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Höhen und Herzen

Zwischen Kletterwand, Kamera und der Suche nach sich selbst

Teil 1 - Mein erster Schritt ins Unbekannte

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Informationen

Vorwort

Ich hätte nie gedacht, dass ein einziger Moment alles verändern kann.

Ein Griff zu weit. Ein Blick zu lange. Ein Satz, den man sich nicht zu sagen traut.

Manchmal fühlt sich das Leben an wie eine Kletterroute: Man hält sich fest, sucht nach dem nächsten Halt, zieht sich hoch – und hofft, nicht zu fallen. Aber was, wenn genau das Fallen uns stärker macht?

Das hier ist Justins Geschichte. Meine Geschichte über Mut, über Liebe, über das Finden von Halt – in einem Sport, in einer neuen Welt, in einem Menschen, der vielleicht mehr ist als nur ein Freund.

Es geht um erste Male. Um Höhenangst – nicht auf der Kletterwand. Um das Gefühl, irgendwo hineinzupassen, ohne sich verstellen zu müssen. Um die leise Hoffnung, dass jemand bleibt, wenn man sich endlich traut, loszulassen.

Und vielleicht ist es ja genau das, was uns alle verbindet: Die Suche nach dem richtigen Griff. Nach dem einen Moment, in dem wir wissen – das hier ist echt.

Diese Geschichte ist für alle, die schon einmal auf der Kante gestanden haben. Die sich gefragt haben, wer sie wirklich sind. Und für die, die bereit sind, einen Schritt nach vorne zu machen.

Bereit? Dann schnall dich an. Es geht los.

Hier und jetzt

Ich sitze im Bus, die Kopfhörer tief in den Ohren, aber ich höre gar nicht richtig hin. Mein Name ist Justin, und das hier ist meine Geschichte. Die Musik dudelt leise vor sich hin, während meine Gedanken ganz woanders sind. Ich bin auf dem Weg zu einem Fotoshooting-Termin. Mein erstes richtiges Shooting soll starten! Ich bin aufgeregt, aber nicht nur deswegen. In meinem Kopf schwirrt so viel herum.

Es ist ein besonderer Moment in meinem Leben, denn ich bin jetzt 16. Endlich kann ich selbst über vieles bestimmen. Es ist nicht so, dass Bobby mir jemals das Gefühl gegeben hätte, über mich bestimmen zu wollen. Ganz im Gegenteil. Aber trotzdem ist es ein Unterschied, jetzt offiziell mehr Verantwortung für mich selbst zu haben.

Ein leichter Ruck geht durch den Bus, als er an einer Haltestelle hält. Draußen huschen Menschen vorbei – eine ältere Frau mit schweren Einkaufstüten, ein Junge auf einem Skateboard, der kurz anhält, um auf sein Handy zu schauen. Die Abendsonne wirft lange Schatten auf den Asphalt, und irgendwo in der Ferne erklingt das dumpfe Hupen eines Autos. Ich lehne meinen Kopf ans Fenster und schaue hinaus. Die Stadt zieht an mir vorbei, aber in Gedanken bin ich woanders.

Rückblick...

Dass ich schwul bin, ist mir mit 14 so richtig klar geworden. Es war kein Schock, keine plötzliche Erleuchtung, sondern ein ruhiges Wissen, das sich nach und nach gefestigt hat. Ich wusste, dass ich es jemandem erzählen musste. Aber nicht irgendwem. Meinem Bruder Bobby.

Bobby, eigentlich Robert, ist zehn Jahre älter als ich und mein einziger naher Verwandter. Unsere Eltern sind gestorben, als ich zehn war. Ein Autounfall. Ein einziger Moment, und unsere Welt war nicht mehr dieselbe. Seitdem sind wir nur noch wir Zwei. Unzertrennlich. Wir haben so viel zusammen durchgestanden, und ich weiß, dass ich ihm alles anvertrauen kann. Wirklich alles. Deshalb war mir klar: Wenn ich es jemandem sage, dann ihm zuerst.

Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als ich es ihm gesagt habe. Es war einer dieser stillen Sommerabende, an denen die Hitze langsam nachlässt und sich eine warme Brise durch die Straßen schiebt. Wir saßen auf dem kleinen Balkon unserer Wohnung, Bobby mit einer Tasse Tee, ich mit einem Glas Wasser. Mein Herz schlug wie verrückt, aber ich wusste, dass ich es nicht länger aufschieben konnte.

"Bobby... ich muss dir was sagen."

Er hatte mich nur ruhig angesehen, seine tiefgründigen Augen voller Verständnis. Ich fühlte, wie meine Stimme zitterte, als ich weitersprach.

"Ich glaube... nein, ich weiß, dass ich Jungs mag."

Einen Moment lang war es still. Mein Magen zog sich zusammen. Doch dann legte Bobby einfach einen Arm um mich und sagte: "Und? Du bist immer noch mein kleiner Bruder."

Diese Worte haben mich damals gerettet. All die Angst, die Unsicherheit – sie fielen einfach von mir ab. Seit diesem Tag wusste ich, dass ich nicht allein bin.

Meine Welt

Sport ist mein Leben. Vor allem Klettern und Ausdauertraining. Ich liebe es, mich an Felsen hochzuarbeiten, den Wind im Gesicht zu spüren und das Adrenalin, wenn ich den nächsten Griff erreiche. Bobby und ich klettern manchmal zusammen, im Sommer sogar in den Bergen. Dort bilden wir eine Seilschaft – das bedeutet absolutes Vertrauen. Wenn du dich einmal in der Luft hängen siehst, mit nichts als einem Seil zwischen dir und dem Abgrund, dann weißt du, was wahres Vertrauen bedeutet.

Seit ich acht bin, bin ich in einer Jugendgruppe für Kletterer. Wir trainieren hart und nehmen an Wettbewerben teil. Mein Körper hat sich dadurch stark verändert: Ich bin nicht muskelbepackt, sondern drahtig, athletisch, leicht und beweglich. Perfekt für meinen Sport. Dazu kommen meine fast schwarzen, meist kurzen Haare und meine braune Haut, die im Sommer schnell eine warme Tönung annimmt. Meine Augen sind ebenfalls sehr dunkel mit einer Schattierung, die eine besondere Tiefenwirkung hat, und, wenn ich ehrlich bin, mag ich mein Aussehen. Sport hat mir nicht nur Kraft gegeben, sondern auch Selbstbewusstsein.

Doch in all diesen Jahren gab es Momente, in denen ich mich gefragt habe, ob es okay ist, so zu sein, wie ich bin. Besonders in der Schule, wo alle Jungs oft von Mädchen sprachen, sich gegenseitig auf die Schulter klopften und Witze machten. Ich lachte mit, aber manchmal fühlte ich mich wie ein Zuschauer in meinem eigenen Leben.

Unser Leben

Bobby und ich versuchen, uns meist gesund zu ernähren. Wir kochen zusammen, und Fast Food oder zu viele Süßigkeiten sind bei uns eher die Ausnahme. Nicht nur wegen der Fitness, sondern auch, weil wir beide auf unsere Haut achten. Ich hatte bisher kaum Pickel und hoffe, dass das so bleibt.

Das gemeinsame Kochen ist schon fast ein Ritual. Wir haben unseren Spaß dabei und experimentieren manchmal auch... naja, mit mehr oder weniger großem Erfolg. Einmal haben wir versucht, selbstgemachte Gnocchi zu machen – am Ende hatten wir einen einzigen riesigen, klebrigen Teigklumpen, der mehr an einen Basketball als an Essen erinnerte. Oder unser berüchtigtes Bananen-Curry, das so scharf wurde, dass wir beide mit roten Gesichtern keuchend am Tisch saßen und gefühlt einen Liter Milch trinken mussten. Aber egal, was dabei herauskommt, wir müssen es ja dann auch beide essen – also geben wir uns Mühe, zumindest meistens!

Bobby ist mittlerweile Informatiker. Sein Abi hat er noch vor dem Unfall unserer Eltern absolviert. Als der Unfall passierte, war er gerade im Ausland unterwegs, hatte sich einen Urlaub zusammengespart und wollte unbedingt mal nach Australien. Er hat alles abgebrochen und ist sofort zu mir gekommen.

Wir brauchten ein Jahr, um alles wieder auf die Reihe zu bekommen. Am Anfang war es chaotisch – Bobby musste plötzlich nicht nur mein großer Bruder, sondern auch eine Art Elternteil sein. Bobby musste alles nach dem Unfall regeln: Vormundschaft, Hinterlassenschaft, Trauer, und alles, was ich erst später in seiner Tragweite richtig verstand. Etwas, wofür er sicher nie vorbereitet war. Ich erinnere mich an Nächte, in denen wir zusammen auf dem Sofa saßen, er müde vom Tag, an dem er alles für uns regeln und organisieren musste, ich von der Schule, und wir einfach nur geschwiegen haben. Dann gab es Tage, an denen wir uns wegen Kleinigkeiten stritten, weil wir beide nicht wussten, wohin mit unseren Gefühlen. Doch mit der Zeit fanden wir unseren Rhythmus. Lernten, aufeinander zu achten und miteinander statt nebeneinander zu leben. Das war die Zeit, in der wir uns schworen, nichts voreinander zu verschweigen. Wir waren schließlich die einzigen, die übrig geblieben waren!

Er hat dann direkt sein Studium begonnen, hat sich etwas gesucht, wo er nicht umziehen musste, und vieles von zu Hause aus gemacht. Zum Glück hatten unsere Eltern eine Lebensversicherung, und davon konnten wir erstmal ganz gut leben. Wie er es schaffte, sich um mich zu kümmern und trotzdem sehr erfolgreich zu studieren, ist mir ein Rätsel, aber er ist der beste Bruder, den man sich vorstellen kann!

Erinnerungen

Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als mir klar wurde, dass ich mich wirklich in Jungs verlieben kann. Oder besser gesagt – in einen ganz bestimmten Jungen.

Sein Name war Luca. Wir waren gleich alt, beide in der Klettergruppe, beide mit einer Leidenschaft für den Sport. Aber Luca war... anders. Nicht anders im negativen Sinne, sondern einfach auf eine Art, die mich fasziniert hat. Er war witzig, spontan und hatte dieses ansteckende Lachen, das einen sofort mitriss. Seine braunen Haare waren immer ein bisschen zu lang und fielen ihm ständig in die Augen, die in der Sonne fast golden schimmerten.

