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Schicksalsschläge
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Informationen
- Story: Schicksalsschläge
- Autor: Totto
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama
Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel - Das Leben ist ungerecht!
Thomas saß im Unterricht. Noch zwei Schulstunden, und er würde bei Michael im Krankenhaus sein. Aber erst einmal Schule. Michael hatte vor zwei Wochen eine Knochenmarkstransplantation bekommen. Es war alles sehr gut verlaufen, und so wie es gestern ausgesehen hatte, würde Thomas' große Liebe bald wieder herauskönnen.
Was hatte er nicht zusammen mit Michael gezittert. Aber alles war gut verlaufen. Auch die Klasse wusste über ihn und Michael Bescheid. Jeder akzeptierte, dass die beiden schwul waren. Thomas war beliebt in der Klasse und in der Schule. Schließlich war er ja Schulsprecher.
Er konzentrierte sich auf den Unterricht, auch wenn er mit den Gedanken bei Michael war. Herr Paschke, sein Mathelehrer, war gerade dabei über irgendwelche Formeln zu reden, als es an die Tür klopfte. Der Direx, Herr Wunderlich, trat ein. Er unterhielt sich kurz mit Herrn Paschke und zeigte auf Thomas. Dieser wurde etwas nervös.
Plötzlich sagte sein Lehrer: »Thomas! Würdest Du mal eben mit Herrn Wunderlich in sein Büro gehen? Nimm bitte Deine Schulsachen mit.«
Das war merkwürdig. Hatte er irgendetwas vergessen? Thomas stand von seinem Tisch auf. Auch die anderen in der Klasse sahen ihn verwundert an. Dann gingen die beiden in sein Büro. Thomas überlegte, was wohl sei. Ob mal wieder ein Schüler Probleme hatte und er sich darum kümmern sollte? Aber mitten im Unterricht? Sie kamen im Büro an. Der Direktor schloss die Tür und deutete dem Jungen an, sich zu setzen. Thomas tat dies. Auch der Direx setzte sich. Was Thomas jetzt zu hören bekommen sollte, damit hatte er nicht gerechnet.
Der Direktor holte einmal tief Luft und redete dann: »Thomas. Ich bin ungern der Überbringer von schlechten Nachrichten, noch weniger, wenn sie so schlecht sind wie diese. Ich wünschte, ich könnte Dir das ersparen.«
Thomas sah den Direktor an und meinte: »Nun machen Sie es nicht so spannend, so schlimm kann alles gar nicht sein.« Thomas lächelte sogar etwas. Doch das sollte ihm als bald vergehen.
Der Direktor fuhr fort: »Thomas, ich fürchte, diesmal täuschst Du Dich. Gleich kommt Dein Vater, der holt Dich ab. Es geht um Michael.«
Plötzlich wich alle Farbe aus Thomas' Gesicht, und er hakte sofort nach: »Was ist mit ihm? Hat sich sein Zustand wieder verschlechtert?«
Der Direktor stand auf und ging auf Thomas zu. Dann sah er ihn direkt an und meinte: »Es ist schlimmer. Michael ist heute Morgen gestorben.«
»Bitte?« Thomas glaubte seinen Ohren nicht, und plötzlich schrie er: »Nein, das kann nicht sein. Ihm ging es gestern doch so gut! Das ist nicht wahr! Das ist ein Irrtum!«
Der Direktor hatte die Hände auf Thomas' Schulter gelegt und sagte: »Es tut mir leid. Ich kann Dir leider nicht mehr sagen. Ich wollte es auch nicht glauben, als Dein Vater gerade anrief.« Kaum sagte er das, klopfte es an der Tür, und die Sekretärin kam herein.
»Herr Wunderlich! Thomas' Vater, Herr Müller ist da.« Der Direktor ließ bitten. Thomas' Vater kam herein. Er sah seinen Jungen, und dieser stand auf und fiel seinem Vater in die Arme.
Dann heulte er los: »Papa, sag, dass das alles nicht wahr ist. Bitte!« Herr Müller nahm seinen Sohn und sah ihm in die Augen.
Dann sprach er: »Leider doch. Er ist heute Morgen ganz plötzlich gestorben. Wahrscheinlich ein Blutgerinnsel, was sich im Herzen festgesaugt hatte. Er hatte keine Chance. Aber er hat nicht gelitten.« Jetzt war es um Thomas geschehen. Er fing ganz bitterlich an zu weinen und sackte zusammen. Das heißt, er wäre zusammengebrochen, wenn ihn der Direktor und sein Vater nicht gestützt hätten. Sie setzten Thomas auf die Couch.
Der legte sein Gesicht in seine Hände und weinte bitterlich und schluchzte immer wieder: »Warum Michael? Warum er?«
Sein Vater setzte sich neben ihn und versuchte etwas zu sagen: »Mein lieber Sohn. Ich weiß nicht, warum Michael von uns gehen musste. Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er bestimmt nicht unglücklich gestorben ist. Denn ihr habt euch geliebt. Und das zählt.« Dann nahm er seinen Sohn in den Arm.
Der Direx sah Herrn Müller an und meinte: »Ich bin vorne bei Frau Krüger. Wenn Sie was brauchen, sagen Sie Bescheid.«
»Schon gut, Herr Wunderlich. Wir werden jetzt nach Hause fahren. Da sind Michaels Eltern und dessen Bruder«, meinte Thomas Vater.
»Was? Oliver und seine Eltern sind bei uns?« schreckte Thomas auf.
Herr Müller sah seinen Sohn an, der sich mittlerweile wieder etwas gefangen hatte, und meinte nickend: »Ja, sie wollten nicht zu Hause bleiben, und für Oliver ist es auch besser.«
»Den muss es ja noch härter getroffen haben als mich«, meinte Thomas da nur und fügte hinzu, »Er hat seinen Bruder vergöttert.«
Herr Müller sah seinen Sohn an, nicht ganz ohne etwas Stolz, und meinte: »Du bist wie immer. Trotz aller Bedrängnisse. Immer schauen, wie man anderen helfen kann. Egal wie schlecht es einem selbst geht.«
»Du verstehst etwas falsch«, meinte Thomas und erzählte weiter, »Ich habe vor ein paar Wochen, als es Michael schlecht ging, ihm ein Versprechen geben müssen.«
»Welches denn?« wollte der Direktor wissen.
Thomas sah die beiden an und meinte dann: »Sollte Michael mal etwas zustoßen, soll ich weiterhin für Oliver da sein, weil er den Tod seines großen Bruders nicht überwinden würde. Und ich habe vor, dieses Versprechen zu halten.« Sein Vater sah ihn an und lächelte etwas. Ebenso der Direktor, der meinte: »So kennen wir Dich. Immer zu seinem Wort stehen. Aber solltest Du mal jemanden zum Reden brauchen: meine Tür steht immer für Dich offen. Auch wenn Du Dich einfach nur mal ausheulen willst. Und das meine ich ernst. Du bist unser bester Schüler hier und das leider nur noch ein Jahr lang. Dann hast Du Dein Abi, und wir sind dich leider los.«
Thomas lächelte etwas und meinte: »Danke, Herr Direktor. Ich werde das Angebot bestimmt in Anspruch nehmen.«
Thomas und sein Vater verabschiedeten sich von Herrn Wunderlich. Dann gingen sie zum Auto.
In der Zeit, wo Thomas beim Direktor war, erzählte Herr Paschke der Klasse, was los war: »Ihr wundert euch jetzt wahrscheinlich, warum Thomas zum Direktor musste. Der Grund dafür ist leider ein sehr trauriger. Ich weiß, dass ihr alle sehr gute Freunde von Thomas und Michael seid. Umso schwerer fällt mir das, was ich euch zu sagen habe. Michael ist heute Morgen leider gestorben.«
Ein Raunen ging durch den Klassenraum. Alle sahen sich an und einer sagte: »Das kann nicht sein. Gestern ging es ihm doch noch so gut.«
»Leider ist das die traurige Wahrheit. Aus diesem Grunde hat der Direktor beschlossen, der gesamten Jahrgangstufe für heute frei zu geben. Aber bevor Ihr geht, möchte ich Euch um etwas bitten. Helft Thomas und versucht ihm zu zeigen, dass Ihr für ihn da seid, so wie er es immer für Euch war.«
Kathi meinte als erste: »Ich denke, ich spreche für alle hier. Wir werden alles tun, damit sich Thomas nicht vergräbt und zerbricht. Das sind wir Thomas, aber auch Michael schuldig.« Alle Schüler stimmten entweder mit »Ja« oder einem Nicken zu.
Herr Paschke meinte nur: »Ich bin stolz auf Euch, auch wenn die Umstände mehr als traurig sind. Ach, bevor ich es vergesse. Der Direktor hat Thomas für die letzten zwei Wochen vom Unterricht befreit, damit er sich richtig sammeln kann. Ob Thomas es macht, weiß ich nicht. Doch ich denke, es wäre gut für ihn, wenn er etwas Abstand gewinnen würde und dann im letzten Schuljahr sich richtig konzentrieren kann. Da jetzt sowieso nicht mehr soviel läuft und nächste Woche die Jahrgangsstufenfahrt stattfindet, wahrscheinlich ohne Thomas, verpasst er auch nicht wirklich viel.«
»Aber Herr Paschke, sollten wir nicht versuchen, Thomas zum Mitfahren zu überreden?« fragte Katie.
Die Klasse sah Kathi an. Jens, ein guter Freund von Michael und Thomas, meinte nur: »Wenn mein bester Freund nicht mitfährt, fahre ich auch nicht.« Dann stand er auf und ging raus. Herr Paschke ließ ihn gehen. Kathi wollte Jens aufhalten.
Der Lehrer sah sie an und meinte: »Lass ihn. In ihm ist gerade glaube ich genauso viel gestorben wie in Thomas.« Jens lief raus auf den Pausenhof, setzte sich auf die Treppe und heulte los.
»Hey, Jens. Was ist los?« Das war Thomas, dem aber sofort klar war, was los war. Jens drehte sich erschrocken um und fiel dann seinem besten Freund in die Arme und heulte einfach weiter. Thomas versuchte beruhigend auf ihn einzureden, auch wenn es ihm eigentlich schwer fiel, weil ihm selbst nach Heulen zumute war.
Er packte Jens bei den Schultern, sah ihm in die Augen und meinte: »Hey. Ist schon gut. Ich weiß, was Michael für Dich bedeutet hat und dass Du ihn ebenso liebtest wie ich. Hol Deine Schulsachen, mein Dad und ich nehmen Dich mit zu uns. Michaels Eltern sind auch da. Und Oliver. Vielleicht hilft uns das allen etwas.« Jens sah ihn an, nickte, und rannte rein.
Herr Müller trat vor seinen Sohn und meinte: »Michael wäre stolz auf Dich.«
Thomas sah seinen Vater und meinte: »Ich bin sicher, er hätte dasselbe getan. Aber andererseits hilft es mir auch.« Den zweiten Satz sprach er sehr leise zu sich selbst.
Jens kam wieder heraus gerannt, mit Kathi im Schlepptau und rief: »Habt ihr noch Platz im Auto für eine Person mehr?«
Thomas sah seinen Vater an und meinte: »Können wir da nein sagen?« Herr Müller und Thomas grinsten leicht, wurden aber wieder schnell ernst.
Entgleisungen
So fuhren die vier zu dem Haus der Müllers. Als Thomas den Wagen von Michaels Vater sah, musste er schlucken.
Bevor er ausstieg, fragte er seinen Vater: »Paps! Ich habe keine Ahnung wie ich ihnen begegnen soll. Was ist, wenn sie mir die Schuld an Michaels Tod geben?«
Bevor Herr Müller antworten konnte, hörte Thomas schon die Stimme von Michaels Vater: »So was darfst Du nicht mal denken. Du gehörst fast zur Familie.« Als Thomas das hörte, stieg er aus und fiel Michaels Vater in die Arme und beide weinten. Jens, der noch mit Kathi hinten saß, schluckte.
Das Mädchen nahm ihn in den Arm und meinte: »Man könnte fast glauben, Du warst in Michael verliebt.«
Jens sah sie an und meinte: »Das war ich auch. Ich habe es Thomas gestern noch gestanden.«
Sie sah ihn entsetzt an: »Was, Du bist auch schwul? Und Du hast es mir nicht gesagt?« Das war zuviel für Jens. Er dachte wohl, dass sie wirklich sauer war. Er machte die Wagentür auf und rannte los. Thomas sah das und löste sich von Michaels Vater, Herrn Krüger.
Kathi rannte auch los und rief: »Jens! Bleib stehen! Ich habe es nicht so gemeint!« Jens rannte noch ein kleines Stück, blieb stehen und sank auf die Knie und heulte los.
Herr Krüger sah Thomas verwirrt an, dieser meinte: »Ich erkläre Ihnen alles später. Ich muss erst zu Jens.« Er rannte los. Kathi hatte sich schon neben den völlig verstörten Jungen gekniet und versuchte, ihn zu beruhigen. Doch Jens reagierte nicht.
Erst als Thomas sich dazu kniete und zu Kathi meinte: »Lass mal gut sein. Ich erkläre Dir alles später. Lass mich mal mit ihm allein. Sag meinem Vater, ich komme gleich mit Jens rein.« Kathi nickte, stand auf und ging auf Herrn Müller und Herrn Krüger zu. Die drei verschwanden ins Haus.
»Komm Jens, wir setzen uns da vorne auf die Bank«, bot Thomas seinem Mitschüler an. Jens stand auf, und die beiden gingen zur Bank.
