Mike braucht Eric, gemeinsam sind sie besonders effektiv«, dabei grinste er schon wieder ein wenig boshaft. Nebenbei erfasste ich ein paar Gedankenfetzen von der Zentralstation im Labor-23 und „King Roys“ Abgang. Wenn er das effektiv nannte, dann stand uns noch einiges bevor.

Gerade als Louis los wollte, rief Julian noch: »Und bring dann auch gleich noch Kim mit, ein zweiter Teleporter kann nicht schaden!«


Europolis-Tower, Montag, 17.12.2035

Der Wind pfiff uns um die Nase, und ich kam mir vor, wie in einem besonders schlechten Agentenfilm vergangener Zeiten. Dort standen die Agenten meist hinter irgendwelchen Pfeilern oder anderen Dingen und beobachteten eine Übergabe. Nun, Letzteres taten wir auch, nur dass wir nicht „hinter“, sondern „in“ Pfeilern steckten.

Zusammen mit Eric hatten wir einen Plan ausgetüftelt und mangels Zeit auch sofort umgesetzt. Julian, Eric, Tom, Lukas und ich „parkten“ in den drei Meter hohen Wänden, die, als Windabweiser, die Landeplattformen umgaben. Wir beobachteten das Landefeld 1, das für Notfälle reserviert war und immer freigehalten wurde. Uns allen war noch immer nicht klar, wie die Entführer an den Koffer mit 10 kg Thermonectit herankommen wollten, den Dr. Neckler in der Mitte des Landefelds abstellen musste.

Der ganze Luftraum von Europolis wurde ständig überwacht. Es gab keine Möglichkeit, dass jemand schnell landen und sich den Koffer schnappen konnte. Dennoch hatten die Entführer es genau so verlangt. Wir waren jedenfalls bereit, notfalls sofort einzugreifen. Als Reserve blieben uns noch Louis und Kim, die beiden Teleporter, die uns auch hierher gebracht hatten. Eigentlich konnte niemand von unserer Anwesenheit wissen, es sei denn, er wäre Mutant. Und einen solchen hätten wir sicherlich bemerkt.

Es war inzwischen schon dunkel, doch im kreisenden roten Licht der Antikollisionslichter konnte ich die Gestalt von Dr. Neckler erkennen. Er trat aus dem Fahrstuhl und ging mit festem Schritt auf die Plattform zu. Nebenan auf Nummer 2 landete gleichzeitig ein großes Hubschrauber-Taxi. Mehrere Passagiere stiegen aus, dann hob es sofort wieder ab, um die Plattform frei zu machen.

Dr. Neckler hatte unterdessen das Zentrum von Plattform Nummer 1 erreicht, stellte den Metallkoffer ab, drehte sich noch einmal herum und ging dann den gleichen Weg zurück. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie viel Überwindung es ihm gekostet haben musste, das zu tun. 10 kg Thermonectit entsprachen in der Wirkung durchaus einer Nuklearbombe. Doch ich kam nicht dazu, mir darüber weitere Gedanken zu machen. Der letzte Passagier des Hubschrauber-Taxis war nicht, wie die anderen, in der Tiefe des Towers verschwunden. Er hatte seinen Mantel abgelegt und einen Air-Skooter angeschnallt, mit dem er nun in Richtung des Koffers brauste.

Dieser Air-Skooter war eigentlich ein Sportgerät für Lebensmüde. In den ersten Jahren war die Begeisterung für diese Rucksack-Hubschrauber sehr groß gewesen. Locker hatte man mit ihnen bis zu 200 Meter hoch steigen und eine Strecke von 150 Kilometern zurücklegen können. Auch das Militär hatte sie oft eingesetzt. Doch dann häuften sich die tödlichen Unfälle. Heutzutage gab es nur noch wenige, die sich getrauten so ein Ding umzuschnallen. Und mit Erstaunen erinnerte ich mich daran, dass wir uns in einer Höhe von 420 Metern befanden.

Auch wenn der Typ, der da flog, möglicherweise lebensmüde war, seinen Skooter beherrschte er perfekt. Zielsicher flog er den Koffer an, griff ihn sich mit der rechten Hand und nutzte den entstandenen Ruck um sich eine neue Richtung zu geben. Mit stetiger Beschleunigung raste er nun auf die Brüstung der Landeplattform und somit genau auf Lukas zu.

Wir anderen hasteten ihm, noch immer in der Mauer bleibend, hinterher. Es bestand bei diesen Lichtverhältnissen zwar kaum die Gefahr, dass uns jemand als fahle Geistererscheinungen, die wir nun mal waren, sehen konnte, doch wir wollten nichts riskieren. Unser „Mann“ stürzte sich nun über die Brüstung in die unberechenbaren Aufwinde, die hier oben herrschten. Uns blieb keine Wahl, wir mussten ihm folgen. Als „Ghost“ hatten wir jedoch den Vorteil, dass wir fliegen konnten und der Wind uns nicht störte.

Der Unbekannte stürzte mit irrsinniger Geschwindigkeit in die Tiefe und wurde dabei ständig von heftigen Böen erfasst und aus seinem Kurs gerissen. Doch nun konnten wir sein Ziel ausmachen! In dreihundert Meter Höhe passierte gerade ein kleiner Lufttransporter den Tower. Entgegen allen Vorschriften war dessen Gepäckluke weit geöffnet. Lukas, der sowieso am nächsten war, war auch unser schnellster und bester „Geisterflieger“, da er die Larualisation schon im Labor erhalten und entsprechend lange damit geübt hatte. So entschlossen wir uns, dass er sich alleine in den Lufttransporter begeben sollte. Zur Sicherheit wählte er die Fahrwerksgondel als neue „Unterkunft“ aus.

Kaum hatten wir dies beruhigend zur Kenntnis genommen, Julian informierte gerade Kim und Pascal, damit unser Weitertransport auch sichergestellt war, als das Unfassbare geschah. Unser „Mann“ erreichte gerade die offene Luke und schaltete seinen Skooter aus. Doch damit wurde der kleine Lufttransporter anscheinend sehr hecklastig, er sackte mehrere Meter ab bevor die Automatik reagieren konnte. An sich wäre so etwas kein Problem gewesen, wenn nicht gerade in diesem Moment ein von rechts kommendes Lufttaxi unter dem Transporter hindurch gewollt hätte. Eine Kollision der beiden Fahrzeuge war nicht mehr zu vermeiden. Die Automatiken taten nun ihr möglichstes, um den Schaden so gering wie möglich zu halten.

Die Kabine des Lufttaxis wurde nach unten ausgestoßen und sank an Fallschirmen zu Boden. Das, nun von seiner Hauptlast befreite, Lufttaxi machte folglich einen kleinen Satz nach oben, rammte aber dennoch die Rotorblätter des Transporters. Der somit jeden Auftriebs beraubte Lufttransporter war nun auch für die Automatik nicht mehr zu kontrollieren. Taumelnd stürzte er in die Tiefe. Erst wenige Sekunden vor dem Aufprall wurden noch die Bremsraketen ausgelöst. Dennoch war es mehr ein Aufschlagen als eine Bruchlandung.

»»LUKAS!««, Toms verzweifelter Schrei schien mir das Herz aus der Brust zu reißen. Die Fahrwerksgondel, die Lukas sich als Unterkunft ausgesucht hatte, war beim Aufprall abgerissen und gegen den Pfeiler der Hochbahn geschleudert worden. An diesem war sie dann herabgerutscht und lag nun völlig deformiert am Boden.

Doch wenige Sekunden später war klar, auch in der Gondel war Lukas in „Phase“ geblieben. Alleine schon damit sein Gewicht nicht auffiel. Lukas war somit der Einzige an Bord, der diesen Unfall unbeschadet überlebt hatte. Der Air-Skooter-Mann war noch während des Absturzes aus dem Transporter geschleudert worden. Dabei wurde sein Skooter so schwer beschädigt, dass er nicht mehr funktionstüchtig war - ihm konnte niemand mehr helfen.

Einer der Piloten war ebenfalls tot. „Pilot Nummer 2“ und ein Passagier wurden schwer verletzt und es war eher unwahrscheinlich, dass sie lange überleben würden. Wir selbst hatten keine Möglichkeit einzugreifen oder unser Reiki einzusetzen. Noch während des Absturzes waren die Rettungskräfte alarmiert worden und entsprechend schnell vor Ort gewesen.

Bedrückt kehrten wir zum „Campus-Occursus“ zurück. Der ganze Einsatz war ein Fehlschlag gewesen und über den Verbleib von Chris hatten wir nichts, aber auch überhaupt nichts erfahren. Vielleicht hatte Sammy wirklich Recht und wir waren etwas überheblich geworden. Vertrauend auf unserer Fähigkeiten hatten wir gedacht, dass wir die „Sache“ relativ einfach lösen könnten.


Nun saßen wir schon zwei Stunden grübelnd und meist schweigend in Stefans Büro. Was würden die Entführer nun tun? Gab es überhaupt mehr als diese vier? Wo waren sie? Schon in den 19-Uhr- und dann noch ausführlicher in den 20-Uhr-Nachrichten wurde über den Unfall berichtet. Niemand konnte sich erklären, weswegen der Lufttransporter plötzlich abgesackt war und wieso einer der Passagiere aus dem Frachtraum herausgeschleudert werden konnte. Die Tatsache, dass er dabei einen Air-Skooter getragen hatte, wurde genauso wenig erwähnt, wie die Frage gestellt wurde, warum anstatt nur eines Piloten insgesamt vier Personen an Bord gewesen waren.

»Pascal! Wir brauchen ca. 10 Minuten im Krankenhaus, egal wie!«

Ich konnte es nicht leiden, wenn Eric so kalt sprach. Doch er hatte Recht. Wir mussten erfahren, was diese Leute gewusst hatten. Anders konnten wir Chris nicht helfen, das hatten wir schon längst ausprobiert.

Schon bevor wir zum Europolis-Tower aufgebrochen waren, hatten wir Frank und Robin informiert. Mit den Hoods standen uns einige, wenn auch nicht so gute, Telepathen zur Seite. Frank und alle „unsere“ Telepathen, sogar einige Freelancer, suchten nach der Signatur von Chris. Wir kannten seine Signatur und waren sicher, dass er seinen Blockadechip abgeschaltet hatte, als er entführt wurde.

Er rechnete sicherlich damit, dass sein Vater uns einschalten würde. Doch bislang konnten wir keine Spur von ihm finden. Nico, Kim und Louis hatten einige der Telepathen nach Europolis gebracht, wo sie, mit dem öffentlichen Verkehrssystem, die ganze Stadt durchquerten. Bislang jedoch ohne Erfolg, Chris war einfach nicht zu finden.

Da die beiden Überlebenden ebenfalls Blockadechips trugen, musste Tom in ihre Nähe kommen, um diese mit einem EMP-Impuls zu zerstören. Eine „Felix-Methode“ konnten wir nicht riskieren. Ich hatte zwar, als ich am Freitag mit aller „Macht“ nach seinem Verstand griff, seinen Blockadechip umgangen, doch dafür hatte er nun den Intellekt eines Stück Toastbrots.

Nicht dass der Unterschied dramatisch wäre, auch zuvor war bei ihm nicht viel los gewesen. Doch nun konnte man wirklich keinerlei Informationen aus ihm herausbekommen - „Tabula rasa“ sozusagen. Aber seltsamerweise berührte es mich auch nicht sonderlich. Er hatte versucht Benny umzubringen, oder dessen Tod in jedem Fall in Kauf genommen. Nun dämmerte er in einer geschlossenen Anstalt vor sich hin und reagierte auf keinerlei äußere Reize.

Doch dieses Risiko konnten wir hier, bei den beiden Entführern, einfach nicht eingehen. Selbst, wenn sich einer von uns dazu überwunden hätte, derart massiv vorzugehen. Denn wenn die Informationen, die in den Gehirnen der beiden gespeichert waren, verloren gingen, konnte es sein, dass wir Chris nie wieder fanden. So war es dann auch weniger die Angst, dass wir sie dabei schädigen könnten, die uns davor zurückhielt, uns ging es nur um Chris.


„Albert-Schweitzer-Hospital“, Montag, 17.12.2035

Unsere Schritte erschienen mir unnatürlich laut, beängstigend laut für diese Uhrzeit und an diesem Ort. Vor zehn Minuten hatten wir endlich das „Albert-Schweitzer-Hospital“ betreten und irrten nun durch die Gänge. Noch immer versuchte uns Dr. Jelena Krakov davon zu überzeugen, dass das, was wir zu tun beabsichtigten, völlig unmöglich sei. Sie wusste, dass sie uns nicht wirklich aufhalten konnte, deshalb appellierte sie zuerst an unsere Vernunft, dann an unser Gewissen und nun an unsere Menschlichkeit. Doch auch dieser Appell würde, wie die anderen zuvor, ins Leere laufen. Erst recht, da wir wussten, dass wir uns beeilen mussten.

Vor 35 Minuten war bei der Durchsuchung des Wracks ein ominöser Koffer mit höchst brisantem Inhalt entdeckt worden. Eine halbe Stunde danach ermittelte nicht mehr das Amt für zivile Luftfahrt, sondern der republikanische Staatsschutz. Es war nur noch eine Frage von Minuten, höchstens einer Stunde, bis sie hier erscheinen würden. Und die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Abwehr und Staatsschutz waren legendär, selbst unter den Uneingeweihten.

Aber auch aus Dr. Krakovs Sicht war die Situation verzweifelt. Ein ganzes Team von Ärzten hatte um das Leben der beiden Verletzten gekämpft und bis jetzt gesiegt. Nun kamen plötzlich vier Leute von der Abwehr, wedelten mit ihren Dienstausweisen und verlangten Zutritt zu den Patienten. Zu ihrem Verdruss schienen sie sich auch noch in ihrem Krankenhaus bestens auszukennen. Denn jeder Versuch uns in die Irre zu führen, wurde von Pascal mit einem ironischen Lächeln negiert.

Ihr Verdruss wurde noch größer, als wir „ihre“ Station erreichten und sie feststellen musste, dass sie schon längst von vier weiteren vermummten Abwehr-Leuten „eingenommen“ war. Tom, Lukas, Louis und Kim waren per Teleportation in das Treppenhaus gelangt. Sie hatten die Station, kurz nach unserer Ankunft an der Pforte, direkt betreten. Denn wenigstens Pascals Eintreffen musste offiziell registriert und entsprechend protokolliert werden. Alles andere wäre doch zu auffällig gewesen.

Vermummt deswegen, weil sie auch, wie Julian und ich, die vorgeschriebenen schwarzen Kapuzenmasken trugen. Alle aktiven Agenten der Abwehr trugen diese Masken, die ihre Anonymität sicherten. Uns konnte diese Vorschrift nur recht sein, denn je weniger Personen uns kannten, desto besser. Nur Eric und Pascal liefen „oben ohne“ herum, da sie offiziell unsere Chefs waren.

Lukas und Kim bezogen Posten vor der Tür und verwehrten jedem mit grimmigen Blicken den Zugang. Während sich Pascal von der energischen Dr. Jelena Krakov in eine Diskussion verwickeln ließ, nutzten Julian, Tom, Louis, Eric und ich diese Gelegenheit, um in das Zimmer zu schlüpfen.

Gedämpftes Licht erfüllte den Raum, der nur zwei röhrenförmige Überlebensstationen beherbergte. In jeder lag einer der Verletzten und wurde von allerlei Gerätschaften am Leben gehalten. An dem Zentraldisplay der Stationen wurden alle möglichen Daten angezeigt. Die beiden Patienten selbst sahen noch übler aus, als wir befürchtet hatten. Zwischen all den Schläuchen, Kabeln, Masken und Abdeckungen war nur wenig Haut zu erkennen.

»»Tom! Ein EMP auf den Blockadechip««, mir schien es, als hätten wir schon viel zu viel Zeit verschwendet.

Eric baute sich genau vor der Tür auf. Wer auch immer an Lukas und Kim vorbei kam, der hatte es dann mit ihm und seiner Viper zu tun. Louis hielt sich etwas im Hintergrund, im Moment konnte er uns nicht helfen. Julian und ich bildeten sogleich einen Block und begannen vorsichtig das Gehirn des bewusstlosen „Pilot Nummer 2“ zu sondieren. Tom hielt derweil dessen Hand und ließ Reiki-Energie in ihn strömen, um ihn zu stabilisieren. Vorsichtig tasteten wir uns zu seinen Erinnerungen vor, bis wir auf das Gesicht unseres Air-Skooter Piloten stießen, den man inzwischen identifiziert hatte. Er war ein ehemaligen Unteroffizier der 3. Luftlandedivision gewesen, aber wegen zwielichtiger Geschäfte aus dem Militär entlassen worden. Doch auf Erinnerungen, die Chris direkt betrafen, stießen wir nicht.

Verzweifelt sendete ich ihm ein Bild von Chris, um zu sehen, welche Emotionen dies bei ihm auslöste. Doch auch hierbei blieb er vollkommen neutral und ruhig. Jetzt waren wir uns sicher, dass er Chris selbst nie gesehen hatte.

Wir ließen von ihm ab und Tom zerstörte auch bei Passagier X, über den wir überhaupt nichts wussten, den Blockadechip. Bei dem schien auch gleich wesentlich mehr los zu sein. Sofort fühlten wir eine Flut von Emotionen. Hass, Panik, Wut, Verzweiflung und Schmerz schienen sein ganzes Denken völlig auszufüllen. Letztere hörten sofort auf, als Tom nun bei ihm sein Reiki wirken ließ. Wieder sondierten wir vorsichtig die Erinnerungen. Da uns nun die Zeit davon lief, sendete ich ihm gleich das Bild von Chris und knackte offenbar den Jackpot.

Wir sahen ein Bild von Chris, wie er an eine Wand gekettet auf dem Boden saß. Sofort sondierten wir in dieser Richtung weiter und die Bilder wurden deutlicher. Chris machte einen müden und abgekämpften Eindruck, aber verletzt schien er nicht zu sein. Dann sahen wir den Air-Skooter-Typen und einen Unbekannten, wie sie den Raum verließen und eine schmale Treppe hinaufstiegen. Sie mussten in einem Keller gewesen sein, denn jetzt befanden sie sich im Erdgeschoss.

