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Der Sand unter meinen Füßen

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Der Sand unter meinen Füßen fühlte sich hart an, gab kaum nach. Wahrscheinlich hatte die Feuchtigkeit der Nacht ihn verklebt, immerhin war es spät, spät nachts. Ich liebte es, nachts am Strand entlang zu laufen, deshalb fühlte es sich merkwürdig an, hier zwischen scheinbar unendlich weit in die Höhe gebauten Häusern über Sand zu laufen. So recht wusste ich auch nicht, weshalb mein Weg mich zu diesem Spielplatz geführt hatte, war mir doch eigentlich bewusst, dass es weh tun würde, hier zu sein.

Seit Monaten waren wir hierher gekommen. Fast jede Woche. Wir hatten auf den Bänken gesessen, manchmal mit angespannten, traurigen, erwartenden Gesichtern und stummen Lippen, manchmal mit aufgeregter, freudiger Mimik. Wir hatten über die Zukunft gesprochen, über alles, was uns erwarten würde.

Nun jedoch saß ich auf dem völlig verlassenen Spielplatz und wiegte mich selbst auf der Schaukel sanft vor und zurück. Auf eine merkwürdige Art und Weise schöpfte ich Trost aus der langsamen Hin- und Herbewegung, auch wenn man eigentlich hätte annehmen können, dass sie mich nur noch weiter quälen würde.

Mit einem sicher nicht sonderlich fröhlichem Lächeln dachte ich daran zurück, wie wir eines Tages auf der Bank gegenüber der Schaukel gesessen und darüber gesprochen hatten, wie wir in einigen Monaten oder Jahren hierher kommen und unser eigenes kleines Wunder auf diese Schaukel setzen würden. In meiner Vorstellung war ich mit ihr alleine, setzte sie vorsichtig in die Schaukel mit den Gurten an allen vier Seiten und ließ sie zaghaft das erste Mal hin und her schwingen.

Es zerriss mir das Herz, dass ich nicht einmal dieses scheinbar bedeutungslose Ereignis in ihrem Leben mitmachen würde.

Mein kleines Wunder war gar nicht mein kleines Wunder.

Sie hatte gefragt, ob ich es denn lieber gehabt hätte, wenn sie mir sofort nachdem wir herausgefunden hatten, dass sie schwanger war, gesagt hätte, dass das Kind vielleicht nicht von mir war. Ich hatte nein gesagt, hatte dabei daran gedacht, dass ich sie womöglich aus Wut alleine mit ihrer Schwangerschaft gelassen hätte. Als ich eine Viertelstunde später gegangen war, waren meine letzten Worte zu ihr gewesen, dass ich unter diesen Umständen gerne von Anfang an gewusst hätte, dass das Kind nicht von mir war. Denn er war aufgetaucht, der Vater meiner Tochter.

Sie war meine Tochter! Meine Tochter! Ich war derjenige gewesen, der ihre Mutter vom ersten Tag an begleitet hatte, der ihre Depressionen, ihre Fressanfälle, ihre Stimmungsschwankungen, all diese Symptome ertragen hatte. Ich hatte ihre Haare gehalten und sie mit meinen Armen aufgefangen, wenn sie vor lauter Morgenübelkeit und Erbrechen keine Kraft mehr gehabt hatte. Ich hatte sie zu jedem, jedem Arzttermin gebracht, hatte all die Unsicherheiten mit ihr durchgemacht, hatte jedes Mal all meine eigenen Sorgen und Gefühle ignoriert.

„Paul und Rene meinten, dass du bestimmt zum Strand gefahren bist“, durchfuhr eine gedämpfte Stimme, die jedoch durch die Dunkelheit lauter zu wirken schien, meine Gedanken.

„Aber ich dachte mir, dass du kein Auto hättest steuern können und es dir eigentlich immer nur darum geht, auf Sand zu laufen und nicht um das Meer“, sprach er unbeirrt weiter, machte dabei langsam seinen Weg über die feuchten, kleinen Steine.

„Deshalb war mir klar, dass du hierher kommen würdest, obwohl das hier sicher noch viel mehr weh tun muss. Vielleicht auch eher weil und nicht obwohl“, beendete er seine Erklärung, weshalb und wie er hierher gekommen war, während er sich auf die Schaukel neben mir niederließ und ebenso wie ich langsam hin und her schwang, die Fußspitzen sanft den Sand steifen ließ.