Thomas nahm das Gespräch wieder auf: »Oh Jens! Was soll ich nur mit Dir machen? Erst gestehst Du mir, dass Du schwul bist, was eigentlich eine Schande für die Mädchenwelt ist. Zwei Tage später, dass Du Dich unsterblich in meinen festen Freund verliebt hast und Du Angst hast, mir und ihm unter die Augen zu treten. Und heute erfährst Du, dass Deine heimliche Liebe und mein Liebster gestorben ist. Die letzten sechs Tage müssen für Dich die Hölle gewesen sein.« Jens sah Thomas an.
Dann schrie er: »Du selbstgerechtes Arschloch. Warum kannst Du mich nicht einfach hassen? Warum versuchst Du alles zu verstehen? Ich hasse Dich. Ich wünschte Du wärst tot!« Dann stand Jens auf und knallte Thomas eine. Der war völlig verdutzt. Er war völlig perplex und wusste zum ersten Mal nicht, was er tun sollte. Thomas überlegte, ob er Jens hinterher laufen sollte, oder ob er ihm einfach nur wieder Verstand einbläuen sollte.
Plötzlich hörte er eine Stimme hinter sich: »Jens bleib stehen, Du degeneriertes Arschloch!« Das war Michaels Bruder Oliver. Der rannte an Thomas vorbei und wollte Jens stellen.
Thomas rief: »Jens, Oli! Kommt beide her.« Doch keiner der beiden reagierte. Thomas sah, wie Oliver Jens einholte.
»Oli! Mach keinen Scheiß«, war sein einziger Gedanke. Doch Oliver bekam Jens zu packen und knallte diesem eine mit seiner bloßen Faust. Thomas konnte ein leises »Umpf« hören. Dann sank Jens zu Boden. Thomas stand jetzt vor Oliver. Zum Glück. Damit verhinderte er nämlich Schlimmeres, indem er Michaels Bruder anschrie: »Oliver! Hast Du sie noch alle stramm?«
Der Genannte sah Thomas an und meinte: »Die dumme Sau hat Dich geschlagen und wollte Michael verführen. Dem Arsch poliere ich die Schnauze!« Oliver war in Rage. Was sollte Thomas tun?
Er hörte innerlich Michaels Stimme: »Kümmere Dich um meinen Bruder, wenn ich nicht mehr da bin.«
Oliver schrie: »Dich Mistkerl stampfe ich ungespitzt in den Boden!« Oliver war von der Statur wesentlich sportlicher gebaut als Jens. Kein Wunder, er war ja auch Ringer. Jens hätte keine Chance gehabt, deswegen sah er jetzt auch aus wie ein Häufchen Elend. Er sah Oli an und wartete auf den Faustschlag ins Gesicht. »Paff,« Oliver hatte eine von Thomas hängen.
Er ließ völlig verdutzt Jens los und sah Thomas an, dieser wandte sich zu Jens und meinte: »Geh ins Haus, und dort reden wir dann weiter.« Jens gehorchte und ging wie ein geprügelter Hund ins Haus. Oliver war immer noch ganz von den Socken. Er sah Thomas an. Dieser sah ihn ernst an.
Jetzt war es mit Olivers Selbstsicherheit vorbei und er fiel Thomas in die Arme und heulte: »Thomas. Entschuldige. Aber ich hatte so eine Wut im Bauch. Ich will Michael wieder haben.« Jetzt war es auch mit Thomas' Selbstbeherrschung aus. Er weinte und meinte schluchzend: »Ich auch. Ich auch.«
Trauerarbeit
Nachdem die beiden Jungs sich ausgeheult hatten, gingen sie ins Haus. Dort warteten schon Michaels Eltern auf ihren Jüngsten.
Sie sahen Thomas an und meinten: »Danke. Michael hätte nie einen besseren Freund finden können.« Mit diesen Worten brachten sie Oliver nach oben. Thomas fühlte sich matt.
Frau Müller nahm ihren Sohn in den Arm und meinte: »Es liegen schwere Tage vor Dir. Der Direx hat Dich für den Rest der Zeit vom Unterricht befreit und Du musst auch nicht mit zur Stufenfahrt. So kannst Du alles verdauen.«
»Mutti! Nicht jetzt, ich muss mich mal einen Moment hinsetzen. Ich brauche ein paar Minuten. Wo sind übrigens Kathi und Jens?«, wollte Thomas wissen. Seine Mutter meinte, die beiden seien bei ihm auf dem Zimmer.
Thomas fragte: »Gibt es in diesem Haus einen Raum, wo sich niemand befindet?«
»Ja«, meinte seine Mutter und fuhr fort, »In Paps' Arbeitszimmer.«
»Ob ich da wohl mal für ein paar Minuten rein kann?« fragte Thomas.
»Klar mein Sohn. Nimm Dir alle Zeit der Welt«, meinte sein Vater. Dann ging Thomas in das Zimmer, schloss die Tür und setzte sich auf die kleine Couch und fing an zu weinen.
Frau Krüger sah ihren Mann besorgt an, doch der meinte nur: »Gib ihm ein paar Minuten, um anständig über Michael trauern zu können. Er hatte heute noch nicht viel Gelegenheit. Er kümmert sich immer zu viel um andere. Er braucht ein paar Minuten für sich. Lass ihn. Es wird eh alles schwer genug für ihn.«
Thomas saß noch immer auf der Couch und schluchzte: »Michael. Warum hast Du mich verlassen? Wie soll ich nur ohne Dich weiter kommen? Ich wollte mit Dir alt werden. Das Leben ist so ungerecht.« So sehr er auch hoffte, es kam keine Antwort. Er machte sich etwas auf der Couch lang. Es war mittlerweile eine halbe Stunde vergangen. Thomas war eingeschlafen. Plötzlich fand er sich auf einer grünen Wiese wieder.
Vor ihm stand Michael, lachte ihn an und meinte: »Thomas, ich liebe Dich. Ich werde Dich immer lieben. Doch versprich mir, dass Du nie aufgeben wirst und Du weiterlebst und einen netten Jungen finden wirst.«
Thomas sah seinen Freund an: »Michael, ich werde nie jemanden so lieben können wie Dich. Ich will Dich nicht vergessen.«
Michael sah Thomas in die Augen und sagte: »Das sollst Du auch nicht. Aber stirb nicht einsam. Verschließ Dich nicht. Kümmere Dich um Oliver. Er wird Dich brauchen, ebenso wie Jens.«
Thomas sah Michael an und meinte: »Ohne Dich werde ich das nie schaffen.«
Doch Michael hatte auch darauf eine Antwort: »Ich werde immer bei Dir sein. In Deinem Herzen. Thomas, ich liebe Dich. Auch der Tod kann daran nichts ändern. Lass Dich von der Trauer nicht auffressen. Und schließe Dich nicht von der Stufenfahrt aus. Die Stufe mag Dich. Sie wird Dir beistehen. Und wer weiß…« Plötzlich war er weg, denn Thomas war aufgewacht, weil jemand an der Tür klopfte.
Entschuldigung und Danke
»Herein!«, rief Thomas.
»Darf ich mit Dir reden?« Jens, der aussah wie ein Häufchen Elend, trat ein.
Thomas sah ihn an und meinte: »Klar, aber ich wäre eh jetzt nach oben gekommen.«
»Ich wollte erst mit Dir alleine reden«, meinte daraufhin Jens.
»Na gut, ich bin ganz Ohr«, gab Thomas von sich, denn zum großen Lamentieren hatte er heute nicht die große Lust.
Jens fing an: »Also, ich wollte mich erstmal bei Dir entschuldigen. Ich bin ein blöder Idiot.« Thomas nickte, sagte aber kein Wort.
So fuhr Jens fort: »Ich habe unsere Freundschaft auf Spiel gesetzt und ich hoffe, Du vergibst mir. Ich will Dich nicht verlieren. Deine Freundschaft bedeutet mir mehr als alles auf der Welt.« Jetzt musste Thomas aber etwas sagen, denn so einfach wollte er es Jens nicht machen.
»Also Du glaubst, damit wäre die Sache vom Tisch. Hör zu! Erst knallst Du mir eine, weil ich angeblich arrogant bin, und das an dem Tag, wo meine große Liebe gestorben ist und ich sowieso nicht weiß, wie das Leben weitergehen soll, und jetzt marschierst Du hier rein und verlangst allen ernstes, dass ich Dir vergebe. Jens, tut mir leid, aber ich kann nicht mehr. Ich...«
Plötzlich stockte er. Thomas wurde schwarz vor Augen und er sank zusammen.
Jens bekam es mit der Angst und brüllte: »Thomas! Was ist los? Hilfe!« Karl Müller, Thomas' Vater, hörte das und rannte ins Arbeitszimmer, er trat ein und sah, wie Jens Thomas in den Armen hielt. Jens erklärte kurz, was passiert war. Es wurde sofort ein Arzt gerufen. Man brachte Thomas auf sein Zimmer. Der Arzt untersuchte ihn. Nach ein paar Minuten kam er wieder aus dem Zimmer. Alle standen davor, Thomas' Eltern, die Krügers, Oliver, Jens und Kathi.
Sie sahen den Doktor an, der meinte dann: »Ich denke, es war wohl heute alles etwas viel für ihn. Gönnen Sie ihm ein bisschen Ruhe. Vor allem sollte er jemanden haben, der ihm hilft, wenn die Beerdigung stattfindet. Alleine schafft er das nicht. Das heißt, so wie ich den Jungen kenne, wird er die Beerdigung hinter sich bringen und dann zusammenklappen.«
Thomas' Vater meinte: »Das wird nicht leicht.« Sie gingen alle nach unten, nachdem der Arzt gemeint hatte, man sollte ihm etwas Ruhe gönnen. Unten im Wohnzimmer sahen sich alle an.
Frau Krüger fand als erstes die Worte: »Wo der Arzt gerade davon geredet hat - wir sollten langsam alles in die Wege leiten.«
»Ingrid!«, sprach Michaela Müller, »Das Beerdigungsinstitut kümmert sich um alles. Aber wir müssen mit Thomas reden, wegen dem Text in der Todesanzeige. Wie wir es uns vorgenommen haben. Das muss er heute noch machen. Ich gehe mal zu ihm rauf.«
Jetzt meldete sich Kathi zu Wort: »Also, ich wüsste einen schönen Spruch, der auch Thomas gefallen wird.« Sie schrieb ihn auf und alle stimmten zu. Frau Müller ging ans Telefon und gab den Text ans Beerdigungsinstitut weiter. Dieses dann an die örtliche Presse.
»Frau Müller, kann ich mit Oliver zusammen zu Thomas rauf?« fragte Jens. Sie nickte und meinte nur: »Aber versucht ihn nicht aufzuregen. Zeigt, dass Ihr zu ihm steht.«
»Das werden wir«, sprachen Jens und Oli fast gleichzeitig. Sie klopften an.
»Herein!«, klang es eher traurig aus dem Zimmer. Oli rannte sofort zu Thomas ans Bett und meinte: »Jag uns nicht noch mal so einen Schrecken ein.« Er weinte bei den Sätzen.
Thomas richtete sich auf und nahm Oli in den Arm: »Sorry, ich wollte keinen erschrecken. Aber ich glaube, das Ganze heute war etwas viel.«
»Ich glaube, für uns alle«, meldete sich Jens kleinlaut.
Thomas sah den Jungen an und meinte: »Ich muss mich wohl bei Dir entschuldigen, Jens. Ich war nicht mehr Herr meiner selbst.«
Jens sah ihn an, ging auf ihn zu und meinte: »Oh nein, nicht Du bist der, der sich entschuldigen muss. Du hattest nämlich Recht. Keiner von uns hat wirklich auf Deine Gefühle Rücksicht genommen. Wir haben alle an uns und unsere Trauer gedacht, aber keiner hat daran gedacht, wie Du Dich fühlst.«
Oliver sah ihn an und fragte: »Alle?« Jens nickte und gab zur Antwort: »Ja, außer Deinen Eltern und Thomas' Eltern hat sich nicht einer Gedanken darüber gemacht, wie sich Thomas wirklich fühlt. Du warst sauer auf mich und wolltest so Deine Trauer besiegen, und ich habe ihn beschimpft und ihm eine geklebt. Und Thomas? Der hat sich um uns alle gekümmert, ohne selbst die Gelegenheit zu bekommen, zu sagen, was er fühlt. Nein, Thomas, Du brauchst Dich nicht zu entschuldigen. Das müssten wir tun. Und ich werde es hiermit tun. Thomas, verzeih mir. Ich will Deine Freundschaft nicht verlieren. Dafür ist sie mir zu wichtig.«
Thomas sah Jens an. Er schluckte, dann fing er an zu heulen. Mit einem Schlag war ihm wirklich klar geworden, was an diesem Tag passiert gewesen war, und dass Michael nie wieder kommen würde. Er weinte und sprach in die Tränen: »Michael. Warum nur? Warum hast Du mich allein gelassen? Ich will nicht mehr ohne Dich leben. Es gibt nichts mehr wofür es sich zu leben lohnt.« Jens und Oliver sahen sich an.
Jens nahm Thomas in den Arm: »Hey, mein Freund. Nicht. Rede nicht so. Wir stehen zu Dir.«
Auch Oli setzte sich zu Thomas: »Jens hat recht. Du bist doch jetzt mein großer Bruder.«
Thomas sah Jens und Oliver an und hauchte ein trauriges: »Danke.« Dann weinten alle drei. Doch es war ein erlösendes Weinen.
Dann kam Kathi ins Zimmer und meinte: »Hier wird gekuschelt, und keiner sagt mir Bescheid.« Jens, Oli und Thomas sahen zur Tür und mussten grinsen.
