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Slowmotion

Teil 6

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Inhaltsverzeichnis

Mike

Er lag regungslos auf seinem Bett und ich hörte ganz, ganz leise seinen regelmäßigen Atem. Langsam hob und senkte sich sein Brustkorb. Chester hatte kein T-Shirt an und seine Decke war heruntergezogen, er sah so wunderschön aus. Sein Gesicht zeigte keinerlei Ausdruck, bis er plötzlich seine Augebrauen zusammenzog und sich seine Lippen leicht öffneten. Schon seit über einer Stunde starrte ich ihn an und merkte, wie jede Sekunde mehr schmerzte, dank der Gewissheit, dass ich diesen Körper, der dort so wundervoll dalag und sich kaum merklich bewegte, nie wieder berühren durfte. Das erste Mal während der ganzen Zeit hatte er mehr als nur seinen Brustkorb bewegt, es sah aus, als verzog er sein Gesicht vor Schmerz.

Ich sah, wie sich seine Lippen leicht bewegten und spürte den unbändigen Drang sie zu berühren. Wacklig stand ich auf und kniete mich vor sein Bett. Als ich meine Hand ausstreckte und seine Wange berühren wollte, bewegte er seine Lippen wieder. Leise, kaum zu hören sprach er plötzlich meinen Namen. Ich glaubte, mein Herz stände für einen Moment still, mein Name aus seinem Mund klang in diesem Moment so hoffnungslos, so schmerzlich. „Es tut mir leid“, fügte er nur noch flüsternd hinzu und ich spürte einen Stich im Herzen. Er entschuldigte sich. Dafür, dass er mich so behandelt hatte? Dafür, dass er mich hasste? Oder dafür, dass er sich auf diese Sache mit mir eingelassen hatte?

Was auch immer es war, es trieb mir fast schon wieder Tränen in die Augen, die ich diesmal jedoch unbedingt verdrängen wollte. Ich konnte doch nicht dauernd rumheulen, ganz egal, wie sehr es wehtat. Er sprach im Traum meinen Namen. Was sollte ich davon halten? Ich wusste es nicht, aber ich wollte es wissen, ich wollte um jeden Preis wissen, ob er mich nun wirklich hasste, oder nicht. Ich wollte einfach wissen, woran ich bei ihm war. Als es Acht Uhr wurde klingelte der Wecker, ich hatte mich mittlerweile schon angezogen, saß auf meinem Bett und hatte ein Buch in meinen Händen, um so tun zu können, als ob ich las, wenn er aufwachte. In Wirklichkeit starrte ich ihn nun mehr seit Zwei Stunden ununterbrochen an.

Langsam öffnete er seine Augen und blinzelte ein paar Mal. Ich liebte es ihm beim Aufwachen zuzusehen, doch ich blickte schnell wieder weg, als er seinen Kopf scheinbar in meine Richtung drehte. Ich versteckte mich hinter meinem Buch, merkte aber im Augenwinkel, wie er sich sofort wieder von mir abwand. Unauffällig beobachtete ich, wie er aufstand, sich Kleidung aus dem Schrank holte und ins Bad verschwand. Kein „Guten Morgen“ hatte er für mich übrig, gar nichts. Ich überlegte angestrengt, ob ich mit ihm sprechen sollte, wenn er wieder kam, doch diese Entscheidung nahm er mir ab. Als er die Badezimmertür öffnete und wieder ins Zimmer trat verharrte er keine Sekunde, schnurstracks lief er auf die Zimmertür zu und verschwand. Wortlos, ohne mich auch nur einmal anzusehen.