Sie verabschiedeten sich voneinander und der Unbekannte blieb zurück. Jetzt änderte sich das Bild! Unser Passagier X und der Air-Scooter-Typ fuhren durch eine absolut heruntergekommene, tief eingeschneite Gegend, die wir nicht kannten. Offensichtlich war es weder Europolis noch eine Sektorstadt. Denn für Europolis waren die Gebäude viel zu alt und gegen eine Sektorstadt sprach der individuelle Baustil. Auch würde in den bewohnten Städten der Schnee nicht so hoch in den Straßen liegen.

»»Sie fahren nach Süden, die Sonne steht im Westen. Also liegt diese Stadt im Norden.«« Im Prinzip richtig! Doch zuletzt waren sie mit einem Lufttransporter unterwegs gewesen, in dieser Erinnerung fuhren sie aber gerade in einem Bodenfahrzeug.

Natürlich war das auch Julian klar, doch wir hofften eben - und jede Information konnte wichtig sein. Wir verstärkten unsere Bemühungen, ließen den »Erinnerungsfilm« schneller laufen und sahen wenig später einen Landeplatz. Doch nicht der besagten Lufttransporter, sondern eine Sportmaschine war dort abgestellt. In ihr wartete schon der „Pilot Nummer 1“, der später im Transporter umgekommen war.

Unser „Patient“ stöhnte auf und Tom fluchte leise. Julian trat zu ihm und ließ jetzt auch seine Reiki-Energie fließen. Gleichzeitig sondierten wir weiter, doch der „Film“ lief jetzt unruhig und wir brauchten einige Sekunden, bis die Erinnerungen wieder klarer wurden.

Die Maschine war gestartet und flog tatsächlich weiter nach Süden. Wir sahen die Silhouette einer kleinen Ruinenstadt, die nun unter „uns“ hinweg zog. Nur wenige der Gebäude schienen noch einigermaßen intakt zu sein. Die meisten waren eingestürzt, überwuchert und nun unter dem Schnee begraben.

Wir mussten lange warten, bis dieser Idiot endlich einmal auf den Luftraum-Monitor sah. Darauf wurden der Startpunkt, das Ziel und der bisherige Kurs angezeigt. Das Ziel war ganz eindeutig nahe bei Europolis und der Startpunkt lag nord-westlich davon in einer Entfernung von ungefähr 300 Kilometern.

Doch dann wurden die Bilder, die uns unser Passagier X lieferte, immer verwirrender. Plötzlich sah ich Chris angekettet im Wasser stehen, das Wasser reichte ihm schon bis zum Becken. Uhren tauchten auf, viele Uhren, alte, neue und eine Sanduhr.

Die Sanduhr wurde immer größer und dann sah ich wieder Chris. Er war am Boden der Sanduhr an einen Pfahl gekettet. Immer wenn der Sand in das untere Glas ran, wurde er zu Wasser und wieder stand Chris bis zum Becken im Wasser.

In immer schnelleren Folgen kamen die Bilder, eine jede Bildfolge verwirrender als die andere. Vorsichtig zogen wir uns zurück, als wir merkten, wie schwach der Typ wurde und wie nutzlos die Bilder waren, die er nun lieferte. Tom und Julian hatten ihre Bemühungen intensiviert, dennoch war uns klar, dass unser Passagier X es nicht viel länger machen würde. Doch ich hoffte, dass wir genug erfahren hatten, um Chris zu retten.

»»Tom, du, Lukas und Kim bleiben hier. Du musst notfalls versuchen, noch weitere Informationen aus ihm herauszuholen. Falls wir euch vor Ort brauchen, kommt ihr mit Kim nach. Wir fliegen sofort mit Arne los. Es muss einfach reichen!«« Sicher war ich mir allerdings nicht. Wir suchten sozusagen die Nadel im Heuhaufen.


Evakuierungsgebiet, nördlich von Europolis, Montag, 17.12.2035

Wir flogen mit Höchstgeschwindigkeit durch die Nacht. Die Uhren, die ich zuletzt so deutlich gesehen hatte, gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatten eine tiefere Bedeutung, etwas würde mit Chris geschehen. Mit meinen Befürchtungen hatte ich Arne angesteckt. Deshalb hatte er von der Luftraumüberwachung höchste Priorität angefordert - und erhalten. Nun konnten wir sogar nahe der Stadt mit Höchstgeschwindigkeit fliegen. Das war aber nur möglich, da wir in einer Maschine der Abwehr saßen, selbst NeckTech hätte sonst keine Chance gehabt.

Pascal war im Krankenhaus geblieben, weil inzwischen die „Grauen“ vom Staatsschutz eingetroffen waren und Zugang zu den beiden Verletzten verlangten. Das wiederum brachte Dr. Krakov an den Rand eines Nervenzusammenbruchs.

Louis hatte vorgeschlagen uns zu teleportieren, doch da wir das Ziel nicht wirklich kannten, wäre es für ihn auch nur ein kräftezehrendes Herumspringen gewesen. Mit dem Flugschrauber hofften wir, den Kurs, den die Entführer geflogen waren, schneller und sicherer verfolgen zu können. Hätten wir die Kennung der Sportmaschine gehabt, so wäre es ein leichtes gewesen, die genauen Daten von der Flugsicherung zu bekommen.

Doch wir hatten nur die Daten des Lufttransporters, mit dem sie letztlich abgestürzt waren. Der Lufttransporter war eine Springerroute geflogen und hatte in den zwei Stunden vor seinem Absturz sechs Giga-Tower angeflogen. Es war einfach nicht möglich herauszufinden, wo unsere Entführer an Bord gekommen waren. Denn offiziell war nur unser unwissender „Pilot Nummer 2“ an Bord gewesen.

»Wir nähern uns jetzt einem Evakuierungsgebiet. Überprüft mal den Luftraum-Monitor! Kommt euch das bekannt vor?«, Arnes nervöse Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Sofort beugten Julian und ich uns vor und betrachteten den Monitor.

»Die Richtung scheint zu stimmen. Kannst du etwas tiefer gehen?«, murmelte Julian.

»Nicht bei dieser Geschwindigkeit.«

Ohne weiter nachzudenken griff ich Julians Hand und wir gingen zur Teleortung über. Hätten wir die drei doch nur schon zu Telepathen gemacht. Dirk wäre das Aufspüren des Landeplatzes sicherlich viel leichter gefallen. OK, gemeinsam waren wir auch nicht schlecht, es kostete uns nur einiges mehr an Konzentration.

Ein Warnsummer, begleitet von der Stimme der Bord-KI, teilte uns nun mit, dass wir in das Evakuierungsgebiet eingeflogen waren. Doch dazu benötigten wir nicht die Warnung einer „Künstlichen Intelligenz“. Etwa 80 Kilometer weiter befand sich ein „Hotspot“, eine jener unbekannten Strahlenquellen, wegen derer die „Große Evakuierung“ 2012 durchgeführt wurde.

Im Jahr 2007 entdeckten Wissenschaftler in einigen Gebieten Europas, aber auch in anderen Teilen der Welt, eine punktuelle Veränderung im Erdmagnetfeld. Insgesamt gab es über 86 „Hotspots“, wovon alleine 62 in Europa lagen. Von diesen 62 konzentrierten sich 28 auf Mitteleuropa: Holland, Deutschland, Frankreich, Belgien...

Es dauerte dann bis 2010, bis die Wissenschaftler feststellten, dass diese Veränderung nur eine Begleiterscheinung einer bis dahin unbekannten Strahlung war, die anscheinend das Erbgut von Menschen beeinflusst. Ebenso erstaunlich war jedoch die Entdeckung, dass diese Magnetfeldänderungen einem 20.000-Jahre-Zyklus unterlagen.

War schon der signifikante Anstieg von Totgeburten besorgniserregend, so wuchs die Unruhe noch mehr, als auch die Anzahl der Mutationen, anfangs hauptsächlich negative, drastisch zunahm. Aber so waren eben die Menschen. Über ein totgeborenes Kind trauerten meist nur die Eltern. Wenn jedoch überall „Monster“ auftauchen, dann wird die Bevölkerung wirklich unruhig. Zugegeben, die ersten Negativ Mutanten sahen wirklich schlimm aus, aber sie wurden meist nicht einmal 10 Jahre alt. Dennoch blieb der Zentralregierung Europas keine andere Wahl, als eine Evakuierung der betroffenen Gebiete zu veranlassen. Dies war auch deshalb nötig, weil die Strahlungswerte noch weiter anstiegen.

Das größte Evakuierungsprojekt in der europäischen Geschichte begann dann im Juni 2012 und dauerte bis März 2018. Über 26 Millionen Menschen mussten umgesiedelt werden. Dazu war es natürlich notwendig, entsprechende Wohnungen zu schaffen. Auch das komplette Verkehrssystem musste den neuen Anforderungen angepasst werden.

In der Anfangszeit entstanden in der Nähe von sicheren Städten ganze Trabantensiedlungen - die Sektorstädte. Oberstes Ziel war es, zuerst die Jungen und Jüngsten zu evakuieren, um diese vor Langzeitschäden zu bewahren. Später entstanden dann auch völlig neue Städte wie Europolis und die „Giga-Tower“ mit über 600 Metern Höhe. Diese boten Wohn-, Freizeit- und Arbeitsplätze für mehr als 30.000 Menschen.

Vor uns tauchten nun mehrere verlassene Siedlungen und kleinere Städte auf. Sie alle lagen nicht direkt im Einflussbereich des „Hotspots“. Doch da diese dazu neigten, hin und wieder zu pulsieren und sich kurzfristig auszudehnen, waren auch diese Siedlungen evakuiert worden.

In den vergangenen 17 Jahren hatte die Natur sich zurückgeholt, was der Mensch ihr in den Jahrhunderten zuvor weggenommen hatte. Die meisten der Gebäude in den Städten waren eingestürzt oder gesprengt worden. Letzteres während der „Säuberungen“ nach den „Novemberunruhen“, als sich die Aufständischen in die Randzonen des Evakuierungsgebiets zurückgezogen hatten.

Julian drückte meine Hand, und auch ich hatte nun den Landeplatz ausgemacht. Gleich darauf ging Arne in den Tiefflug über und schaltete die Rotoren auf Flüsterbetrieb um. Mindestens einer der Entführer hielt sich, nach unseren Informationen, noch in der Nähe auf.

Weiterhin im Tiefflug folgten wir den Spuren, die der Raupenschlepper in dem Schnee hinterlassen hatten. Julian hatte ihn unter einer Tarnfolie ausgemacht, doch das Fahrzeug interessierte uns nicht weiter. Für uns waren nur seine Spuren wichtig, und die führten tatsächlich nach Norden, also in Richtung „Hotspot“. Auf dem Nahbereichsorter erschienen nun in einer Entfernung von zwei Kilometern die ersten Gebäude der nächsten verlassenen Siedlung.

»Arne, lande hier irgendwo! Von hier aus bringt uns Louis unauffälliger weiter. Es kann nicht mehr weit sein.«

Arne sah mich erschreckt an: »Könnt ihr Chris noch immer nicht erfassen?«

Nein, das konnten wir nicht. Aber wir konnten nicht nur Chris nicht erfassen, wir konnten überhaupt niemand erfassen - auch die Teleortung war gestört! Doch wie sollte ich das Arne erklären, ohne dass er sich noch mehr Sorgen machte?

»Es ist vermutlich der „Hotspot“. Etwas stört unsere Fähigkeiten!«, Julian sagte es möglichst ruhig, doch als er Arnes Gesicht sah, ergänzte er sogleich: »Nicht wirklich dramatisch, doch es ist ein sehr starkes Rauschen, wir müssen einfach näher heran.«

Arne nickte nachdenklich, es blieb ihm nichts anderes übrig, als uns zu vertrauen. Doch auch für uns war diese Situation nicht so einfach. Wir hatten uns daran gewöhnt, dass wir mittels unserer Fähigkeiten überall weiter kamen. Aber was sollten wir tun, wir mussten weiter machen.

Mit dem ersten Sprung brachte Louis uns auf eine kleine Anhöhe, 500 Meter vor dem ersten Gebäude der nahen Siedlung. Eric untersuchte systematisch die einzelnen Gebäude und Ruinen. Außer der Fahrspur war kein Lebenszeichen auszumachen. Auch telepathisch konnten wir außer einem starken Rauschen nichts aufnehmen. Nur Eric, Louis und Julian konnte ich noch klar empfangen, selbst Arne war nicht mehr richtig zu orten.

»Verdammte Gegend! Was haben die sich nur dabei gedacht, sich ausgerechnet hier ihr Versteck zu suchen«, grummelte Eric. Obwohl er kein sonderlich starker Telepath war, ärgerte es ihn, dass er auf seine „neue“ Fähigkeit verzichten musste.

»Dort drüben ist ein Gebäude mit flachem Dach, es scheint stabil zu sein. Von da sehen wir weiter«, dabei zeigte Julian auf ein entsprechendes Gebäude 800 Meter von unserem jetzigen Standort entfernt.

Wieder gaben wir uns die Hand und Louis brachte uns zu dem bezeichneten Gebäude. Vom Rand des Daches spähte Eric auf die Straße. Julian und ich schlossen uns zu einem Block zusammen und - endlich Kontakt! Wir spürten die schwache Ausstrahlung von Chris! Noch immer wurde er von dem Rauschen stark überlappt, dennoch konnten wir ihn spüren.

»Die Spur endet vor dem Gebäude dort drüben. Sieht aus wie eine historische Mühle, oder für was war dieses Wasserrad?«, flüsterte Eric, nun automatisch um Ruhe bemüht.

»Keine Ahnung. Könnte auch eine Schmiede oder ein Sägewerk gewesen sein. Jedenfalls ist der Fluss gefroren«, gab ich genauso leise zurück. Wäre Louis nicht gewesen, hätten wir uns telepathisch unterhalten. Dabei fiel mir dann auch wieder der Wasserfall ein. Hatte der Typ dabei an das Wasserrad gedacht?

»Könnt ihr den anderen Typen ausmachen?«, wollten nun Louis wissen.

Julian und ich verstärkten unsere Bemühungen, jedoch außer den schwachen Impulsen von Chris und einer seltsam verwischten Ausstrahlung konnten wir nichts wahrnehmen. »Julian und ich gehen rein! Eric, du bleibst hier und beobachtest die Straße. Louis, falls notwendig verteile die Thermaldetonatoren im Umkreis und sorge für Ablenkung.«

Eric sah uns zweifelnd an: »Wollt ihr nicht noch Tom und Lukas rufen?«

»Hat Julian schon, aber die haben im Moment Probleme mit den Typen vom Staatsschutz. Kim kann sie nicht einfach aus dem Zimmer teleportieren und noch länger warten will ich nicht.«

Ich weiß nicht warum, vielleicht lag es daran, wie schwach die Impulse von Chris herüber kamen, aber ich spürte, dass es allerhöchste Zeit wurde. Seit dem Absturz des Transporters waren nun vier Stunden vergangen. Wer weiß, was der letzte Entführer nun vorhatte.

Julian und ich gingen in „Phase“ und schwebten zur Straße hinab. Im fahlen Mondlicht, am Samstag war Vollmond gewesen, waren wir gegen das Strahlen des Schnees kaum zusehen. Schnell überwanden wir die letzten Meter bis zu der „Mühle“. Ein kurzer Blick zurück, auch Eric und Louis waren auf dem Dach nicht zu erkennen. Nach allem Menschenmöglichen war unser Kommen nicht bemerkt worden.

Gemeinsam durchdrangen Julian und ich die Mauer - und sahen direkt in den aufgerissenen Rachen einer Bestie.


Das Monster war ein großer, um nicht zu sagen sehr großer Hund. Nur kannte ich keinen Hund mit einer Schulterhöhe von 1 Meter 60. Dieser Hund war aber mindestens so groß, denn um ihm in die Augen zu sehen, musste ich aufschauen. Seine Augen funkelten bösartig, und es hätte nicht des Fletschens mit den Zähnen bedurft, um uns verstehen zu lassen, dass wir hier unerwünscht waren.

Mit einem wilden Satz überbrückte der „Kleine“ die letzten zwei Meter und wollte uns zerfleischen. Doch da wir noch immer in Phase waren, reichte es aus, dass Julian seinen Sprung telekinetisch etwas beschleunigte. Donnernd krachte das Vieh gegen die Bruchsteinmauer hinter uns und brach bewusstlos zusammen. So sah also ein mutierter Hund aus - auch eine Begleiterscheinung des nahen „Hotspots“.

Doch spätestens jetzt müsste jeder wissen, dass hier etwas vor sich ging. Weiter sondierend hasteten wir durch das Gebäude, das eine Art Museum gewesen sein musste. Endlich fanden wir die Treppe - doch wir stiegen in die Wand und ließen uns so in das Kellergewölbe sinken.

Der Kellerraum war hoch, ungefähr vier Meter, und hatte ein Tonnengewölbe. An einer Wand rechts von der Treppe war Chris noch immer fest gekettet. Doch er saß längst nicht mehr am Boden, sondern stand bis zur Brust im eiskalten Wasser. Vermutlich wäre er längst erfroren, wenn er nicht immer noch seinen Neopren-Anzug von dem Kajak-Training angehabt hätte. Völlig entkräftet und dennoch trotzig sah er in das Gesicht seines Gegenübers.

Ein ungefähr 35-jähriger, 1 Meter 84 großer Typ saß auf einem Fass an der Wand und beobachtete lauernd die Treppe. In seiner rechten Hand hielt er eine MikroRak und in der linken einen seltsamen Stift, auf dessen oberes Ende er seinen Daumen drückte.

»»Der Kerl ist auch psionisch taub! Und das in seiner Hand sieht aus wie ein Funkzünder««, vernahm ich Julians Stimme.

»»Das Wasser steigt weiter! Sieht so aus, als wolle er zusehen, wie Chris ertrinkt««, Wut auf den Unbekannten stieg in mir auf.