Wir haben oft zusammen trainiert, waren ein eingespieltes Team. Ich mochte seine Art, wie er mich immer mit einem herausfordernden Grinsen ansah, wenn wir uns ein neues Kletterziel setzten. "Wetten, du schaffst es nicht schneller als ich?", sagte er oft, und ich konnte nie widerstehen.

Anfangs dachte ich, es sei einfach Bewunderung. Dass ich ihn cool fand, weil er mutig war, weil er sich traute, Sprüche zu reißen, während er mit einer Hand an der Wand hing. Aber irgendwann wurde mir klar, dass es mehr war.

Es war das Gefühl, das ich bekam, wenn er mich nach einem erfolgreichen Durchgang lachend anrempelte. Das Kribbeln, wenn unsere Hände sich zufällig berührten. Die Art, wie ich mir wünschte, dass er mich ansah, ein bisschen länger als nötig.

Ich wusste nicht, ob er genauso fühlte. Wahrscheinlich nicht. Er sprach auch von Mädchen, lachte mit den anderen über irgendwelche Schwärmereien, aber ich spürte trotzdem diese Verbindung zwischen uns. Oder bildete ich mir das nur ein?

Ich erinnere mich besonders an einen Nachmittag, an dem wir zusammen nach dem Training saßen, unsere Schuhe abschnallten und einfach redeten. Die Halle war fast leer, nur ein paar andere Kletterer trainierten noch. Luca war in Gedanken versunken, zog an einer losen Stelle an seinem Chalkbag herum.

"Manchmal hab ich das Gefühl, ich passe nirgends so richtig rein", sagte er plötzlich.

Ich sah ihn überrascht an. "Wie meinst du das?"

Er zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung... Es ist einfach manchmal so ein Gefühl. Als würde ich irgendwas erwarten, das nie passiert."

Mein Herz schlug schneller. Meinte er das, was ich dachte? Oder interpretierte ich zu viel hinein?

Ich wollte etwas sagen, irgendwas, aber in diesem Moment rief einer der Trainer nach uns, und der Moment war vorbei.

Ich habe ihm nie gesagt, was ich fühlte. Vielleicht hätte ich es tun sollen. Vielleicht auch nicht. Aber eines weiß ich: Luca war der erste Junge, der mir gezeigt hat, dass das, was ich fühle, real ist. Dass es nicht nur eine Phase oder Einbildung ist. Und dafür werde ich ihn immer in Erinnerung behalten.

Doch dann war er plötzlich weg.

Sein Vater hatte ein Jobangebot in einer anderen Stadt bekommen, und von einem Tag auf den anderen stand fest, dass sie umziehen würden – 600 Kilometer entfernt, ans andere Ende des Landes. Ich erinnere mich noch an unsere letzte gemeinsame Trainingseinheit. Wir taten beide so, als wäre es ein Tag wie jeder andere, aber es lag eine komische Spannung in der Luft.

Als wir uns nach dem Training verabschiedeten, schlug er mir – wie so oft – freundschaftlich gegen die Schulter und grinste. „Bleib dran, Justin. In ein paar Jahren kletterst du bestimmt besser als ich.“

Ich wollte ihm sagen, dass das nicht stimmte. Dass es mir egal war, wer von uns besser kletterte. Dass ich ihn vermissen würde. Aber die Worte blieben mir im Hals stecken.

Zwei Tage später war er weg.

Wir schrieben uns noch ein paar Nachrichten, aber wie das eben so ist – mit der Zeit wurden es immer weniger, bis der Kontakt schließlich ganz abbrach. Sein Profil auf Social Media gibt es noch, ich habe es hin und wieder angeschaut, aber ich habe nie etwas geschrieben. Vielleicht, weil ich Angst davor hatte, dass er mir gar nicht mehr antwortet.

Ich weiß nicht, ob er je geahnt hat, was ich für ihn empfunden habe. Vielleicht war ich für ihn nur ein guter Freund. Vielleicht auch nicht. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr.

Ich lehne mich gegen das Busfenster und seufze leise. Manchmal frage ich mich, was passiert wäre, wenn ich ihm damals gesagt hätte, was ich wirklich fühle. Ob sich etwas geändert hätte.

Aber das Leben geht weiter.

Zum Shooting-Treffen

Ein sanftes Schaukeln reißt mich aus meinen Gedanken. Mein Herz schlägt plötzlich schneller, eine Mischung aus Nervosität und Vorfreude kribbelt in meinem Magen. Gleich bin ich da. Gleich beginnt etwas Neues. Ich schüttle leicht den Kopf und atme tief durch. Alles wird gut. Der Bus nimmt eine Kurve, und mir wird bewusst, dass meine Haltestelle näher kommt. Das Shooting wartet, ein neuer Abschnitt in meinem Leben. Und während ich aus dem Fenster sehe, weiß ich: Es wird nicht nur um Fotos gehen. Es wird um mich gehen. Darum, wer ich bin und wer ich sein will.

Der Bus hält mit einem ein wenig Ruckeln, die Türen zischen auf, und ich trete hinaus auf den Bürgersteig. Ein Schwall kühler Abendluft schlägt mir entgegen – eine angenehme Abwechslung nach der stickigen Busfahrt. Ich ziehe mir die Kapuze über den Kopf, verstaue die Kopfhörer in meiner Tasche und mache mich auf den Weg.

Der Treffpunkt ist noch ein Stück entfernt, etwa zehn Minuten zu Fuß. Ich genieße es, mich zu bewegen, spüre die Spannung in meinen Muskeln, den federnden Schritt, den mir das jahrelange Training gegeben hat. Während ich laufe, kann ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.

Dass ich hier bin, auf dem Weg zu meinem ersten richtigen Fotoshooting, hätte ich vor ein paar Monaten nie gedacht. Es ist irgendwie verrückt.

Es war nach dem letzten Junioren-Kletterwettkampf. Ich hatte alles gegeben, jeder Griff, jeder Zug war perfekt gewesen – na ja, fast perfekt. Am Ende reichte es für den zweiten Platz, aber das war mir egal. Ich klettere nicht für Medaillen, sondern für das Gefühl, das mich erfüllt, wenn ich ganz oben ankomme. Das Adrenalin. Die Freiheit.

Nach dem Wettkampf kam ein Mann auf mich zu, freundlich, aber geschäftsmäßig. Er stellte sich als Vertreter des Hauptsponsors vor, einer bekannten Marke für Kletterausrüstung und Sportbekleidung. Ich kannte das Logo auf seinem Shirt gut – es prangte auf fast jeder meiner Hosen und T-Shirts.

„Hey, Justin, oder? Du warst heute echt stark unterwegs“, sagte er und musterte mich mit einem prüfenden Blick. „Wir suchen junge, talentierte Athleten für eine neue Kampagne. Hättest du Lust, bei einem Shooting mitzumachen?“

Ich war so perplex, dass ich erst nicht wusste, was ich sagen sollte. Ich? Für eine Werbung? Ich musste lachen und schüttelte ungläubig den Kopf.

„Ähm … ich weiß nicht. Also …, klingt cool, aber ich hab sowas noch nie gemacht.“

„Musst du auch nicht. Wir suchen keine Models, sondern echte Sportler. Leute, die zeigen, worum es wirklich geht.“

Er drückte mir eine Karte in die Hand, auf der ein Firmenlogo und eine Mailadresse standen. „Denk drüber nach. Du hast eine gute Ausstrahlung, das könnte passen.“

Zuhause erzählte ich Bobby davon. Wir haben lange darüber geredet – über all die Vor- und Nachteile, was es bedeuten würde, auf Werbefotos zu erscheinen, möglicherweise in Magazinen oder auf Social Media.

„Bist du sicher, dass du das willst?“, hatte Bobby gefragt.

„Ich denke schon“, antwortete ich, aber in Wahrheit wusste ich es nicht hundertprozentig.

Ich liebe Klettern. Ich liebe Sport. Aber will ich wirklich mein Gesicht in einer Werbung sehen? Will ich, dass Leute mich erkennen? Was, wenn mich jemand aus der Schule darauf anspricht? Was, wenn es peinlich wird?

Letztendlich war es Bobby, der mich ermutigte.

„Weißt du, Justin…, wenn du es nicht machst, wirst du dich später vielleicht fragen, ob es nicht doch eine coole Erfahrung gewesen wäre. Und wenn du es machst und es dir nicht gefällt – dann machst du’s halt nicht nochmal.“ Er hatte Recht. Also sagte ich zu.

Jetzt bin ich hier, auf dem Weg zum Treffpunkt. Das Gebäude liegt ganz in der Nähe von Bobbys Arbeitsplatz, was mich beruhigt. Er hat sich extra die Zeit genommen, um mitzukommen. Nicht nur, weil er meinen Vertrag unterschreiben muss, schließlich bin ich noch minderjährig, sondern auch, weil es unser Ding ist. Wir besprechen alles zusammen. Und ich bin froh, dass er da sein wird.

Langsam kommt das Gebäude in Sicht. Eine moderne Glasfassade, große Schilder mit dem Firmenlogo. Vor dem Eingang steht eine vertraute Gestalt: Bobby, mit einer Jacke über dem Arm, den Blick auf sein Handy gerichtet.

Als er mich sieht, hebt er den Kopf und grinst: „Na, bereit für dein erstes Fotoshooting - Star?“

Ich verdrehe die Augen, kann mir ein Grinsen aber nicht verkneifen.

„Klar doch“, sage ich, aber mein Herz schlägt ein kleines bisschen schneller.

Bereit oder nicht – jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Das Gebäude ragt hoch in den Himmel, eine moderne Konstruktion aus Stahl und Glas, in der sich die Lichter der Stadt spiegeln. Ich atme tief durch, während wir uns dem Eingang nähern. Direkt im Erdgeschoss liegt ein riesiger Store – ein Outlet, in dem der Hersteller seine neueste Sportausrüstung verkauft. Kletterseile, Karabiner, Funktionskleidung, alles perfekt ausgestellt. Man spürt sofort: Hier geht es um Leistung, um Abenteuer, um das Streben nach dem nächsten Gipfel.