Für kurze Zeit blieb ich starr auf dem Bett sitzen und kämpfte schon wieder gegen die Tränen an. Ich wollte nicht von ihm ignoriert werden, von jedem anderen, aber nicht von Chester! Wieso verdammt noch mal konnte er mir das antun? Wusste er denn nicht, wie verdammt weh das tat? Ich versuchte krampfhaft mich zu beruhigen, doch bei dem Gedanken daran, dass ich mich gleich unten neben ihn setzen musste und dass ich den anderen nun zum ersten Mal wieder begegnen musste, fiel es mir verdammt schwer, mich unter Kontrolle zu halten. Nur blieb mir nichts andere übrig, als nach unten zu gehen. Tief durchatmend machte ich mich auf den Weg nach unten. Es kam mir vor, als wurde es noch stiller im Raum, als es sowieso schon war, als ich eintrat. Innerlich machte ich mich schon auf die Beleidigungen bereit.

Doch sie blieben aus. Es lachte niemand, es beleidigte uns niemand. Das einzige, was ich sah, waren ihre Blicke und das einzige, was ich hörte, war diese Stille im Raum, die es vorher nie bei einer Mahlzeit gegeben hatte. Ich hörte Mr. Courten nicht zu, als er erklärte, was wir vorhatten, hörte nur hin, als er sagte wann wir uns treffen würden. In Gedanken war ich bei Chester, der unbeteiligt neben mir saß und auf den Tisch starrte. Ich musste mit ihm sprechen, komme was wolle. Wir hatten nach dem Essen über eine halbe Stunde Zeit und ich würde mit ihm sprechen. Ich hielt diese Ungewissheit nicht aus, lieber wollte ich wissen, dass es für immer aus war, als dass ich dieses letzte Stück Hoffnung mit mir herumtrug.

Mit einem mulmigen Gefühl stand ich auf, als Mr. Courten fertig war und auch die anderen nach und nach aufstanden. Chester war kurz vorher aufgestanden und war auf dem Weg nach draußen. Er ging nicht Richtung Treppe, deshalb überwand ich mich und lief zu ihm. Am Arm hielt in ihn fest und drehte ihn in meine Richtung. „Chester... Wir müssen reden“, meinte ich und versuchte krampfhaft ihn anzusehen. „Ich wüsste nicht, worüber“, sprach er nur kühl und wollte sich schon wieder umdrehen, doch ich nahm all meinen Mut zusammen. „Bitte, Chester. Bitte“, sagte ich leise und sah ihn flehend an.

Ich ertrug sie nicht mehr, diese Ungewissheit. „Okay...“, erwiderte er, warf einen kurzen Blick zum Speisesaal und drehte mich dann um, drückte mich Richtung Treppe. Selbst wenn seine Berührung grob war, sie jagte mir einen Stromschlag durch den ganzen Körper. Nebeneinander liefen wir nach oben und ich spürte die Nervosität in jedem einzelnen Teil meines Körpers. Als er hinter uns die Zimmertür schloss, wusste ich, dass jetzt der Moment gekommen war, in dem ich erfahren musste, ob es jemals wieder so werden konnte, wie vorher.

Wortlos lief er zum Fenster, öffnete es und lehnte sich gegen einen der Fensterflügel. „Worüber willst du reden?“, fragte er, ohne mich anzusehen, ohne den Eindruck zu erwecken, dass er hören wollte, was ich sagen wollte. Ich schluckte, nie hätte ich gedacht, dass das so schwer sein konnte. „Chester... Es tut mir Leid, dass das gestern passiert ist, die Jungs... sie hätten uns nicht erwischen sollen. Es tut mir wirklich Leid, dass das passiert ist. Ich weiß nicht, weshalb du gestern weggerannt bist, weshalb du nicht mehr wieder gekommen bist, weshalb du nicht mehr mit mir sprichst, mich nicht mehr ansiehst“, fing ich an und merkte, wie meine Stimme mit jedem Wort dünner wurde. Nein, nicht heulen, auf keinen Fall wollte ich jetzt heulen, nicht jetzt. „Ich will doch nur wissen, ob du mich hasst, ob du je wieder ein Wort mit mir sprechen wirst, ich will doch nur wissen, ob es alles... aus... ist“, stotterte ich weiter und biss mir auf meine Lippen um nicht zu heulen.