»Wir kuscheln nicht, wir trauern«, meinte Thomas, »Komm, macht mit.« Dann nahmen sich alle vier in die Arme und weinten, aber nicht mehr bitterlich. Thomas fühlte sich an diesem Tag zum ersten Mal, seit er am Morgen von Michaels Tod erfahren hatte, glücklich. Er wusste, er hatte Freunde, die sowohl ihn als auch Michael sehr mochten.
Thomas war dann auch der Erste, der etwas sagte: »Ich danke Euch. Ich glaube, wir brauchen uns im Moment alle vier.« Die anderen drei nickten.
Weiterhin sagte Thomas: »Kathi, Jens. Richtet Herrn Paschke aus, dass ich am Montag mitfahre. Sofern bis dahin die Beerdigung war.«
Jetzt meldete sich Oliver zu Wort: »Laut Mum und Dad findet die Beerdigung am Freitag statt.«
Auch Jens meldete sich zu Wort »Wie sieht es mit Schule aus, diese Woche?«
Thomas dachte nach und meinte: »Also, morgen mit Sicherheit nicht. Aber ich werde Mittwoch und Donnerstag kommen. Ich brauche Ablenkung. Und Oli, Dir rate ich dasselbe.«
Oli sah Thomas etwas strafend an: »Du kannst auch nicht aus Deiner Haut. Andauernd versuchst Du anderen zu helfen. Denke doch mal an Dich selbst. Aber wenigstens weiß ich jetzt, was Michael an Dir so liebte. Du hast Dich nie in den Vordergrund gestellt.«
Dann umarmte er Thomas und meinte noch: »Ab jetzt bist Du mein Bruder.« Jens und Kathi sahen sich an und beschlossen zu gehen. Aber sie verabschiedeten sich noch.
Kathi zuerst: »Thomas, Jens und ich werden jetzt gehen. Dürfen wir morgen wiederkommen?«
Thomas sah sie an und meinte: »Ich wäre Euch dankbar. Ich werde wohl in der nächsten Zeit etwas Hilfe brauchen können.«
»Jetzt können wir Dir endlich mal wiedergeben, was Du uns in den letzten zwei Jahren so gegeben hast«, meinte Jens.
Thomas sah die beiden an und sprach: »Ich bin froh, solche Freunde wie Euch zu haben.« Dann gingen Jens und Kathi. Nun war Thomas mit Oliver allein im Zimmer.
Thomas stand aus dem Bett auf und meinte: »Ich wünschte, Michael wäre hier. Der wüsste, was ich jetzt weiter machen sollte. Ich werde mich nie wieder verlieben.«
Oliver sah ihn an und meinte: »Thomas. Sag so was nicht. Wenn Michael hier wäre, dann würde er bestimmt zu Dir sagen, Du sollst Dich nicht einer neuen Liebe verschließen. Höre nicht auf zu leben, nur weil er tot ist. Die Liebe zwischen Dir und Michael war etwas besonderes, aber mache Dein Herz auch frei für eine neue Liebe.« Thomas sah Oliver an. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie ähnlich sich die beiden eigentlich waren. Sowohl äußerlich, als auch von Charakter. Aber doch waren sie so verschieden. Er hätte sich nie in Oli verliebt.
2. Kapitel - Tag der Beerdigung
Die restliche Woche ging eigentlich ohne große Ereignisse herum. Thomas hatte oft wach im Bett gelegen. Jetzt war der schlimmste Tag gekommen, den es für ihn gab. Der Tag der Beerdigung. Es war Freitag. Um 10 Uhr sollte der Trauergottesdienst stattfinden. Die ganze Jahrgangsstufe hatte ihr Kommen angemeldet, wie auch einige Lehrer. Kathi und Jens wollten vorher aber noch einmal bei Thomas vorbeischauen. Er hatte sie darum gebeten. Seine Angst war einfach zu groß. Thomas fürchtete sich und fühlte sich allein. Als er in seinem Zimmer stand und sich anzog, da wurde ihm bewusst, dass an diesem Tag der endgültige Abschied von Michael sein sollte. Von seinem Michael, den Thomas so über alles geliebt hatte. Mit dem er gelitten und gekämpft hatte. Leider aber verloren. Tränen rannen ihm die Wangen hinunter. Vor seinem geistigen Auge sah er die Todesanzeige von Michael, vor allem den kleinen Text.
Heute starb für uns alle völlig unerwartet ein guter Freund, ein Klassenkamerad, ein Kind und die Liebe eines jungen Lebens.
Ist Dein Körper auch von uns gegangen, Deine Liebe werden wir immer spüren.
Thomas mochte diesen kurzen Text, denn er drückte alles aus, was er fühlte. Keine falsche Sentimentalität.
Aber auch die Schule hatte einen schönen Text in die Zeitung setzen lassen, unter Anleitung von Kathi.
Oft kommt der Tod unerwartet und plötzlich. Doch manchmal trifft es leider einen Menschen, der von allen geliebt wurde. So nehmen wir still Anteil an dem Tod unseres Mitschülers Michael Krüger und sprechen der Familie und seinen Freunden ein sehr tief empfundenes Mitleid aus.
Wieder bahnten sich Tränen ihren Weg an die Öffentlichkeit. Es klopfte an seine Tür.
»Herein!« antwortete Thomas.
»Geht es Dir einigermaßen gut, mein Sohn?« wollte sein Vater von ihm wissen.
»Nein!« schluchzte Thomas, »Ich werde wohl nie wieder einen Jungen lieben können.« Herr Müller nahm seinen Sohn in den Arm.
Thomas weinte und redete weiter: »Ich fühle mich innerlich so leer. Wird dieser Schmerz mal aufhören?«
Herr Müller nahm seinen Sohn und meinte: »Nein, der wird immer sein. Aber man lernt damit zu leben. Irgendwann wirst Du Dich wieder neu verlieben.«
»Ich will mich nicht mehr neu verlieben. Nicht, wenn es so weh tut!« Thomas heulte alle Wut aus sich heraus.
Sein Vater nahm ihn und sah ihm in die Augen: »Ich glaube nicht, dass das in Michaels Sinne wäre. Und ich denke, Du wirst Dich wieder neu verlieben, nicht jetzt, nicht heute, nicht morgen, vielleicht auch nicht in der nächsten Zeit, aber Du wirst.«
»Stimmt, Du darfst Dich nicht verschließen.« Das war Jens, der in der Tür stand, mit Kathi im Schlepptau. Thomas sah die beiden an und meinte: »Schön, dass Ihr schon da seid. Ich wüsste sonst nicht, wie ich alles durchstehen sollte.«
Jens und Kathi sahen ihn an, und sie sagte: »Ich würde ja jetzt gerne sagen, es wird schon gehen. Oder es wird nicht so schlimm. Aber ich denke, Du wirst einiges durchstehen müssen. Die ganze Jahrgangstufe will da sein und einige Lehrer. Inklusive Herr Wunderlich und Herr Paschke. Also, es werden einige da sein. Viele sind da wegen Michael, und viele, um Dir zu zeigen, dass Du nicht allein bist. Aber leichter wird es dadurch nicht. Und wir sind während der ganzen Beisetzung nicht bei Dir. Aber Deine Eltern werden bei Dir sein.«
»Ich wünschte, es wäre schon vorbei«, meinte Thomas.
Jens und Kathi nickten und meinten: »Wir auch.«
In der Trauerhalle
Jens und Kathi waren zusammen mit Thomas und seinen Eltern gefahren. Sie waren extra etwas eher gefahren. Sie wollten sich vorher noch mit Oliver und seinen Eltern treffen. Die kamen dann auch. Frau Krüger und ihr Mann stiegen aus. Oliver stieg auch aus.
Er rannte sofort zu Thomas, als er ihn sah, und umarmte ihn und meinte: »Gut, dass Du bei mir bist. Alleine würde ich das nicht durchstehen.«
Thomas sah Oliver an und meinte: »Mir geht es genauso. Ich glaube, wir stützen uns beide.«
»Hallo Thomas! Hallo Kathi! Hallo Jens! Schön, dass Ihr schon da seid!« begrüßte sie Olivers Vater. Dann nahm er Thomas in den Arm und meinte: »Gemeinsam stehen wir das alle zusammen heute durch.«
Dann wandte er sich an Kathi und Jens: »Ihr zwei sitzt mit uns vorne. Ihr wart immer die besten Freunde, und ich denke, es wäre Michael auch ganz lieb.« Tränen liefen ihm die Wange hinunter. Seine Frau nahm ihn in den Arm. Auch sie weinte. Thomas wurde mulmig. Angst umstreifte ihn. Sie gingen in die Trauerhalle. Es waren noch nicht viele Leute da. Na ja, es sollte ja auch erst in einer halben Stunde anfangen. Thomas ging nach vorne zu dem Sarg.
Er kniete sich hin und flüsterte leise: »Ich werde Dich immer lieben, und ich hoffe, wir sehen uns irgendwann wieder. Michael, ich hoffe, Du bist an einem schönen Ort.« Dann stand er auf und setzte sich. Die Trauerhalle füllte sich. Links neben Thomas saß Oliver, rechts neben ihm saßen Kathi und dann Jens. Es wurden immer mehr Leute. In Thomas stieg die Anspannung. Er hielt die Hand von Oliver, Kathi seine Hand und Jens Kathis Hand. Dann kam der Pastor. Er ging nach vorne und begrüßte Michaels Eltern, Oliver und auch Thomas.
Zu Thomas sagte er: »Gottes Wege sind nicht immer leicht zu verstehen, aber ich denke, Michael wird immer in Deinem Herzen sein.« Es war merkwürdig, aber die Worte des Pastors hatten eine seltsame Wirkung auf Thomas. Er fühlte sich auf einmal ruhig und entspannt und nicht mehr so traurig.
Danach begann der Theologe mit seiner Trauerfeier. Doch Thomas bekam nichts davon mit. Erst als der Sarg nach draußen transportiert wurde, wurde ihm wieder mulmig. Sie gingen alle schweigend dem Sarg hinterher. Jetzt erst drehte sich Thomas um und sah, welch eine Menschentraube ihnen folgte. Irgendwie machte ihn das stolz, und er dachte: »Michael, siehst Du das? Du warst etwas Besonderes.«
Am Grab
Die Sargträger blieben am Grab stehen und ließen den Sarg hinab gleiten. Thomas beobachtete das alles. Zu seinem Erstaunen war er ruhig und nicht so traurig wie er dachte. Er sah in die Grube und auf den Sarg. Neben ihm stand Oliver, Michaels jüngerer Bruder.
Thomas sah ihn an und bemerkte, dass der Junge kurz vorm Zusammenbruch stand. »Geht es noch?«, fragte er Oliver besorgt. Dieser nickte. Thomas nahm ihn einfach in den Arm.
Oli hauchte nur: »Danke.« Doch Thomas sah ihn mit einem kleinen Lächeln an, welches ausdrücken sollte: »Du bist nicht alleine. Zu zweit schaffen wir das schon.« Dann redete wieder der Pastor. Er sah wohl, dass Oliver von Thomas gestützt wurde.
Er ging zu den Jungs und meinte: »Michael bleibt immer bei uns.« Dann, zu Thomas gewandt: »Ich denke, Michael wäre stolz auf Dich, wie tapfer Du alles aufnimmst und Dich um Oliver kümmerst.« Er lächelte und fuhr mit seiner Rede fort. Doch von dieser bekamen weder Oli noch Thomas etwas mit. Zu sehr waren beide in Gedanken versunken. Jetzt kam der Augenblick des endgültigen Abschieds. Die Eltern von Michael warfen Blumen in das Grab. Frau Krüger wurde von ihrem Mann gestützt. Alles in allem hielt sie sich sehr aufrecht. Nun kam Oliver an die Reihe. Er warf einen Brief in das Grab. Keiner weiß, was darin stand. Oliver wurde von Thomas begleitet. Dieser warf ein Stofftier mit einem kleinen Briefumschlag hinein.
Leise flüsterte er: »Ich hoffe, es geht Dir gut, wo Du bist. Ich werde Dich vermissen. Du fehlst mir. Ich sehe Dich in meinen Träumen.« Dann wollte er weiter.
Doch Frau Krüger und Herr Krüger hielten ihn und meinten: »Nein, Du gehörst hierher. Du gehörst zur Familie.« Und dann kam die übliche Beerdigungsprozedur. Alle gingen zum Grab und warfen entweder eine Blume oder Sand in das Grab. Als alle vorbei waren, erzählte der Pastor noch kurz etwas und hauchte ein Armen. Thomas war das alles unangenehm. Doch er wusste, das Schlimmste stand noch bevor. Etwas, das ihn auf jeder Beerdigung ankotzte. Das Trauermahl. Beerdigungssaufen, wie Thomas immer meinte. Aber egal. Es war Michaels Beerdigung. Dafür nahm er auch das in Kauf.
Oliver sah das Unbehagen in Thomas' Gesicht und meinte: »Jetzt kommt das Schlimmste von allem. Wir schaffen das schon.« Am Parkplatz trafen sie sich wieder mit Jens und Kathi. Die beiden nahmen abwechselnd Thomas und Oliver in den Arm.
»Kommt ihr mit?«, fragte Thomas. Die beiden nickten und sie gingen zu zweit in das Lokal, wo das Essen stattfinden sollte. Sie betraten den Saal. Jens und Kathi wurden sofort von Olis Eltern mit folgenden Worten begrüßt: »Schön, dass Ihr gekommen seid. So müssen wir wenigstens nicht nur die Verwandtschaft ertragen.«
Plötzlich rief jemand aus dem Saal: »Was macht denn die blöde Schwuchtel hier?« Michaels Onkel aus England. Nicht gerade der Sonnenschein der Familie Krüger.