„Wie haben sie sie genannt?“, fragte ich betont neutral, überrascht davon, wie wenig neutral ich wirklich klang.

„Lisa Maria“, entgegnete Daniel mit dem Maß an Neutralität, das ich mir so sehr gewünscht hatte. Auf seine Antwort hin jedoch lachte ich nur leise auf und schüttelte meinen Kopf ein wenig.

„Das waren die beiden Namen, die ich ihr vom ersten Tag an ausreden wollte, gestern meinte sie, dass die Namen, die ich mir ausgesucht hatte, schöner seien“, erzählte ich leise, ohne recht zu wissen, wieso eigentlich.

„Wie wolltest du die Kleine nennen?“, fragte er interessiert, als machte es noch einen Unterschied, wie ich meine Tochter genannt hätte. Ich hatte die blonden Haare, die nahezu schneeweiße Haut und diese klitzekleinen, knisternd blauen Augen gesehen bevor wir ihr offiziell ihren Namen gegeben hatten.

„Danielle Elisabeth“, meinte ich trotzdem und sah im Augenwinkel, wie er seinen Kopf in meine Richtung drehte. Ich wusste, dass er natürlich noch im Kopf hatte, dass sein Sohn Danielle geheißen hätte, wäre er kein Junge geworden. Wir hatten vor seiner Geburt zusammen in einem Namensbuch geblättert und uns dabei gleichzeitig in diesen Namen verliebt.

„Wie es aussieht kriegen wir beide keine Danielle“, lachte er humorlos. „Seid ihr euch ganz sicher, dass es nicht nur ein Zufall ist, dass Marco ihr ähnlich sieht? Sie könnte die Gene doch auch von euren Eltern oder Großeltern haben, manchmal überspringt so etwas doch eine oder zwei Generationen.“

So sehr ich es selbst ersehnte, ich konnte auf Daniels Theorie nur wieder meinen Kopf schütteln. „Ihre Großeltern und Eltern haben alle braune oder schwarze Haare, ebenso wie Augen. Der Arzt hat unsere Stammbäume studiert, weil ihre Freunde für die Babyparty wissen wollten, wie sie aussehen würde, damit die Geschenke zu der Kleinen passen. Sie müsste einen südländischen haben. Und schwarze Haare. Und… und braune… braune Augen.“

Meine Stimme versagte. Natürlich. Benjamin Drechsler war fähig mit anzusehen, wie ein anderer Mann seine Tochter mit väterlichem Stolz auf den Arm nahm, aber er konnte nicht über ihre großen, braunen Augen sprechen, die er seit vielen Monaten immer, immer wieder im Schlaf gesehen hatte.

„Ich habe sie in den letzten neun Monaten mehr geliebt als je zuvor“, sprach ich leise, als ich einige Zeit später meine Fassung wieder gewonnen hatte. Daniel saß noch immer auf der Schaukel neben mir, mittlerweile ohne sich oder die Schaukel zu bewegen. Er sah in die Ferne, wahrscheinlich ins Nichts.  

„Vermutlich weil sie weniger oft mit dir schlafen wollte“, entgegnete er trocken auf meine Feststellung.

„Aber wenn, dann war es ganz anders als vorher. Es war ganz, ganz anders. Es hat mir sogar gefallen“, behauptete ich.

Daniel jedoch lachte sanft auf. „Du bist schwul, Ben. Du kommst schon bei der bloßen Vorstellung eines nackten Mannes, du willst mir doch nicht tatsächlich weiß machen, dass dir Sex mit einer Frau gefallen hat.“

„Es war so anders dabei zu wissen, dass sie dieses Baby in sich getragen hat“, ignorierte ich seine unverschämten Angriffe.

„Wahrscheinlich konntest du endlich normal mit ihr schlafen, weil du irgendetwas in ihr gesehen hast, was du lieben konntest, und zwar dieses Baby. Das ändert nichts daran, dass du sie nicht geliebt hast“, sprach er hart und obwohl ich wusste, dass er Recht hatte, fühlte ich mich beleidigt.

„Wie geht es Jochen?“,  fragte ich also gehässig und bohrte meine Fußspitze trotzig ein wenig in den feuchten Sand.