Er sah mich noch immer nicht an, stand stillschweigend am Fenster und sah völlig teilnahmslos aus dem Fenster. „Ja, Mike. Verdammt, ja ich hasse dich und ja, verdammt es ist aus“, sprach er leise, ohne jegliches Gefühl, einfach teilnahmslos. Ich konnte sie nicht mehr zurückhalten, spürte, wie mir wieder Tränen in die Augen stiegen. „Sieh’ mich an, sieh mich an, Chester“, flüsterte ich mit dünner, zitternder Stimme. Ich konnte nicht glauben, was er da sagte. „Sieh’ mich an“, flüsterte ich noch einmal, als er nicht reagierte und konnte ein leises Schluchzen nicht unterdrücken.

Dann drehte er sich mit einem Male um, mit hasserfülltem Blick sah er mich an, kniff leicht seine Augen zusammen und ich spürte, wie er mich plötzlich mit voller Wucht an die Wand neben der Tür schubste. Beide Hände krallte er in meinem T-Shirt fest und drückte mich schmerzhaft gegen die Wand. Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten und ich bekam Angst, Angst vor ihm.

Chester

Die Worte kamen wie automatisch aus meinem Mund. „Halt endlich deine verdammte Klappe, Mike! Du hast so einen Dreck angerichtet, das ist pervers. Halt einfach deine Klappe, ja Mike, verdammt ja, ich HASSE DICH!“, flüsterte ich erst, bis ich ihm die letzten beiden Worte ins Gesicht schrie. Ich wusste nicht, was ich da sagte, ich wollte das nicht sagen, ich wollte ihm nicht wehtun. Ich wusste nicht, warum ich das tat, was ich da gerade anrichtete. Ihm liefen Tränen in Bächen über die Wangen und er blickte mich völlig verängstigt an. Mein Blick blieb wütend, voller Hass, obwohl ich innerlich heulte und ihn in meine Arme schließen wollte. Er schluchzte leise und es fühlte sich in meinem Inneren an, als würde mein Herz auseinander brechen. Ich konnte ihn nicht mehr so ansehen.

Ohne Rücksicht auf irgendetwas riss ich ihn von der Wand und knallte ihn auf den Boden, wo er sich nur knapp noch abfangen konnte. Ohne ihn noch einmal anzusehen griff ich nach meinem Rucksack und rannte aus dem Zimmer, hörte nur wie er noch einmal laut aufschluchzte, als ich die Tür hinter mir zuschlug. Wie in Trance rannte ich die Treppe hinunter. Ich ignorierte die anderen, die mich verwundert, belustigt, oder überheblich ansahen, ich ignorierte, was sie sagten, hatte nur in meinem Kopf wie Mike immer wieder „Sieh’ mich an“ gefleht hatte. Ich ignorierte auch Mr. Courten, der mir zurief, ich solle hier bleiben, als ich die Tür öffnete. Schneller als ich weglaufen konnte, stand er allerdings neben mir und hielt mich am Arm fest. „Lassen Sie mich verdammt noch mal los!“, schrie ich ihn nur so laut ich konnte an, riss mich von ihm los und rannte weg, rannte einfach so schnell ich konnte weg.

Ich wusste nicht, wo ich hinrannte, jedenfalls nicht zum See, ich würde es nicht aushalten dort zu sein. Völlig orientierungslos rannte ich einfach durch den Wald, ohne Rücksicht auf Verluste, völlig gleichgültig der Option gegenüber, ich könnte mich verlaufen. Sollte es passieren, sollte ich doch irgendwo zwischen Pflanzen und Bäumen verrecken, etwas anderes verdiente ich im Grunde genommen eh nicht. Irgendwann gelang es mir nicht mehr die Tränen zu unterdrücken, die mir immer wieder in die Augen stiegen, wenn ich Mikes Stimme durch meinen Kopf schallen hörte. „Sieh mich an, sieh’ mich an, sieh’ mich an, Chester“. Meine Sicht verschwamm, die Tränen tropften von meinem Kinn herab, blieben von mir völlig unbeachtet, bis sie meine Sicht irgendwann völlig versperrten und ich auf den Boden knallte.