In der Wand zur Fluss-Seite hatten die Entführer ein großes Loch gebohrt. Durch dieses ergoss sich ein steter Strom des eiskalten Wassers. Noch hatte uns keiner der beiden bemerkt. Trotz der verzweifelten Lage von Chris wollte ich mir erst noch einen Überblick verschaffen.

Noch immer steckten wir in der Wand und beobachteten die Umgebung. Von Eric erfuhren wir, dass sich draußen nichts rührte. Auch nach nochmaligem genauerem Abtasten entdeckten wir nichts Neues. Der Unbekannte saß relativ ruhig auf seinem Fass und warf Chris nun höhnische Blicke zu. Der war jetzt wieder etwas zusammengesunken.

»Ha, das Mistvieh ist jetzt wohl völlig durchgedreht«, grunzte der Unbekannte.

»Hast wohl gehofft, dein Daddy würde dir doch noch zur Hilfe kommen. Verwöhnte Schnösel wie du glauben doch immer, dass Daddy alles für sie regelt!« Die Bosheit mit der er sprach, ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er wirklich zusehen wollte, wie Chris ertrank.

Doch dieser sah ihm nur voller Hass in die Augen und stöhnte leise: »Meine Freunde werden dich finden, egal wo du dich verkriechst, sie werden dich finden.

»Freunde? Ha, Schnösel wie du haben keine Freunde. Ihr umgebt euch doch nur mit Kriechern und Speichelleckern, doch die werden keinen Finger für dich krumm machen«, höhnte der Unbekannte.

Vorsichtig tasteten wir nach Chris´ Bewusstsein, der seinen Kopf nun wieder hängen ließ. Offensichtlich war er sehr geschwächt, und selbst die wenigen Worte hatten ihn angestrengt. Langsam spürte ich die Impulse, die von ihm ausgingen und sendete auf seiner „Frequenz“ nun beruhigende Impulse. So machte es Julian immer bei mir, wenn ich emotional besonders angeschlagen war. Und obwohl Chris kein Telepath war, drangen diese Impulse zu ihm durch.

Anders als ich gehofft hatte, interpretierte er sie jedoch seiner Situation entsprechend - er bereitete sich innerlich auf das Sterben vor. So verstärkte ich meine Bemühungen während Julian ihn sachte sondierte. Bevor wir offen zuschlagen wollten, mussten wir wissen, wozu der Stab in der linken Hand des Unbekannten war.

»»Chris, wir holen dich da raus, wir sind in der Nähe! Chris, gib nicht auf, wir sind da!««, immer wieder wiederholte ich diese eindringliche Nachricht. Dazu sendete ich ihm Bilder von Julian, Eric und mir. Tatsächlich, langsam glomm so etwas wie Hoffnung in ihm auf.

Jetzt war es Julian, der sich meldete: »»Chris, wozu ist der Funkzünder in seiner Hand? Hat er etwas gesagt?«« Mit einem Mal kam Ordnung in die Gedanken von Chris. Er war wirklich kurz davor gewesen abzudriften; hinabzusinken in die wohlige Dunkelheit, wie ich sie auch schon einmal gesehen hatte.

Doch ein wütender Impuls von Julian riss mich aus meinen Gedanken: »»Bomben! Sie haben ihm eine Bombe schlucken lassen und das ganze Gebäude ist vermint. Wenn er den Knopf loslässt, dann geht hier alles hoch.««

Die Bomben im Gebäude kümmerten uns nicht, jedoch die in Chris´ Magen war ein echtes Problem. In der Wand bleibend gingen wir nun auf Chris zu, bis wir direkt hinter ihm standen. Die Ketten waren im Boden eingelassen, doch nach etwas Telekinese nicht mehr mit Chris verbunden. Aber wie sollten wir die Bombe aus ihm heraus bekommen?

Mir fiel einfach nichts anderes ein, ich musste sie desintegrieren solange sie in seinem Magen war. Doch wieder erinnerte mich Julian an etwas, das er mir damals im Labor schon gesagt hatte: »»Du vergiftest ihn damit! Die Kapsel besteht aus Metall und es bleibt auch Metall, wenn du es desintegrierst. Er bekommt dann eine Schwermetallvergiftung!««

Vorsichtig tastete ich mit der Teleortung nach der Kapsel. Wenn Tom hier wäre, dann könnte er den Zünder mit einem EMP zerstören. Auch wir könnten sicherlich mit Elektrokinese den Zünder zerstören, doch ich fürchtete mich davor ihn dabei auszulösen. Die Kapsel war nicht größer als eine große fette Pille. Der einfachste Weg sie herauszubringen war für Chris nicht angenehm, aber sicher. Ich schaltete auf Hydrokinese um und bildete eine Wasserblase um die Kapsel. Julian „kitzelte“ nur noch ein wenig den Magen von Chris und mit einem würgenden Geräusch spukte dieser die Kapsel aus.

Erschrocken sah der Unbekannte auf. Die Kapsel hatte er nicht bemerkt, dennoch warf er misstrauische Blicke zu Chris. Dann grinste er hämisch, was sich jedoch schlagartig änderte, als Julian und ich seitlich aus der Wand traten. Mit einem Entsetzensschrei riss er die Waffe hoch. Doch diese entwickelte, unter Julians Telekinese, eine Eigendynamik und entwand sich seiner Hand. Platschend landete sie im Wasser.

Ich ging aus der „Phase“ heraus und legte Chris die Hand auf die Schulter, bereit, uns jederzeit in „Phase“ zu retten. Julian sah unterdessen dem Unbekannten böse in die Augen: »Geben sie auf, sie haben verloren! Das Geschwafel mit „Sie sind verhaftet…“ schenken wir uns. OK?«

Mit einem fast irren Grinsen sah er zu Chris, und dieser lächelte nun kalt zurück: »Ich habe doch gesagt, meine Freunde werden mich finden. Und wenn ich gestorben wäre, hätten sie Sie gefunden. Denn sie sind wirklich meine FREUNDE!«, den letzten Teil hatte er geschrien.

Doch der Kerl hatte sich wieder einigermaßen gefangen. Kalt blickte er zu uns herab: »Egal wo zur Hölle ihr herkommt, hier kommt ihr nicht heraus. Nur über meine Leiche!«, dabei hob er drohend die linke Hand und nahm den Finger vom Auslöser. - Die Bomben würden also zünden.

»Das Angebot, - scheint akzeptabel!«, gab Julian genauso kalt zurück und ging gemeinsam mit uns in Phase.

Wir stiegen schon halb durch die Decke, als wir noch seinen entsetzten Schrei hörten. Dann barst unter der Explosion von vier Thermaldetonatoren die Decke des Gewölbes. Das ganze Gebäude stürzte tosend in sich zusammen. Das von den Detonatoren verdampfte Wasser stieg als Dampfsäule in den Himmel, während Julian, Chris und ich aus den Trümmern stiegen.

Vor der Ruine wurden wir von Eric und Louis erwartet. Da Chris wirklich sehr geschwächt war, teleportierte uns Louis ohne viele Worte zu Arne in den Flugschrauber. Hier ließen Julian und ich gleich unser Reiki auf Chris wirken, für Reden war später noch genügend Zeit.


Europolis, „Albert-Schweitzer-Hospital“, Montag, 17.12.2035

Eric sah mich vorwurfsvoll an: »Mach dir aber jetzt keine Vorwürfe, dass ihr nicht versucht habt, ihn auch noch zu retten.« Gerade hatte Julian berichtet, was in dem Gebäude geschehen war und Eric hatte meinen nachdenklichen Blick diesmal falsch gedeutet.

Überrascht sah ich auf und musste lächeln: »Nein, diesmal bestimmt nicht. Es war seine Entscheidung, er wollte uns auch töten. Ich frage mich nur, warum er Chris so gehasst hat. Zuzusehen wie jemand ertrinkt, - dazu gehört schon sehr viel Hass.«

Julian zuckte nur mit der Schulter: »Er war ein Idiot! Als er sah, wie wir aus der Wand kamen, hätte er sich denken können, dass er uns so nicht umbringen kann.«

»Wie auch immer, Chris muss nun in ein Krankenhaus. Denn egal, was ihr für ihn getan habt, ohne Untersuchung wird Dr. Neckler niemals Ruhe geben«, rief Arne vom Cockpit aus. Seine Erleichterung, dass alles doch noch gut gegangen war, war ihm deutlich anzusehen.

Doch jetzt stöhnte auch Chris auf: »Ich wusste, ihr würdet mich finden. Auch wenn es Vater schwer gefallen sein muss, euch um Hilfe zu bitten.« Dabei grinste er uns etwas verlegen an, was aber sogleich verging, als er unsere ernsten Gesichter realisierte.

»Arne hat uns informiert, dein Vater wollte es nicht. Er hat ihnen das Thermonectit übergeben. Wir haben heimlich die Übergabe beobachtet, doch dann sind die Entführer abgestürzt und wir mussten nach dir suchen.«

Chris sah mich nur einen Augenblick überrascht an, doch dann lächelte er wieder: »Thermonectit? Du glaubst, mein Vater würde jemandem Thermonectit übergeben im Austausch gegen mich? Mike, du kennst ganz offensichtlich meinen Vater nicht. Er würde fast jede Summe bezahlen, aber sicherlich nichts, was so viele Menschen töten könnte. Glaub mir, das würde er nicht machen. Egal was ihr gesehen habt, er hat garantiert kein Thermonectit übergeben.«

Ich sah zu Arne und der zuckte nur mit den Schultern: »Es hat mich überrascht, dass er darauf eingegangen ist, aber für Chris?«

Inzwischen näherten wir uns wieder dem „Albert-Schweitzer-Hospital“, es war nun mal das beste Krankenhaus im Umkreis. Über Tom hatten wir längst alle anderen informiert und Pascal konnte die Auseinandersetzung, die er mit dem Staatsschutz hatte, nun richtig entspannt genießen.

Als wir auf einer der Landeplattformen aufsetzten, wartete schon ein Ärzteteam darauf, Chris in Empfang zu nehmen. Gerade als wir aussteigen wollten, hielt uns Arne noch einmal zurück: »Offiziell seid ihr Agenten der Abwehr, ihr müsst die Masken wieder aufsetzen! Oder wollt ihr, dass euch eure Mitschüler demnächst im Fernsehen erkennen?«

Daran hätte ich wirklich nie gedacht, obwohl ich doch wusste, dass hier im Hospital immer ein Team von Reality-TV herumlungerte. Die hatten die Vermarktungsrechte vom Hospital gekauft und durften in allen öffentlich zugänglichen Bereichen filmen.

Als Einsatzagent der Abwehr hatten wir immer diese schwarzen 3-Loch-Kopfhauben zu tragen. Nur Eric, der wieder unseren Einsatzleiter spielte, musste sein Gesicht zur Schau stellen. Auch das war Vorschrift, denn letztlich haftete er als Vorgesetzter für uns. Natürlich hatte diese Vorschrift für uns den von Arne schon genannten Vorteil. Was würde unser Direktor Schmitt sagen, wenn er uns plötzlich als Agenten der Abwehr im Reality-TV sehen würde?

»»Der würde sich sicherlich an dem, was er gerade in sich reinfuttert verschlucken. - Wir sollten es uns vielleicht noch einmal überlegen««, Julian schien unseren Direktor wirklich in sein Herz geschlossen zu haben. Im Moment stellte er sich vor, wie „Dickerchen“ sich röchelnd auf dem Boden wand, wobei der Direktor eher wie ein gestrandeter Wal aussah. Doch schnell wurden wir wieder ernst, wir mussten auch an andere Komplikationen denken. Es war wirklich besser, wenn uns niemand erkannte.

Arne selbst blieb in der Maschine und startete, sobald wir den Eingang erreicht hatten. Auch für ihn war es besser, wenn er unerkannt bleiben würde, es gab schließlich schon genug Gerüchte über den Einfluss, den NeckTech hatte. Da musste nicht auch noch eine derartig enge Zusammenarbeit mit der Abwehr hinzukommen. Während sich die Ärzte um Chris kümmerten, dem wir ebenfalls eine Maske verpasst hatten, stürzten sich die Reporter auf Eric.

Doch wie ich es aus dem Fernsehen kannte, blieb Eric bei allen Fragen stumm. Anscheinend erregte ein Patient, der von vier Agenten der Abwehr begleitet wurde, einfach zu viel Neugier. Einer der Reporter schlängelte sich an Eric vorbei. Mit einem Satz stürzte er sich regelrecht auf den autonomen MedoRoboter, auf dessen Polster Chris inzwischen lag und durch den Korridor gefahren wurde.

Der Servomotor des MedoRoboter kreischte wegen der abrupten Belastung empört auf. Der Reporter, der gerade seine Hand nach der Maske von Chris ausstreckte, kreischte nur wenige Sekunden später. Mit einer blitzschnellen Bewegung hatte ihn Julian gepackt und in den Korridor geschleudert, wobei er ihm „versehentlich“ den Arm ausgekugelt hatte. In derselben Sekunde sahen seine Kollegin und sein Kameramann in Erics und meine Waffen.

Die begleitenden Ärzte waren nicht sonderlich überrascht, sie hatten so ähnliche Zwischenfälle schon öfters erlebt. Die Massen wollten unterhalten sein, und dazu gehörte eben auch so eine Vorstellung. Langsam wurde mir dann aber bewusst, dass ich diese Sendung auch schon mehr als nur einmal gesehen hatte. Jetzt erstaunte mich nur, wie sehr sich meine Wahrnehmung mit dem Blickwinkel änderte. Als zahlender Zuschauer hätte ich sicherlich auch gerne gewusst, wer sich unter dieser Maske verbarg.

Nun völlig ungestört erreichten wir den Lift und fuhren zu einer gesicherten Abteilung, wo Pascal, Tom, Lukas und Kim schon auf uns warteten. Grinsend begrüßte uns Pascal und wies dann auf einen Monitor, der hier im Empfangsbereich an der Wand hing. Wieder und wieder wurde die Szene gezeigt, wie der Reporter sich auf das Bett stürzte und dann von Julian weggeschleudert wurde.

»Gute Arbeit!«, war sein ganzer hörbarer Kommentar, »»im Ernst, bei richtigen Einsatzagenten wäre er nicht so einfach davon gekommen. „Nummer Eins“, unser Chef, kann diese Typen nicht ausstehen.««

»»Er ist dein Chef, Pascal, nicht unser!««, korrigierte ich Pascal vorsorglich, nicht dass sich irgendwelche falsche Vorstellungen breit machten.

»»Er würde das sicherlich nicht gerne hören. Du kannst dir nicht vorstellen, was er alles tun würde um euch zu bekommen««, Pascals Stimme klang einerseits belustigt und aber auch etwas traurig.

Doch ich dachte nur an unsere Ausweise und konnte mir ab da sehr gut vorstellen, wie weit er gehen würde. Vielleicht hoffte er sogar ein wenig, uns damit zu ködern.

»»Wie jetzt? - „Kommen sie zu Abwehr, ein Leben voller Spannung und Abenteuer wartete auf sie!“«, spottete nun Lukas. Nachdenklich sah ich zu Pascal, der jetzt doch ein wenig zusammengezuckt war. Beruhigend legte ich ihm die Hand auf die Schulter: »»Das ist nicht unser Weg, Pascal. Wir wollen die Bruderschaft wieder aufbauen, aber das könnten wir als Agenten der Abwehr nicht. Die anderen Mutanten würden uns nicht trauen. Aber wenn du uns brauchst, werden wir kommen, nicht für deine „Nummer Eins“, sondern für dich.««

Ich wusste von Frank, dass Pascal in den letzten Jahren ziemlich einsam war. Von den Mutanten war er gemieden worden, weil er bei der Abwehr war, und von den Abwehrleuten, weil er ein Mutant war. Selbst sein Verhältnis mit Stefan kam erst so richtig in die Gänge, seit Stefan einen Blockadechip trug. Und das, obwohl sie vorher schon sehr viel füreinander empfunden hatten. Sicherlich war eine Beziehung zu einem Telepathen als Normalo nicht einfach, und besonders nicht, wenn der Normalo dann auch noch so misstrauisch wie Stefan war.

Ich spürte, wie Pascal wieder ruhiger wurde. Wir alle mochten ihn sehr und es war mein voller Ernst gewesen. Wenn er unsere Hilfe brauchen würde, würde er sie auch bekommen, da waren wir uns alle einig, ohne dass ich erst fragen musste, auch wenn Tom schon wieder so fies grinste. Ich sah ihn schon gedanklich das Schild „Alphamännchen“ schwenken. Allerdings hoffte ich, dass das nicht all zu schnell erforderlich war, denn nicht nur mein Bedarf an Abenteuer war im Moment mehr als gedeckt und so ließ ich mich seufzend auf einem Sitz neben Julian nieder.


Pascal hatte, gleich nachdem er von der Befreiung hörte, Dr. Neckler informiert. Wenige Minuten nach uns war dieser schließlich eingetroffen. Obwohl äußerlich ruhig, war er völlig aufgewühlt, als er den Warteraum betrat. Mitten im Gehen stockte er. Sein Blick wanderte von Pascal zu Lukas und Tom, die noch immer maskiert die Tür zu Chris' Behandlungsraum bewachten. Dann erkannte er Eric und sogleich wanderte sein Blick zu Julian und mir. Ein verlegenes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er auf Pascal zuging, vorbei an Kim und Louis, die er anscheinend für echte Abwehrleute hielt.

»Danke! - Dann hat Arne sie doch noch rechtzeitig informiert«, begrüßte er Pascal.

Natürlich wollten wir sofort wissen, was das nun wieder zu bedeuten hatte, doch genauso selbstverständlich ließen wir ihm Zeit. Für ihn war es das Wichtigste, dass es Chris gut ging und er wieder gesund werden würde. Inzwischen war auch Arne unauffällig bei uns eingetroffen, und wir erfuhren, dass in dem Koffer tatsächlich kein echtes Thermonectit gewesen war.