„Meinem Sohn geht es gut, er kommt in einer Woche in die Vorschule“, entgegnete Daniel wieder so neutral wie zuvor,  was mich unheimlich wütend machte, wütender als die Tatsache, dass ein fremder Mann mir einfach so das wertvollste in meinem Leben genommen hatte.

„Hat dir das der Privatdetektiv erzählt oder hast du das durch die Wanzen in Tanjas Wohnung herausgefunden?“, konterte ich also und versuchte dabei angestrengt böse zu klingen, schaffte es aber nur, dass meine Stimme kaum merklich zitterte und einen verzweifelten Touch annahm.

Daniel schwieg. Je länger ich über meine Worte nachdachte, desto mehr wurde mir bewusst, wie unheimlich unfair es gewesen war, was ich da von mir gegeben hatte, wie unbeschreiblich es weh tun musste, dass ich ihn grade an dieser Stelle angriff. Aber ich konnte mich nicht überwinden, es zurückzunehmen, mich zu entschuldigen. Er hatte es doch verdient! Er hatte mir vorgeworfen, dass meine Frau nur ein Alibi war, er hatte mich als schwul bezeichnet und dabei sollte es ihm doch mittlerweile wirklich bewusst sein, dass ich nicht schwul sein konnte, wenn meine Frau schwanger war.

Die Erkenntnis, dass dieses Argument nicht mehr sonderlich überzeugend sein konnte, traf mich wie eine Messerspitze ins bloße Fleisch. Ich hatte kein Kind, ich hatte meine Frau nicht geschwängert. Die Erkenntnis, dass ich ja noch immer damit argumentieren konnte, dass die Möglichkeit bestanden hätte, dass es von mir gewesen wäre, fühlte sich für mich mehr an, wie  eine ungeschützte Faust ins Gesicht.

Das Kind war nicht meins. Es war einfach nicht meins und dabei fühlte ich mich diesem Wesen so viel näher als jedem anderen Menschen. Ich wäre am liebsten aufgestanden, ins Krankenhaus gelaufen und hätte verlangt, dass man mich meine Tochter sehen lassen würde. Ich hatte mich bereits jetzt mehr um sie gekümmert, als jeder andere, ich hatte sie mehr geliebt als ihre leiblichen Eltern es jemals hätten tun können. Ich war ihr Vater! Ich ganz allein verdiente es, ihr Vater zu sein.

„Hast du darüber nachgedacht, wie du jetzt weitermachst? Du musst dich scheiden lassen, dir eine neue Frau suchen, du wirst dir ein neues Haus kaufen müssen, wenn sie es haben möchte, du musst…“, melde Daniel sich wieder, um meine Gedanken zu durchbrechen. Ich konnte ihn nicht hören, ich konnte keine Fragen beantworten.  

„Warum muss ich mich scheiden lassen?“, fragte ich ihn also und legte dabei meinen Kopf in den Nacken, um in den Himmel blicken zu können.

„Deine Frau hat während ihr verheiratet ward mit einem anderen Mann ein Kind bekommen, aber du willst mit ihr zusammenbleiben. Ich glaube, du bist der überzeugendste Mensch der Welt, wenn du dich immer noch selbst davon überzeugen kannst, dass du heterosexuell bist.“, lachte Daniel.

„Nein, ich sehe nur keinen Grund. Was soll sich denn ändern? Ich kann damit leben, was passiert ist, ich kann mich weiterhin um die Kleine kümmern so wie bisher, ich habe kein Problem damit“, erklärte ich mit Blick nach oben und lehnte dabei meinen Kopf gegen eines der Seile der Schaukel.

„Du kannst nicht weiterhin mit ihnen Familie spielen. Du wurdest ersetzt, ihre Familie besteht jetzt aus Marco und Lisa. Für dich ist in ihrer Welt kein Platz mehr“, entgegnete Daniel hart und ich sah im Augenwinkel, wie er mich ansah. Tief durchatmend wandte ich meinen Blick zu ihm und sah, wie zwei mitleidige Augen mich anblickten.

„Du musst es nur einsehen.“, sprach er flüsternd weiter. „Du musst einfach nur einsehen, dass du nicht dafür bestimmt bist, mit einer Frau zusammen zu sein. Du hast doch gesehen, dass du deinen großen Wunsch von Kindern auch mit einer Frau nicht garantiert hast. Sieh ein, dass du mit mir ganz genauso glücklich werden könntest. Sieh es einfach nur ein.“

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