Bobby und ich treten durch die automatischen Türen, und eine kühle Brise der Klimaanlage empfängt uns. Der Eingangsbereich ist weitläufig, mit hellen Holzböden und großen Displays, die Bilder von Kletterern zeigen – eingefangen in waghalsigen Posen an steilen Felswänden, den Blick entschlossen nach oben gerichtet. Einige Gesichter erkenne ich sogar wieder. Profis aus der Szene. Leute, die ich schon immer bewundert habe. Ich frage mich, ob mein Gesicht bald auch hier hängen wird. Der Gedanke fühlt sich unwirklich an.

Wir gehen zur Rezeption, wo eine junge Frau mit Headset freundlich lächelt. „Justin Müller? Sie sind ein wenig zu früh, aber das ist kein Problem. Sie können gerne in der Lounge Platz nehmen, bis wir Sie abholen.“

Sie deutet auf einen Bereich mit bequemen Sesseln, etwas abseits vom Hauptgeschehen. Wir setzen uns, und ich spüre, wie sich meine Aufregung mit jeder Minute steigert. Mein Bein wippt nervös auf und ab, meine Hände sind ineinander verschränkt.

Bobby lehnt sich entspannt zurück. Er ist immer so gelassen, oder zumindest tut er so. Ich weiß, dass er in Wirklichkeit oft genauso grübelt wie ich. „Na? Wie fühlst du dich?“, fragt er schließlich, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung. Es fühlt sich komisch an. Ich freue mich, aber gleichzeitig … was, wenn es total peinlich wird?“ Er schmunzelt: „Peinlich wird es nur, wenn du mitten im Shooting hinfällst.“ „Sehr aufmunternd, danke.“ Er lacht leise. „Nein, im Ernst. Mach dir nicht so viele Gedanken. Die wollen authentische Bilder, keine gestellten Posen. Und du bist genau der Typ, den sie suchen. Sonst hätten sie dich nicht gefragt.“

Ich lasse seinen Worten einen Moment Zeit, sich in meinem Kopf zu setzen. Dann wandert mein Blick wieder zu den Bildern an der Wand.

Ein junger Mann in einer leuchtend roten Kletterhose hängt an einer Felswand, die Finger fest in den Griffen verkrallt. Ich kann fast die Anspannung in seinen Armen spüren. Neben ihm eine andere Aufnahme: eine Frau, die sich mit Kreide die Hände einreibt, ihr Blick konzentriert. Auf einem dritten Bild eine Gruppe lachender Kletterer, die sich nach einem erfolgreichen Aufstieg gegenseitig auf die Schultern klopfen.

Ich frage mich, ob ich jemals dieses Selbstbewusstsein ausstrahlen werde. Diese Selbstverständlichkeit, mit der diese Leute hier hängen.

„Bobby …“, beginne ich langsam, ohne den Blick von den Fotos zu nehmen. „Glaubst du… dass das eine gute Idee ist?“ Mein Bruder dreht sich leicht zu mir. „Meinst du das Shooting?“ Ich nicke. „Ja. Oder eher, … das alles. Mich zeigen. Sichtbar werden. Ich meine,… was, wenn es nicht nur positiv ist? Was, wenn ich mich danach irgendwie anders fühle?“ Bobby legt nachdenklich die Arme auf seine Knie. Dann sieht er mich an, sein Blick warm und ruhig. „Ich glaube, es ist gut, wenn du sichtbar wirst. Nicht nur für andere, sondern auch für dich selbst. Wenn du das Gefühl hast, dass es nicht das Richtige für dich ist, dann hörst du eben wieder auf. Aber wenn du es nie ausprobierst, wirst du nie wissen, ob es sich gut anfühlt.“

Ich lasse seine Worte sacken. Vielleicht hat er Recht. Vielleicht ist das hier genau der Schritt, den ich brauche, um mich weiterzuentwickeln. Ich schließe kurz die Augen, atme tief durch und öffne sie wieder. Mein Blick fällt erneut auf die Wand mit den Fotos. Vielleicht ist heute der Tag, an dem ich mich nicht nur als Kletterer, sondern auch als Person ein Stück mehr zeige.

Der erste Eindruck

„Justin! Schön, dass du da bist.“ Ich schrecke leicht auf, aus meinen Gedanken gerissen. Vor mir steht der Mann, der mich nach dem letzten Wettkampf angesprochen hatte – der Marketingchef des Unternehmens. Groß, sportlich, mit einem freundlichen, aber geschäftsmäßigen Lächeln. Sein Händedruck ist fest, sein Blick aufmerksam. „Freut mich, Sie zu sehen“, sage ich höflich und stehe auf. Er winkt ab und lacht. „Nichts da! Wir sind doch alle Kletterer…, ich bin Thomas.“

Das nimmt sofort ein wenig die Spannung aus der Situation. Er wirkt locker, fast kumpelhaft, und mir wird er gleich ein Stück sympathischer. Sein Blick wandert zu Bobby, und er streckt ihm ebenfalls die Hand entgegen. „Und Sie sind Herr Müller, richtig?“

Bobby schüttelt den Kopf und grinst: „Robert, bitte.“ „Sehr schön! Dann würde ich sagen, wir legen gleich los.“

Thomas macht eine einladende Geste, und wir folgen ihm durch das moderne Gebäude. Alles hier wirkt hochwertig, professionell, aber nicht übertrieben protzig – genau die Art von Umgebung, in der man sich auf Anhieb wohlfühlt.

Wir gehen zu einem gläsernen Fahrstuhl, der sich lautlos öffnet. Sobald wir eintreten und er sich in Bewegung setzt, breitet sich vor uns ein atemberaubender Blick ins Innere des Gebäudes aus. Ich kann nicht anders, als zu staunen.

Mitten in der riesigen Halle erstreckt sich eine gewaltige Indoor-Kletterwand. Sie reicht fast bis zur Decke, übersät mit Griffen in allen Farben und Formen. An den Seiten gibt es unterschiedliche Routen – einige steil, andere mit leichten Überhängen. Daneben ein großzügiger Boulderbereich mit weichen Matten darunter.

Ich beobachte, wie sich einige Kletterer geschickt nach oben arbeiten. Einer hängt für einen Moment scheinbar schwerelos an nur zwei Griffen, dann schwingt er sich kraftvoll weiter. Seile baumeln von der Decke, Trainer stehen mit aufmerksamen Blicken daneben, und in einer Ecke wird gerade neue Ausrüstung getestet.

„Beeindruckend, oder?“, fragt Thomas mit einem Schmunzeln, als er meinem Blick folgt. Ich nicke: „Absolut. Ich wusste nicht, dass ihr so eine Anlage direkt im Gebäude habt.“ „Ja, wir haben sie vor zwei Jahren bauen lassen. Perfekt für Trainings, Produkttests und natürlich für Fotoshootings.“ Ich schlucke. Hier würde ich also vielleicht bald selbst klettern – nicht nur für mich, sondern vor der Kamera.

Der Fahrstuhl hält, und wir betreten einen hellen, stilvoll eingerichteten Besprechungsraum. Große Fenster lassen viel Licht herein, an den Wänden hängen beeindruckende Kampagnenbilder. Ich erkenne einige bekannte Klettergesichter darauf.

In der Mitte des Raumes steht ein langer Tisch, gedeckt mit Getränken, Wasser, isotonische Drinks, Smoothies in verschiedenen Farben. In einer Ecke eine gemütliche Sitzecke mit modernen Sesseln, die zum Verweilen einlädt. „Setzt euch doch.“ Thomas deutet auf die Sitzecke und wir nehmen Platz. Er lehnt sich entspannt zurück, während er zu sprechen beginnt. „Also, bevor wir mit den Fotos starten, möchte ich euch kurz den Ablauf erklären.“ Seine Stimme ist ruhig, professionell, aber auch mit einer gewissen Begeisterung unterlegt. Ich versuche, mir jedes Wort genau einzuprägen. Heute geht es noch nicht ums Klettern, sondern erst einmal um die Kampagne selbst.

Verträge, Rechte, Pflichten – all das würden wir in Ruhe durchgehen. Dann gäbe es ein erstes Kennenlernen mit dem Fotografen und vielleicht ein paar Testaufnahmen, das steht aber wohl noch nicht ganz fest. Aber das war nur der Anfang.

Wenn alles gut läuft, sind mindestens zehn bis fünfzehn Shooting-Termine geplant. Kletterwand, Boulderwand, aber auch echte Felsen, draußen in den Bergen. Eine Mischung aus Studiobildern und realen Aufnahmen in der Natur. Mein Puls beschleunigt sich leicht. Das hier ist kein kleines Nebenprojekt. Das ist ein echtes Projekt. Ein großer Schritt. Und ich bin mittendrin!

Ich sitze in der gemütlichen Sitzecke, spüre das weiche Leder des Sessels unter mir und lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Die großen Kampagnenbilder an den Wänden faszinieren mich. Kletterer in actionreichen Posen, eingefangen an beeindruckenden Felswänden oder mitten im Sprung von Griff zu Griff. Das Lichtspiel, die Kontraste – alles wirkt so professionell, so kraftvoll.

Mein Blick bleibt an einem bestimmten Foto hängen: Ein junger Athlet, vielleicht Mitte zwanzig, hängt mit ausgestrecktem Arm an einer steilen Wand. Der Blick konzentriert, die Muskeln angespannt, die Adern leicht hervortretend. Sein Körper ist völlig in der Bewegung, als wäre er eins mit der Wand. Der Moment eingefroren, als wäre er schwerelos.

Ich frage mich, ob ich auch einmal so auf einem Plakat hängen werde. Ob ich das überhaupt will. Mein Kopf malt sich aus, wie es wäre, auf solchen Bildern zu sehen zu sein – in Hochglanz, in Sportläden, auf Werbebannern. Würde sich das fremd anfühlen? Oder vielleicht sogar gut? Ich drifte gedanklich ab.

Plötzlich bin ich wieder zwölf oder dreizehn Jahre alt. Stehe in der Kletterhalle, meine Hände weiß von Magnesia, mein Herz rast vor Nervosität. Neben mir steht er. Mein erster Schwarm. Mein Kletterpartner.