Sehr zum Verdruss einiger Leute, die es anscheinend gern gesehen hätten, wenn sich Dr. Neckler dadurch in Schwierigkeiten gebracht hätte. Angefangen vom Staatsschutz bis zu einem gewissen Senator Huber waren alle dann doch sehr „erleichtert“, dass Dr. Neckler seiner großen Verantwortung gegenüber der Gesellschaft… Julian und ich hatten uns nur angesehen, als Arne die heuchlerischen Videofon-Anrufe vorgespielt hatte.

Nach und nach erfuhren wir so, dass Dr. Neckler schon seit längerem Probleme mit Senator Huber und dessen „Ausschuss für Innere Sicherheit“ hatte. Da war es dann doch auch nicht mehr überraschend, dass Direktor Schmitt immer seine Hand schützend über unseren Mitschüler Sigfried gehalten hatte. Auch wenn der hin und wieder kleine Anschläge gegen seine Mitschüler in Auftrag gab. Aber das waren dann ja nur Unfälle.

Auch erfuhren wir nun den Grund, weshalb wir erst so spät und dann nur über die Abwehr eingeschaltet wurden. Ein bislang unbekannter Mutant, der nur als vermummte Gestalt auf den Aufzeichnungen zu sehen war, hatte Dr. Neckler die Forderung der Entführer überbracht. Dieser Mutant war anscheinend auch Telepath und bis zur Übergabe nicht von Dr. Necklers Seite gewichen.

Doch das Seltsamste war das Verhalten dieses Mutanten selbst. Anfangs ging eine bedrückende Ausstrahlung von ihm aus. Eine fast greifbare Trauer, aber auch etwas Drohendes. Dr. Neckler berichtete uns weiter, dass er sofort seinen Blockadechip deaktivieren musste. Dann kam die Anweisung, Arne auf eine Inspektion zu schicken. Als er dann an uns gedacht hatte, habe sich das Verhalten des Mutanten schlagartig verändert. Er schien plötzlich mehr an uns, Julian, Tom, Lukas und mir, als an der Übergabe interessiert zu sein.

Der Mutant habe alles Mögliche über uns und besonders über das Labor-23 wissen wollen. Er hatte sich nicht einmal daran gestört, als Dr. Neckler den Blockadechip wieder aktivierte. Dass es Dr. Necklers Assistent gelang Arne vorab zu warnen, hatte er nicht mitbekommen. Der Assistent hatte sich gleich darauf krank gemeldet, um dem Telepathen nicht wieder zu begegnen. Das Thermonectit im Koffer war während eines gescheiterten Experimentes entstanden und hatte nicht mehr Wirkung als eine Ladung Schwarzpulver.

Nach der Übergabe war der Mutant nicht mehr auffindbar. Genauso plötzlich wie er auftauchte, war er wieder verschwunden. Wahrscheinlich, so vermutete Dr. Neckler, war er also auch Teleporter. Er schien nun auch der einzige Überlebende der Entführer zu sein, denn der Passagier und „Pilot Nummer 2“ waren noch in der Nacht gestorben.

Für uns warf sich da natürlich die Frage auf, wer hinter dem Ganzen steckte. Bei der Entführung von Dr. Necklers Frau gab es keine Anzeichen von Mutanten. Es gab sogar Hinweise auf die Darwinianer. Was für uns eine Erklärung war, weshalb Dr. Neckler uns so unterstützte. Diese Entführung wies einige Parallelen zu der ersten auf, nur dass hier nun ein Mutant mitspielte.

Doch wenn der Unbekannte Telepath war, dann müsste er uns auf dem Europolis-Tower entdeckt haben. Und als Teleporter wäre es dann kein Problem gewesen vor uns bei Chris zu sein. Weshalb also ließ er zu, dass wir Chris befreien konnten?

»»Warum überhaupt eine Übergabe? Als Teleporter hätte er den Koffer doch gleich an sich nehmen können?««, mischte sich Julian in meine Überlegungen ein.

»Äh, - stimmt eigentlich auch wieder«, brummte ich.

»Ich hatte eigentlich fast den Eindruck, dass es dem Mutanten gar nicht um das Thermonectit ging«, Dr. Neckler sah uns dabei aber auch sehr ratlos an.

»Irgendwie macht das Ganze keinen Sinn«, grummelte ich müde. Den anderen erging es genauso und so beschlossen wir zum Campus-Occursus zurückzukehren. Ein Team von NeckTech übernahm nun den Schutz von Chris, der noch für einige Tage im Krankenhaus bleiben sollte.

11. - News Of The World

Campus-Occursus, Donnerstag, 20.12.2035

Seit der Befreiung von Chris waren nun zwei Tage vergangen und allmählich beruhigte sich die Lage wieder. Wir hatten etwas übersehen, was unsere Gespräche mit den Drachen unerwartet verkomplizierte. Dummerweise sahen die anscheinend auch Reality-TV und fanden es nicht sonderlich komisch, dass sie die ganze Zeit mit einem Offizier der Abwehr verhandelt hatten. Zu unserem Glück war dieses Missgeschick von Robin und Frank noch vor dem nächsten Treffen bemerkt worden. Entsprechend konnten wir Erics „wahre Identität“ dann bei der Verhandlung berücksichtigen.

Zu behaupten, Eric sei in Wirklichkeit nicht von der Abwehr, erschien uns völlig hoffnungslos. Nicht nachdem er neben Pascal im Reality-TV zu sehen war. Von Pascal wusste jeder im Sektor, dass er bei der Abwehr war. Wenigstens jeder, der ihn als Mutant kannte, und das traf offensichtlich auf einige der Drachen zu.

Aber auch unter den Freien Mutanten und den Freelancern reagierten einige nun sehr zurückhaltend. Man fürchtete, dass die Verbindung von uns, den „Iratus Lemurum“, zu den Hoods über NeckTech nun bis zur Abwehr reichte. So war nun auch die Neugründung der Bruderschaft wieder etwas in die Ferne gerückt. Einige der Mutanten fürchteten, die Bruderschaft solle so etwas wie die „fünfte Kolonne“ der Abwehr werden. Eine Abteilung von Mutanten war zwar durchaus die Wunschvorstellung von Pascals Chef, nur eben nicht die unsere.

Aber es gab auch positive Nachrichten. Der Ruf der Hoods hatte sich inzwischen so sehr verbessert, dass sich immer mehr Mutanten für sie interessierten. Waren die starken Mutanten über eine mögliche Verbindung zur Abwehr besorgt, so fühlten sich die schwächeren gerade davon angezogen. Sie erhofften sich nicht zuletzt mehr Sicherheit und bessere Lebensbedingungen. Das war zwar nicht das, was wir wollten, aber verstehen konnten wir es schon.

Doch auch das hatte wieder seine Schattenseiten, denn nun wurde das Problem mit der Ausbildung noch drängender. Aber gleichzeitig wurde die Situation vor Ort immer problematischer. Was wir noch vor Tagen nicht geglaubt hatten, traf nun ein: Camelot wurde langsam zu klein.

Es war kaum möglich, die Schulungen durchzuführen, ohne dass die „Neuen“ etwas davon mitbekamen. Doch das war im Moment einfach noch nötig, denn wir wollten unsere „Neuen“ erst einige Wochen kennen lernen, bevor wir sie bei den Hoods aufnahmen. Auch Robin hatte das stets so gehalten und an dieser Praxis sollte sich nichts ändern. Solange die „Neuen“ nicht zu den Hoods gehörten, durften sie nicht geschult werden. Darauf legte Frank wiederum sehr viel Wert. Nicht zuletzt deswegen, weil einige andere Gruppen sich sehr für unser „Weiterbildungsprogramm“ interessierten.

Dort wusste man zwar nichts von dem „Training“ an sich, bemerkten jedoch dessen Auswirkung. So waren in den letzten Tagen auch schon mehrfach „Abgesandte“ von anderen Gruppierungen erschienen, meist jedoch „vergaßen“ sie es, uns darauf hinzuweisen. Frank fand für solche „Abgesandte“ meist weniger schmeichelhafte Bezeichnungen.

Die erste sichtbare Folge dieser Probleme war, dass wir „Sandros Asyl“ für Straßenkinder, wie Robin es nannte, in ein Nachbargebäude auslagern mussten. Auch dort wurden es täglich mehr, und wir konnten sie wirklich nicht auch noch in Camelot unterbringen. Zumal viele, die da von der Straße kamen, noch nie bewusst mit Mutanten zusammengetroffen waren.

Doch unsere Hoods traten inzwischen sehr offen auf, begreiflicherweise wollten sie ihre neue Stärke nicht verstecken. Und auch die Normalos unter den Hoods mochten keinesfalls, dass man sie mit den „Streunern“ auf eine Stufe stellte. Sie hatten sehr schnell verdrängt, dass die Hoods früher auch nicht viel besser gelebt hatten als die „Streuner“, aber auch das war wohl verständlich. Mit der Auslagerung war wenigstens in dieser Hinsicht etwas Ruhe eingekehrt.

Doch das Problem, wie wir die Neuen kennen lernen konnten, ohne dass sie zu viel von unserem Training mitbekamen, war damit natürlich noch immer nicht gelöst.

Seit Mittwoch hatten wir auf dem Campus-Occursus einen staatlich zertifizierten Hololehrer, und so konnten wir den Schulstoff trotz unserer Suspendierung abarbeiten. Da die Punkte sowieso direkt im Zentralrechner des Bildungsministeriums verbucht wurden, hatten wir kaum noch Nachteile. Eher hatten wir sogar den Vorteil, die Stunden nach unseren Wünschen planen zu können. Sicherlich würde das Direktor Schmitt überhaupt nicht gefallen, sobald er davon erfuhr.

Dafür fühlte Benny sich nun besser, und er war sichtlich erleichtert, kein Werwolf zu sein. Inzwischen übten wir auch regelmäßig mit ihm. Besonders in Louis hatte Benny einen „Mentor“ gefunden. Wobei Lukas immer wieder spöttisch bemerkte, dass Louis für Benny wohl viel mehr war, als nur „Mentor“.

Mit Louis, Dirk und Marc machten wir weiter Fortschritte, und für den Abend war zumindest der „erste Teil“ ihrer Aufnahme geplant. Da es in Camelot zurzeit noch sehr turbulent zuging und Takashi in der Nähe von Benny bleiben wollte, hatten wir unser Training hierher verlegt. Am Abend stand wieder eine „Tafelrunde“ an, aber zuvor wollten wir uns im Conventiculum treffen.


Camelot Conventiculum, Donnerstag, 20.12.2035

Wieder überkam mich dieses seltsame Gefühl, das ich immer in diesem Raum hatte. Nur war es inzwischen nicht mehr ganz so beunruhigend wie sonst. Diesmal hatten wir neun Sitzkissen kreisförmig um den Obelisken angeordnet. Julian saß links und Louis rechts von mir, wir alle reichten unseren Nachbarn die Hände, so dass sich der Kreis schloss.

Eine ungewohnte, nicht zu beschreibende Spannung lag über unserer Runde. Keiner der vier „Neuen“ konnte sich der Ausstrahlung entziehen, die dieser Raum hatte. Wir hatten ihnen erklärt, was geschehen würde oder zumindest nach unserer „Erfahrung“ geschehen sollte. Doch es zu erleben, war eben doch etwas völlig anderes, als nur davon zu hören.

Auch diesmal war Julian unser „Zeremonien-Meister“: »Wenn ihr euch konzentriert, dann spürt ihr die positiven Schwingungen, die von dem Obelisken ausgehen. Sie werden uns helfen, bei dem, was wir tun wollen. Doch zuvor möchte ich noch etwas mit euch besprechen.«

Ernst sah er nacheinander jeden an: »Nach Sammys Energie-Modell könnten das, was wir heute machen wollen, eure Kräfte für eine Gewisse Zeit schwächen. Der Test, den wir mit Tom, Lukas und Eric gemacht haben, hat diese Theorie bisher bestätigt.

Eine neue Fähigkeit senkt immer eure Kapazität! Anscheinend wird euch ein gewisser „Sockelbetrag“ abgezogen, so jedenfalls beschreibt es Sammy. Louis, Dirk und Marc, ihr werdet es kaum bemerken, da der Sockelbetrag für Telepathie sehr gering ist. Doch wenn ihr wollt, werden wir anschließend probieren, euch auch noch die Larualisation zu verleihen. Dabei wird eure Kapazität aber spürbar sinken, natürlich nur vorübergehend. Durch das Training werdet ihr sehr schnell wieder auf eure alte Kapazität kommen.

Da Frank hier ist, um die Larualisation zu bekommen, wird es für ihn auf jeden Fall spürbar sein. Doch da er auch Teleporter ist und damit einen hohen Energieumsatz hat, wird es für ihn nicht sonderlich problematisch sein. - Falls doch, kannst du Sammy in den Hintern treten.« Dabei mussten wir alle grinsen.

Für Sammy wäre das „Versagen“ seiner Theorie wesentlich schlimmer als ein Tritt in den Hintern. Wenn er selbst seine Theorien „überarbeitete“, was er eigentlich ständig tat, war das nicht schlimm. Wehe aber, wenn man ihm zeigte, dass er falsch lag, so was nahm er fast schon persönlich.

Julians Stimme riss mich wieder aus meinen Gedanken: »Eigentlich wissen wir noch immer nicht so genau, was wir hier tun. Deshalb können wir natürlich nicht sagen, ob alles so kommt, wie wir es uns vorstellen. Seid ihr trotzdem bereit?«

Wenn ich in die Gesichter sah, dann war diese Frage wohl rein rhetorisch. So sah es wohl auch Julian, als er einfach weiter machte: »Konzentriert euch auf den Obelisken, spürt seine Schwingung, nehmt sie in euch auf«, vernahmen wir nun Julians ruhige und eindringliche Stimme.

Doch dieser Ruhe folgte eine regelrechte Explosion - der Energiegehalt des Raumes schien geradezu zu explodieren. Langsam wurde mir klar, dass es scheinbar die summierte Kapazität aller anwesenden Personen war. Durch unsere vier „Neuen“ hatte sich dieser Betrag drastisch gesteigert. Wie schon beim ersten Mal strömte die Energie um uns herum.

Wir konnten nach Belieben die Energie in uns aufnehmen, soviel wie wir konnten und wollten. - Doch dann konnte dies nicht unsere Kapazität sein, denn sonst würden wir uns gegenseitig die Energie nehmen!

Diese Energie musste in Wahrheit der gesammelte Zufluss von uns allen sein. So, wie wir unsere Telepathie verstärkten, wenn wir einen Block bildeten, so vereinigten sich jetzt unsere Energiezuflüsse zu einem breiten Strom. Das war mehr Energie, als ich in der Maschine je gespürt hatte. Nur, dass sie nicht in uns gepresst wurde, sondern einfach nur um uns strömte. Wir selbst bestimmten, wie viel wir davon aufnehmen wollten.

Ich konzentrierte mich auf Julian, passte mich ihm völlig an und wir wurden wieder wie ein Wesen. Zwei Körper, aber ein Geist! Tiefer und vollkommener konnte eine „Vereinigung“ nicht sein, nicht ohne auch noch die Körper aufzugeben. Und das wollten weder Julian noch ich, dazu gab es zu viele Dinge, die wir ohne Körper nicht mehr tun konnten. Andererseits war diese Verbundenheit mit ihm mit das Schönste, was ich mir vorstellen konnte.

Julian begann nun die Energie zu modulieren. Zuerst nur sehr grob, doch letztlich völlig eindeutig, war es die Modulation, wie wir sie von der Telepathie her kannten. Gemeinsam sammelten wir immer mehr von dieser modulierten Energie. Wir nahmen sie in uns auf und umgaben uns mit ihr.

Dann konzentrierten wir uns auf Marc und unbewusst begann dieser, sich auf die Schwingung einzustellen. Seine Signatur verschob sich spürbar - er war zum Telepathen geworden. Nun waren nacheinander auch noch Dirk und Louis an der Reihe. Auch ihre Signaturen verschoben sich in der gewünschten Weise. Wir hatten drei neue Telepathen in unserer Runde.

Bei Frank mussten wir zuerst ummodulieren. Jetzt und hier wurde uns dann auch bewusst, wie sehr sich die Modulationen wirklich unterschieden. Die Psychokinese-Fähigkeiten, wie Telekinese, Hydrokinese, Aerokinese, Elektrokinese, etc. lagen alle in einem sehr engen Bereich. Das Gleiche gilt auch für die Psychopathie-Fähigkeiten, wie Telepathie, Empathie, Suggestion…

Aber die Psychokinese und die Psychopathie selbst grenzten sich von einander ab wie zwei Absätze in einem Text. Wenn jede Psychokinese-Fähigkeit einer Zeile des Psychokinese-Absatzes entsprach, dann war der Abstand zwischen den Zeilen innerhalb eines Absatzes klein, doch der Abstand zwischen den Absätzen relativ groß.

Erst jetzt wurde uns bewusst, wie unzulänglich „die Maschine“ im Labor der Darwinianer gewesen war oder wie wenig die davon verstanden hatten. Das war es, was Dr. Brunner mit einer „zu breitbandigen Modulation“ gemeint hatte. Die Maschine hatte die Energie über die Breite mehrere „Absätze“ moduliert. Alles, was dabei herauskam, war mehr oder weniger zufällig. Nur dem Umstand, dass die Telepathie eben die am einfachsten zu aktivierende Fähigkeit war, hatte zu einem gewissen „Erfolg“ geführt.

Julian und ich kannten inzwischen die genaue Modulation und hatten nun die Energie für die Larualisation moduliert. Wir konzentrierten uns auf Frank, und wie damals beim Reiki spürten wir bei ihm einen gewissen Widerstand. Doch mit ein paar sanften Impulsen gelang es uns ihn zu beruhigen. Mit noch etwas mehr Energie begann sich nun seine Signatur leicht zu verschieben. Mit einem Mal aber „schluckte“ er dann ein erhebliches Quantum davon. Seine Signatur machte einen Sprung und nun war er zu einem echten „Iratus Lemurum“ geworden. - Ab jetzt würde auch er solo „geistern“ können.