Michaels Vater drehte sich zu seinem Bruder um und schrie: »Wenn Du degeneriertes Arschloch nicht die Klappe hältst, haue ich dir gleich hier eine aufs Maul!«
Thomas war entsetzt. Aber er wusste sich auch zu wehren: »Was glauben Sie eigentlich wer Sie sind? Das ist Michaels Beerdigung. Er war meine große Liebe und wird es immer bleiben!«
»Eduard, Du erlaubst, dass mich eine Schwuchtel so anblöken darf? Erst macht er Deinen Sohn schwul und dann…!« Weiter kam Onkel Gustav aus England nicht, da hatte er von seinem Tischnachbarn schon die Faust im Gesicht. Es war sein eigener Vater.
Der redete auch gleich auf ihn ein: »Wenn Du kleiner Mistkerl nicht die Klappe halten kannst, ist das Dein Problem. Wegen Leuten wie Dir hatte Adolf Hitler damals freie Bahn. Wie kann man nur so intolerant und verbohrt sein? Ich hoffe ja immer noch, dass Du irgendwann erwachsen wirst und dass Du mal so eine Liebe erfährst, wie sie Michael und Thomas hatten. Ein Glück, dass Deine Mutter nicht mehr lebt. Diese Szene hätte sie bestimmt ins Grab gebracht. Und nun sieh zu, dass Du Land gewinnst. Und sollte mir irgendwie zu Ohren kommen, dass Du Thomas nachstellst oder so, schwöre ich Dir, ich bringe Dich eigenhändig um.« Das saß. Gustav sah sich um und erntete nur böse Blicke.
Das einzige, was er noch sagte, war: »Tja, da bleibt mir nichts anderes übrig, als mich in mein Auto zu setzen und nach England zurückzukehren. Keine Angst, an dieser kleinen Schwuchtel werde ich mich schon nicht rächen, das ist sie nicht wert. Und die ganze Familie kann mir gestohlen bleiben. Ich habe mit Euch nichts mehr zu tun.« Und dann, zu Thomas gewandt: »Du bist schuld an dem allen. Wegen Dir hasst mich meine Familie. Ich hoffe, Du bist zufrieden.«
Das saß. Thomas sah ihm nach und stand da wie ein begossener Pudel. Obwohl alle zu ihm gehalten hatten, fühlte er sich schuldig. Das Leben war grausam. Plötzlich machte sich ein Gedanke breit: »Habe ich wirklich Michael zur Homosexualität gezwungen?«
Michaels Vater sah den Jungen an: »Ich hoffe nicht, Du denkst was ich denke, das Du denkst. Du hast Michael geliebt und er Dich. Und zum Schwulsein kann man keinen zwingen. Entweder man ist es, oder man ist es nicht.«
Thomas sah Herrn Krüger an und meinte: »Danke. Seien Sie mir nicht böse, aber ich muss mal an die frische Luft.«
»Kein Problem. Aber nimm wenigstens Kathi, Jens und Oli mit«, meinte Michaels Vater.
Die vier gingen hinaus. Thomas setzte sich auf die Bank. Kathi, Jens und Oli ebenfalls. Alle schwiegen.
Plötzlich ergriff Kathi das Wort: »Wisst ihr, wen ich heute vermisst habe auf der Beerdigung?« Die drei anderen sahen Kathi mit großen Augen an und schüttelten die Köpfe. »Na Markus, unseren neuen. Ich hätte vermutet, dass er auch kommt«, meinte Kathi.
Alle grübelten. Es hatte wohl keiner so darauf geachtet, wer da war und wer nicht. Plötzlich ergriff Thomas das Wort: »Mich wundert es nicht.«
»Warum?«, fragte Oli.
Thomas sah alle an und meinte: »Er fühlt sich in der Jahrgangsstufe nicht zu Hause. Hat einer von Euch Kontakt zu ihm?«
Jens und Kathi sahen sich und meinten: »Nein, aber was hat das damit zu tun?«
Thomas sah die beiden an und meinte: »Hat ihn jemand gefragt, ob er mit zur Beerdigung kommt?«
Kathi und Jens schüttelten die Köpfe. Thomas sah den beiden in die Augen: »Wenn er nicht mit mir oder Michael zusammen war, oder uns beiden, dann wurde er von allen ignoriert. Der einzige Halt in der Stufe für ihn waren Michael und ich. Und einer von uns beiden ist nicht mehr da. Alle aus der Stufe waren da, aber keiner hat sich um ihn gekümmert.«
Kathi sah Jens an und beide schauten zu Boden. Thomas fügte aber noch einen Satz hinzu: »Leider habe ich mich auch nicht um ihn gekümmert. Obwohl er zweimal bei mir angerufen hat. Ich habe ihn leider abgewimmelt, weil ich für mich sein wollte.«
Dann stand er auf und machte Anstalten zu gehen. Kathi fragte nur noch: »Wo willst Du hin?«
Thomas drehte sich um und meinte: »Ich möchte noch mal alleine ans Grab. Ich möchte noch einmal allein mit mir und meinen Gedanken bei Michael sein.«
Kathi wollte etwas sagen, aber Oli und Jens hielten sie auf. Jens meinte nur: »Lass ihn. Vielleicht braucht er das. Thomas möchte einfach mal alleine sein. Die ganze Woche war irgendwer aus der Stufe bei ihm. So richtig trauern konnte er nicht.«
Oliver fügte noch hinzu: »Bisher musste er immer anderen bei ihrer Trauer helfen. Jetzt lasst ihn mal trauern.« Kathi nickte.
Besuch am Grab
Thomas ging durch das Friedhofstor. Dann suchte er den großen Baum, der an Michaels Grab stand. Es waren wenige Leute auf dem Friedhof. Alles wirkte sehr ruhig. Bald hatte Thomas Michaels Grab gefunden. Die Kränze und Gestecke waren auf dem frischen Grab. Davor stand jemand. Eine Gestalt, die Thomas bekannt vorkam. Die Umrisse sahen bekannt aus. Die schlanke Figur. Das konnte nicht sein. Er ging näher ran und meinte leise: »Ich hätte nicht erwartet, Dich heute hier zu treffen, Markus.«
Der Genannte drehte sich erschrocken um und wäre beinah nach hinten zurückgekippt, wenn Thomas ihn nicht gehalten hätte. Markus fing sich dann wieder und meinte: »Hast Du mich erschreckt.«
Thomas sah ihn teils amüsiert und mit leichten Schuldgefühlen an und meinte: »Sorry, das wollte ich nicht. Aber ich bin froh, dass Du da bist. So kann ich mich bei Dir entschuldigen.«
Markus sah ihn verwirrt an und fragte: »Wofür entschuldigen?«
Thomas sah auf den Boden und meinte dann kleinlaut: »Ich habe Dich doch immer abgewimmelt, wenn Du anriefst. Und im Nachhinein tut es mir leid. Ich, ich,« Thomas schluckte und versuchte weiterzureden, »Ich habe Dich einfach links liegen lassen. Wie fast den ganzen Rest der Stufe. Außer Kathi und Jens. Du musst Dir echt verarscht vorgekommen sein.«
Dann fing er an zu weinen. Markus nahm ihn in den Arm und meinte: »Mein Freund, das nehme ich Dir nicht übel. Alle in der Stufe haben nur an sich und ihre Trauer gedacht. Keinen hat es interessiert, wie es Dir ging. Das Geheuchel ging mir echt auf den Keks. Du hattest gar keine Chance, Dich um mich zu kümmern. Aber ich hätte einfach kommen sollen.«
Thomas sah Markus an und meinte: »Du bist echt ein guter Freund. Ich hoffe, dass wir unsere Freundschaft weiter ausbauen können auf der Stufenfahrt.«
Markus sah Thomas an und fragte dann: »Du fährst tatsächlich mit?«
Thomas schaute auf Michaels Grab und gab dann leise von sich: »Ich denke, Michael hätte genauso gedacht, wenn ich an seiner Stelle läge.«
Zack, aus mit der Beherrschung. Thomas heulte los und gab weinerlich von sich: »Michael, ich liebe Dich. Komm zurück.«
Dann sank er zusammen und Markus stützte ihn und meinte: »So ist es gut. Lass alles raus.«
Thomas stand auf und heulte sich in Markus' Armen aus. Er spürte eine plötzliche Befreiung der Seele. Endlich durfte Thomas seine Gefühle zeigen. Es war, als würde ein Damm brechen und alles könnte herausgelassen werden.
Thomas fühlte sich auf einmal befreit. Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, sah er Markus an und meinte nur: »Danke. Du bist echt ein wahrer Freund. Lass uns hier an Michaels Grab ein Versprechen abgeben.«
Markus sah ihn an und fragte verwirrt: »Welches denn?«
Thomas lächelte Markus an und meinte: »Wann immer einer von uns Probleme hat, hört der andere ihm zu und umgekehrt. Lass uns einfach für einander da sein.«
Markus sah Thomas an, lächelte und sprach zustimmend: »Ich bin einverstanden. Ein Bündnis für eine wahre Freundschaft. Wer hat das schon? Schlag ein.«
Markus hielt seine Hand hin, und Thomas gab ihm seine. Die beiden sahen sich an. Plötzlich meinte Thomas: »Michael, Du bist unser Zeuge. Hilf uns, dass wir unser Versprechen einlösen.«
Markus fügte noch hinzu: »Außerdem pass auf uns beide auf, dass uns nichts zustößt.«
Die beiden lächelten, und ein Sonnenstrahl fiel auf die Hände. Markus meinte: »Oh, jetzt haben wir es sogar von höchster Stelle.« Thomas lächelte.
Wahre Freunde
Die beiden Jungs standen sich noch ein paar Sekunden gegenüber. Markus ergriff das Wort: »Meinst Du wirklich, dass Michael damit einverstanden sein wird?«
Thomas sah ihn an und meinte: »Ich denke mal, dass er nichts dagegen hat. Zumal Michael Dich eh fragen wollte, ob Du mit uns auf ein Zimmer kommst, wenn wir die Stufenfahrt machen. Aber nun lass uns mal wieder zu den anderen gehen.«
Die beiden verließen das Grab. Nur Thomas blickte sich noch einmal um und sprach leise für sich: »Michael, ich liebe Dich. Vielleicht sehen wir uns in meinen Träumen.«
»Was sagst Du?« wollte Markus wissen, der das Gebrummel mitbekommen hatte.
Thomas sah ihn an und meinte: »Nichts, ich habe nur laut gedacht.«
Sie kamen an den Friedhofsausgang, wo schon die andern drei warteten. Kathi rannte sofort auf die beiden Jungs zu und meinte: »Hallo Markus! Schön, dass Du auch gekommen bist.«
Sie nahm ihn sofort in den Arm. Thomas meinte nur: »Der stand da so am Grab rum. Da habe ich ihn einfach mitgenommen.«
Oliver kam auch gleich zu ihm gerannt und begrüßte ihn, indem er Markus in den Arm nahm. Dieser meinte nur: »Ich bin noch nicht dazu gekommen, Dir mein Beileid auszusprechen. Entschuldige, Oli!«
Jens sah sich das Ganze an und kam langsam auf Markus zu und meinte: »Wäre schön gewesen, wenn Du zur Trauerfeier da gewesen wärst.«
Thomas sah ihn an und meinte: »Was soll das denn jetzt? Redet man so mit einem Zimmergenossen?«
Jens sah Thomas an und dann Markus und brüllte: »Der soll mit auf unser Zimmer? Da streike ich!«
»Spinnst Du?« fragte Kathi.
Doch Jens ging nicht darauf ein und meinte zu Thomas: »Wenn Du meinst, Du müsstest den barmherzigen Samariter spielen, dann mach das, aber ohne mich.«
Sprach er und ging. Thomas sah Kathi und Oliver an, dann Markus. Dieser hatte beide Hände vor dem Gesicht und heulte.
Kathi war stinkig und meinte: »Was ist denn mit dem Jens los? Der hat sie nicht mehr alle beisammen. Ich werde ihm mal den Kopf waschen gehen.«
Thomas hielt sie fest und meinte: »Nicht jetzt. Nicht heute. Wir treffen uns morgen bei mir. Dann reden wir mit ihm.«
Markus nahm die Hände vom Gesicht und meinte: »Ich glaube es ist besser, wenn ich gehe. Habe genug Unfrieden gebracht.«
Er drehte sich um und wollte gehen. Thomas hielt ihn auf und meinte: »Nichts da! Jens ist seit Michaels Tod etwas von der Rolle. Der bekommt sich wieder ein. Wenn Michael dabei gewesen wäre, hätte er ihm vor versammelter Mannschaft eine verpasst und Jens wäre wieder zur Vernunft gekommen. Außerdem glaube ich, dass Jens im Moment große Probleme hat. Ich werde morgen mal in Ruhe mit ihm reden. Und abends treffen wir uns alle und dann werden wir weitersehen. Markus, ich werde nicht zu lassen, dass Du weiterhin ausgeschlossen wirst.«
Kathi sah Thomas an und Oli auch. Dann sahen sie Markus an. Oliver meinte: »Ich denke, mein Bruder würde das auch nicht wollen. Du gehörst jetzt offiziell zur Clique.«
Kathi sah Oli an, grinste und meinte dann, an Markus gerichtet: »Markus, unser Kleiner hat recht. Du warst lang genug nur schmückendes Beiwerk in unserer Stufe. Und die andern werden Dich schon noch mit in den Kreis der Verschworenen aufnehmen.«
Markus sah Kathi an und fragte: »Welchen Kreis der Verschworenen?«
Thomas grinste und sprach: »So nennen wir unsere Jahrgangsstufe. Tolerant und Hilfsbereit. Besonders wenn es darum geht, dass alle ins Abi kommen und keiner hängen bleibt.«
Markus nickte und sagte: »Aha. Na denn, vielen Dank.«
Thomas sah Oli, Kathi und Markus an und bemerkte: »Jetzt müssen wir nur noch Jens dazu bringen, seine Aggressionen in den Griff zu bekommen. Hat einer sein Handy mit?«
Markus gab ihm seins. Thomas wählte eine Nummer, unterdrückte aber die Handynummer. Es tutete. Plötzlich hob einer ab und fragte: »Ja?«
»Jens, leg nicht gleich wieder auf. Ich bin's, Thomas, der barmherzige Samariter.«
»Was ist?«
»Hast Du morgen früh Zeit?«
»Wieso?«
»Ich wollte mit Dir reden, mehr nicht.«
»Gut. Ich komme gegen 9 Uhr.«
»Ich sage meiner Mutter Bescheid, wegen Brötchen.«
»Ja, ist gut.« Jens war sehr gereizt. Zumindest sagte er zu.