Wir lachen, scherzen, er klopft mir auf die Schulter, bevor er vor mir die Route hochgeht. Seine Finger greifen sicher nach den Griffen, sein Körper bewegt sich mühelos nach oben. Ich erinnere mich noch genau an das Licht in der Halle, an den Geruch von Magnesia und Gummi, an das leise Klackern der Karabiner. Damals wusste ich noch nicht genau, was dieses Gefühl in meiner Brust bedeutete. Nur, dass es sich anders anfühlte. Wichtiger.

Vielleicht war es das Kribbeln, wenn er mir half, den Klettergurt richtig zu justieren. Oder der Moment, wenn seine Hand meine nur für einen Sekundenbruchteil berührte, wenn er mir zeigte, wie ich einen Griff besser setzen konnte. Ich wusste nicht, ob das normal war, ob andere Jungs das auch so empfanden. Ich blinzele. Ein leises Lachen reißt mich aus meinen Gedanken.

Ich kehre zurück ins Hier und Jetzt. Mein Blick fällt auf Bobby und Thomas, die sich angeregt unterhalten. Ich habe nicht mitbekommen, wie das Gespräch begonnen hat, aber nun höre ich, wie Thomas schmunzelnd sagt: „Muss ich mal kurz einwerfen – Du siehst verdammt jung aus, als Vater.“ Bobby lacht leise und schüttelt den Kopf. „Bin ich ja auch nicht.“ Thomas runzelt die Stirn. „Nicht? Aber…?“

Bobby atmet kurz durch und lehnt sich leicht zurück. Ich sehe an seiner Haltung, dass er solche Gespräche eigentlich nicht mag, aber mittlerweile gewohnt ist. „Justin ist mein kleiner Bruder. Unsere Eltern sind gestorben, als er zehn war. Seitdem habe ich das Sorgerecht.“

Thomas' Gesichtsausdruck verändert sich sofort. Erst überrascht, dann wird sein Blick weicher. „Oh…, das tut mir leid. Das muss eine unglaublich harte Zeit für euch gewesen sein.“ Bobby nickt langsam. „Ja, das war es. Plötzlich Verantwortung für ein Kind zu haben, während ich selbst gerade mal mit dem Abitur fertig war… Ich wusste anfangs nicht mal, wie ich all das managen soll. Aber wir haben uns da durchgekämpft.“

Thomas sieht ihn nachdenklich an, seine sonst so geschäftsmäßige Art weicht einem ehrlichen Interesse. „Das ist… wirklich beeindruckend. Ich meine, viele hätten das nicht geschafft. Und Sie haben trotzdem ein Studium durchgezogen?“

„Musste ich. Irgendwie musste es ja weitergehen. Es war nicht leicht, aber wir hatten zum Glück etwas finanzielle Absicherung durch unsere Eltern. So konnte ich mein Informatikstudium beginnen und mittlerweile abschließen – und gleichzeitig für Justin da sein.“

Thomas nickt anerkennend. „Respekt. Wirklich. Das klingt nach einer unglaublichen Leistung.“ Bobby zuckt mit einem kleinen Lächeln die Schultern. „Man macht halt, was nötig ist.“

Ich sehe ihn an. Manchmal vergesse ich fast, wie viel Bobby für mich getan hat. Wie viel er geopfert hat. Er hat nie darüber geklagt, nie auch nur angedeutet, dass es ihm zu viel wurde. Und doch weiß ich, dass es das sicher oft war.

Thomas mustert ihn noch einen Moment, dann sagt er leise: „Dann ist das hier für Justin also ein echter Meilenstein, oder?“ Bobby schaut zu mir und grinst: „Definitiv. Aber ich bin mir sicher, er packt das.“ Ich muss schmunzeln. Bobby kennt mich einfach zu gut.

Vertrautheit

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sich der Ton von Thomas verändert hat. Er ist nicht mehr nur der geschäftsmäßige Marketingchef, der die Kampagne präsentiert. Sein Blick ist weicher geworden, persönlicher. Es geht ihm nicht mehr nur um Verträge, um Werbestrategien oder Zahlen – sondern um Menschen.

Er lehnt sich leicht vor, verschränkt die Finger locker vor sich auf dem Tisch und sieht mich direkt an: „Diese Kampagne ist für uns etwas ganz Besonderes, Justin“, beginnt er. „Es geht nicht nur um eine neue Kollektion – wir starten hier einen kompletten Relaunch unseres Branding. Ein neues Image, eine neue Philosophie. Und du bist ein entscheidender Teil davon.“

Ich schlucke.

„Wir haben lange überlegt, wen wir für diese Kampagne auswählen“, fährt er fort. „Die meisten unserer Athleten sind bereits Profis, bekannte Gesichter in der Szene. Aber diesmal wollten wir mehr. Diesmal wollten wir nicht nur die Spitze des Sports zeigen, sondern auch den Nachwuchs. Die Zukunft.“ Er lächelt: „Und da kommst du ins Spiel.“

Mein Herz schlägt schneller. „Du bist das Nachwuchstalent, das wir gesucht haben“, sagt er mit einer Überzeugung, die mich gleichzeitig ehrt und überfordert. „Nicht nur wegen deiner Leistung – sondern weil du etwas verkörperst, das perfekt zu unserer Marke passt.“ Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, aber keine Worte kommen heraus. „Du bist jung, ehrgeizig, talentiert – und du hast eine Geschichte.“ Er macht eine kurze Pause, als wolle er mir die Zeit geben, das zu verarbeiten. „Die Art, wie du dich durchkämpfst, wie du trainierst, wie du dich entwickelst…. das ist genau das, was wir zeigen wollen. Dass es nicht nur um Siege geht, sondern um den Weg dorthin.“

Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus. „Und dann natürlich dein Erscheinungsbild“, fügt er mit einem schmunzelnden Unterton hinzu. „Du hast eine unglaublich starke Ausstrahlung. Sportlich, aber natürlich. Charismatisch, ohne aufgesetzt zu wirken. Die Leute werden sich mit dir identifizieren können. Und genau das ist unser Ziel.“

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es ist seltsam, sich selbst durch die Augen eines Marketingprofis zu sehen. Ich hatte mich nie als jemanden betrachtet, der auf Werbeplakaten zu sehen sein könnte. Und doch…

Ich werfe einen kurzen Blick auf mein Spiegelbild in der Glaswand des Besprechungsraums. Zerzaustes dunkles Haar, ein paar widerspenstige Strähnen, die nie so liegen, wie sie sollten. Meine Gesichtszüge noch jung, fast ein bisschen schmal, aber die letzten Jahre Training haben Spuren hinterlassen. Definierte Wangenknochen, markante Linien. Meine Haut ist leicht gebräunt vom vielen draußen sein, meine Hände rau von Kreide und Fels. Meine Statur ist schlank, aber drahtig – typische Kletterermuskulatur, geschmeidig, nicht aufgesetzt. Ich passe also in ihr Bild. In dieses Konzept.

„Wir haben für diese Kampagne ein junges Fotografenteam engagiert, das genau diese Authentizität einfangen kann“, erklärt Thomas weiter. „Die anderen Models, wenn man sie so nennen mag, sind größtenteils Profis aus der Szene, die bereits unter Vertrag stehen. Aber du bist unser Nachwuchstalent – du bist die neue Generation.“ Meine Gedanken überschlagen sich. Das hier ist viel größer, als ich erwartet hatte. Ich sehe zu Bobby, der mich ruhig mustert, mit einem Ausdruck, den ich nicht ganz deuten kann. Stolz, aber auch diese typische „Mach dir keinen Kopf-Gelassenheit“, die er immer ausstrahlt. Ich atme tief durch. Vielleicht ist das hier genau die Chance, die ich brauche.

Ehrlichkeit und Konsequenzen?

…Eine Chance, noch besser zu mir zu stehen. Der Gedanke schleicht sich in meinen Kopf, leise, aber bestimmt. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht liegt es an Thomas’ ehrlichem Interesse, an der Art, wie er spricht, ohne bloß leere Marketingphrasen herunterzubeten. Vielleicht liegt es an der Größe dieser Kampagne, an der Bedeutung, die sie haben könnte. Aber wenn es um so etwas Großes geht, will ich ehrlich sein.

Mein Blick wandert zu Bobby. Er sitzt entspannt in seinem Sessel, aber ich weiß, dass er mich genau beobachtet. Wir verstehen uns ohne Worte – immer schon. Und jetzt, in diesem Moment, habe ich das Gefühl, dass er meine unausgesprochene Frage versteht. Er hebt leicht die Augenbrauen, ein winziges, kaum wahrnehmbares Nicken. Dann grinst er, legt den Kopf schief und sagt nur: „Sag es ihm.“ Seine Stimme ist ruhig, gelassen, als wäre es das Normalste auf der Welt. Und für ihn ist es das auch.

Thomas runzelt leicht die Stirn, sieht zwischen uns hin und her. „Was sagen?“ Mein Herz schlägt schneller. Ein Teil von mir hadert, kämpft mit dem Restzweifel, ob das hier der richtige Moment ist. Aber eigentlich weiß ich längst, dass es ihn nicht gibt – den perfekten Moment. Also atme ich tief durch. Und sage es. „Ich bin schwul.“ Es klingt fast nüchtern, aber da ist auch etwas anderes in meiner Stimme. Vielleicht ein wenig Stolz. Vielleicht auch Erleichterung.

Thomas blinzelt überrascht, doch nicht schockiert. Dann lehnt er sich langsam zurück, mustert mich kurz – nicht bewertend, sondern nachdenklich.