Als auch das gelungen war, stand nur noch eine Frage im Raum - doch die Antwort lag wohl schon lange fest: Louis, Dirk und Marc wollten das volle Programm! Nacheinander konzentrierten wir uns wieder auf die drei und vollzogen nun den zweiten Schritt. Leichter als erwartet gelang es uns bei Louis. Bei Dirk und Marc war es jedoch so wie bei Frank. - Nach ein wenig „Zureden“ fiel ihre innere Sperre in sich zusammen. Nur noch ein wenig mehr Energie war dann noch nötig und auch ihre Signatur machte einen Sprung.

Danach genossen wir alle noch einige Zeit dieses Gefühl, in der PSI-Energie zu baden. Jeder spürte den anderen in einer Vertrautheit und Tiefe, wie nur Telepathen sie kennen konnten. Julian und ich lösten unseren gemeinsamen Verbund und waren wieder als zwei getrennte Persönlichkeiten auf gleicher „Ebene“ mit den anderen. Hier im Conventiculum war die „Erhebung“ wesentlich leichter für uns. Julian und ich mussten uns nicht einmal sonderlich anstrengen und wir verloren selbst keine Energie.

Fasziniert sahen wir gemeinsam zu, wie sich die Energie nun wieder um den Obelisken sammelte. Wie beim ersten Mal bildete sich die rotierende Wolke aus Energie. Immer schneller und schneller rotierte die Wolke, deren Rotationsachse der Obelisk war.

Der Jetstrahl schoss nun aus ihrem Zentrum hervor, genau in die Nische hinter Louis, ballte sich dort kurz zusammen und „hüpfte“ nun, einen Schweif hinter sich herziehend, zu der Nische hinter Dirk, dann zu der von Marc und schließlich in die Nische hinter Frank. Immer noch strömte Energie aus der Wolke, die nun stetig kleiner und schwächer wurde, während das Leuchten in den Nischen stetig zunahm. In einem letzten Aufblitzen erlosch die Wolke und die Bänder, die die Nischen verbunden hatten, rissen ab. Der Raum erschien wieder so still und unheimlich wie zuvor.

Doch wir wussten, oder ahnten jedenfalls, was in den vier Nischen nun liegen würde. Julian stand auf und ging zu der ersten Nische. Wie erwartet, lag dort das „Telin“ für Louis, auch für Dirk, Marc und Frank waren die Anhänger in ihren Nischen. Wie auch immer so etwas geschehen konnte, und was auch immer es genau zu bedeuten hatte, für jeden ersichtlich gab es nun neun vollwertige „Iratus Lemurum“.

»»Ich denke, es wird Zeit für die „Tafelrunde“, man erwartet uns mit spürbarer Spannung««, sendete ich und an den Reaktionen der anderen sah ich, dass ich von allen verstanden wurde. Als wir dann gemeinsam in „Phase“ gingen und den Raum auf Art der „Iratus Lemurum“ verließen, konnte jeder sehen, dass auch dieser Teil geklappt hatte.

12. - Shadows On The Wall

When the fantasy we live in
Lies in pieces on the ground
And there is no false illusion
That can turn your heart around,
Nothing can change the way I feel,
aus “Shadows On The Wall” von Moody Blues

Campus-Occursus, Freitag, 21.12.2035

Die Tage der Ruhe im Campus-Occursus waren nun endgültig vorbei. Am Tag zuvor während der „Tafelrunde“ hatten wir alle eingesehen, dass es so nicht mehr weiter gehen konnte. Camelot sollte unsere Festung im Sektor 20 sein, doch in Wirklichkeit war es zur Schule, Asyl und Unterkunft geworden. Selbst nach dem Auslagern von „Sandros Asyl“ war Camelot einfach überfüllt.

So hatten wir uns zu einem entscheidenden Schritt entschlossen. Von nun an sollte die gesamte Ausbildung im Campus-Occursus stattfinden und Camelot würde zum eigentlichen Hauptsitz werden. Im Campus hatten wir „nur“ die oberste Etage des Wohnblocks für uns und andere „Mentoren“ reserviert. Die restlichen vier Etagen standen unseren „Schülern“ zur Verfügung.

Sammy hatte die Bezeichnung „Meister“ ins Spiel gebracht, wogegen nicht nur ich mich entschieden zu Wehr setzte. Wir selbst mussten noch so viel über unsere Fähigkeiten lernen, dass die Bezeichnung „Meister“ wirklich lächerlich war. Mentor oder Tutor fanden wir da schon wesentlich passender, wir halfen und förderten die anderen.

Sammy unterrichtete und forschte nach wie vor im Bereich der PSI-Energie, nun jedoch hauptsächlich hier im Campus-Occursus.

Takashi würde nun die Ausbildung in Qi Gong, Reiki und Kampfsport übernehmen. Er war dann auch der Einzige, der wirklich ein „Meister“ war.

Olaf freute sich darauf, sich mit dem physikalischen Hintergrund diverser Fähigkeiten zu beschäftigen und diesen uns dann zu vermitteln. Wobei Tom meinte, ersteres wäre Olaf wohl lieber.

Sandro wollte uns einmal in der Woche medizinische Grundlagen vermitteln, wohnte aber weiterhin in Camelot, um sich dort im „Asyl“ um die Straßenkinder zu kümmern. Da wir genügend Teleporter als „Transportmittel“ hatten, war das kein Problem.

Eric konnten wir davon überzeugen, den Jungs und uns Strategie und Taktik näher zu bringen, da hatten wir wirklich große Defizite. Die „alle hauen drauf“- Methode war einfach nicht sinnvoll. Außerdem würde er auch Stefan bei einer konventionellen Kampf- und Schießausbildung unterstützen. Diese Idee hatte nicht nur bei Thimo und Frank zu leichtem Stirnrunzeln geführt. Aber nicht jeder Mutant war stark genug, um sich wirksam mit seinen Fähigkeiten zu verteidigen, wir hatten schließlich auch reine Telepathen unter uns. Und falls man in eine PSI-Falle geriet, war es auch sehr nützlich eine konventionelle Waffe einsetzen zu könne. Doch dazu sollte man mit so etwas auch wirklich umgehen können.

Lukas, Tom, Julian und ich würden uns um die Umsetzung von Qi Gong in das PSI-System kümmern und die praktischen Übungen begleiten. Dabei würden uns auch alle anderen unterstützen, mit denen wir bisher schon trainiert hatten.

Das alles führte dann zu dem von Julian vorgeschlagenen Mentor-System. Mutanten, die eine Fähigkeit besonders gut beherrschten, sollten Mentor für Mutanten mit der gleichen Fähigkeit sein. Im Moment konnte es also durchaus vorkommen, dass ein Mentor gleichzeitig auch Schüler in einem anderen Bereich war.

Wie es in Zukunft weitergehen sollte, darüber konnten wir uns nicht so recht einigen. Takashi und Sammy befürworteten ein festes „Meister-Schüler-System“, wobei dann je ein „Meister“ die Ausbildung eines Schülers überwachte und förderte.

Julian und ich befürworteten allerdings ein System, wonach ein Mentor der eine Fähigkeit besonders gut beherrschte, Schüler mit der gleichen Fähigkeit unterrichteten. So konnten die Schüler auch voneinander lernen, das Gruppenerlebnis war größer und man lernte sich besser kennen.

Außerdem hatten wir auch einfach zu wenige, die wir in diesem Sinne als Meister einsetzen konnten. Eigentlich kämen nur Frank, Dirk, Marc, Louis und Robin in Frage. Sie hatten sich schon längere Zeit durchgeschlagen und Erfahrungen gesammelt, wobei aber Robin weder als Telepath noch als Telekinet wirklich so stark war, dass er als Meister bezeichnet werden konnte.

Da wir uns in diesem Punkt nicht so recht einigen konnten, verschoben wir eine Entscheidung, bis wir mehr Erfahrung gesammelt hatten. Denn wie gesagt, im Moment hätten wir nicht genügend erfahrene Mutanten um ein „Meister-Schüler-System“ aufzubauen. Noch musste jeder von jedem lernen, was Julian und ich auch bevorzugten, alleine, weil wir wohl auch ahnten, dass wir selbst nie „Meister“ würden, höchstens „Meister der Fähigkeiten“, wie Lukas spöttisch anmerkte. Wir hatten einfach zu viele Fähigkeiten um in einem Bereich wirklich überragend zu sein.

Zu unserer Verwunderung war Stefan sofort dafür Campus-Occursus zur Schule zu machen, anscheinend hatte er sich schon ein wenig gelangweilt. Insgesamt gab es 15 Normalos der Hoods, die hier auf dem Campus eine Ausbildung im Bereich Werkschutz machten, die von Stefan und Martin betreut wurden. Doch nur jeweils fünf davon waren für 14 Tage auch wirklich hier. Die übrige Zeit verbrachten sie in Camelot und taten dort ihren Dienst. Schließlich mussten wir uns nun auch noch um Sektor-7 kümmern, der nach „King Roys“ Ableben „herrenlos“ geworden war. Doch auch die Zahl der auszubildenden Normalos wollten wir aufstocken, auch wenn das wieder von anderen Normalo-Gangs argwöhnisch beobachtet werden würde. Befürchteten die doch inzwischen, wir würden eine kleine Privatarmee aufbauen, was im Prinzip auch stimmte. Egal wie man es nahm, wir saßen wirklich zwischen allen Stühlen.

Nun da der „Umzug“ anlief, entstand einiges an Unruhe in dem bisher so ruhigen Campus-Occursus. Stefan würde bald ein „volles Haus“ bekommen, wobei Tom unkte, es würde wohl eher ein „Tollhaus“ werden.

Der große Nachteil an der gesamten Planung war allerdings, dass Camelot kurzzeitig etwas geschwächt würde. Doch mit Nico, Kim, Louis, Frank und nun auch Thimo hatten wir genügend Teleporter um notfalls sehr schnell reagieren zu können. Auf längere Sicht sollte Camelot zum Zentrum der „neuen Bruderschaft“ werden. Von hier aus wollten wir den Kampf gegen die Darwinianer führen und Campus-Occursus sollte nur noch als Schule und Forschungseinrichtung dienen. Julian hatte jedenfalls schon vorsorglich Quartiere für uns im „Ghost-Turm“ vorgemerkt.

Leise trat Julian an mich heran: »»Wieder einmal am Grübeln?««

Wir waren im Elektrokinese-Tunnel unter dem A-Trakt. Hier hatte Scotty in einer „Blitzaktion“ die von Olaf entworfene Übungseinheit aufgebaut. Nicht einmal Marc gelang es, die Elektroden zu überlasten, was wir jedoch auch nicht vorhatten. Zurzeit bemühten wir uns eher um das Gegenteil. Wir wollten diesen Teil unserer Fähigkeiten so trainieren, dass wir Elektroschocks austeilen konnten. Diese sollten aber nicht schlimmer sein als die einer Taser-Waffe.

Ich lehnte mich leicht gegen Julian und betrachtete meinen ausgestreckten rechten Arm. Wir trugen unsere „Kampfanzüge“ und die von Olaf entworfenen neuen Handschuhe. An den Fingerspitzen ragten haarfeine supraleitende Nanodrähte aus dem schwarzen Material. Innerhalb des ganzen Anzugs war ein feinmaschiges metallisches Gewebe verarbeitet, das uns eigentlich nur vor elektrischen Entladungen schützten sollte. Genau dieses Gewebe „missbrauchten“ wir nun als Elektronenquelle.

Wieder konzentrierte ich mich auf meinen Arm, ich spürte die Zusammenballungen, die die freien Elektronen repräsentierten. Mit ein wenig mehr Konzentration zog ich diese Ballungen zusammen und beschleunigte sie in Richtung Fingerspitzen. Ein bläulich leuchtendes Gebilde brach aus diesen hervor und raste, entlang der von mir „gedachten“ Linie, auf die kleine goldene Kugel der Messelektrode zu, um beim Auftreffen ihre Energie abzugeben. Wie beim Destruieren war es uns gelungen, eine Verbindung zwischen uns und dem Ziel herzustellen.

Olaf hatte bisher noch nicht herausbekommen, was dieser Energieball denn nun wirklich war. Tatsache war, dass wir ihn, in gewissen Grenzen, steuern konnten. Ebenso sicher war, dass wir nur eine relativ kleine Menge an Energie in diesem Ball speichern konnten. Wenn wir stärkere Entladungen erzeugten, dann brachen echte Blitze aus den Handschuhen hervor, die dabei auch sehr heiß werden konnten. Lukas hatte sich sogar schon die Fingerspitzen verbrannt, dank Reiki war es nicht schlimm, aber dafür waren wir nun gewarnt.

Lächelnd klopfte mir Julian auf die Schulter: »»Diesmal hätte er es sogar überlebt! Aber Sandro wäre sicherlich nicht begeistert, wenn du ihm so einen Patienten liefern würdest.«« In Julians Stimme schwang nur ein wenig Spott, er kannte das Problem selbst.

Anfangs wäre jeder Kontakt mit einer unserer „Energieblasen“ mit hoher Wahrscheinlichkeit tödlich gewesen, inzwischen hatte das „Opfer“ sogar eine reelle Überlebenschance. Ein richtiger Blitz wäre sowieso fast immer tödlich. Bei der Telekinese waren wir es einfach gewohnt, mehr PSI-Energie aufzuwenden. Die gleiche Menge PSI-Energie wirkte jedoch bei der Elektrokinese verheerend. Wie bei allen anderen „spezial-kinetischen“ Fähigkeiten war hier der Wirkungsgrad wesentlich höher. Zum Glück traf dies bei der Annihilation, also der Erzeugung von Antimaterie, die Julian und ich beherrschten, nicht zu oder es wirkte sich nicht so aus.

»»Sonst gäbe es halb Europa nicht mehr««, diesmal klang Julian überhaupt nicht mehr belustigt.

War mein Destruieren schon eine gefährliche Sache, so war die Annihilation geradezu erschreckend. Wir hatten keinerlei Vorstellungen, wo die Grenze dieser Fähigkeiten lag. Olaf vermutete, dass sie im Bereich von einigen Kilotonnen lag. Doch nur ein Physiker wie er konnte so locker über diese Größenordnungen plaudern.

Die Atombombe von Hiroshima hatte „gerade einmal“ eine Sprengkraft von etwa 15 Kilotonnen TNT. Im Jahr 1961 wurde von der damaligen UdSSR die größte jemals getestete Wasserstoffbombe mit 56 Megatonnen TNT-Äquivalent gezündet. Der Meteorit, der für das Aussterben der Dinosaurier vor 65 Millionen Jahren verantwortlich gemacht wird, soll eine Energie in der Größenordnung von 100 Millionen Megatonnen TNT gelegen haben. Und ein Gesteins-Meteorit mit einem Durchmesser von 40 Metern hätte ungefähr das Äquivalent von 1 Megatonne TNT.

Olaf sprach nun bei uns von einigen Kilotonnen! Oder eben umgerechnet von bis zu 500 Gramm Antimaterie, wenn wir uns wirklich anstrengen würden! Sicher war nur, dass wir so etwas auch nicht überleben würden. Denn so groß war unsere Reichweite nicht, dass wir eine solche Ladung aus „sicherer Entfernung“ erzeugen konnten.

»»Wie groß ist den bei „einigen Kilotonnen“ die sichere Entfernung?««, wollte nun Lukas wissen.

Doch es war Tom, der eine einfache Antwort lieferte: »»Egal, als Ghost kann euch wahrscheinlich nichts passieren. Sagt mir aber rechtzeitig Bescheid, bevor ihr es testet.««

Bedrückt sahen Julian und ich uns an, manchmal bekamen sogar wir Angst vor unseren Fähigkeiten. Zumal wir inzwischen ahnten, dass es im Prinzip keine Grenze für unsere weitere Entwicklung gab, weder im Bezug auf die Kapazität, noch was die Anzahl der Fähigkeiten betraf. Denn wie hatte Olaf so schön zu Julian gesagt: „Mit etwas mehr Training lässt sich das sicher noch steigern.“

Doch nun machte sich Tom bereit, sein Glück zu versuchen. Eigentlich war es nur eine fixe Idee von Nico gewesen. Er fand, es sähe unheimlich cool aus, wenn die elektrische Entladung aus unseren Händen käme. Danny und Marc erzeugten die Entladung einfach, in dem sie die Elektronen der Luftmoleküle in der Nähe des Ziels „verschoben“. Dabei kam es aber fast immer zu chemischen Reaktionen der Luftmoleküle. So entstand regelmäßig Ozon alleine schon beim Erzeugen der Entladungsenergie. Bei dem thermischen Effekt der Entladung konnte dann auch noch einiges andere entstehen. Wenn wir die Elektronen aus unseren Anzügen gewannen, dann entstand dabei wenigstens kein Ozon - und zugegeben, es sah verdammt cool aus.

Marc hatte uns dann den Trick mit der Energiekugel gezeigt. Anfangs hatte er einfach beide Hände parallel gehalten und zwischen seinen Handflächen war dann die Energiekugel entstanden. Doch die war wesentlich schwächer als das, was wir jetzt gemacht hatten. Immer, wenn Marc sie stärker erzeugen wollte, gab es einen Überschlag zu seiner Hand. Erst mit den Handschuhen war es möglich, stärkere Energiekugeln zu erzeugen.

Für uns war es nicht viel mehr als eine Übung, die wir später effektvoll einsetzen konnten. Noch immer an Julian gelehnt, sah ich den Ausschlag des Messgerätes. Tom war nun wirklich verdammt dicht dran und Lukas schaffte danach endlich die richtige Dosierung. Wer auch immer diese Ladung abbekommen würde, wäre zwar für einige Zeit ausgeschaltet, aber nicht ernstlich verletzt.

Gerade als sich Julian nun bereit machte, erwischte uns ein starker telepathischer Tastimpuls von Frank. »»Nein, Frank, bitte nicht! - Nicht schon wieder ein größenwahnsinniger Mutant.««

»»Diesmal nicht, Mike, wir wissen im Moment nur noch nicht, was es zu bedeuten hat.««

»»Was was zu bedeuten hat?«« Neugierde war schon immer eine meiner Schwächen.