Aber Thomas fügte noch was hinzu: »Jens, wenn Du morgen kommst, dann bitte nicht mit einem sauren Gesicht.«
»Okay. So, ich lege jetzt auf«, meinte er nur, und das Gespräch war beendet.
Kathi, Oli , Markus und Thomas sahen sich an. Letzterer berichtete: »Er will morgen früh kommen. Aber ich habe ein sehr ungutes Gefühl. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Ich mache mir ehrlich gesagt Sorgen um ihn. Und ich denke, es hat mit seinem Schwulsein zu tun.«
Kathi sah ihn an und meinte: »Du könntest Recht haben. Er ist in letzter Zeit sehr neben der Spur.«
Thomas und Oli nickten. Markus meinte nur: »Kann ich nicht sagen. Kenne ihn ja leider nicht so gut wie ihr. Aber in einer Sache hat Jens recht, Thomas.«
Der sah Markus an und fragte: »So, in welcher denn?«
Markus grinste und meinte: »Na, Du bist wirklich so etwas wie ein barmherziger Samariter, und ich denke, auch ein sehr guter Freund. Bevor Du jemand fallen lässt muss wahrscheinlich einiges passieren.«
Kathi sah Thomas an und antwortete: »Markus, da hast Du recht. Unser Thomas gibt nie jemanden auf. Eher versucht er alles, jemandem, der ihn betrogen hat, eine Chance zu geben, und das immer wieder. Es dauert, bis unser Thomas hier jemanden abschreibt, selbst wenn andere diese Person schon aufgegeben haben.«
Thomas wurde rot.
Sie gingen alle drei wieder in das Lokal. Thomas' Vater kam an und meinte: »Alles in Ordnung, mein Sohn?«
»Ja. Keine Probleme. Übrigens, das ist Markus.«
Markus und Thomas' Vater begrüßten sich. Die waren beschäftigt.
Thomas ging zu seiner Mam und sagte: »Mutti. Morgen früh um neun kommt Jens. Kannst Du zwei Brötchen mehr mitbringen?« Sie nickte.
Kapitel 3 - Klärungsbedarf
Thomas wachte am nächsten Tag um acht auf und ging schnell Duschen. Seine Mutter kam gerade vom Bäcker. Thomas roch die warmen Brötchen. Er rannte in die Küche und begrüßte seine Mutter: »Hallo. Die riechen ja richtig gut.«
»Guten Morgen, mein Schatz. Hast Du gut geschlafen?«, fragte seine Mutter.
»Ja. Ganz ohne Beruhigungspillen. Das erste Mal seit Michael tot ist. Ich war einfach nur fertig. Der Tag gestern war sehr anstrengend und ereignisreich. Nicht nur die Beerdigung, auch das, was danach war«, meinte Thomas.
Seine Mutter sah ihn an und fragte: »Willst Du darüber sprechen?«
Thomas sah sie an und meinte: »Nein. Ein andermal. Du, können Jens und ich das Frühstück im Zimmer einnehmen? Ich muss mit ihm reden, allein.«
Sie sah ihren Sohn an und seufzte: »Eigentlich schade, Aber kein Problem. Hauptsache, Ihr bekommt alles in den Griff.«
Thomas gab seiner Mutter einen Kuss und nahm Butter, Brettchen und Messer mit nach oben. Dann holte er Wurst, Marmelade und Nutella. Außerdem zwei Tassen und eine Kanne Kaffe.
Pünktlich neun Uhr schellte es an der Tür. Thomas machte auf. Es war Jens. Thomas sagte zu ihm: »Schön, dass Du gekommen bist. Wir essen oben. Dann können wir in Ruhe reden.«
Jens begrüßte Thomas' Eltern und ging mit ihm auf sein Zimmer. Im Raum standen ein kleiner Tisch, ein kleines Sofa und der Schreibtischstuhl. Jens nahm auf dem Stuhl Platz. Thomas setzte sich auf die Couch. Es war eine merkwürdige Stimmung. Außer einem kurzen »Hallo« hatte Jens noch nichts von sich gegeben. Thomas war das zu blöd: »Greif zu. Du bist ja unter anderem zum Frühstücken hier.«
Jetzt sah Jens auf. Er schaute Thomas in die Augen und meinte: »Und wozu noch? Um mir Vorwürfe anzuhören, wie beschissen ich mich doch verhalten habe. Dass es unkollegial war. Dass ich selbstsüchtig bin. Zu nichts tauge!«
Thomas stand auf und wollte Jens die Hände auf die Schulter legen. Doch dieser drehte sich um und meinte: »Wenn Du mich anrührst, bekommst Du eine aufs Maul!«
Thomas war erschrocken und entsetzt. Er nahm wieder auf seinem Stuhl Platz und sagte nichts.
Das war zu viel für Jens: »Sag mal, spinnst Du? Ich brülle Dich an und drohe Dir und Du reagierst gar nicht. Du kotzt mich an! Deine Ruhe geht mir auf den Senkel. Steh endlich auf und sag mir, was ich für ein Versager bin. Ich habe eure Freundschaft nicht verdient.«
Nun war der Zeitpunkt gekommen, an dem Thomas das Wort übernahm: »So, Du bist der Meinung, unsere Freundschaft nicht zu verdienen. Na ja, nach dem Auftritt gestern und jetzt würde ich Dir unter Umständen sogar Recht geben. Aber ich denke anders darüber.«
Jens wurde jetzt richtig sauer: »Ach, der Herr Seelentröster denkt da anders drüber. Na bravo. Du blödes Rindvieh! Du meinst, Du kennst mich. Aber Du hast keine Ahnung von mir. Du weißt gar nichts, Du weißt nicht, was in mir vorgeht.«
Jens wollte das Gespräch beenden, aber unbewusst hatte er für Thomas eine Schneise geschnitten, die dieser sofort nutzte: »Da wären wir dann beim Kernpunkt. Ich weiß wirklich nicht, was in Dir vorgeht, aber außer mir weiß es der Rest der Stufe auch nicht. Du verschließt Dich immer mehr. Du kapselst Dich ab und lässt keinen mehr an Dich ran. Ich muss zu meiner Schande aber eingestehen, dass ich mich, seit es Michael schlecht ging und dem Kampf mit seiner Krankheit, auch nicht wirklich darum gekümmert habe, wie Du es eigentlich von einem Freund erwarten konntest. Das tut mir leid. Aber ist nicht mehr zu ändern. Umso mehr möchte ich, dass Du mir wieder vertraust wie früher.«
Jens sah Thomas an. Es herrschte ein paar Sekunden lang Schweigen.
Manchmal liegt man falsch
Jens sah Thomas in die Augen und meinte: »Du willst wissen, was mit mir los ist? Alle aus der Klasse versuchen Markus aufzunehmen. Und er kapselt sich selbst ab. Weißt Du, warum er sich abkapselt? Ich sage es Dir. Er ist ein Angsthase und lässt seine Freunde im Stich.«
Thomas sah Jens ernst an und fragte dann: »Wie kommst Du darauf? Er hat ganz andere Probleme. Zumindest glaube ich das. Wenn ich ehrlich bin, habe ich das Gefühl, dass er sich vor etwas fürchtet. Aber egal, jetzt erzähl Du doch mal, was Dich bedrückt, und warum Du zu dieser Vermutung kommst.«
Jens wurde stockrot im Gesicht, schluckte aber erstmal seinen Zorn hinunter und sprach ganz ruhig: »In Ordnung, aber Du hörst zu und sagst erstmal gar nichts. Ich muss etwas weiter ausholen.«
»Ich kenne Markus eigentlich schon länger. Er war mal bei uns im Verein. Weil aber seine Noten so schlecht wurden, musste er wieder raus. Na ja, das passiert wohl schon mal. Ich hatte aber weiterhin Kontakt mit ihm. Er war ein sehr netter Kerl. Als ich dann hörte, dass er in unsere Stufe kommen sollte, weil er das Jahr wiederholen sollte, dachte ich mir, dass er bestimmt hier schnell Freunde finden würde. Doch bevor das 11. Schuljahr endete, geschah etwas, das meine Meinung über Markus ändern sollte.«
»Du erinnerst Dich bestimmt an den Tag, wo ich zusammengeschlagen wurde, weil ich mit Schwulen zusammenhing. Ein paar Nazis waren hinter mir her und wollten mich fertig machen. Als ich am Boden lag, sah ich Markus und dachte, Gott sei Dank, du bist gerettet. Doch Scheiße war. Er rannte einfach davon. Wenn Du, Michael, Kathi und die halbe Stufe nicht aufgetaucht wären, hätte ich bestimmt ins Gras gebissen.«
»Danach lag ich bis zum Anfang des neuen Schuljahres im Krankenhaus. Dann wurde Michael krank. Die komplette Stufe hat mich besucht, bis auf Markus. Der kam nie. Als er in die Stufe kam, habe ich gedacht, er käme zu mir um sich zu entschuldigen, aber nichts. Der feige Kerl kam einfach nicht. Umso schöner war zu sehen, dass er von der Stufe missachtet wurde.«
Jens grinste als er fertig war. Er wusste, dass Thomas Feigheit nicht guthieß, aber auch nicht verurteilte, wenn es jemand zugab. Er vertrat die Meinung, dass nicht jeder als Held geboren würde.
Doch die Reaktion, die nun folgte, verstand Jens gar nicht. Thomas sah ihn ernst an: »Jens, Du bist so ein Riesentrottel. Am liebsten würde ich Dir eine in die Fresse hauen, wenn Du nicht einer meiner besten Freunde wärst.«
Jetzt war Jens etwas verblüfft und erschrocken, außerdem auch wütend: »Sag mal hast Du mir nicht zugehört? Der Feigling hat es in Kauf genommen, dass ich draufgehe. Er ist einfach weggelaufen.«
Thomas stand jetzt hinter Jens, und legte mal wieder die Hände auf seine Schultern. Dann sprach er leise: »Hast Du mal überlegt, dass er wegen etwas weggelaufen ist, weil er nicht Dich sah, sondern jemand anders?«
Jetzt war Jens verwirrt: »Moment, wen außer mir sollte er denn noch gesehen haben?«
»Jetzt lass mich mal eine Geschichte erzählen. An dem Tag wunderten wir uns, wo Du bliebst. Wir wollten ja schwimmen gehen. Doch Du kamst nicht. Plötzlich kam Markus angerannt und berichtete uns, was er gesehen hatte. Wir liefen alle los. Markus blieb stehen. Ich achtete erst nicht darauf. Die Leute, die dabei waren, rannten auf die Nazis zu und bewarfen sie mit Steinen. Als sie die Leute sahen, die auf sie zukamen, ließen Sie von Dir ab. Sie rannten. Danach waren sie nicht mehr gesehen. Markus blieb zurück. Du warst so schwer verletzt, dass wir einen Krankenwagen riefen. Als sie Dich abholten, warst Du bewusstlos. Sonst hättest Du mitbekommen, dass Markus auch da war. Er rannte sofort zu Dir. Er war am heulen. Ich habe ihn dann gefragt, warum er heulte, aber er sagte es mir nicht. In einem hattest Du Recht, die Stufe hielt ihn für Feige. Doch das war er nicht. Allein hätte er nichts ausrichten können. Er wollte eigentlich zur Polizei laufen, als er aber uns sah, rannte er zu mir und erzählte alles. Er kam wirklich nicht mit. Ich habe bis heute nicht erfahren warum. Aber ich weiß, dass er um Dich Angst hatte. Was meinst Du wohl, wer immer bei Dir war als Du im Koma lagst? Es war Markus. Als er hörte, dass Du wieder aufgewacht bist, kam er nicht mehr. Ich denke mal, er hatte Angst. Aber warum weiß ich nicht genau. Eigentlich wollte ich das rausbekommen, aber leider kam mir die Sache mit Michael dazwischen. So konnte ich mich nicht um Markus kümmern. Ich habe wohl mitbekommen, dass er von der Stufe gemieden wurde bzw. sich selbst abseilte, aber ich hatte zu dieser Zeit wenig Nerv, mich um ihn zu kümmern. Das heißt, ich habe es einmal versucht, aber er wich mir aus. Na ja, und als dann Michaels Zustand schlechter wurde, habe ich ihn einfach links liegen lassen. Aber ich bin mir sicher, dass er Gründe hatte.«
Jetzt war Jens ganz durcheinander: »Wie, er war immer bei mir? Das wusste ich gar nicht. Ich dachte, es wären Du oder Michael gewesen?«
»Waren wir auch, deswegen wissen wir das ja«, meinte Thomas.