Die Spannung in der Luft ist für einen Moment fast greifbar. Und dann sagt er einfach: „Okay.“ Ich starre ihn an. Er zuckt leicht mit den Schultern. „Das ist mir ehrlich gesagt vollkommen egal, Justin. Also nicht in einem ‚ist mir egal‘-Sinn, sondern…, das spielt für die Kampagne keine Rolle. Warum sollte es?“ Er macht eine kurze Pause, bevor er fortfährt. „Aber ich verstehe, warum du es sagst. Du willst, dass wir es wissen, bevor wir hier eine große Kampagne mit dir planen. Bevor du auf Plakaten hängst, in Videos auftauchst und die Leute anfangen, Fragen zu stellen.“

Ich nicke stumm. Thomas’ Blick wird noch ein Stück weicher. „Weißt du, Authentizität ist das Wichtigste in dieser Branche. Und genau deshalb wollen wir dich. So, wie du bist. Nicht, weil du perfekt ins Bild passt, sondern weil du echt bist. Und wenn du das Gefühl hast, dass es wichtig ist, das offen auszusprechen, dann respektiere ich das.“

Ein Moment Stille. Aber es ist keine unangenehme Stille. Eher eine, in der etwas in mir leichter wird. Bobby grinst breit. „Siehst du? Kein Drama.“ Thomas lacht leise. „Ehrlich gesagt – wenn du mit dieser Offenheit an die Sache rangehst, dann wird das für die Kampagne vielleicht sogar ein Pluspunkt. Junge, selbstbewusste Sportler, die für ihre Werte einstehen – das ist genau das, was wir zeigen wollen.“

Ich lasse seine Worte auf mich wirken. Noch vor ein paar Minuten war ich mir unsicher gewesen, ob ich das überhaupt ansprechen soll. Jetzt fühlt es sich an, als hätte ich genau das Richtige getan. Und vielleicht… ist diese Kampagne nicht nur eine Chance für meine Karriere. Sondern auch eine Chance, einfach ich selbst zu sein. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Eigentlich hatte ich mich auf eine diese unangenehmen Stille-Momente vorbereitet. Auf ein Zögern, einen nachdenklichen Blick oder vielleicht sogar diese vorsichtige Distanz, die manche Menschen aufbauen, wenn sie nicht wissen, wie sie reagieren sollen. Aber nichts davon passierte.

Stattdessen saß Thomas mir gegenüber. Völlig entspannt, als hätte ich ihm gerade erzählt, dass ich lieber Schokolade- statt Vanilleeis mag. Kein Zögern, kein gar nichts – nur dieses selbstverständliche Nicken und ein ehrliches „Das ist doch völlig egal.“

Und plötzlich… fällt eine Last von mir ab, die ich gar nicht bewusst gespürt hatte. Ich hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, ob es ein Problem sein könnte, und trotzdem fühle ich mich jetzt noch leichter. Noch sicherer. Noch mehr ich selbst. Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus, und ich merke, dass ich richtig Bock auf das hier habe.

„Okay“, sage ich, meine Stimme voller Energie. „Und wie geht’s jetzt weiter? Wann legen wir los?“ Thomas schmunzelt, lehnt sich entspannt zurück und hebt eine Hand. „Ganz ruhig, Justin. Ich verstehe deine Begeisterung, aber bevor wir dich direkt an eine Kletterwand stellen, müssen wir ein paar Dinge klären.“ Er zieht eine dunkle Mappe vor sich auf den Tisch und schlägt sie mit geübten Bewegungen auf. Die Seiten sind ordentlich eingeheftet, einige mit farbigen Markierungen versehen. „Zuerst“, beginnt er, „müssen wir über die Verträge sprechen. Rechte, Pflichten, die Nutzung der Bilder – das ist alles ziemlich wichtig.“ Bobby lehnt sich vor, seine Augen huschen kurz über die Dokumente. „Ich nehme an, ich muss da auch meinen Namen daruntersetzen?“

Thomas nickt. „Ja, du bist Justins Vormund. Dein Einverständnis ist notwendig, aber da Justin schon 16 ist, brauchen wir auch seine Unterschrift für die Bildrechte. Er ist zwar noch minderjährig, aber alt genug, um dem bewusst zuzustimmen.“ Ich nicke. Ergibt Sinn.

„Finanziell ist das Ganze natürlich auch abgesichert“, fährt Thomas fort. „Deine Reisekosten für Shootings, Unterkunft, Verpflegung – das übernehmen wir komplett. Außerdem gibt es eine Aufwandsentschädigung für jedes Shooting und eine Pauschale für deine Beteiligung an der Kampagne. Solltest du längerfristig dabeibleiben, können wir über eine feste Zusammenarbeit sprechen.“ Ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Also… ein richtiger Vertrag wie bei den Profis?“

„Genau. Du bekommst noch kein klassisches Sponsoring wie die ganz Großen, aber es ist nah dran. Und übrigens – alle Outfits, die du während der Shootings trägst, darfst du behalten. Kletterschuhe, Hosen, Shirts, Jacken – alles.“

Ich kann mir ein breites Grinsen nicht verkneifen. „Okay, das klingt echt nicht schlecht.“ Bobby hakt sofort nach: „Und wie sieht das mit seinem Training aus? Er wird ja einige Zeiten im Verein verpassen.“

Thomas lehnt sich leicht vor, als hätte er genau auf diese Frage gewartet. „Da haben wir schon eine Lösung. Weil unser Unternehmen Hauptsponsor deines Vereins ist, wird der Verein finanziell noch besser aufgestellt sein – sprich, mehr Förderung, bessere Ausstattung, vielleicht sogar neue Routen in der Halle. Und für dich persönlich heißt das: Wir sorgen dafür, dass du den bestmöglichen Ausgleich bekommst.“

Ich runzle leicht die Stirn. „Was genau heißt das?“ „Wir haben ein paar der besten Kletterer aus der Profiszene im Team“, erklärt Thomas. „Einige von ihnen stehen für individuelles Coaching zur Verfügung – und du bekommst Zugriff auf Sondertrainingseinheiten mit ihnen oder unseren Profitrainern. Das bedeutet, selbst wenn du mal Trainingseinheiten im Verein verpasst, bekommst du stattdessen direkte Sessions mit den Besten der Besten.“ Mein Herz schlägt schneller. Das ist… krass. Einfach nur krass. „Und noch etwas“, fährt Thomas fort. „Alle Fotos, die während der Shootings entstehen, gehören natürlich primär zur Kampagne. Aber wir haben auch regelmäßig Anfragen von Sportmagazinen, Online-Plattformen und Partnern, die vielleicht weitere Bilder nutzen möchten. Falls deine Fotos also über die Kampagne hinaus verkauft oder genutzt werden, wirst du separat dafür vergütet.“

Ich werfe Bobby einen schnellen Blick zu, aber er sieht nicht überrascht aus – er hatte wohl mit solchen Details gerechnet. „Damit alles fair bleibt und du bestmöglich abgesichert bist, haben wir einen Anwalt für Medien- und Sportrecht mit ins Boot geholt“, ergänzt Thomas. „Er geht mit euch alle Verträge durch und stellt sicher, dass ihr die bestmöglichen Konditionen habt.“ Bobby nickt anerkennend. „Das klingt vernünftig.“

Ich lehne mich zurück, spüre, wie die Realität dieses Moments sich langsam setzt. Das hier ist nicht nur irgendein Fotoshooting. Das ist größer, als ich es mir vorgestellt habe. Und ich bin mittendrin.

Doch eine Nummer zu groß?

Mein Bruder stellt weiterhin Fragen, sein Blick konzentriert. „Wie sieht es mit der Unterkunft aus, wenn Justin für Shootings oder Trainings unterwegs ist? Wird jemand vor Ort sein, der eine Aufsichtspflicht übernimmt?“ Ich verziehe unwillkürlich das Gesicht und lasse meinen Kopf leicht nach hinten sinken. „Bobby, ehrlich jetzt? Ich bin sechzehn, keine zwölf.“ Er ignoriert meinen Kommentar völlig und wartet stattdessen auf eine Antwort von Thomas.

Der bleibt entspannt. „Gute Frage. Da Justin noch nicht volljährig ist, müssen wir als Unternehmen sicherstellen, dass er immer gut betreut ist. Bei Reisen wird er entweder in Teamunterkünften mit anderen Models oder mit der Crew untergebracht oder in Hotels, die an unsere Sponsoren gebunden sind. Und natürlich wird immer jemand aus dem Team vor Ort sein – sei es ein Betreuer, ein Fotograf oder einer der Trainer.“

Bobby nickt langsam, aber ich sehe, dass er noch nicht ganz überzeugt ist. „Und was ist mit der gesundheitlichen Absicherung? Falls er sich verletzt – wer trägt dann die Verantwortung?“ Mir wird langsam richtig heiß.

Meine Euphorie, die gerade noch so groß war, wird von diesen ganzen organisatorischen Fragen völlig überlagert. Verantwortung hier, Absicherung da… Ich hatte mir das alles viel einfacher vorgestellt. Warum kann es nicht einfach nur ums Klettern gehen?

Ich spüre, wie meine Gedanken anfangen zu rasen. Was, wenn das alles ein Fehler ist? Was, wenn ich mir zu viel zutraue?

Thomas scheint zu merken, dass ich innerlich abdrifte. Sein Blick bleibt kurz an mir hängen, dann lehnt er sich zurück und lächelt leicht. „Justin, ich glaube, du brauchst mal kurz einen Tapetenwechsel.“

Er dreht sich zur Tür und ruft nach draußen. Wenige Sekunden später geht die Tür auf, und ein Typ, vielleicht ein oder zwei Jahre älter als ich, steckt den Kopf rein. Er hat ein freundliches Gesicht, wuschelige braune Haare und trägt lässige Outdoor-Klamotten.

„Das ist Leo, unser Praktikant. Er hilft hier im Team mit und kennt das Gebäude in- und auswendig.“ Leo grinst und hebt kurz die Hand zur Begrüßung: „Hey, alles klar?“ Ich nicke. Thomas sieht mich an. „Wie wäre es, wenn du mit Leo eine kleine Tour machst? Schaut euch die Halle an, das Studio, vielleicht sogar schon ein paar der Trainer. Kriegt ein Gefühl dafür, was dich hier erwartet.“ Ich brauche keine Sekunde, um zu überlegen. „Ja, gerne.“

Thomas grinst und wendet sich dann wieder Bobby zu. „Währenddessen setzen wir uns mit dem Anwalt zusammen und klären alle Details in Ruhe. Keine Sorge – wir gehen alles durch, bis ihr euch absolut sicher seid.“

Bobby sieht mich kurz an, als wolle er sicherstellen, dass das für mich okay ist. Ich nicke leicht. Dann stehe ich auf, streiche mir die Hände an meiner Hose ab und folge Leo aus dem Raum. Sobald wir draußen auf dem Flur sind, seufze ich tief.