»»Boris wollte ein Treffen mit Eric, das war auch nicht das Problem. Jetzt wird Eric, der auf dem Rückweg ist, von jemandem verfolgt. Im Moment ist er unterwegs zu der alten NeckTech-Baustelle, in der die Hoods für ein paar Wochen untergebracht waren. Er nimmt eindeutig eine Signatur von jemandem auf, der ihm folgt.««

»»Hat er bei der Baustelle etwas vor, oder will er seinen „Schatten“ näher kennen lernen?««

»»Letzteres! Der Typ ist ein Mutant, die Signatur ist relativ stark und bewegt sich sehr sprunghaft.««

Ein kurzer Blick zu den Jungs und die Sache war klar. »»Louis?«« war mein nächster „Ruf“. Doch es war Thimo, der antwortete: »»Louis ist im Moment ziemlich erledigt, irgend jemand ist auf die Idee gekommen, er könne beim Umzug behilflich sein.«« Auch über Telepathie war der Vorwurf gegen Sammy nicht zu überhören. Für Louis waren die Sprünge zwischen Campus-Occursus und Camelot klein. So war Sammy auf die Idee gekommen, Louis könnte ein wenig üben. Doch nach dem x-ten Sprung wurde auch der beste Teleporter irgendwann müde. Nur, dass Louis so was natürlich nicht so schnell zugab, entsprechend ausgepowert war er nun.

»»Hast du Zeit?««

Die Antwort gab er uns hier und sofort: »Ja, klar! Wollte doch nur, dass du fragst!«, grinsend stand er vor mir. Und mir kribbelte es schon ein wenig in den Fingern, während ich Thimo nachdenklich betrachtete.

»Beherrsche dich, ich habe doch so was wie Diplomatenstatus!«, kicherte Thimo. Enttäuscht ließ ich die Elektronen, die ich gerade zusammengezogen hatte, wieder frei. Denn er hatte Recht, es war nun mal Lukas gewesen, der ihn immer wieder als „Sonderbotschafter“ bezeichnet hatte.

»Komm, sei friedlich und gib ihm schön Pfötchen«, stichelte nun auch Julian feixend. Was soll man da machen? Die Jungs hatten einfach keinen Respekt vor Führungspersönlichkeiten, dabei nannte mich Tom doch immer „Alpha-Männchen“. Resignierend gab ich also nach. Lukas und Tom reichten uns dann auch noch die Hände, und schon waren wir unterwegs.


Innerhalb der nächsten Sekunde standen wir auf dem Dach des Wachgebäudes im westlichen Außenbereich von Sektor 20. Auf dem umliegenden Gelände wollte NeckTech einmal eine Fabrik bauen, doch dazu mussten sie zuerst alles einzäunen und dieses Wachgebäude errichten, da der „Materialschwund“ innerhalb von Sektor 20 sehr hoch war. Woran das Projekt letztlich scheiterte, wussten wir nicht. Jedenfalls standen hier nur die Gerippe mehrerer Hallen und natürlich das fertige Wachgebäude.

Wir kannten dieses Gelände seit der Nacht vom 27. Oktober, als die Catcher die Hoods angegriffen und wir ihnen zu Hilfe gekommen waren. Danach hatten die Hoods hier Unterschlupf gefunden, da ihr altes Versteck nicht mehr sicher war. Erst später waren sie nach Camelot übergesiedelt.

»»Eric? Wo bist du gerade?««

»»Hallo Mike, noch zwei Blocks bis zum Eingang.««

»»Und der Typ?««

»»Ziemlich sprunghaft, aber er kommt noch immer hinter mir her.««

Wir sahen uns um und verschafften uns noch einmal einen Überblick über das Gelände. Wir wollten den Typen erst einmal ein wenig beobachten und wenn möglich sprechen. Es war schon sehr außergewöhnlich, dass ein Mutant einen anderen so massiv verfolgt. Die meisten würden so ein Verhalten sicherlich als Vorbereitung eines Angriffs sehen. Doch wer wollte Eric angreifen?

»»Wer würde es wagen? Diese Frage müsstest du dir stellen. Wer ihn beobachtet, der weiß, dass er zu euch gehört. Ich kenne nicht viele, die sich mit euch anlegen würden««, jetzt fing Thimo auch schon an, sich bei mir einzuklinken!

»»Musst dich eben etwas besser abschirmen!««, griente er zurück, »»ein Suggestor oder Hypno könnte dich so locker übernehmen - wenn er stark genug wäre.«« Dabei lächelte er nun nicht mehr.

OK, er hatte Recht. Mein Telepathie-Filter war wirklich nicht sonderlich stabil. Auch noch einer der Punkte, woran ich unbedingt arbeiten musste. Frank beherrschte das wesentlich besser und eleganter, eigentlich beherrschte das jeder Telepath besser als wir.

»»Das liegt daran, dass die „natürliche“ Telepathie immer als erstes in Erscheinung tritt, die Mutanten sind dann in einem Alter von 14 bis 17 Jahren. Die Telepathen, die du kennst, beherrschen ihre Fähigkeiten also schon mehrere Jahre. Bei euch sind es gerade mal ein paar Monate. Außerdem habt ihr noch so viele andere Fähigkeiten, um die ihr euch auch noch kümmern müsst. Ein „nur“ Telepath wird immer besser sein als ihr, da es seine einzige Fähigkeit ist.«« Es klang fast so, als wolle Thimo uns trösten.

»»Dennoch hat Mike Recht, wir müssen unsere telepathische Firewall besser in den Griff bekommen. Mike ist es gewohnt, dass zumindest ich bei ihm mitdenke. Er hat nicht einmal bemerkt, dass du dich da auch eingeklinkt hast. Frank oder Pascal wäre so etwas nicht passiert, sie können viel genauer festlegen, wen sie rein lassen und wen nicht««, Julians klang nun wirklich etwas besorgt.

Es war tatsächlich eine Schwäche von uns, auf die wir achten mussten. Wenn wir uns darauf konzentrierten, war es uns auch möglich, nur bestimmte Personen einzubeziehen, doch in Situationen wie dieser konzentrierte ich mich eben auf anderes.

»»Was machen wir nun mit Erics Schatten?««, erinnerte Lukas an den Grund unseres Hierseins. Denn das war das vorrangige Problem.

»»Ich habe da eine vage Idee««, brummte ich, »»Lukas, bitte öffne das Tor!««, »»Eric? - Fahr einfach durch das Tor, rechts bis zur großen Halle! Im hinteren Bereich der Halle ist eine Treppe, die in den Keller führt. Dort anhalten und aussteigen. Mal sehen, wie weit der Typ bereit ist, dir zu folgen.««

»»OK, das Tor ist offen, „großer Meister“!««, kam es von Lukas, der mittels Telekinese das Tor geöffnet hatte.

»»Alles klar, ich bin auch gleich da««, bestätigte Eric.

Wenig später sahen wir Erics schwarzen Van durch das Tor fahren. Wie besprochen, fuhr er auf direktem Weg zur großen Halle und verschwand dann mitsamt Wagen. Diese Halle war am weitesten fertig gestellt. Das Dach war komplett und auf drei Seiten waren die Wände schon vorhanden. Fenster, Türen und Tore fehlten, so weit war man nicht mehr gekommen.

Thimo brachte uns mit einem Sprung auf eine Galerie, die in 20 Metern Höhe an der Stirnseite der Halle verlief. Hier sollten Büros für die Werkleitung untergebracht werden, und wir hatten nun einen hervorragenden Überblick über die Halle.

Kaum hatten wir unseren Posten bezogen, sahen wir, wie Eric den Wagen verließ. Er erweckte den Eindruck, als ob er öfters hierher kommen würde und ging gemütlich auf die Treppe zu. Dann spürten wir ihn - der Unbekannte war soeben in der Halle erschienen.

Es dauerte einen Augenblick, bis wir ihn neben einem Verteilerschrank entdeckten. Nur fünf Meter unter uns auf einer Kranbrücke, die quer über die Halle reichte, stand unser unbekannter Mutant. Etwa 1 Meter 82 groß, sportlich, mit schulterlangem blonden Haar stand er da und beobachtete, wie Eric langsam die Treppe hinabstieg.

»»Nick? Was macht der denn hier?««, Thimo klang echt erstaunt.

»»Du kennst ihn?««, war meine wenig intelligente Frage.

»»Böser oder guter Junge?««, Toms Frage war da schon weitaus besser.

»»Zu wem gehört er?««, auch eine wichtige Frage, diesmal von Lukas.

»»Was kann er?««, Julian mal ganz pragmatisch.

»»Nick ist einer von uns, einer der Freien Mutanten, den kenne ich. - Nur, das ist nicht Nick!««

»»Wie jetzt, muss man das verstehen?««, Lukas verstand also genauso wenig wie ich. Auch eine Art von Trost.

Nach kurzem Zögern erklärte Thimo dann: »»Das ist sein Bruder Björn, den ich aber kaum kenne - sind Zwillinge. Die beiden haben Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Großen Konvention. In eurem Sinne ist er also einer der „ganz guten“. Er ist ein Freelancer und beide sind Surfer.««

Etwas irritiert sah Julian zu Thimo: »»Ich war mehr an seinen PSI-Fähigkeiten interessiert, nicht an seinen Hobbys.««

Thimo kicherte: »»Das ist seine PSI-Fähigkeit, er ist kein Teleporter, er…, er…, naja, die beiden können Stromflüsse benutzen. So ganz kapiert hat das bis jetzt noch keiner. Ihr wisst schon, es ist bei Mutanten nicht üblich den Fähigkeiten so auf den Grund zu gehen, wie ihr das immer macht.«« Etwas verlegen sah Thimo uns aber schon an.

Eric war inzwischen ganz im Keller verschwunden und hatte sich natürlich auch bei mir eingeklinkt: »»Aber was zur Hölle will er von mir. Ist doch auch nicht normal, dass ein Mutant einem anderen so auf die Pelle rückt.««

Ohne auf Erics Einwand einzugehen, fragte Julian weiter: »»Was bedeutet „können Stromflüsse benutzen“? Heißt das, sie benutzen die Leitungen oder tatsächlich den elektrischen Strom?««

Thimo ahnte, was Julian wissen wollte und antwortete grinsend: »»Ohne Strom, keine Bewegung. Er braucht definitiv elektrischen Strom um hier rein - oder noch wichtiger - um hier wieder herauszukommen.««

Wir alle mussten nun auch grinsen. Eine der Begleiterscheinungen, die die Elektrokinese mit sich brachte, war die, dass wir mühelos Stromleitungen aufspüren konnten. Es wäre aber zu anstrengend für uns gewesen, mittels Elektrokinese die Elektronen innerhalb von Hochspannungsleitungen zu stoppen, aber wir spürten die Leitungen selbst. In dieser Halle gab es nicht so viele Leitungen, die tatsächlich noch unter Spannung standen. Der Bau war schon lange eingestellt, so dass es keinen Grund gab, das Gebäude mit Strom zu versorgen.

Tom, Lukas, Julian und ich tasteten das ganze Gebäude ab. In Björns Nähe war nur der Verteilerkasten unter Spannung. In der Halle selbst, gab es noch acht weitere Punkte, die wir beachten mussten. Sicherlich konnte auch Björn solche Leitungen aufspüren, ansonsten käme er mit seiner Fähigkeit nicht sonderlich weit.

»»Julian, bereit?«« Julian hielt meine Hand und mit einem kurzen Druck signalisierte er seine Bereitschaft.

»»Bereit!««

Gemeinsam legten wir los. Zuerst desintegrierte ich die Leitungen, die in den Verteiler führten. Sofort wirbelte Björn herum, denn er spürte wohl in derselben Sekunde, wie der Stromfluss erlosch. Er zögerte nicht lange und hastete entlang der Laufschienen zu seinem nächsten „Einstiegspunkt“. Diesmal war es Julian, der die Leitungen desintegrierte kurz bevor Björn sein Ziel erreichte.

Absichtlich nutzten wir nicht die Thermokinese, da die Desintegration für Björn noch viel unheimlicher sein musste. Er sah nicht, wo oder wie die Kabel zerstört wurden, er spürte nur, wie der Stromfluss immer dann versiegte, wenn er auch nur in die Nähe einer stromführenden Leitung kam. Nachdem wir ihn so quer durch die Halle gehetzt hatten, näherte er sich nun keuchend dem letzten Punkt.

Es war der Treppenabgang, bei dem eine weitere Leitung in das Kellergeschoss führte. Björn war nur noch fünf Meter davon entfernt, als Eric aus der Wand trat und sich ihm in den Weg stellte. Zur Sicherheit unterbrach ich gleich darauf auch noch diese Leitung.

Björn stockte mitten im Laufen und sah Eric schockiert an. Offensichtlich verstand er nicht, was da gerade geschehen war, was uns wiederum sehr verwunderte. Er schien tatsächlich nicht damit gerechnet zu haben, dass Eric ein Mutant war. Noch bevor er etwas tat, was er später bereuen würde, teleportierte uns Thimo ebenfalls nach unten. Lukas entriss dem nun völlig verstörten Björn telekinetisch die Waffe, die er unter seiner Jacke trug.

»»Hallo, ich bin Mike und das sind meine Freunde. Ich denke, wir sollten die Gelegenheit nutzen und ein wenig reden««, begrüßte ich Björn.


Campus-Occursus, Freitag, 21.12.2035

Leider war Björn nicht sonderlich kommunikativ. Man könnte auch sagen, dass er total verstockt war. Relativ schnell hatte er sich von seiner ersten Überraschung erholt und wollte nun offensichtlich nichts sagen. Nur für einen Augenblick, als Thimo sich neben mich stellte, schien er wieder etwas irritiert zu sein. Dass Thimo, dessen Loyalität gegenüber dem Großen Rat der Freien Mutanten außer Frage stand, nun zusammen mit uns auftrat, schien ihn wirklich ein wenig aus dem Konzept zu bringen.

So gab er dann auch zu, dass er Eric beobachtet hatte. Warum oder weshalb wollte er aber schon nicht mehr sagen. Da es uns in der Halle doch zu kalt war, verpasste Eric ihm eine Schockladung und wir transportierten ihn nach Camelot. Dort mussten wir erst noch einen Raum entsprechend präparieren, damit er nicht entkommen konnte. Doch weiter wussten wir nun auch nicht mehr. Einfach freilassen wollten wir ihn nicht, er hatte schließlich zugegeben, Eric beschattet zu haben und das nicht aus eigenem Interesse. So war es nur natürlich, dass wir erfahren wollten, in wessen Auftrag er handelte.

Inzwischen hatte Eric uns darüber informiert, weshalb Boris mit ihm sprechen wollte. Anscheinend war Björn schon seit zwei Tagen hier im Sektor unterwegs um Informationen über ihn zu sammeln. Jedenfalls hatte Björn einigen von Boris Leuten Geld gegen Informationen geboten, was diese nicht sonderlich amüsant fanden, denn die Jungs hatten ein ausgeprägtes Ehrgefühl. Sie gehörten zwar nicht gerade zu unserem Fanclub, aber Boris sah in uns auch keine Feinde. So widersprach es seiner Auffassung von „guter Nachbarschaft“, etwas zu tun, was uns schaden könnte.

Auch für Thimo war Björns Verhalten etwas unverständlich, doch Björn lebte schon seit einiger Zeit nicht mehr im Sektor. Er wusste einfach nicht, was hier inzwischen alles geschehen war. Dennoch, die Drachen mit einer „normalen“ Straßengang zu verwechseln, war schon etwas heftig daneben. Die Jungs erpressten keine Schutzgelder und machten auch sonst keine krummen Sachen. Sie kümmerten sich um ihre Leute und sorgten dafür, dass es in ihrem Sektor friedlich blieb.

Über NeckTech wussten wir inzwischen, dass Björn im „Bremen-Tower“ lebte, einem der Giga-Tower im Nahbereich von Europolis, und als Privatermittler in einer kleinen Detektei arbeitete. Pascal wollte sich noch um weitere Informationen bemühen.

Frank hatte unterdessen seine Kontakte unter den Freelancern aktiviert. Jemand musste doch etwas über diese Sache wissen und dieser jemand meldete sich dann auch wenig später bei Frank. Sein Name war Steed, Joe Steed, und er war der Chef von Björn. Mr. Steed war 1 Meter 85 groß, hatte blondierte Haare mit Mittelscheitel, goldbraune Augen, eine sportliche Figur und - er war höchstpersönlich hier erschienen.

Wir saßen in Robins Büro und es schien ihm nicht zu gefallen, wie sich dieser Routinejob entwickelt hatte. Doch nicht nur ihm schien diese Angelegenheit nicht zu behagen, auch Eric war alles andere als gut gelaunt. Kamen doch nun Dinge zur Sprache, die zu erwähnen er bisher sorgsam vermieden hatte. Immer wieder hatte ich mir vorgenommen Eric nach dessen Vergangenheit zu fragen, doch genauso oft kam dann etwas dazwischen. Auch, weil wir immer spürten, dass er darüber nicht reden wollte, nun aber wurde es unumgänglich.

Von seinem Mandanten, dessen Namen Mr. Steed uns nicht nennen wollte, hatte er den Auftrag bekommen, näheres über Erics momentane Aktivitäten in Erfahrung zu bringen. Viel war dabei nicht herausgekommen, wie er uns gegenüber offen zugab. Einerseits war da Erics Auftritt als Agent der Abwehr, dann schien Eric ein Mitarbeiter von NeckTech zu sein und nun war er nicht nur Mutant, sondern auch Mitglied der Iratus Lemurum. Bis dahin fanden wir die Sache noch relativ belustigend, doch Mr. Steeds Verständnis für Humor ging anscheinend in eine andere Richtung, und das wohl nicht nur, weil er Engländer war.