„Sieh’ mich an, sieh’ mich an, Chester“, schallte es wieder und wieder und wieder durch meinen Kopf. Sein Gesicht erschien wieder vor mir, seine Tränen liefen wieder vor meinen Augen seine Wangen hinunter, seine Augen blickten mich wieder voller Angst an, sein leises Schluchzen drang wieder an meine Ohren. „Sieh’ mich an, Chester“. Ich spürte wie meine Fäuste ihn gegen die Wand drückten, als ich meine Hände in den Boden vergrub. Ich spürte wie ich ihn auf den Boden riss, als meine Hände ruckartig einige Wurzeln aus dem Boden rissen. „Sieh’ mich an, sieh’ mich an, Chester“. Unaufhaltsam liefen mir die Tränen übers Gesicht, tropften auf den Boden und verschwanden. Was nicht verschwand, war Mikes Stimme, wie sie mich wieder und wieder anflehte ihn anzusehen. „Du verdammter Mistkerl!“, schrie ich schluchzend und schlug so fest ich nur konnte auf den Boden ein.

„Ich hasse dich! Ich hasse dich!“, schrie ich wieder und wieder und ließ meine Fäuste von neuem auf den Boden einschlagen. „Ich hasse dich...“, schluchzte ich nach unzähligen Schlägen auf den Waldboden nur noch und glaubte keine Luft mehr zu bekommen. Wen hasst du, Chester? Wen hasst du? Sag es! „Sieh mich an, Chester“. „Ich hasse dich, Chester!“, schrie ich, obwohl ich kaum mehr atmen konnte und begann von neuem auf den Boden einzuschlagen. Was hatte ich getan? Was zur Hölle hatte ich da angerichtet? Wie hatte... wie hatte ich Mike nur so... so anschreien können? Ihm wehtun? Ihm sagen, dass ich ihn hasste? Warum zur Hölle hatte ich das getan? Was war nur los mit mir? Wie konnte ich Mike, meinen Mike, so anschreien? Wie verdammt noch mal hatte ich ihm wehtun können?

„Sieh’ mich an, Chester. Sieh’, was du angerichtet hast“, glaubte ich ihn sprechen zu hören und sah ihn vor mir, wie ihm Tränen übers Gesicht liefen, wie verängstigt, voller Panik seine Augen in meine sahen. „Sieh’ mich an, Chester“, dröhnte seine Stimme schon wieder von Tränen erstickt durch meinen Kopf. „Ich seh’ dich doch an“, schluchzte ich und kniff meine Augen so fest ich konnte zusammen, ballte meine Hände zu Fäusten. „Ich will doch nur wissen, ob du mich hasst“, schrie er in meinen Gedanken und ich glaubte schon zu fühlen, wie er mich gegen die Wand presste, gegen die ich ihn geschleudert hatte. „Ich hasse dich nicht...“, antwortete ich schluchzend. „Ich hasse dich nicht, ich hasse dich nicht, ich hasse... mich“, schluchzte ich und rang nach Luft, die ich aber nicht einzuatmen schaffte.

Warum hatte ich mir diesen Müll nur eingeredet? Es sollte falsch gewesen sein? Nichts daran war falsch! Warum zur Hölle hatte ich nur darauf hören müssen, was alle anderen sagten? Nichts, gar nichts war falsch gewesen! Das einzig Falsche war, wie ich ihn behandelt hatte. Er konnte nichts dafür! Er hatte mir die schönsten Momente meines Lebens bereitet und ich? Was tat ich? Ich schrie ihn an, ich tat ihm weh, ich ignorierte ihn. „Mistkerl! Verdammter Mistkerl!“, brüllte ich, so laut ich noch konnte und versuchte mit aller Kraft meine Wut, meinen Hass auf mich am Boden auszulassen, doch ich schaffte es nicht einmal mehr meine Arme zu heben.