Jens sah nachdenklich drein und meinte: »Das wusste ich nicht. Aber es hat mir keiner gesagt.«
Thomas sah jetzt etwas schuldbewusst drein und meinte: »Das liegt daran, dass Markus es mir verboten hat.«
Und nun?
Jens sah Thomas an und meinte: »Musst Du immer alles machen, was man Dir sagt?«
Thomas sah Jens an, grinste und meinte: »Nicht alles, aber vieles. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich hinterher auch nicht mehr daran gedacht, weil Michael krank wurde.«
Thomas schmerzte der Gedanke an Michael. Jens sah ihm das wohl an und meinte: »Es fällt Dir wohl sehr schwer, an Michael zu denken?«
Thomas nickte. Jens sah seinen Freund an und meinte: »Dann lass uns jetzt darüber reden, was jetzt mit Markus ist.«
Das riss Thomas aus seinem kurzen Tief, und er sprach: »Also, ich habe eine Idee. Kathi, Oli und Markus sind für heute Abend bei mir eingeladen. Ich wollte heute nicht alleine sein.«
Der Plan
Jens sah Thomas an und meinte: »Kein Problem. Kann ich nachvollziehen. Aber so könnten wir uns auch noch wegen Montag unterhalten, wegen der Klassenfahrt. Ich werde auch da sein. Aber ich muss gleich mal nach Hause. Hast Du was dagegen, wenn ich heute bei Dir schlafe? Dann hole ich mir Sachen für die Nacht.«
Thomas strahlte etwas: »Klar, gerne. Ich sage nur meinen Eltern Bescheid.«
Gesagt, getan. Thomas klärte das ab, und Jens holte Klamotten. Dann setzten sie sich ins Auto und kauften für abends noch ein paar Dinge ein. Getränke, Chips und so was. Thomas rief zwischendurch bei Kathi, Oli und Markus an und bestellte sie für abends zu sich. Er erwähnte nicht, dass Jens auch da sein würde. Sie brauchten ja auch nicht alles zu wissen. Außerdem entging er der Gefahr, dass Markus oder einer der andern absagte, und es gehörte zu seinem Plan.
Thomas verabredete mit Jens, dass dieser sich verstecken sollte, sobald der Erste auftauchte. Bei passender Gelegenheit sollte er dann herauskommen. Am besten eignete sich dazu Thomas' Badezimmer, weil da eine Dusche mit Vorhang war. Den anderen machte er klar, dass sie die Gästetoilette nehmen sollten, weil sein Klo wohl nicht richtig funktionierte.
»Ein raffinierte Taktik und vielleicht auch etwas gemein. Meinst Du nicht, Thomas?« fragte Jens.
Der Gefragte grinste und meinte: »Manchmal muss man zu einer List greifen, um Freunde wieder zusammen zu bringen. Außerdem kannst Du im Bad alles gut mithören.«
Jens mochte solche Taktiken nicht, wusste aber, dass Thomas fast immer genau wusste, was er tat, und manchmal zu etwas abstrusen Mitteln griff, die aber nie ihr Ziel verfehlten, und einen positiven Effekt erzielten.
Pläne und ihre Wirkung
Thomas und Jens warteten. Sie hatten keinen der Clique beim Einkaufen gesehen. Zum Glück. Aber Jens hatte eh im Auto gewartet und sich geduckt.
Gegen 19:00 Uhr sagte Thomas zu Jens: »Eigentlich müsste der Erste von den dreien auftauchen.«
Kaum gesagt, bimmelt es. Jens verschwand sofort ins Badezimmer und Thomas ging nach unten und öffnete die Tür. Seine Eltern waren nicht zu Hause. Zu seiner Überraschung waren Markus, Oli und Kathi zusammen angekommen. Thomas begrüßte die drei: »Hallo. Schön, dass ihr gekommen seid. Geht schon mal rauf. Ich hole schon mal die Gläser und Getränke, ich habe nämlich vergessen, die Sachen mit in mein Zimmer zu nehmen.«
Kathi umarmte Thomas und meinte: »Hallo mein Bester. Schön, dass Du uns eingeladen hast. So mussten wir Dich nämlich nicht dazu überreden, nicht alleine zu Hause zu hocken.«
Oli und Markus begrüßten ihn ebenfalls und gingen dann mit Kathi rauf.
Thomas fiel das Klo ein, und er rief den dreien zu: »Wenn einer von euch mal auf die Toilette muss, müsst ihr das Gästeklo nehmen. Meins ist kaputt. Die Schüssel hat einen Riss.«
»Ist gut!«, rief Kathi hinunter.
Thomas atmete auf. Dann holte er die Gläser und Getränke und ging in sein Zimmer. Kathi saß auf dem Sofa und Markus und Oli auf dem Bett. Thomas stellte die drei Flaschen und die Gläser ab. Oli schaute und meinte: »Hast Du Dich verzählt?«
Thomas sah ihn an und meinte: »Wieso?«
Oli meinte nur: »Na ja, wir sind nur zu viert und du hast fünf Gläser raufgeholt.«
Thomas zählte und meinte: »Stimmt, ist mir gar nicht aufgefallen. Bin wohl noch etwas durcheinander.« Thomas schenkte allen ein und meinte: »Ich lass das Glas mal hier. Vielleicht kommt ja noch jemand.«
Markus sah Thomas an und meinte: »Sag nicht, Jens will noch kommen.«
Thomas sah Markus an und meinte: »Nee, keine Angst, Markus, der kommt heute nicht mehr hierher. Der war heute Vormittag hier, ist aber wieder gegangen.«
Kathi sah Thomas an und merkte, dass er etwas vorhatte, auch Oli merkte das. Beide sagten nichts, da sie wussten, wenn ihr Freund einen Plan hatte, dann ging der meistens auf. Oli meinte nur: »Eigentlich schade, ich hätte gerne gewusst, was er gegen Dich hat, Markus.«
Der Genannte schaute Oli, Kathi und Thomas an. Letzterer grinste in sich hinein und stellte fest: »Das ist ne gute Frage. Warum könnte Jens so einen Brass auf Dich haben?«
Markus sah zu den dreien, stand auf und murmelte: »Soweit ich weiß, hat es wohl mit der Prügelei zu tun, wo Jens beinah draufgegangen wäre.«
Kathi schrie auf: »Ich erinnere mich. Du hast uns Bescheid gegeben, bist aber nicht mit uns gegangen. Etwas, was Dir den Ruf als Feigling einbrachte.«
Markus sah auf den Boden und erzählte: »Ich glaube, ich werde Euch mal die Wahrheit sagen.«
Jens hörte im Badezimmer jedes Wort und dachte bei sich: »Bin mal gespannt, welche Ausrede er hat.«
Thomas sprach zu Markus: »Du musst gar nichts tun. Aber ich denke, unter Freunden sollte man möglichst alle Missverständnisse beiseite räumen.« Markus sah Thomas an und fing an: »Das denke ich auch. Also, Ihr solltet wissen, dass ich einen Stiefbruder hatte. Zum Glück ist er vor einem halben Jahr gestorben.«
Kathi unterbrach ihn: »Moment, Du hattet einen Stiefbruder und warst froh, als er tot war?«
Jens hörte im Badezimmer zu. Am liebsten wäre er raus gekommen und hätte Markus dafür eine geknallt. Wie kann man sich freuen, dass jemand stirbt?
Markus fuhr fort: »Karl lebte bei seinem Vater. Aber er kannte mich. Und er hat mich getriezt, wo es ging. Außerdem war er ein Nazi. Schon sind wir damit an der Stelle angelangt, wo Jens von den blöden Rechten angegriffen wurde. Ich ging zufällig die Straße entlang und sah ein paar Nazis jemanden schlagen. Ich wollte hingehen, sah aber, dass mein Bruder dabei war. Also musste ich mir was anderes einfallen lassen, vor allem, weil Jens das Opfer war. Ich wollte zu den Bullen rennen. Doch da kamt ihr mir entgegen. Also sagte ich euch, dass Jens verprügelt wird und ich zur Polizei will. Ihr seid sofort los. Ich blieb im Hintergrund. Ihr wart ja 10 Leute, also zahlenmäßig überlegen. Ich hielt mich bedeckt, weil ich Angst vor meinen Bruder hatte. Der hatte mich aber wohl nicht bemerkt. Ich machte meine Aussage bei der Polizei und brachte meinen Bruder ins Gefängnis, wo er vor einem halben Jahr von Mitgefangenen, die er wohl sehr gereizt hatte, umgebracht worden ist. Seid mir nicht böse, aber das tat mir nicht leid. Sein eigener Vater hatte ihn, nachdem ich gestanden hatte, dass ich seinen Sohn ins Gefängnis gebracht hatte und warum, fallen lassen. Allerdings nicht sofort. Er wollte, wie ich später erfuhr, seinen Sohn dazu bringen, sich bei Jens und mir zu entschuldigen, doch der blieb stur und meinte, dass er sich bei Schwulen und deren Freunden nicht entschuldigte und dass der Kerl, der ihn ins Gefängnis gebracht hatte, dafür zahlen müsste, sobald er raus wäre. Karls Vater meinte zu mir, ich sollte niemanden sagen, dass dieser Nazi mein Halbbruder ist. Außerdem würde er seinen Sohn nicht verstehen, er habe ihn immer liberal erzogen. Tja, so kann man manchen Menschen eben nur vor den Kopf gucken und nicht hinein. Ich beschloss aber, Jens nichts davon zu sagen. Er sollte nicht wissen, dass ich mit so jemandem verwandt bin. Ich hatte Angst, er würde mich hassen.«
Oli meinte nur: »Wow. Und jetzt hasst er Dich, weil er glaubt, Du hättest ihn im Stich gelassen.«
Jens saß im Badezimmer und dachte nach: »Warum hat er mir nichts gesagt?«
Thomas ging zu Markus und meinte: »Aber als Jens im Koma lag, warst Du jeden Tag bei ihm. Warum?«
Markus sah auf den Boden. »Als ich Jens auf dem Boden hab liegen sehen. Seine Wunden. Ich dachte, er wäre tot. Als er dann in seinem Koma lag, habe ich gemerkt, dass ich mehr für ihn empfand als nur Freundschaft. Ich hatte gemerkt, dass ich mich in ihn verknallt habe. Leider muss ich zugeben, dass es immer noch so ist. Aber ich kann ihm nicht mehr unter die Augen treten. Thomas! Jens hatte gestern Recht. Ich darf nicht zwischen Euch und Eure Freundschaft. Ich werde nicht mitfahren.«
Thomas sah ihn ernst an und meinte: »Das wäre ja noch schöner. Wie wäre es, wenn Du Jens alles erzählst?«
Markus bekam große Augen und Panik: »Ihm sagen, dass ich mich in ihn verknallt habe? Dass ich schwul bin? Hast Du nen Knall? Nach der ganzen Scheiße, die er von mir denkt, woran ich ja nicht unschuldig bin. Nee, lass mal. Es ist mir lieber er, hasst mich wegen damals, als deswegen, dass ich schwul bin.«
Plötzlich ging die Badezimmertür auf, Jens kam heraus und rief: »Thomas ist doch auch schwul, und ich bin mit ihm zusammen.«
Markus zuckte zusammen und wollte wegrennen. Thomas versperrte ihm die Tür und meinte: »Nee, jetzt wird sich nicht wieder gedrückt.«
Markus drehte sich zu Jens, senkte seinen Kopf und flehte: »Los, hau mir eine runter. Ich bin ne Schwuchtel.«
Jens ging auf Markus zu, hob dessen Kopf und meinte: »Na, da sind wir schon zwei.« Markus fiel die Kinnlade herunter.
Wo die Liebe hinfällt
Jens sah ihn an und meinte: »Du bist so ein Dämlack. Eigentlich sollte ich Dir einen Satz heiße Ohren geben. Lässt mich die ganze Zeit im Glauben, ich sei Dir egal und Du hättest unsere Freundschaft verraten. Stattdessen hast Du nur Dich selbst zerstört. Wie weit wolltest eigentlich gehen?«
Markus sah Jens an und fragte: »Wie meinst Du das?«
Die anderen sahen sich an, und verstanden genauso wenig wie Markus. Jens klärte auf: »Wie lange hättest Du weiterhin den Verräter gemimt?«
Markus dachte nach und meinte: »Keine Ahnung. Aber ich war ein paar Mal kurz davor, mir deswegen das Leben zu nehmen.«
Jens sah Markus an und meinte: »Ich bin froh, dass Du es nicht getan hast.«
Dann gab er ihm einen Kuss auf die Stirn. Oli konnte sich einen Kommentar nicht verkneifen: »Der Pate hat gesprochen.«
Zack, hatte er die Ellenbogen von Kathi und von Thomas im Nierenbereich. Worauf er sofort protestierte und meinte: »Aua! Zwei gegen einen, das ist unfair.«
Markus sah Jens an und meinte: »Du bist nicht mehr sauer?«
Jens grinste und meinte: »Mensch Markus! Wenn ich das geahnt hätte, dann wäre vieles anders gelaufen. Ich mag Dich immer noch. Eigentlich sogar mehr als vorher.«
Dann nahm er Markus in den Arm und gab ihm einen Kuss auf den Mund. Thomas, Oli und Kathi beobachteten das Spiel. Markus ließ diesen Kuss sehr gerne über sich ergehen. Plötzlich ließ sich Thomas aufs Bett plumpsen, legte seine Hände vor das Gesicht und weinte.