„Alter, die haben da ja krass viel zu besprechen“, meint Leo und grinst schief. Ich schnaube ein kleines Lachen. „Sag das nicht mir. Ich war kurz davor, aus dem Fenster zu springen.“ Leo lacht. „Komm, dann zeig ich dir mal die cooleren Seiten von dem Laden hier.“ Genau das, was ich jetzt brauche.

Hinter den Kulissen

Leo hält sein Versprechen – er zeigt mir wirklich die coolen Seiten dieses Ortes. Wir lassen die Büros schnell hinter uns und gehen tiefer ins Gebäude, durch breite, moderne Flure mit großen Glasfenstern. Doch das wirklich Spannende liegt dahinter: das Testlabor. „Hier wird die gesamte Ausrüstung auf Sicherheit geprüft“, erklärt Leo, während er mir eine riesige Maschine zeigt, an der Klettergurte befestigt sind. Ein Metallarm zieht mit brachialer Kraft daran, bis das Material entweder standhält oder reißt. „Das ist echt heftig“, murmle ich beeindruckt. „Ja, oder?“ Leo grinst. „Hier testen sie Seile, Karabiner, Gurte – alles, was wir benutzen. Und die Sachen müssen verdammt viel aushalten. Da geht’s um Leben und Tod.“

Ich nicke und betrachte einen Helm, der anscheinend gerade einen Härtetest durchlaufen hat – er ist total verbeult, aber nicht gebrochen. „Und das hier“, Leo deutet auf einen Tisch mit Ausrüstungsstücken, „sind Prototypen, die noch nicht auf dem Markt sind. Eigentlich darf ich sie dir gar nicht zeigen…“, er zwinkert mir zu.

Neugierig lasse ich meine Finger über das Material gleiten. Es fühlt sich leichter an als das, was ich kenne, aber trotzdem stabil. „Und? Findest du es cool?“, fragt Leo, und ich muss grinsen. „Definitiv. Ich hab mir das alles nie so detailliert vorgestellt. Man sieht nur die fertigen Sachen, aber nicht, was dahintersteckt.“ „Tja, dafür bin ich ja da“, sagt er gespielt lässig. Und ich muss lachen.

Nach einer Weile verlassen wir das Labor und gehen weiter zur Kletterhalle. Schon beim Betreten merke ich, wie die Atmosphäre sich verändert. Es riecht nach Magnesia, nach Seilen, nach echtem Sport. Das leise Klacken von Karabinern, das dumpfe Geräusch von Kletterern, die auf Matten abspringen, und das Rufen der Trainer vermischen sich zu einer vertrauten Geräuschkulisse.

„Hier findet ein Großteil der Shootings statt“, erklärt Leo, während er mich zu einer Wand führt, die sich über mehrere Stockwerke erstreckt. „Aber das Coole ist – es ist nicht nur eine normale Kletterhalle.“ Er deutet auf ein Seilsystem, das an der Wand befestigt ist. „Das ist ein Selbstsicherungssystem. Du kannst hier alleine klettern, ohne dass jemand dich sichern muss.“

Ich schaue mir das genauer an – es sieht aus wie ein Karabiner mit einem Rückholmechanismus. „Wenn du fällst, bremst das Seil automatisch und lässt dich langsam nach unten gleiten“, erklärt Leo. „Nice“, sage ich beeindruckt.

Während wir weiter durch die Halle gehen, begegnen uns immer wieder Leute – Kletterer, Trainer, Mitarbeiter. Und mir fällt auf, dass so gut wie jeder Leo kennt. „Hey, Leo!“ ruft ein älterer Mann, der gerade eine Gruppe Anfänger betreut. „Leo, hast du kurz eine Sekunde?“ fragt eine junge Frau mit Klettergurt, die aus einer anderen Ecke der Halle kommt. Leo grüßt jeden zurück, scherzt kurz mit ein paar Leuten und läuft dann weiter neben mir her, als wäre das völlig normal. Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Du scheinst hier ziemlich bekannt zu sein.“ Er zuckt mit den Schultern. „Ich bin halt überall mal eingespannt. Und ich bin jetzt schon ’ne Weile hier. Man kennt sich.“

Ich spüre eine angenehme Wärme in der Luft – nicht nur, weil hier viel trainiert wird, sondern wegen der Stimmung. Die Leute sind offen, freundlich, fast wie eine große Familie. Ich atme tief durch und merke: Ich könnte mich hier wohlfühlen.

Ich beobachte, wie Leo mit den Leuten umgeht, wie selbstverständlich er hier dazugehört, und die Frage rutscht mir fast automatisch raus: „Und? Kletterst du auch?“ Leo zögert einen Moment, dann nickt er. „Ja, schon… aber nicht besonders gut.“ Ich runzle die Stirn. „Warum? Ich meine, du kennst dich hier aus, du bist überall mit dabei…“ Er hebt die Hand und bewegt die Finger leicht. Dabei fällt mir erst auf, dass die Hand wie von einem Handschuh überzogen ist. „Ich hab ’ne kleine Behinderung an der rechten Hand. Nichts Wildes, aber damit haben meine Finger nicht so viel Kraft. Ich kann eigentlich nur mit meiner rechten Hand klettern und das schränkt ein bisschen ein.“

Ich starre auf seine Hand, ohne wirklich zu wissen, was ich sagen soll. Er merkt es wohl, denn er lacht leise. „Alles gut, Mann. Ist nicht schlimm. Ich hab mich dran gewöhnt.“ Ich kratze mich am Nacken. „Okay, aber… warum dann ausgerechnet hier?“

Er zuckt mit den Schultern und grinst. „Weil’s mir Spaß macht. Außerdem ist Thomas mein Onkel, und ich hab hier schon öfter geholfen. Jetzt, wo ich mit der Schule fertig bin, arbeite ich hier als Praktikant, bevor ich im Herbst meine Ausbildung anfange.“

Ich blinzle überrascht. „Thomas ist dein Onkel?“ Leo lacht: „Jep. Überraschung.“ „Krass. Und was für ’ne Ausbildung machst du?“ „Einzelhandelskaufmann für Sportausrüstung.“ Er grinst. „Passt, oder?“ Ich muss schmunzeln. „Ja, ziemlich.“

Er lehnt sich gegen die Kletterwand und schaut mich an. „Ich liebe Sport, auch wenn ich selbst nicht auf Wettkampfniveau klettern kann. Aber ich kann trotzdem Teil davon sein. Ich kann Leuten helfen, die richtige Ausrüstung finden, ihnen Tipps geben, Sachen testen… Ich find’s cool.“

Ich nicke langsam. Irgendwie beeindruckt mich das. Leo könnte sich darüber ärgern, dass er nicht so klettern kann wie andere, aber stattdessen hat er sich einfach seinen eigenen Weg gesucht. Ich sehe ihn an und grinse. „Dann wirst du mir demnächst also meine Kletterschuhe verkaufen?“ Er lacht. „Klar. Und glaub mir, ich werde dich gnadenlos beraten.“

Ich lehne mich leicht gegen die Kletterwand und lasse meinen Blick schweifen. Die Halle hat etwas Faszinierendes – das leise Klirren von Karabinern, das dumpfe Aufsetzen von Kletterschuhen auf der Matte, gedämpfte Unterhaltungen, vereinzelt Rufe, wenn sich jemand absichert oder eine besonders knifflige Route meistert. Die Luft riecht leicht nach Magnesia und Kunststoff, eine Mischung aus Abenteuer und Konzentration.

Mein Blick bleibt an den Kletterern hängen. Einige sind mir auf Anhieb bekannt – Gesichter, die ich aus Wettkämpfen oder aus Magazinen kenne. Profis, die hier scheinbar ganz selbstverständlich trainieren. Andere wirken dagegen noch unsicher, probieren vorsichtig Griffe aus, unterhalten sich mit einem Mitarbeiter aus dem Store, der ihnen wohl Tipps gibt. Ich runzle leicht die Stirn. „Sind das Kunden?“ frage ich Leo.

Er nickt und verschränkt die Arme: „Jep. Viele, die hier einkaufen, dürfen die Ausrüstung direkt an der Wand testen – Schuhe, Gurte, Chalk. Manche kommen einfach rein, weil sie das cool finden und mal klettern wollen. Ist ein bisschen wie ’ne Mischung aus Store und Erlebniswelt.“ Ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Okay, das ist ziemlich nice.“

Leo grinst. „Ja, oder? Die meisten Leute sind halt keine Profis. Klar, wir haben die krassen Athleten, die unter Vertrag stehen, aber am Ende lebt die Marke auch von den normalen Kletterern – von denen, die einfach Spaß am Sport haben. Deshalb wollte Thomas auch unbedingt jemanden wie dich in der Kampagne. Ein Nachwuchstalent, aber trotzdem jemand, mit dem sich die Leute identifizieren können.“

Ich lasse seine Worte kurz sacken. Irgendwie ist es seltsam, mich als „Identifikationsfigur“ zu sehen. Ich bin doch einfach nur… na ja, ich. Leo stupst mich leicht mit dem Ellbogen an. „Du bist still. Alles okay?“ Ich blinzele und schaue ihn an. „Ja, ich hab nur nachgedacht.“ „Worüber?“ Ich zögere kurz. „Ich weiß nicht… Ich hätte nie gedacht, dass ich mal in so einer Situation bin. Dass jemand wie Thomas sagt, ich würde in eine große Kampagne passen. Und jetzt stehe ich hier und sehe all die Leute – Profis, Athleten, Trainern, Angestellten – und irgendwie fühlt sich das alles noch total surreal an.“

Leo lehnt sich ein Stück näher. „Aber es fühlt sich nicht falsch an, oder?“ Ich überlege einen Moment, dann schüttle ich den Kopf. „Nee. Eigentlich nicht.“ „Siehst du.“ Er grinst. „Manchmal passieren coole Dinge, ohne dass man sie geplant hat.“ Ich schmunzle. „Ja, aber es ist trotzdem irgendwie krass. Und was ist mit dir? Ich meine, wenn du selbst nicht so klettern kannst, wie du willst – ist das nicht manchmal frustrierend?“ Leo zuckt mit den Schultern. „Klar, manchmal. Aber dann denke ich mir: Wäre es nicht noch frustrierender, wenn ich mich komplett aus der Szene raushalte, nur weil ich nicht perfekt bin?“