Nach seinen Informationen war Eric am 20.Juli 2012 in Stockholm geboren worden und nichts deutete darauf hin, dass er ein Mutant gewesen sei. Deshalb war Björn auch so unvorsichtig gewesen. Einen Mutanten hätten sie nie so plump überwacht, falls sie überhaupt den Auftrag angenommen hätten. Da Mr. Steed selbst Telepath und wohl auch Suggestor war, erschien uns diese Aussage sehr glaubhaft. Natürlich informierten wir ihn nicht darüber, dass und vor allem wie Eric Mutant wurde. Er sollte ruhig glauben, seine Unterlagen wären manipuliert worden.

Kaum hatte Mr. Steed das Wenige, was er erfahren hatte, erzählt, stellte Eric die entscheidende Frage: »Wann genau haben Sie den Auftrag bekommen?«

Mr. Steed war Sohn eines englischen Lords und galt als Gentleman unter den Mutanten, wie Frank uns berichtet hatte. Er hatte sich seine Detektei aufgebaut und war dabei sehr erfolgreich, was für ihn als Telepathen sicherlich nicht so schwer war. Außerdem legte er viel Wert auf die Umgangsformen. Da er bisher jeden von uns nur mit „Sie“ angeredet hatte, taten wir es ihm gleich, auch wenn es inzwischen nicht mehr allzu üblich war, unter Mutanten wurde sowieso meist nur das „du“ verwendet.

Nach kurzem Nachdenken entschloss sich „Mr. Steed“ zur Antwort: »Dienstagnacht erhielten wir eine Anfrage und am Mittwochmorgen waren der Auftrag und eine Anzahlung eingegangen.« Offensichtlich hielt er diese Information nicht für so wichtig wie Eric und wir.

»»Montagnacht war ich im Fernsehen, 24 Stunden später bekommt er die Anfrage und dann auch gleich den Auftrag. Das war sicherlich kein Zufall.««

»»Darwinianer? Du glaubst, die könnten dich erkannt haben?««, zweifelte Lukas.

Doch Erick lachte nur: »»Die wissen doch längst, wo ich bin. Ich habe meinen Namen nicht geändert! Genauso wissen sie über dich, Tom und Mike Bescheid. Für sie dürfte nur Julian eine unbekannte Größe sein, da dieser Dr. Brunner seine Daten vertauscht hat. - Nein, ich denke es könnten Leute vom Militär, oder genauer von der schwedischen Territorialarmee sein. Dort bin ich gegangen worden, bevor ich dann mein zweifelhaftes „Gastspiel“ bei den Darwinianern hatte.««

»»Aber welches Interesse sollte die Territorialarmee an dir haben, du sagst doch selbst, dass sie dich gefeuert haben?««, gab ich nun zu bedenken.

»»Das eben würde ich auch gerne wissen. Wer gab Joe Steed den Auftrag?««, grummelte Eric.

Joe Steed saß nach wie vor schweigend in seinem Sessel. Natürlich hatte er mitbekommen, dass wir uns austauschten. Doch die Nachricht selbst konnte er nicht verstehen, denn diesmal hatten wir auf die Filterung geachtet.

»Können Björn und ich nun gehen? Es scheint doch nun alles, was uns betrifft, geklärt zu sein.«

Joe Steed sah mich fragend an, offensichtlich wollte er den entscheidenden Punkt nicht sehen. Doch es war Julian, der ihm antwortete: »Sie können natürlich jederzeit gehen, Mr. Steed, schließlich sind Sie freiwillig hierher gekommen. Doch Björn werden wir uns noch einmal vornehmen müssen. Da Sie es uns nicht sagen wollen, müssen wir uns die Informationen von ihm „besorgen“.«

Die Drohung, die da in „besorgen“ lag, konnte nicht überhört werden. Erst vor wenigen Tagen hatte ich bei Felix gesehen, wie schlimm sich ein massiver Telepathieeinsatz auswirken konnte. Noch immer war dieser in einer geschlossenen Abteilung, ohne auf seine Umgebung zu reagieren. Und es war nicht sonderlich wahrscheinlich, dass er je wieder so wurde, wie er einmal war.

Entsprechend war auch Joe Steeds Reaktion: »Das dürfen Sie nicht machen! Er hat Ihnen nichts getan.« Er kämpfte sichtlich mit seiner Beherrschung. Doch auch Frank, der noch immer schwieg, war sehr blass geworden.

Mir war klar, was Julian wollte, von uns allen pokerte er am besten. Entsprechend kalt wirkte er nun, als er Joe Steed anfuhr: »Eric ist ein Mitglied der „Iratus Lemurum“, das kann Ihrem Mitarbeiter nicht verborgen geblieben sein. Deshalb haben wir Grund zu der Annahme, dass Björn durchaus bewusst war, wen er da beobachtet hat.«

Ein paar Sekunden ließ Julian die völlig aus der Luft gegriffene Behauptung wirken, dann legte er nach: »Er hat jedoch Erics Fähigkeiten unterschätzt. Dennoch werten wir sein Verhalten als Vorbereitung zu einem Angriff oder sogar als Angriffsversuch. Schließlich war er auch noch bewaffnet - nicht gerade üblich, wenn man nur Informationen sammeln will.« Dabei schnaubte Julian verächtlich und warf einen missbilligenden Blick auf Björns Waffe, die auf dem Schreibtisch lag.

Dass wir ebenfalls meist bewaffnet waren, verschwieg er natürlich. Eric ging nie ohne seine „Viper“ aus dem Haus, aber unter Mutanten war der Einsatz von Waffen fast schon geächtet. So was gehört sich einfach nicht, wobei diese seltsame Regelung natürlich nur die starken Mutanten begünstigte.

Doch davon wusste unser „Mr. Steed“ natürlich nichts und Julian nutzte das nun gnadenlos aus: »Entsprechend werden wir nun alles tun, was zur Herstellung unserer Sicherheit notwendig ist. - Ihr Mitarbeiter ist Mutant, er musste wissen, welche Konsequenzen sein Vorgehen haben kann.«

Wir alle waren davon überzeugt, dass Björn keine Ahnung hatte, dass Eric ein Mutant ist. Dazu war seine Überraschung zu groß gewesen, als Eric aus der Wand trat. Aber auch diese Vermutung behielten wir für uns.

Bevor Mr. Steed die Gelegenheit hatte, alles einigermaßen auf die Reihe zu bekommen, fuhr Julian weiterhin völlig emotionslos fort: »Es ist somit für unsere Sicherheit von entscheidender Bedeutung, zu erfahren, für wen er gearbeitet hat und was er sonst noch alles tun sollte. Sobald wir hier fertig sind, wird er dann den entsprechenden „Spezialisten“ der Abwehr übergeben. Schließlich ist Eric unser Verbindungsmann zur Abwehr.«

Eric ging sofort auf dieses Spiel ein und zog mit einem müden Lächeln seinen „Dienstausweis“ aus der Tasche, den er von Pascal erhalten hatte. Mit einem geradezu eisigen Blick präsentierte er diesen nun Joe Steed und fragte kalt: »Oder wollen Sie behaupten, dass ihnen diese Tatsache ebenfalls entgangen ist, und Sie bei Ihren „Ermittlungen“ gewisse Reality-TV-Aufnahmen nie zu Gesicht bekommen haben? «

Wie fast jeder Geheimdienst, so hatte auch die Abwehr keinen besonders guten Ruf, wenn es um Verhörpraktiken ging. Wir jedoch wussten, dass gerade das Verhören zu Pascals Haupttätigkeiten gehörte, einen Telepathen konnte man eben nicht belügen, doch das würden wir Mr. Steed bestimmt nicht sagen.

Wütend sah sich Joe Steed im Zimmer um, doch außer uns wich jeder seinem Blick aus. Robin tat betont unbeteiligt und Frank leistete ihm dabei Gesellschaft. Tom und Lukas gaben sich aller größte Mühe mindestens genauso kalt wie Julian zu wirken. Und bei Eric war dies wahrscheinlich nicht einmal gespielt. Ich wusste, dass er in bestimmten Situationen emotional abschalten konnte. Dann reagierte er wie ein Roboter.

»Werden sie ihn gehen lassen, wenn ich ihnen sage, was ich weiß?«, Joe Steeds Stimme klang jetzt monoton und ein wenig brüchig. Mir wurde langsam klar, was Julian wohl schon viel früher geahnt hatte. Björn war mehr als nur Joe Steeds Angestellter. Hatten wir wirklich ein Recht, so mit seinen Emotionen zu spielen? Wie würde ich reagieren, wenn es um Julian, Tom, Lukas oder Eric ginge?

Doch wieder ließ mir Julian keine Zeit zum Grübeln: »Wenn es uns weiterbringt, sicher. Uns gefällt diese Situation auch nicht, aber es geht um viel mehr, als Sie sich auch nur vorstellen können.« Jetzt klang Julians Stimme wieder wesentlich wärmer. Auch Eric bemühte sich nicht mehr ganz so kalt zu wirken.

Davon, dass es um viel mehr ging, als er anfangs geahnt hatte, war „Mr. Steed“ inzwischen wohl auch überzeugt. Die Abwehr, NeckTech, die Hoods, die Freien Mutanten und natürlich auch wir waren verwickelt. Was er nicht wusste, war, dass wir langsam den Überblick über unsere Gegner verloren. Wir hatten einfach keine Vorstellung, wer sich so sehr für Eric interessieren konnte. Das mit der Territorialarmee war mir einfach zu unstimmig, die hätten sicherlich andere Möglichkeiten, als einen Privatermittler. Und zu den Darwinianern passte diese Aktion auch nicht, selbst die wären wesentlich vorsichtiger vorgegangen, davon waren wir überzeugt.

Joe Steed setzte sich auf und gab sich einen Ruck: »Die Anfrage und der Auftrag kamen aus Schweden, genauer Stockholm. Eine Firma, die sich „Positiv Vita“ nennt, wollte alle aktuellen Informationen über einen „Eric Menke“. Man bezog sich ausdrücklich auf die Szene, die bei Reality-TV zu sehen war. Ein Vertreter der Firma ist heute Mittag in Europolis angekommen und im A-Star Hotel „Euro-City“ abgestiegen.«

»Sie haben sich doch sicherlich über diese Firma informiert? Was machen die und was haben die mit mir zu tun?«, Eric war genauso verwirrt wie wir.

Nachdenklich sah Joe Steed zu Eric: »Habt ihr noch nie gehört: “Positiv Vita - Sag Ja zum Leben“?« Jetzt lauerte er geradezu auf eine Antwort.

Doch Erics Gesicht blieb völlig ausdruckslos, er konnte mit diesem Spruch nichts anfangen. Doch bei mir läutete etwas, irgendwo hatte ich ihn schon mal gehört. Aber worum ging es bei „Sag ja zum Leben“? Dann fiel es mir wieder ein! Es war etwas, was ich in Geschichte gelernt hatte, es ging um die Abschaffung der Todesstrafe nach Gründung der Republik.

»Die machen so etwas wie Persönlichkeitslöschung, oder?«, fragte ich und hatte mit einem Mal ein verdammt mieses Gefühl. Und wenn ich zu Eric sah, dann teilte er wohl gerade mein Gefühl.

Schon bald nach Gründung der Republik war man übereingekommen, dass es keine Todesstrafe mehr geben sollte. Der Sinn war schon immer umstritten gewesen, doch während der Zwangsunion war auch die Todesstrafe über den Atlantik wieder nach Europa gekommen.

Einige Bundesstaaten wollten die Todesstrafe nicht völlig abschaffen. Zwar wurde niemand mehr hingerichtet, jedoch konnten Personen zur „Persönlichkeitslöschung“ verurteilt werden. Früher hatte man so etwas „Gehirnwäsche“ genannt, angeblich sollten keinerlei persönliche Erinnerungen zurückbleiben.

Das Verfahren war umstritten aber erst vor zwei Jahren „ausgesetzt“ worden. Es sollte eine „Recall“-Möglichkeit entwickelt werden, eine Art von Backup der Persönlichkeit, falls es sich herausstellen sollte, dass der Verurteilte doch unschuldig war. Doch natürlich war auch dieses „Recall“ mehr als nur umstritten. Denn nach der Löschung entwickelte sich eine völlig neue Persönlichkeit. Die „alte“ wieder „einzuspielen“, würde bedeuten, die „neue“ zu töten.

Wurde also einem Unschuldigen die Persönlichkeit gelöscht und dies erst Jahre später bemerkt, entstand die paradoxe Situation, dass man entweder die „neue Persönlichkeit“ durch das Überspielen des Backups tötete oder die ursprüngliche Persönlichkeit nicht wiederherstellte und somit einen Unschuldigen „ausgelöscht“ hatte. Bis jetzt hatte man dafür keine Lösung gefunden, wobei man aber auch sagen muss, dass es nur noch selten Fälle gab, bei denen ein Unschuldiger verurteilt wurde. Jedenfalls hatte ich bisher noch nie davon gehört. Aber wo sollte man die Grenze ziehen? Wie viele unschuldig Verurteilte waren akzeptabel? Einer? Zehn? Hundert? Wie viel Ungerechtigkeit konnte sich die Republik leisten?

Doch für meine Grübeleien war jetzt keine Zeit. Wieder war es Julian, der nun Joe Steed anfauchte: »Was soll das jetzt? Ich dachte, Sie wollten uns sagen, was Sie wissen und hier kein Quiz abhalten.« Unverkennbar war Julian ziemlich sauer, wohl auch deshalb, weil er spürte, dass dieser „Mr. Steed“ damit etwas provozieren wollte.

»Was soll ich noch erzählen?«, brauste der nun auf, »die Firma hat das staatliche Monopol für Persönlichkeitslöschungen und will Informationen über Herrn Menke. Derselbe erlitt, nach meinen Informationen, vor drei Jahren einen „Unfall“ mit Teilamnesie. Genau das gehört aber zu dem Standardverfahren, wenn eine Wiedereingliederung durchgeführt werden soll.

Bei der Territorialarmee wurde er mehrfach von einer Abteilung zur nächsten versetzt und eckte ständig an, bis er dann vor einem Jahr „verabschiedet“ wurde. Gleich darauf verschwand er spurlos und taucht nun als Agent der Abwehr wieder auf. Und Wunder über Wunder, jetzt ist er sogar ein Mutant. Was soll ich also noch erzählen? Es scheint doch wohl so zu sein, dass er schon immer ein Mutant war, dem die Abwehr die Persönlichkeit gelöscht hat, um ihn für ihre Zwecke zu verwenden.«

Es war totenstill im Raum. Eric, der bis jetzt ruhig an der Wand gestanden hatte, war ganz bleich geworden und fing an zu Zittern, Schweiß stand ihm auf der Stirn. Mit zwei Schritten war ich bei ihm und nahm ihn in den Arm. Es war ein Fehler gewesen, dass wir nie auf seine Vergangenheit eingegangen waren. Von seinem Gedächtnisverlust hatten wir nie etwas bemerkt. Auch jetzt beim vorsichtigen Sondieren konnte ich nichts konkretes feststellen. Was soll das ganze Gerede?

»»Du musst nur etwas tiefer graben! Ich habe keinerlei Erinnerung an meine Kindheit. Ich habe überhaupt keine persönliche Erinnerung, die älter als drei Jahre ist. Es ist ähnlich wie bei Julian, als wäre ich erst vor drei Jahren geboren worden. Wie bei ihm, ist auch bei mir nur das Grundwissen vorhanden.««

»»Beruhige dich, wir stehen zu dir, egal was damals war. Du bist der Eric, den wir kennen und mögen. Was auch immer zuvor war, ist uns doch egal. Das was Joe Steed da vermutet, ist natürlich Blödsinn, du bist erst durch uns Mutant geworden, ehrlich. Da waren zwar ein paar Merkwürdigkeiten, aber eine PSI-Signatur hast du erst seit kurzem««, versuchte ich ihn zu beruhigen.

»»Außerdem ist das bis jetzt alles nur Vermutung, wir wissen doch gar nicht, was wirklich war. Joe Steed muss ja völlig daneben liegen, weil er nicht weiß, dass du erst durch Mike zum Telepathen wurdest««, meldete sich nun auch Lukas.

Doch es war dann Julian, der Eric wirklich wieder zurückholte: »»He Eric, schlimmer als meine „Vergangenheit“ kann es doch wirklich nicht sein. Ich wurde gezüchtet um mit meinesgleichen die Darwinianer an die Macht zu bringen. Komm schon, wir packen dass!««

Joe Steed war ebenfalls aufgestanden, er fühlte sich offensichtlich nicht sehr wohl: »Es tut mir leid, ich dachte Sie wüssten… wenigstens zum Teil… Der Typ heißt Tor Bergström, ich denke, er müsste es wissen, falls wirklich…«

Ich sah ihn an, wir hatten es provoziert, wir konnten ihm da keinen Vorwurf machen. »Es ist OK! Es wäre jetzt aber besser, wenn Sie gehen würden. Björn natürlich auch.«

Julian war nun ebenfalls zu Eric gekommen und zog ihn an sich, während ich mit Joe Steed sprach. Dieser sah noch immer ein wenig hilflos umher, bevor er mich noch einmal fixierte: »Sie hätten es nicht getan - oder?«

Ich wusste sofort, was er meinte: »Nein! Sicher nicht! Mir ist etwas ähnliches einmal passiert, und der Junge ist noch immer völlig verwirrt. Er war ein Schwein, beinahe sogar ein Mörder, aber es hätte nicht passieren dürfen, nicht in diesem Ausmaß.« Immer wieder musste ich an die völlig ausdruckslosen Augen von Felix denken, wie er schlaff in Toms Armen hing, nachdem ich ihn „freigegeben“ hatte. Ich hatte ihn kurz zuvor mit aller Macht gegen „Sigi“ gehetzt, den er dann auch wie wahnsinnig bearbeitet hatte. So etwas durfte mir nie wieder passieren, ich durfte nie wieder so die Kontrolle verlieren, dazu waren wir einfach zu stark.

Ich bekam dann nicht mehr mit, wie Joe Steed von Frank aus dem Büro geführt und zu Björn gebracht wurde. Gemeinsam verließen die beiden Camelot, versprachen aber noch, Tor Bergström nicht vor Montag zu kontaktieren.