Oli ahnte sofort, was mit ihm los war: »Du denkst gerade an Michael.«
Thomas nickte. Jens und Markus ließen sofort von einander ab. Markus ging sofort zu ihm und meinte: »Sorry. Das war unser Fehler.«
Thomas drehte sich zu den beiden und meinte: »Nein, bestimmt nicht. Ich freue mich für Euch, aber ich musste an Michael und unseren ersten Kuss denken. Es ist alles wohl noch etwas viel für mich. Ob dieser Schmerz jemals aufhört?«
Oli sah ihn an und meinte: »Mein lieber Thomas. Ich denke nicht, dass dieser Schmerz je aufhört. Er wird nur erträglicher. Ich bin froh, dass ich Euch alle habe. Ihr helft mir. Und Thomas, ich werde versuchen Dir zu helfen. Du bist ja jetzt so was wie mein Ersatzbruder.«
Beim letzten Satz grinste Oli. Thomas sah ihn an und meinte: »Ach, wirklich? Ich bin also einfach nur ein Ersatz. Woher willst Du wissen, dass ich das sein will?«
Thomas sprach den letzten Satz so todernst, dass die andern vier ihn erschrocken ansahen. Doch Jens kannte Thomas und merkte sofort, dass dieser nur wieder foppen wollte. Kathi, Markus und natürlich Oli waren entsetzt. Letzterer fing auch sofort mit zittriger Stimme an zu fragen: »Wie jetzt? Thomas, bitte lass mich nicht fallen. Ich weiß, dass Du Michi vermisst. Aber ich vermisse ihn genauso, und ich brauche Dich.«
Bevor Thomas etwas sagen konnte, ergriff Jens das Wort, natürlich auch bierernst: »Ihr denkt alle nur an Euch. Thomas reißt sich für jeden den Arsch auf. Und jetzt soll er wieder Seelentröster spielen?«
Thomas war etwas irritiert. Aber als Jens ihm mit einem Auge zuzwinkerte, wusste er Bescheid. Die beiden versuchten ernst zu bleiben, und Jens tat so, als ob er abwartete. Jetzt ergriff Markus das Wort: »Sag mal Jens, spinnst Du? Michi war Olis Bruder. Und Michael und Thomas waren praktisch immer eins. Es ist doch selbstverständlich, dass Oli Thomas als Ersatzbruder sieht.«
Jetzt konnte Thomas nicht mehr, er lachte lauthals los. Auch Jens stimmte mit ein. Oli sah die beiden Jungs an und plötzlich dämmerte ihm, dass Thomas mal wieder einen seiner makaberen Gags abgelassen hatte und fing auch an zu lachen. Kathi war sauer und schrie: »Was lacht ihr so? Ich finde da nichts lustig dran!«
Markus dämmerte es auch. Als Kathi dann noch schrie, da musste er auch lachen. Nur Kathi stand wie ein Ochs vorm Berg und wurde etwas hysterisch: »Warum lacht ihr? Oli, was ist los?«
Thomas fasste als erster das Wort: »Mensch Kathi, du schnallst ja heute gar nichts. Ich habe einfach mal wieder einen meiner etwas makaberen Witze gemacht und Jens hat, ohne dass ich es vorher wusste, einfach den Gag mit gemacht.«
Jetzt wurde Kathi etwas rot und fing auch an zu lachen. Plötzlich hörte sie auf zu lachen und meinte dann trocken: »Jungs. Hört mal auf zu lachen. Mir ist gerade was eingefallen.«
Plötzlich waren alle ruhig. Thomas sah Kathi an und fragte: »Na! Meine Lieblingsfreundin, was ist Dir denn eingefallen?«
Kathi sah alle an und meinte: »So unrecht hatte Jens gar nicht.«
Die Jungs sahen zu Jens und dann jeder den anderen an und zuckten mit den Schultern. Kathi sah die vier an und meinte dann: »Oli, was jetzt sage, gilt nicht für Dich. Thomas war die ganzen Jahre für uns da. Half uns bei allem. Und wir maßen uns an, ihm zu sagen, wie er sich gegenüber Oli zu verhalten hat.«
Oli und Thomas sahen sich ratlos an. Jens fragte: »Worauf willst Du hinaus?«
»Jens, das ist jetzt kein Vorwurf«, meinte sie sich im Voraus entschuldigend und fuhr fort, »Michael ist gerade einen Tag unter der Erde, und Thomas macht wieder das, was er am besten kann. Er hilft wieder anderen. Aber keiner denkt darüber nach, wie man ihm helfen kann.«
Thomas stand auf, nahm Jens in den Arm und meinte: »Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Michael hätte bestimmt genauso gehandelt.«
Kathi sah zu Oli, dann zu Jens und Thomas und dann zu Markus und meinte: »Vielleicht, aber es ist ungewöhnlich. Außerdem ist es ungerecht, denn wir können Dir nicht helfen.«
Thomas ging zu Kathi und meinte dann: »Das ist jetzt an Euch alle hier im Raum gerichtet. Ihr habt mir schon geholfen. Denn damit, dass ich Jens und Markus geholfen habe, konnte ich mir selbst auch helfen, weil ich von Michael abgelenkt war. Außerdem habe ich seit Michaels Tod nicht mehr so gelacht. Auch wenn es auf Deine Kosten war, Oli. Tut mir leid!«
Oliver ging zu Thomas, nahm ihn in den Arm und meinte: »Ach Thomas, Dich nicht traurig zu sehen, baut mich mehr auf, als alle Beileidsbekundungen der Welt. Hauptsache, ich kann Dich als Ersatzbruder ansehen.«
Thomas sah Oli in die Augen und meinte: »Das darfst Du.«
Die beiden fielen sich in die Arme und weinten. Dann kam Jens zu den zweien und umarmte sie auch, ebenso wie Markus und dann Kathi. Alle vier weinten. Teils aus Trauer und teils aus Freude, weil sie sich alle so gut verstanden.
Besprechung der Stufenfahrt
Die fünf saßen wieder jeder für sich. Fast jeder. Jens saß auf dem Bett und Markus ihm zu Füßen, seinen Kopf in seines neuen alten Freundes Schoß. Thomas ergriff das Wort: »Also, jetzt lasst uns aber über die Stufenfahrt reden. Jens und Markus, wir sind in einem Zimmer. Aber ein Bett bleibt leider leer.«
Thomas sah traurig zu Boden. Da ergriff Oliver das Wort: »Vielleicht nicht.«
Die vier anderen sahen ihn an. Jens fragte als erster: »Was weißt Du, was wir nicht wissen?«
Oli grinste etwas und wurde sofort ernst: »Also, ich bin ja nicht bei Euch auf dem Gymnasium. Aber ich soll nach den Ferien zu Euch wechseln, weil es Probleme wegen meiner Leistungsfächer gibt. Herr Wunderlich meinte, da mein Bruder bezahlt hatte und meine Eltern das Geld nicht zurück wollten, könne ich doch mitfahren, statt ihm.«
Thomas, Kathi, Jens und Markus sahen sich an. Sie waren etwas verwirrt. Oli meinte: »Da ich nur ein Jahr jünger bin als Michael und mein Bruder zweimal sitzen geblieben ist, bin ich im Moment in der dreizehn. Bloß meine Noten sind seit Michaels Krankheit so in den Keller gegangen, dass ich das Abi wiederholen muss. Aber da meine Kurse auf dem Gymnasium nicht mehr erteilt werden, wechsle ich zu Euch.«
Thomas fiel plötzlich wieder ein, dass Michael ja zwei Jahre älter gewesen war, als er selbst. Und dass er in Olis Alter war. Thomas ergriff das Wort: »Na, dann ist ja alles in bester Ordnung. Dann schläfst Du bei Jens, Markus und mir. Und wenn die beiden zu sehr knutschen, dann können wir ja solange rausgehen.«
Die beiden angesprochenen Jungs wurden sofort rot. Aber Thomas setzte noch einen drauf: »Aber, Jens und Markus, Oliver schläft nur bei uns, nicht mit uns.«
Die beiden sahen aus wie zwei Tomaten. Oliver hielt es vor Lachen nicht mehr aus und auch Kathi musste sich köstlich amüsieren. Jens hatte sofort seine Fassung wieder und konterte: »Da ist wohl der Wunsch der Vater des Gedankens, mein lieber Thomas.«
Bums, der saß. Leider nicht so, wie Jens es beabsichtigt hatte, denn Thomas fing plötzlich an zu heulen und rannte aus dem Zimmer. Die anderen vier waren wie versteinert. Keiner wusste, was jetzt los war. Oli fand als erster die Sprache wieder: »Ich werde mal nach ihm sehen.«
Jens stotterte: »Scheiße! Das wollte ich nicht. Was habe ich nur gesagt?«
Markus nahm ihn in den Arm. Kathi sagte als Erste etwas: »Wir haben wohl nicht mehr daran gedacht, dass Michael erst gestern beerdigt worden ist. Ich denke mal, dass es einfach der falsche Gag zur falschen Zeit war. Aber lasst uns auch runter gehen. Jens, Du kennst Dich hier in dem Haushalt am besten aus. Koch Du mal ne Kanne Tee. Wir beide leisten Oli und Thomas Gesellschaft.«
Die beiden Jungs taten, was Kathi verlangte.
Zur selben Zeit im Wohnzimmer. Thomas lag halb auf der Couch und flennte. Dann schrie er: »Michael, Du bist ein ganz gemeiner Kerl! Du lässt mich alleine! Wo bekomme ich jetzt meine Kraft her! Wer kuschelt sich an mich?«
Als Oliver die Treppe runterkam, hörte er einen Teil dessen, was Thomas schrie. Er blieb in der Tür stehen. Thomas hatte sich mittlerweile auf die Couch gekniet und schaute durch das Fenster und flüsterte: »Michael, warum hast Du mich so früh verlassen? Ich brauche Dich. Ohne Dich will ich nicht mehr sein.«
Das reichte Oliver, um endlich einzuschreiten. Er stellte sich hinter Thomas und meinte: »Verlass Du mich nicht auch noch. Einen Bruder habe ich bereits verloren.«
Thomas erschrak. Er hatte Oli nicht bemerkt. Doch der Schreck half. Er weinte nicht mehr und schrie: »Oliver! Du hast mich erschreckt. Wie lange hast Du mir zugehört?«
Oliver setzte sich neben Thomas und meinte, den Arm um ihn legend: »Lange genug. Bitte, Thomas, tu Dir nichts an. Das würde Michael nie wollen. Glaube mir. Und ich will das auch nicht. Wer soll denn auf mich aufpassen?«
Plötzlich stand Thomas auf und schrie Oliver an: »Schön, dass Ihr alle an Euch denkt! Jeder will seine Probleme bei mir abladen und was ist mit mir? Ich bin seit Michaels Tod gar nicht richtig zum Nachdenken gekommen! Irgendwer war immer hier und wollte mit mir trauern! Und dann lassen alle nebenbei ihre Probleme ab! Der liebe Thomas kann das ja ab! Der liebe Thomas hat das immer so gemacht! Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr! Ich will nur Michael zurück! Ich will wieder glücklich sein!«
Dann brach er zusammen und heulte. Kathi, die alles von der Treppe mit angehört hatte, wollte gerade zu Thomas laufen und auf ihn einreden. Markus und Jens hielten sie fest und meinten: »Lass ihn. Er muss einfach mal Dampf ablassen. Denk daran, was wir eben oben gesagt haben, von wegen Thomas und helfen anderer.«
Kathi sah Jens an und meinte: »Aber er hat doch selbst gesagt, dass er das braucht!«
Jens führte Kathi in die Küche und meinte zu ihr: »Das hat er gesagt, ja. Aber wir vergessen alle, dass Thomas und Michael sich liebten. Sie wollten nächstes Jahr in eine Wohnung ziehen. Die beiden wollten ihr Leben miteinander teilen. Außerdem ist Thomas auch nur ein Mensch. Anstatt ihm jetzt Vorwürfe zu machen, sollten wir lieber alles tun, damit er wieder auf andere Gedanken kommt.«
Kathi war immer noch sauer: »Das ist mir egal. Er hat kein Recht, Oliver so anzuschreien! Und das werde ich ihm jetzt sagen.«
Jetzt mischte sich Markus ein: »Kathi, das ist ne Sache zwischen Oliver und Thomas. Wenn wir jetzt dazwischen gehen, gibt das nur böses Blut. Thomas macht gerade so was durch wie Trauerarbeit. Dazu gehört auch, dass man sich einiges von der Seele schreit. Lass die beiden. Ich denke, das wird wieder.«
Plötzlich kam Oliver herein und schrie: »Schnell, holt einen Arzt! Thomas ist zusammengebrochen!«
Der Doktor in der Familie erspart den Notarzt
Kaum hatte Oliver das gerufen, ging die Wohnungstür auf. Oli rannte sofort hin. Es waren Thomas' Eltern. Er rannte sofort zu Herrn Müller und schrie: »Schnell, Thomas ist zusammengebrochen.«
Karl rannte zu seinem Sohn. Er fühlte den Puls und wurde etwas ruhiger. Dann sagte er zu seiner Frau: »Miriam, gib mir mal das Riechsalz, bitte.«
Oli war ganz fertig und fragte: »Was hat er? Wird er wieder gesund?«
Karl drehte sich zu Oli und meinte: »Keine Angst. Thomas ist nur ein bissel bewusstlos geworden. Weiß jemand, ob er heute schon was gegessen hat?«
Kathi sprach: »Seitdem wir hier sind, nicht.«
Dann meinte Jens: »Jetzt wo Sie es sagen, fällt mir ein, dass er noch nicht mal richtig gefrühstückt hat. Er hat eigentlich den ganzen Tag über nichts gegessen.«
Karl sah zu seinem Sohn und meinte: »Das dachte ich mir. Ihr müsst mir einen Gefallen tun.« Oliver fragte als Erster: »Was sollen wir machen?«
In dem Moment kam Karls Frau mit dem Riechsalz. Er öffnete die Flasche und hielt sie seinem Sohn unter die Nase. Thomas wurde wieder wach: »Was, wo? Dad, was machst Du hier?«
Karl sah seinen Sohn an und meinte: »Junge, Du solltest mal wieder vernünftig essen. Seit Michaels Tod hast Du fast gar nichts gegessen.«
Kathi sah ihn entsetzt an: »Machst Du ne Diät oder was?« Karl grinste und Jens verpasste ihr einen Rippenstoß. Thomas stand auf und blickte in die Runde: »Sorry, ich wollte Euch keinen Schrecken versetzen. Und Oli, es tut mir leid, dass ich Dich so angeschrieen habe. Aber ich konnte nicht mehr. Mir wurde es zuviel.«
Oliver setzte sich neben ihn und meinte: »Thomas, Du hast mir einen Riesenschrecken eingejagt. Aber nicht, weil Du mich angeschrieen hast, sondern weil Du plötzlich zusammengebrochen bist.«
Plötzlich ergriff Markus das Wort: »Herr Müller! Wie spät haben wir es?«
Thomas Vater sah auf die Uhr und meinte: »Zehn vor neun. Warum?«
Markus sah die anderen vier an und meinte grinsen: »Was haltet Ihr davon, wenn ich Euch auf ne Pizza einlade? Ich zahle.«
»Hast Du im Lotto gewonnen?« fragte Jens.