„Ich hasse dich, ich hasse dich, Chester“, schluchzte ich wieder und wieder und bekam langsam durch das ganze Heulen und Schreien nicht mal mehr genug Luft, dass ich noch sprechen konnte. Es kam kein Ton aus meinem Mund, so sehr ich auch zu schreien versuchte. Es geschah mir ganz Recht, hier auf diesem dreckigen Waldboden zu verrecken. Ich hatte alles kaputt gemacht, ich hatte alles kaputt gemacht, indem ich mir einredete, wir hätten etwas Falsches getan. Ich hatte alles kaputt gemacht, indem ich mir einredete, ich würde ihn hassen. Es gab keinen Grund ihn zu hassen, nur mich, mich hasste ich mehr, als ich mir je einreden könnte, ihn zu hassen.

Mike

Kein Wort hatte er mehr für mich übrig gehabt. Die ganze restliche Zeit der Klassenfahrt hatten wir kein Wort mehr miteinander gesprochen. Das Verlangen nach ihm, nach seiner Nähe, nach seinen Berührungen, nach seinen sanften Worten schien mit jedem Tag größer geworden zu sein. Ich hielt es langsam nicht mehr aus jedes Mal diesen Schmerz zu spüren, wenn ich ihn sah und leider musste ich ihn viel zu oft sehen. Leichter machen konnte mir niemand die ganze Situation, die anderen redeten genauso wenig mit mir, wie Chester. Sie hatten uns isoliert, hatten nichts anderes als Lachen und blöde Witze für uns übrig, dass er mich ignorierte, dass er nicht mehr mit mir sprach, dass er mich hasste, hatten sie wohl nicht gemerkt.

Mittlerweile sehnte ich mich danach, endlich wieder zurück zu fahren. Ich wollte meine Ruhe haben, ich wollte nicht mehr 24 Stunden am Tag ausgelacht werden, ich wollte ihn nicht mehr dauernd sehen, ich wollte mir nicht mehr dauernd sagen müssen, dass es alles für immer aus und vorbei war. Egal wie oft ich mir das sagen musste, ich konnte nicht verhindern, dass ich mich unglaublich nach ihm sehnte. Mein ganzer Körper schrie nach ihm, danach ihn wieder in den Arm zu nehmen, danach ihn wieder ganz nah bei mir zu spüren. Ich vermisste ihn, wie ich noch nie in meinem gesamten Leben jemanden vermisst hatte, obwohl er doch fast die ganze Zeit in meiner Nähe war. Ich vermisste seine Wärme, die jetzt so eingefroren schien.

An manchem Abend fiel es mir unsagbar schwer mich zusammen zu reißen. Am liebsten hätte ich manchmal einfach nur geheult, mich in seine Arme geworfen und mich bei ihm ausgeheult. Doch ich konnte es nicht, ich wollte nicht erfahren, wie er darauf reagierte. Er war so kalt zu mir, kalt zu allen. Nach seinem Wutanfall hatte er keinem irgendwelche Gefühle gezeigt. Er war ganz einfach kalt, nicht wütend, nicht traurig, nicht verachtend, er war einfach nur kalt. Ich hätte froh sein sollen, dass er mich nicht mehr spüren ließ, wie sehr er mich hasste. Doch manchmal wünschte ich mir sogar, dass er mich wieder anschrie, mich schlug, wie er es schon beim letzten Mal, als er mit mir gesprochen hatte, fast getan hätte, nur damit er mich nicht mehr völlig ignorierte. Ich wollte spüren, dass er überhaupt noch etwas für mich fühlte, selbst wenn es Hass war.

Wenn mir alles zu viel wurde flüchtete ich jedes Mal zu demselben Ort, nämlich dem, an dem ich ihm, Chester, sicher nicht begegnen würde. Für nichts in der Welt wollte er wohl je wieder zum See, also war das der einzige Ort, an dem ich mich sicher davor fühlte, von ihm mit kalten, leeren Blicken bedacht zu werden. Auch jetzt saß ich wieder hier, weil Mr. Courten uns den ganzen Nachtmittag Freizeit gegeben hatte, wir sollten den letzten Tag vor unserer Abfahrt genießen. Selbst wenn ich mir seit Tagen nichts mehr wünschte, als endlich wieder zurück zu fahren, war mir etwas wehleidig zumute. Der Anfang dieser Klassenfahrt war so wundervoll gewesen. Langsam strich ich über das Holz des Stegs und dachte daran zurück, wie wir uns genau hier, an dieser Stelle zum aller ersten Mal geküsst hatten.