Seine Worte treffen mich irgendwie. Ich hatte mich so oft gefragt, ob ich gut genug bin, ob ich in diese Kampagne passe – und hier steht Leo, der sich diese Frage vermutlich noch viel öfter stellen könnte, es aber einfach durchzieht. Ich nicke langsam. „Okay, das ist ziemlich cool.“

Er lacht. „Ich weiß.“ Dann stößt er mich leicht an. „Also, was denkst du? Glaubst du, du bist bereit für das, was kommt?“ Ich atme tief durch und schaue wieder zur Kletterwand. Die Leute, die sich ausprobieren, die Profis, die locker ihre Züge machen, die Atmosphäre, die mich in ihren Bann zieht. Dann drehe ich mich wieder zu Leo und grinse. „Ja. Ich glaube, ich bin bereit.“

Fotostudio der Extraklasse

Leo klopft mir auf die Schulter und grinst: „Komm, ich stell dich dem Fototeam vor. Die wollen dich sicher auch mal kennenlernen.“ Ich folge ihm durch einen Seitengang in einen separaten Bereich der Halle. Das Fotostudio ist durch eine große Glaswand vom Rest des Gebäudes abgetrennt – mit perfektem Blick auf die gigantische Kletterwand. Der Raum ist größer, als ich erwartet hatte. Verschiedene Hintergründe stehen bereit, große Softboxen tauchen die Szenerie in angenehmes Licht, und mehrere Kameras sind auf Stativen oder hängen an Vorrichtungen. An den Wänden prangen riesige Monitore, auf denen Live-Bilder von den Shootings draußen an der Wand laufen.

Ich bleibe stehen und lasse meinen Blick über die Bildschirme schweifen. Auf einem sieht man einen Kletterer mitten im Überhang, sein Körper angespannt, der Fokus in seinem Blick messerscharf. Auf einem anderen hängt eine Athletin an einer steilen Wand, das Licht perfekt eingefangen, als wäre es ein Kinoposter.

„Ziemlich cool, oder?“ Leo lehnt sich gegen den Türrahmen und deutet auf die Monitore. Ich nicke beeindruckt: „Definitiv. Ich wusste nicht, dass das Fotostudio so eng mit der Kletterwand verbunden ist.“ Leo lacht: „Ja, das ist ja genau der Clou. Die besten Bilder entstehen nicht auf einem langweiligen Studiohintergrund, sondern mitten in der Bewegung. Deswegen ist das hier alles so aufgebaut, dass du direkt von der Wand aus fotografiert werden kannst. Manche Aufnahmen entstehen ganz klassisch hier drin, aber die meisten sind echt – Klettern in Aktion. Keine gestellten Posen, sondern pure Dynamik.“

Ich beobachte weiter die Monitore. Gerade zoomt eine Kamera auf das Gesicht eines Kletterers, der in einer schwierigen Route hängt. Seine Finger klammern sich an eine winzige Leiste, sein Blick voller Konzentration. Neben ihm schwebt eine Kamera an einem speziellen Seilsystem, fast wie bei einer Sportübertragung.

„Das sieht krass aus“, murmele ich beeindruckt. „Wirst du bald auch machen“, meint Leo mit einem breiten Grinsen. Ich will gerade etwas erwidern, als eine Stimme hinter uns ertönt. „Und du bist also unser Nachwuchsstar?“

Ich drehe mich um und sehe einen Typen, vielleicht Mitte zwanzig, der locker an einem Tisch lehnt. Er trägt eine Kamera um den Hals, die Hände tief in die Taschen seiner Cargo-Hose geschoben. Er hat zerzaustes dunkelblondes Haar, das aussieht, als hätte er sich vor ein paar Stunden noch selbst an einer Wand hochgearbeitet, und sein Dreitagebart verleiht ihm etwas Lässiges. Seine blauen Augen sind wach, aufmerksam – ein Blick, der Details wahrnimmt, ohne dass man es merkt. „Ich bin Finn“, sagt er und streckt mir die Hand hin. „Fotograf, Kletter-Fan und ein bisschen verrückt, wenn’s um den perfekten Shot geht.“ Seine Art ist locker, entspannt – nicht dieses übertriebene Werbeagenten-Ding, das man manchmal aus der Branche kennt. Ich schüttle seine Hand und merke sofort: Der Typ ist keiner, der nur hübsche Bilder macht. Er versteht, was Klettern bedeutet.

„Freut mich“, sage ich und versuche, die Nervosität in meiner Stimme zu verbergen. Finn mustert mich kurz, aber nicht auf diese unangenehme Art, sondern eher, als würde er sich ein Bild davon machen, wie ich als Model wirke. Dann grinst er. „Ich hab schon einiges über dich gehört. Jetzt bin ich gespannt, wie du dich vor der Kamera machst.“ Ich lache unsicher. „Ich hab ehrlich gesagt keine Ahnung, ob ich das kann.“ Finn zuckt mit den Schultern. „Klettern kannst du ja. Und genau das reicht. Ich brauch keine durchgestylten Posen, ich will, dass du einfach du selbst bist. Der Rest ergibt sich von allein.“ Ich atme tief durch. Vielleicht wird das hier wirklich ziemlich cool.

Finn führt mich weiter durch das Studio, seine Begeisterung für die Fotografie und das ganze System dahinter ist fast ansteckend. Er gestikuliert viel, seine Worte sprudeln nur so heraus, als könnte er es kaum erwarten, mir alles zu zeigen. „Also, pass auf“, sagt er und deutet auf eine riesige Kamera, die an einer Schiene an der Decke befestigt ist. „Das hier ist unser Motion-Rig. Damit können wir Bilder machen, während du in Bewegung bist – scharf, dynamisch, ohne dass wir eine Kamera aus der Hand halten müssen. Die Kamera bewegt sich synchron zu dir, quasi wie ein zweiter Kletterpartner.“

Ich starre die Konstruktion an. Die Kamera hängt an einer mechanischen Vorrichtung, die wie ein Hightech-Seilsystem aussieht. Ein paar Meter weiter stehen mehrere Leute an Computern, sie tippen auf Tastaturen oder checken gerade Aufnahmen auf riesigen Bildschirmen.

„Hier läuft die Nachbearbeitung“, erklärt Finn, als er meinen Blick bemerkt. „Natürlich wollen wir so viel wie möglich schon in der Kamera perfekt haben, aber manchmal muss man Farben optimieren, Kontraste anpassen oder störende Elemente rausnehmen. Wichtig ist, dass das Endergebnis echt bleibt. Keine Photoshop-Fakes, sondern du – genau so, wie du bist.“ Ich nicke erstaunt. Es ist beeindruckend, wie viel hier ineinandergreift.

Finn stellt mir nach und nach einige Leute vor – Techniker, Licht-Designer, Leute, die für die Logistik verantwortlich sind. Ich versuche, mir die Namen zu merken, aber es sind einfach zu viele. Was mir jedoch auffällt: Alle sind unfassbar freundlich. Es gibt keine angespannte Agentur-Stimmung, kein hektisches ‘rum Gerenne, sondern eine Atmosphäre, in der jeder Bock auf seine Arbeit hat.

„Wir sind ein ziemlich eingespieltes Team“, sagt Finn grinsend, als hätte er meine Gedanken erraten. „Jeder hier ist mit Leidenschaft dabei. Klar, es ist ein Job, aber wenn du liebst, was du tust, fühlt es sich nicht so an.“

Dann dreht er sich wieder zu mir und betrachtet mich kurz mit diesem prüfenden Blick. Ich merke, wie sich ein leichtes Kribbeln in meinem Bauch ausbreitet. Es ist seltsam, sich selbst so intensiv gemustert zu fühlen. „Weißt du“, beginnt er langsam, „du hast eine interessante Präsenz.“ Ich runzle leicht die Stirn. „Was meinst du?“ Er lehnt sich gegen einen Tisch und legt den Kopf leicht schief, als würde er nach den richtigen Worten suchen. „Du bist nicht einfach nur ein Sportler, der gut klettern kann. Du hast eine gewisse… Authentizität. Etwas, das dich aus der Masse heraushebt, ohne dass du es forcierst. Deine Haltung, dein Blick – es wirkt echt, nicht einstudiert. Das ist Gold wert für eine Kampagne wie diese.“ Ich schlucke. Es ist merkwürdig, sich selbst durch die Augen eines anderen zu sehen – vor allem jemandem wie Finn, der genau darauf geschult ist. „Und dann dein Ausdruck“, fährt er fort, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. „Du hast diesen Mix aus Entschlossenheit und Nachdenklichkeit. Man sieht, dass du viel in deinem Kopf hast, aber du lässt es nicht komplett raus. Das macht dich interessant. Die Leute werden sich mit dir identifizieren.“

Ich spüre, wie eine Gänsehaut über meine Arme kriecht. Irgendwie ist das beängstigend – aber auch verdammt aufregend. Finn merkt wohl, dass ich nicht genau weiß, was ich darauf sagen soll, denn er klopft mir leicht auf die Schulter und grinst. „Kein Druck, okay? Ich wollte dir nur sagen, dass du genau richtig hier bist.“ Die Erwartungshaltung steigt. Ich weiß nicht, ob ich dem gerecht werden kann – aber tief in mir drin beginnt sich etwas zu regen.

Alles unter Dach und Fach

Leos Handy vibriert in seiner Hosentasche, und als er darauf blickt, huscht ein kleines Schmunzeln über sein Gesicht. „Thomas will, dass wir zurückkommen“, sagt er und steckt das Telefon wieder weg.

Ich atme tief durch und lasse meinen Blick noch einmal durchs Studio schweifen. Finn ist gerade in ein Gespräch mit einem Kollegen vertieft, doch als er sieht, dass wir aufbrechen, hebt er kurz die Hand. „Wir sehen uns, Justin! Freu mich auf die Zusammenarbeit.“ „Ja, ich mich auch“, sage ich. Und merke, dass ich es tatsächlich so meine.