13. - Don't Give Up

In this proud land we grew up strong, we were wanted all along
I was taught to fight, taught to win, I never thought I could fail
No fight left or so it seems, I am a man whose dreams have all desert
I've changed my face, I've changed my name
But no one wants you when you lose.
aus „Don't Give Up“ von Peter Gabriel

A-Star Hotel „EuroCity“, Freitag, 21.12.2035

Finsternis lag über der Stadt. Dicken Wolken voller Schnee hingen tief, fast schon bedrohlich über der großen Ebene. Die sonst so fröhlich bunte Lichterflut wurde vom starken Schneefall nahezu geschluckt. Auch das Licht des abnehmenden Mondes drang nur sehr schwach durch die fast geschlossene Wolkendecke.

Wir standen auf dem Dach des „EuroCity“ Hotels. Wieder einmal war es Louis, der den Transport übernommen hatte. Diesmal war aber die komplette „Mannschaft“, also alle Iratus Lemurum, versammelt. Wahrscheinlich bekamen jetzt schon wieder einige aus dem Großen Rat feuchte Hände. Nachdenklich sahen ich zu Eric, der noch immer etwas hilflos wirkte: »»Hier steh ich und kann nicht anders!««, fast schon ein wenig Verzweiflung schwang bei ihm mit.

Doch wir waren nicht auf einem Reichstag in Worms, und selbst dort sollen die berühmten Worte so nie gefallen sein. Wir wollten lediglich jemanden besuchen. Zugegeben, die Zeit und der Umfang unseres „Besuches“ war etwas ungewöhnlich. Aber was an der ganzen Sache war nicht ungewöhnlich? Wir wollten etwas von diesem Tor Bergström in Erfahrung bringen. Etwas von dem wir nicht sicher waren, ob wir es hinterher wirklich noch wissen wollten.

Aber Eric hatte Recht, wir standen hier und konnten nicht anders. Uns war eigentlich egal, was dabei herauskam, denn wir mochten den Eric, den wir kannten. Wie er so geworden war, interessierte uns nicht. Jedoch für Eric war es offensichtlich wichtig, hinter das Geheimnis seiner eigenen Vergangenheit zu kommen.

Wir waren bis zur Suite von Tor Bergström vorgestoßen, ohne jemandem zu begegnen. Eine Gruppe von neun Typen in schwarzen Kampfanzügen, mit schwarzen langen Ledermänteln, die nachts durch ein Hotel „geisterten“, war auch nicht unbedingt das, was wir am nächsten Tag in den „Europolis News“ lesen wollten. Vor dem Zimmer hielten wir an und sondierten noch einmal die Lage.

Tor Bergström war nicht alleine in seinem Zimmer, es befanden sich noch zwei andere Personen bei ihm. Er selbst war offensichtlich mehr als nur beunruhigt, während die beiden anderen sehr ruhig waren. Einer der beiden war Pascal, der mich nun auch erfasst hatte. Nun bestand für uns kein Grund mehr zurückhaltend zu sein.

Für Tor Bergström war es sicherlich ein Anblick, den er nie vergessen würde. Nacheinander traten wir aus der Wand und verteilten uns schweigend im Zimmer. Pascal und einer seiner Kollegen standen vor der Theke, die zu der kleinen Bar der Suite gehörte. Hinter der Theke stand Tor Bergström, ein mittelgroßer, etwas molliger Mann um die 50 Jahre alt. »Ich dachte, wir hätten noch ein wenig Zeit«, raunte der Maskierte Pascal zu.

»Tut uns leid, wenn wir unpassend erscheinen, aber wir haben mit Herrn Bergström etwas zu besprechen«, grollte Tom.

Lukas, der die gepackten Koffer betrachtete, fügte spöttisch hinzu: »Sie wollen schon wieder abreisen?«

»Wir wollten ihn gerade zum Terminal geleiten. Ihr erlaubt doch, wir haben nicht mehr viel Zeit«, Pascal schien etwas genervt zu sein.

»Sorry, Pascal, aber ich fürchte, wir haben da etwas andere Pläne. Herr Bergström muss seine Abreise wohl noch ein wenig verschieben.«

»»Mike, was soll das Ganze. Das ist ein offizieller Auftrag der Abwehr!««

»»Du weißt genau, was das soll! Es geht um Eric, und er will wissen, was Bergström weiß. Ihr wisst doch nur von ihm, weil wir euch über Joe Steed darauf gestoßen haben.««

Bergström hatte offensichtlich Angst. Besonders bedrohlich war das Schweigen, das durch unsere telepathische Unterhaltung entstand. Er spürte die Spannung, konnte aber sicherlich nicht so recht einschätzen, was hier gerade geschah.

»»Falsch!««, unterbrach Julian meine Analyse, »»der Staatsschutz hat ihn schon ein wenig informiert. Die Leute von „Positiv Vita“ haben sich nicht alleine auf Joe Steed verlassen, sondern auch offizielle Kontakte bemüht. So überraschend ist die Verbindung von Eric zu Mutanten für Bergström nicht.««

»Pascal, für Eric ist es wichtig. Er will und muss wissen, was „Sie“ mit ihm gemacht haben und vor allem warum.« Frank hatte laut gesprochen um der Situation ein wenig die Schärfe zu nehmen.

Pascal sah fragend zu seinem Kollegen, der unmerklich nickte. Daraufhin machte er eine einladende Geste zu einer Sitzgruppe. Bergström hatte sich nun gefasst und sah Eric in die Augen. Offensichtlich kannte er ihn, was aber auf Eric nicht zutraf: »Was genau wollen Sie wissen?«, fragte er und ließ den Cognac in seinem Glas kreisen.

»Alles! Die großen Fragen: Wer bin ich, woher komme ich und was habe ich getan?«

Bergström und Pascal seufzten fast gleichzeitig, doch dann begann Bergström zu erzählen: »Mit dem Anfang Ihrer Geschichte habe ich nichts zu tun. Es war teilweise notwendig, aber auch ein großes Stück persönliche Neugierde von mir, die mich bewog mehr in Erfahrung zu bringen. Ihr Fall war lange ein Rätsel für uns. Und gerade als ich dachte, ich hätte alles zusammen, sah es so aus, als wäre doch alles wider ganz anders. Aber immerhin kann ich das alles, wenigstens bis zu einem gewissen Punkt, einigermaßen klar erzählen.

Es war 2018, das Jahr, in dem die Große Evakuierung offiziell beendet wurde, als einige Militärs der Territorialarmee zusammen mit Wissenschaftlern ein geheimes Projekt ins Leben riefen.

Ich selbst kenne auch nicht alle Hintergründe, doch Ziel des Projekts war es, einen neuen Typ von Soldaten zu schaffen. Kinder sollten über Jahre zu Spezialisten herangebildet werden. Durch besondere Schulung wurden die Kinder konditioniert, ihnen wurden bestimmte Verhaltensweisen antrainiert. Ganz besonders deutlich wurde dies, wenn es galt, in bestimmten Situationen völlig emotionslos zu reagieren.

Alle Kinder für dieses „Projekt“ wurden aus Waisenhäusern rekrutiert - genauer gesagt, entführt! Sie, Eric, waren zu der Zeit 6 Jahre alt, als man Sie in das Trainingszentrum brachte. Über die Ausbildung und das, was Sie dort gelernt haben, weiß ich nichts. Alles war streng geheim, und im Übrigen nach den geltenden Gesetzen sowieso verboten.

Im Jahre 2031 kam es dann zu einem schwerwiegenden Zwischenfall. Die Versuchspersonen waren nun schon durchschnittlich 20 Jahre alt. Jedenfalls scheint es eine Art von Revolte gewesen zu sein. Es gab sehr viele Tote, auch einige der Versuchspersonen starben. Aber eine Versuchsperson - nämlich Sie - konnte entkommen.«

Bergström machte eine Pause: »Das Bisherige habe ich aus Unterlagen zusammengesucht und durch ein paar Kontakte herausbekommen. Das Weitere habe ich aus den geheimen Prozessakten zusammengetragen.«

Noch einmal nippte er an seinem Cognac: »Sie müssen sich nach diesem „Zwischenfall“ einige Tage in „Freiheit“ durchgeschlagen haben. Als Sie zurückkamen, war das Trainingszentrum zerstört und alle Ihre Leidensgenossen waren tot. Jemand sehr weit oben hatte kalte Füße bekommen und alle Spuren sollten vernichtet werden. - Wirklich alle Spuren!

Sehr bald machte man es sich zunutze, dass Sie ebenfalls hinter den Leuten her waren, die für das Projekt gearbeitet hatten. Man ließ Ihnen Informationen zukommen, damit Sie diese Personen aufspüren konnten, die teilweise selbst untergetaucht waren. Informationsbeschaffung war eines der Ausbildungsziele gewesen und Sie haben sich weitere Informationen von den Personen besorgt, die Sie so nach und nach aufspürten. Falls jemand überlebte, kam dann ein Aufräumkommando und sorgte dafür, dass keine verwertbaren Spuren zurückblieben.

Doch dann wollten Sie deren Spiel nicht mehr spielen! Dank Ihrer Ausbildung wurde Ihnen klar, dass Sie schon wieder manipuliert wurden, dass man ihnen absichtlich Informationen zukommen ließ. Entsprechend Ihrer Ausbildung begnügten Sie sich von dem Moment an nicht mehr mit den „Bauern“, Sie suchten nach der „Schwarzen Dame“ - der Hauptfigur in diesem schmutzigen Spiel.

Sie fanden aber nur die „Nummer 2“ und wurden dabei verhaftet. Von General Monk konnte, nach Ihrem „Verhör“, niemand mehr etwas erfahren. Wahrscheinlich auf Betreiben des Unbekannten wurde Ihnen im Geheimen der Prozess gemacht und Sie wurden zum Tode verurteilt.

Wie gesagt, es war ein Geheimprozess und das Urteil wäre auch wirklich vollstreckt worden. Doch da kam plötzlich der Kontrollausschuss für die Geheimdienste hinter diese Angelegenheit. Jemand sehr mächtiges rettete Ihnen damit das Leben. Und da komme ich dann ins Spiel.«

Wieder sah er nachdenklich zu Eric: »Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, ich hätte mich geweigert es zu tun. Andererseits, damals waren Sie eine Zeitbombe, man hätte Sie ein Leben lang wegsperren müssen.

Jedenfalls war ich der Leiter für die Entwicklung des Systems. Es sollte eigentlich dazu dienen, traumatische Erinnerungen zu löschen. Ich bin nicht besonders stolz darauf, denn wir experimentierten auch mit Menschen, Lebenslängliche, die sich freiwillig gemeldet hatten. Dann kam die Idee mit der Persönlichkeitslöschung und ein neuer Geschäftszweig tat sich für unsere Firma „Positiv Vita“ auf. Sie, Eric, waren einer von denen, die im Laufe der Jahre „behandelt“ wurden.

Dabei wurden alle „persönlichen Erinnerungen“ gelöscht. Ab diesem Zeitpunkt waren Sie wieder ein unbeschriebenes Blatt. Alles, was Sie zu dem gemacht hatte, was Sie waren, war gelöscht. In Tiefenhypnose wurden dann bestimmte Verhaltensregeln wieder neu angelegt und der Eric, der Sie heute sind, entstand. Doch verschiedene Dinge des „alten“ Eric blieben erhalten, was uns auch einige Sorgen bereitete. Die Art, wie Sie in bestimmten Situationen reagieren, oder dieses „Mentat“ denken, also das Planen und Durchspielen von einer Vielzahl von Situationen war unauslöschlich.

Nach einiger Zeit wurden Sie dann, nach einem „offiziellen Unfall“, entlassen und nahmen den Dienst bei der Armee „wieder“ auf. Doch hier geschah wieder etwas Seltsames, Sie schienen Probleme einfach anzuziehen. Obwohl die Leute der Führungsstelle, die Ihre Eingliederung betreuten, sich alle Mühe gaben, stolperten Sie von einem Schlamassel in den nächsten.

Doch bei jeder Untersuchung stellten die nur fest, dass Sie nichts dafür konnten. Da die Territorialarmee natürlich nicht über Sie informiert war, nahmen dort Ihre Probleme ständig zu. Bis heute ist jedoch nicht geklärt, wieso die Führungsstelle nicht über Ihre Entlassung informiert wurde. Auch wie Sie dann zu den Darwinianern gekommen sind, ist völlig unklar. Letzteres habe ich übrigens erst heute erfahren.«

Wiederum nach einer Pause fuhr er fort: »Mich hat Ihre Geschichte schon lange verfolgt, gerade Ihr Verschwinden ließ mir einfach keine Ruhe. Als ich Sie dann im Fernsehen sah, glaubte ich endlich verstanden zu haben. Ich dachte, die Abwehr hätte sich Ihrer bedient. Ich dachte, ein paar Informationen würden mir genügen dies zu beweisen, so heuerte ich Mr. Steed an.

Hier eingetroffen, kontaktierte mich der Staatsschutz, mit dem ich auch sonst öfter zu tun habe. Von ihnen erfuhr ich, dass Sie nach deren Auffassung gar nicht bei der Abwehr seien. Sie hätten jedoch Kontakt zu NeckTech und zu Mutanten. Meine Verwirrung stieg, denn nun passte überhaupt nichts mehr zusammen.

Wenige Stunden später taucht dann die Abwehr hier auf und empfahl mir die sofortigen Abreise, da ich sonst Probleme mit Ihren Freunden, den Mutanten, bekommen könnte. Das Ganze ist für mich nun um einiges verwirrender geworden, als ich je gedacht hätte.«

Die ganze Zeit über hatte Eric zwischen Julian und mir gesessen. Wir hatten ihn mental unterstützt und waren nun doch froh, dass es nicht ganz so schlimm war, wie Eric befürchtet hatte. In ihm war die Befürchtung gereift, er könne eine Mischung aus „Jack the Ripper“ und „Hannibal Lecter“ gewesen sein, der nachts mordend durch Stockholm gezogen sei.

Jetzt mischte sich Pascal ein: »Wir vermuten inzwischen, dass es die Darwinianer waren, die da eingegriffen haben. Erics Wechsel von der Armee zu den Darwinianern ging zu schnell und zu reibungslos. Wir sind sicher, dass sie zumindest hinter den Vorfällen bei der Armee stecken.«

»Wieso? Könnte doch auch sein, dass ich einfach nur Pech hatte«, Erics Stimme klang tonlos.

Pascal schüttelte nachdrücklich den Kopf: »Die Aufgabe der Führungsstelle war es, dir eine „reibungslose“ Wiedereingliederung zu ermöglichen. Das war doch der ganze Sinn, den man diesem System überhaupt zusprechen konnte.

Die Persönlichkeit wurde gelöscht und ein völlig anderer Mensch wurde „geboren“. So viele Patzer wie bei dir, gab es vorher und hinterher nie wieder! Die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen, aber wir sind sicher, dass sie an dem „Schulungsprogramm“ interessiert waren, das man bei euch durchgezogen hat. Du kennst doch einen Teil ihrer Pläne, da würde doch so eine „Mentat“ Ausbildung sehr gut hinzupassen.«

Bei dem letzten Satz war auch Julian zusammengezuckt, er fühlte sich immer ein wenig angegriffen, wenn die Sprache auf das „Homo Sapiens Superior“-Programm der Darwinianer kam. Aber Pascal hatte Recht, dazu würde so eine „Ausbildung“, wie sie Eric „genossen“ hatte, sehr gut passen. Wie oft hatten wir schon über seine seltsame Art zu Denken und zu Planen gestaunt.

»Aber, wenn ich ihnen so wichtig war, warum wurde ich dann mit den anderen so einfach geopfert? Ihr wisst schon, was ich damals gesagt hatte, wir wurden geopfert, um Zeit zu gewinnen. Wenn ich ihnen aber so wichtig war, macht das keinen Sinn.«

Wir alle sahen uns nur stumm an, darauf schien es wirklich keine vernünftige Antwort zu geben. Doch Bergström machte einen Versuch: »Ich kenne zwar das Ereignis nicht, welches Sie da ansprechen, jedoch war es die Aufgabe der Führungsstelle, Sie zu überwachen. Nach Ihrem Verschwinden wurden Sie sehr intensiv gesucht.«

Frank murmelte nun: »Julian kam ja auch nicht „ursprünglich“ aus Labor-23, vielleicht haben sie Eric da nur „geparkt“ bis ein wenig Ruhe herrscht.«

»Und die im Labor-23 wussten nichts von seiner Bestimmung?«, zweifelte Lukas.

Innerlich gab ich mir einen Ruck: »Ist doch eigentlich egal, Eric weiß nun, dass er kein psychopatischer Mörder war und den Rest werden wir schon noch erfahren. Ich denke, wir werden in nächster Zeit noch öfters auf die Darwinianer treffen.«

Knurrend ergänzte Tom: »Vielleicht ergibt sich dann eine Gelegenheit zum Plauschen. In diesem Sinn wäre Felix ein guter Anfang!«

Bei dem Gedanke fröstelte es mich dann aber doch. Auch Eric zitterte wieder ein wenig. So hart er manchmal sein konnte, diese Sache ging ihm nun doch sehr nahe. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, was das für ein Gefühl war. Andererseits, wer immer er vorher war, ich wollte diesen Eric behalten. Er gehörte zu uns und hier bei uns war er zuhause.

Sanft legte ich ihm wieder die Hand auf die Schulter: »Komm', Eric, There's a place, where we belong!«

Danach verließen wir das Hotel und kehrten zum Campus-Occursus zurück. Bestimmt würde die Zeit über Weihnachten uns etwas Ruhe bringen. Pascal machte unterdessen Bergström klar, dass es besser war, wenn er sich nicht weiter mit Eric beschäftigen würde. Zum einen, weil wir es nicht wollten und zum anderen bestand die Gefahr, dass er sonst den Darwinianern in die Quere kommen würde.

Nachwort

Da es ja eh keinen Sinn macht, auf die Möglichkeit und Notwendigkeit des Feedbacks hinzuweisen, spar ich mir die Bytes.

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