Markus grinste noch mehr und meinte: »Ja. Letzten Samstag vier Richtige mit Zusatzzahl. Hat einiges gegeben.«
Jens nahm ihn in den Arm und meinte: »Na, da habe ich ja ne gute Partie gemacht.«
Thomas' Eltern sahen die beiden Jungs an, und Herr Müller meinte: »Wie, ihr seid auch zusammen? Man müsste noch mal 19 sein, mein Schatz.« »Dann würde ich auch keinen anderen wollen außer Dir«, bemerkte Karls Frau.
Kathi schüttelte den Kopf und meinte nur lakonisch: »Erwachsene.«
Thomas sah in die Runde und meinte: »Geht ruhig. Ich komm jetzt erstmal alleine klar.«
Doch Markus protestierte: »Nee, mein lieber Thomas, so haben wir nicht gewettet. Du gehst mit und isst erstmal ne ordentliche Portion Pizza und Pasta. Oder meinst Du, ich nehme so einen Hungerhaken mit auf unser Zimmer?«
Thomas grinste, und Oliver meinte: »Bitte komm mit. Ohne meinen Ersatzbruder gehe ich nicht.«
»Na, wenn mich der Kleine so lieb bittet, dann muss ich ja mit«, meinte Thomas.
Oliver tat entrüstet: »Wer ist hier klein? Die zwei Zentimeter.«
Die andern lachten. Dann zogen sie sich an und wollten los. Markus ging als Letzter. Herr Müller nahm ihn beiseite und meinte: »Danke. Thomas braucht im Moment solche Freunde wie Euch.«
Ein Restaurantbesuch und seine Folgen
Thomas bot den vieren an, sie zu fahren. Markus lotste ihn und die anderen zu einem Italiener, den noch keiner kannte. »Markus, bist Du so sicher, dass Du hier hin willst?«, fragte Thomas.
Auch die anderen drei schauten verwirrt. Jens rief: »Das ist doch ein Nobelschuppen!«
Oliver bemerkte: »Mit unserer Straßenkleidung kommen wir da nie hinein.«
Markus grinste nur und gab ganz trocken von sich: »Wartet es ab. Ich erkläre Euch gleich alles. Lasst mich nur vorgehen.«
Thomas, Oliver, Jens und Kathi sahen sich an und hoben die Schultern. Dann kam ganz trocken von Kathi, mit einem hämischen Grinsen: »Du zahlst ja.«
Markus ging in das Restaurant und die anderen vier warteten. Allerdings nicht mal eine Minute. Markus rief sie hinein. Ein Kellner hielt den vieren die Tür auf und geleitete alle fünf zu einem Tisch, der etwas abgelegen stand. Thomas meinte nur: »Ich komme mir vor, wie in einem zweitklassigen Mafiafilm.«
»Wer hat da die Organisation genannt?« fragte eine tiefe Stimme.
Thomas schrak zusammen, ebenso wie Kathi, Oliver und Jens. Nur Markus lächelte den älteren Mann an und begrüßte ihn: »Hallo Onkel Luigi! Darf ich Dir meine Freunde vorstellen?«
Der erwiderte nur: »Das will ich doch hoffen, mein Junge. Sonst muss ich Dich wieder durchfoltern, wie früher.«
Die Gesichtszüge der anderen vier entgleisten immer mehr. Nur Markus stand da, grinste und sprach zu seinem Onkel: »Luigi, untersteh Dich. Du weißt, wie ich darauf reagiere.«
Markus' Onkel lachte, sah die Verwirrung der vier anderen und klärte auf: »Markus, mein Lieblingsneffe. Wir verwirren Deine Freunde. Das sollten wir besser lassen. Ihr müsst wissen, wenn der kleine Markus früher nicht pariert hat, hat ihn Onkel Luigi immer ausgekitzelt.«
»Gut zu wissen. Dann weiß ich ja, wie ich ihn einschüchtern kann. Übrigens, ich heiße Jens.«
Onkel Luigi lachte und meinte: »Dann bist Du Markus' neuer Freund.«
Jens nickte und wusste jetzt nicht, was er sagen sollte. Doch Onkel Luigi löste die Verwirrung: »Ich weiß, dass meine Neffe schwul ist. Ich finde es nicht schlimm. Mein Sohn ist auch schwul, und ich bin stolz darauf.«
Markus verdrehte die Augen. Er wusste genau was kommen würde. Luigi rief: »Antonio!«
Der nette Kellner kam, der eben noch die Tür offen gehalten hatte. Onkel Luigi wirkte stolz, als er seinen Sohn vorstellte: »Darf ich Euch meinen Sohn vorstellen? Das ist Antonio. Er wird mal das Restaurant übernehmen. Obwohl, eigentlich gehört es ihm schon. Aber jetzt solltet Ihr Euch mal weiter vorstellen.«
Kathi hatte natürlich Vorrang: »Ich heiße Kathrin. Obwohl, Kathi ist mir lieber.«
Onkel Luigi grinste und meinte: »Signorina Kathi. Es ist mir eine Ehre.«
Antonio verdrehte die Augen und sprach zu Kathi: »Du musst meinen Vater entschuldigen. Bei Frauen werden die meisten Italiener immer so seltsam.«
Zack, hatte er einen Ellenbogen in den Rippen. Markus grinste und meinte: »Onkel Luigi straft immer sofort. Meist aber ohne Zementschuhe.«
»Mein liebster Neffe, vielleicht mache ich bei Dir bald mal eine Ausnahme«, sprach Luigi und lachte.
Jetzt stellte sich Oliver vor.
Dann war Thomas an der Reihe: »Nun muss ich mich wohl vorstellen. Ich bin Thomas und bei uns in der Schule der Jahrgangsstufensprecher.«
Onkel Luigi ging sofort auf ihn zu: »Ich weiß. Markus hat uns viel von Dir erzählt, auch das Dein Freund gestorben ist.« Dann schaute er zu Oliver und meinte: »Dann war Michael Dein Bruder?« Oliver nickte.
Luigi bedeutete den fünf, sich zu setzen. Auch er nahm Platz direkt zwischen Oliver und Thomas und sprach mit den beiden: »Markus hat mir von Michael erzählt. Ich bin untröstlich. Solltet Ihr mal jemanden zum Reden brauchen, kommt zu mir. Onkel Luigi hat ein Ohr für Euch. Denn Markus' Freunde sind auch meine.«
Eigentlich wollte Luigi noch etwas sagen, aber da klopfte ihm jemand von hinten auf die Schultern. Ein ca. 22-jähriger junger Mann sagte zu ihm: »Paps, ich störe Dich ungern. Könntest Du mal ans Telefon kommen?«
Luigi drehte sich um und meinte: »Mein zweiter Sohn, Mario. Kommt immer zum schlechtesten Zeitpunkt.«
Luigi erhob sich und ging ans Telefon. Mario setzte sich zu ihnen. Er stellte sich selbst vor: »Hallo! Ich bin Mario, und wer seid Ihr?«
Die vier stellten sich alle noch einmal vor. Als sich Kathi vorstellte, blieben seine Blicke etwas länger an ihr hängen, als es von ihm beabsichtigt war. Entweder wollte sie es nicht bemerken oder bemerkte es wirklich nicht einfach nicht. Jetzt ergriff Markus das Wort: »Mario, was empfiehlst Du uns?«
Der Angesprochene überlegte und meinte: »Wir haben ein schönes Menü heute. Erst eine leckere Langustensuppe. Danach eine Hauptspeise, die einem das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Den Namen erspare ich Euch. Es hat was mit Muscheln zu tun und mit grünen Nudeln. Dann ein schönes Dessert und natürlich zu jedem Gang einen Grappa.«
Thomas verzog das Gesicht. Luigi fragte: »Was ist? Magst Du keinen Grappa?«
Thomas sah mürrisch aus und gab als Antwort: »Doch. Sogar gern. Aber ich bin mit dem Auto da.«
»Kein Problem. Ich fahre Euch nachher nach Hause. Kannst ja Dein Auto morgen abholen«, schlug Mario vor.
Thomas stimmte zu. Dann tauchte auch Onkel Luigi wieder auf: »Na, hat Euch Mario das Menü empfohlen?«
Alle nickten. Luigi grinste: »Seine Kreation. Ist echt lecker. Hat er euch Grappa angeboten?« Wieder bejahten die fünf.
Luigi lachte fast: »Na, dann hoffe ich, dass Ihr richtigen Hunger habt. Dann bekommt Ihr von allem ne doppelte Portion. Und denkt daran, man kann Italiener nicht so leicht beleidigen. Aber wehe, einer sagt etwas gegen unsere Küche oder isst nichts, dann können wir sauer werden.«
Dann fing er an zu lachen.
Es wurde ein schöner Abend. Thomas hatte seit Michaels Tod mal wieder richtig gelacht und auch reichlich gegessen und getrunken. Er erinnerte sich sogar daran, dass er mit Antonio Bruderschaft getrunken hatte, nachdem Mario mit Kathi das gleiche getan hatte. Es war ein schöner Abend. Sie waren bis um 23 Uhr im Lokal geblieben. Mario hatte sie dann alle nach Hause gebracht. Erst Oliver, dann Jens und Markus zu Thomas und zum Schluss Kathi. Sie kamen ins Haus. Karl saß im Wohnzimmer und fragte: »Na Ihr, habt Ihr einen schönen Abend gehabt?«
Thomas grinste und antwortete: »Klar. Ich habe gegessen wie ein Scheunendrescher. Onkel Luigi hat uns voll gestopft. Und Kathi hat wohl einen neuen Verehrer, wie mir scheint.«
Karl stutzte: »Wer ist Onkel Luigi, und wieso hat Kathi einen neuen Verehrer?«
Die drei setzten sich zu Karl und erzählten, was alles los gewesen war. Karl lachte während der Erzählung.
So gingen Thomas, Jens und Markus aufs Zimmer und legten sich schlafen. Thomas bot den beiden das Bett an, und er nahm den Schlafsack, der für Jens gedacht gewesen war. Plötzlich meinte Jens: »Das ist ungerecht. Komm zu uns. Dein Bett ist groß genug für drei.«
Thomas war das erst gar nicht so recht. Doch nachdem Markus und Jens lange auf ihn eingeredet hatten, gab er nach und legte sich zu den beiden. Sie quatschten noch etwas, fielen aber alle drei in einen gesunden Schlaf.
Träume sind was Schönes
Thomas schlief als erster ein. Er versank sofort in eine Traumwelt. Um ihn herum waren Bäume und Blätter. Auf einer Wiese saß jemand. Es war Michael. Thomas rannte sofort zu ihm: »Michael. Es ist schön, Dich zu sehen. Ich vermisse Dich.«
Michael drehte sich zu Thomas und sprach: »Thomas. Klammer Dich nicht zu sehr an mich. Meine Liebe zu Dir wird ewig dauern. Aber bis wir uns wieder sehen, musst Du Dein Leben weiterleben. Außerdem musst Du auf meinen kleinen Bruder aufpassen. Übrigens fand ich es gut von Dir, dass Du Jens und Markus zusammengebracht hast. Eines Tages wirst Du dafür noch belohnt werden, dass Du so bist wie Du bist. Aber bis dahin musst Du Dein Leben so nehmen wie es ist. Du musst mich, auch wenn Du nicht willst, langsam loslassen. Du musst Dich anderen Aufgaben stellen. Schweren Aufgaben. Du wirst bald einem Menschen begegnen, dem es sehr schlecht geht. Du wirst ihm helfen. Dafür wirst Du viel Leid erfahren. Dein Leben wird sich bald ändern. Aber das wird alles erst später eintreffen. Genieße jetzt erstmal die Stufenfahrt und verbringe eine schöne Zeit mit Antonio. Der Junge mag Dich. Glaub mir. Lern ihn mal richtig kennen. Er ist ein netter Kerl. So, jetzt träume weiter und vergiss nicht, ich werde Dich nie vergessen. Das wirst Du auch nicht. Aber öffne Dich anderen. Lass es zu, dass Dich jemand lieben kann.«
Dann gab er Thomas einen Kuss und verschwand. Thomas aber schlief weiter und lächelte.
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