Wir gehen den Gang entlang, vorbei an den Büros und offenen Arbeitsbereichen. Ich spüre noch immer die Energie dieses Ortes, die Leidenschaft der Menschen hier. Es ist faszinierend, wie viel Aufwand hinter so einer Kampagne steckt, wie jeder einzelne Zahn im Getriebe ineinandergreift.

Leo führt mich locker plaudernd zurück, während ich noch immer mit meinen Gedanken beschäftigt bin. Die Begeisterung in Finns Stimme, die riesige Technik im Studio, die Art, wie mich alle hier aufgenommen haben – es fühlt sich surreal an, aber gleichzeitig verdammt gut.

„Und, hat's dir gefallen?“, fragt Leo schließlich, als wir fast bei Thomas’ Büro angekommen sind. Ich nicke: „Ja. Ist echt beeindruckend, was hier alles abläuft.“ Leo grinst. „Freut mich. Vielleicht sieht man sich ja bald wieder.“ Ich mustere ihn kurz. Er ist sympathisch, entspannt – jemand, mit dem man sich auf Anhieb gut versteht. „Bestimmt!“, sage ich. „Cool.“ Er nickt mir zu, dann öffnet er die Tür und deutet mir, hineinzugehen.

Drinnen sitzen Thomas und mein Bruder an einem großen Konferenztisch. Neben ihnen steht ein weiterer Mann – Mitte fünfzig, graue Schläfen, scharfer Blick. Er trägt einen perfekt sitzenden Anzug und wirkt genauso, wie ich mir einen Anwalt vorstelle.

„Ah, da seid ihr ja“, begrüßt uns Thomas und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. „Na, Justin? Wie war dein Rundgang?“

Ich zögere kurz, versuche meine Gedanken zu sortieren. „Ehrlich gesagt… echt beeindruckend. Es ist viel mehr Aufwand, als ich gedacht hätte. Alle sind super professionell, und das ganze System hinter den Fotos ist richtig spannend.“

Thomas nickt zufrieden. „Gut zu hören. Ich finde es wichtig, dass du verstehst, worauf du dich einlässt. Wir haben in der Zwischenzeit alles Wichtige mit unserem Anwalt besprochen. Dein Bruder hat einige Fragen gestellt – was völlig normal ist – und wir haben alles so geregelt, dass du und Robert die volle Kontrolle über deine Rechte behaltet.“ Ich werfe Bobby einen Blick zu, und er zwinkert mir zu. Es beruhigt mich ungemein, dass er hier ist und das alles im Blick hat.

„Also“, fährt Thomas fort, „wenn du dich bereit fühlst, gehen wir als Nächstes die endgültigen Verträge durch. Ich erkläre dir genau, worum es geht, und dann schauen wir, wie wir das mit deiner Schule und deinem Training unter einen Hut bekommen. Keine Hektik, alles Schritt für Schritt.“

Ich atme tief durch. Es ist so viel auf einmal – aber gleichzeitig spüre ich, dass das hier eine riesige Chance ist. „Klingt gut“, sage ich schließlich. Und zum ersten Mal seit Beginn dieses Tages habe ich nicht die leisesten Zweifel daran. Bobby hebt kurz die Hand. „Bevor wir weitermachen – können wir einen Moment unter vier Augen sprechen?“

Thomas hebt eine Braue, nickt aber. „Klar. Nehmt euch die Zeit, die ihr braucht.“ Bobby legt mir eine Hand auf die Schulter und führt mich ein Stück zur Seite, weg von den anderen. Ich spüre sofort, dass ihm etwas auf dem Herzen liegt. Als sich die Tür hinter uns schließt, atme ich tief durch. „Also“, sagt Bobby ruhig, verschränkt die Arme und lehnt sich locker gegen die Wand. „Wie geht’s dir? Wirklich?“

Ich zögere kurz, lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. „Ehrlich? Ich weiß es nicht genau. Es ist… krass. Alles. Die Leute, die Möglichkeiten, die ganze Kampagne.“ Ich fahre mir durch die Haare. „Ich hab das Gefühl, als würde gerade etwas richtig Großes passieren – aber es macht mir auch irgendwie Angst.“ Bobby nickt verständnisvoll. „Das ist völlig normal. Es wäre komisch, wenn du nicht ein bisschen nervös wärst.“ Ich mustere ihn. „Was denkst du? Meinst du, das hier ist das Richtige für mich?“

Er seufzt leise, überlegt kurz. „Ich denke, dass du das nur selbst wissen kannst. Aber was ich sehe, ist, dass du hier nicht nur irgendeine Gelegenheit bekommst – du bekommst eine echte Chance. Du wirst als Nachwuchstalent gefördert, du hast Profis um dich herum, und es scheint dir wirklich Spaß zu machen.“ Ich nicke langsam. „Ja, tut es. Aber was, wenn ich’s nicht schaffe? Was, wenn ich zu schlecht bin oder den Erwartungen nicht gerecht werde?“

Bobby schüttelt leicht den Kopf. „Bullshit. Du bist talentiert. Du bist ehrgeizig. Und du hast schon jetzt Leute, die an dich glauben – sonst wärst du gar nicht erst hier. Und selbst wenn es nicht so läuft, wie du es dir vorstellst – was verlierst du? Du sammelst Erfahrung, lernst neue Leute kennen, wächst daran.“

Ich lasse seine Worte auf mich wirken. Irgendwo tief in mir weiß ich, dass er Recht hat. „Aber das Wichtigste“, fährt Bobby fort, „ist, dass du das hier für dich tust. Nicht für mich, nicht für Thomas, nicht für irgendeine Marke. Nur für dich. Also, Justin – was willst du wirklich?“ Ich schlucke, spüre, wie mein Herz schneller schlägt. Dann sehe ich ihn an und sage mit fester Stimme: „Ich will es versuchen.“ Bobby mustert mich einen Moment, dann lächelt er. „Gut.“

Er klopft mir leicht auf die Schulter. „Bevor wir reingehen, lass mich dir noch ein paar Dinge sagen. Erstens: Ich hab mit dem Anwalt alles so geklärt, dass du volle Kontrolle über deine Bildrechte hast. Das heißt, nichts wird ohne deine Zustimmung veröffentlicht oder weiterverkauft. Zweitens: Deine Schule bleibt Priorität. Es gibt eine klare Absprache, dass dein Training und die Shootings nicht dazu führen, dass du schulisch abrutschst. Drittens: Die gesundheitliche Absicherung steht – egal was passiert, du bist geschützt. Und viertens…“ Er grinst. „Alle Klamotten vom Shooting darfst du behalten.“ Ich muss lachen. „Echt jetzt?“ „Jap. Ist doch was, oder?“ Ich atme tief durch. Es fühlt sich gut an, dass Bobby alles so durchdacht hat. „Also, bist du bereit?“ fragt er. Ich nicke, und diesmal meine ich es wirklich. „Ja. Lass es uns machen“. Bobby öffnet die Tür, und wir treten zurück zu den anderen, die uns freudig erwartend anlächeln.

Wieder zuhause

Als wir die Haustür hinter uns schließen, fühlt es sich an, als wäre plötzlich ein Knoten geplatzt. Die ganze Anspannung, die sich über den Tag hinweg in mir aufgebaut hat – all die Eindrücke, Gespräche, Entscheidungen – löst sich langsam auf. Ich atme tief durch und lehne mich für einen Moment an die Wand.

Bobby schließt die Tür, wirft seine Jacke über einen Stuhl und dreht sich zu mir um. „Puh.“ Ich nicke nur, fahre mir durchs Haar und lasse meine Tasche achtlos in die Ecke fallen. „Ja, genau das. Er schmunzelt und mustert mich kurz. „Komisches Gefühl, oder?“

Ich überlege, suche nach den richtigen Worten, aber eigentlich ist es genau das. Ein komisches Gefühl. Nicht schlecht, nicht unbedingt überwältigend – einfach… anders. „Ja… irgendwie schon. Es ist so viel passiert heute. Ich meine, heute Morgen hatte ich noch nicht mal geahnt, dass das alles auf mich zukommt, und jetzt…“ Ich lasse meine Hände sinken. „Jetzt habe ich einen richtigen Vertrag unterschrieben.“

Bobby lässt sich auf das Sofa fallen und klopft neben sich auf die Polster. Ich setze mich zu ihm, noch immer leicht neben mir stehend. „Hat sich also ein bisschen angefühlt, als wärst du in einem Film?“, fragt er mit einem amüsierten Unterton.

Ich lache leise. „Ja. Genau so.“Und? Bereust du’s schon?“ Ich schüttele entschieden den Kopf. „Nein. Irgendwie nicht. Es fühlt sich… richtig an. Verrückt, aber richtig.“ Er mustert mich und nickt dann zufrieden. „Gut. Denn das hier könnte eine echt große Sache für dich werden. Aber du weißt: Egal, was passiert – du bist da nicht allein drin. Wenn irgendwas nicht passt, wenn du Zweifel hast oder dich irgendwas stört, sag’s mir, okay?“

Ich sehe ihn an. Da ist dieses vertraute Gefühl, das ich nur bei Bobby habe. Er würde mich immer auffangen, egal, was passiert. Ohne ihn wäre ich nie an diesem Punkt angekommen. Ohne ihn hätte ich vermutlich nie den Mut gehabt, das alles durchzuziehen.

Einen Moment lang sitzen wir einfach nur da, jeder mit seinen eigenen Gedanken. Ich lasse alles noch einmal Revue passieren – Thomas’ Worte, Finns Begeisterung, die Energie im Fotostudio, Leos ehrliches Interesse. Und auch meine eigenen Gedanken, die zwischen Euphorie und Zweifel hin- und herschwanken. Doch das Gefühl, das am Ende bleibt, ist kein Zweifel. Es ist Aufregung. Erwartung.

Bobby reißt mich aus meinen Gedanken. „Also… was machen wir zum Abendessen? Irgendwas müssen wir ja feiern. “Ich sehe ihn grinsend an. „Pizza?“ Er lacht. „Deal.“ Und mit diesem einen Wort fühlt sich alles für einen Moment ganz normal an.

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