Ich schloss meine Augen, als könnte ich damit meine Gedanken auch in diese Schwärze tauchen. Doch diese Gedanken konnte ich nicht einfach verschwinden lassen, wäre das möglich gewesen, wären mir so viele qualvolle Stunden erspart geblieben. Es war nicht möglich, ich konnte tun was ich wollte. Mir blieb nur eins, was ich tun konnte, damit dieses Gefühl irgendwann wieder verschwand: Mir klar machen, dass es vorbei war. Nur wollte ich das einfach nicht glauben, ganz egal wie kalt er zu mir war, völlig egal wie mies er mich behandelte, ich wollte einfach nicht wahrhaben, dass es alles vorbei war. Dabei war es so nötig, ich musste es einfach glauben, ich musste der Wahrheit ins Auge sehen, sonst würde ich daran noch kaputt gehen.

Nur langsam öffnete ich meine Augen wieder und sah mich um. Ich ließ meine Blicke über die Wasseroberfläche schweifen, blickte auf das Ufer auf der anderen Seite und sah dem Wasser zu, wie es gegen die Holzplanken des Stegs klatschte. Seufzend drehte ich mich herum und wollte einen Blick zum Wald werfen, als ich ihn ganz plötzlich dort stehen sah. Ich konnte meinen Augen kaum trauen. Chester? Er war hier? Am See? Wo alles angefangen, oder vielleicht auch aufgehört hatte? Ich wusste nicht, was ich denken sollte, versuchte nur mit aller Kraft mir weiterhin einzureden, dass es vorbei war. Ich musste es akzeptieren, ich musste es! Aber... er sah so wunderschön aus, wie er da stand und auf den See blickte.

Als er sich plötzlich in Bewegung setzte und auf das Ende des Stegs trat, glaubte ich, dass mein Herz aufhörte zu schlagen. Er sah doch, dass ich hier war, weshalb kam er dann hier her? Nein Mike, denk gar nicht einmal daran, hör auf dir Hoffnungen zu machen, er würde dich lieber totschlagen, als dass er dich in den Arm nehmen würde! Ich konnte meinen Blick nicht von ihm abwenden, starrte ihn die ganze Zeit, den ganzen Weg vom Ufer bis über zum Ende des Stegs über an. Nicht einmal ein halber Meter trennte uns voneinander, er war mir in den ganzen letzten Tagen nicht einmal so nah gewesen wie jetzt. Ich hätte mich fast schon gefreut, doch sein Blick, den er für nichts in der Welt zu mir richten wollte, verhinderte es einfach.

„Das war’s, oder?“, fragte er nach unzähligen Minuten des Schweigens leise und noch immer mit Blick aufs Wasser. Es jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken, seine Stimme zu hören. Wie hatte ich es vermisst, dass er mit mir sprach? Ich bemerkte seine Worte im ersten Moment gar nicht, war von dem Klang seiner Stimme zu überwältigt. Bis ich dann merkte, dass es eine Frage gewesen war und ich ihm wohl antworten sollte. Das war’s? Ja, das war’s. Es musste. „Ja, ich glaube schon“, entgegnete ich genauso leise und sah ihn im Augenwinkel, wie er langsam und völlig in Gedanken versunken nickte. Ich wartete gespannt darauf, dass er doch noch etwas sagte, ich wollte unbedingt seine wundervolle Stimme noch einmal hören.

Und ich bekam sie zu hören. „It feels good to know your mine. Now drive me so far away. I don’t care where just far, away. And I don’t care…”, sang er leise mit einem leichten Zittern in der Stimme, was mein Herz veranlasste sich noch mehr zusammen zu ziehen. Warum sang er mir das jetzt vor? Warum diese Worte? Warum sang er das? „Das war’s wohl“, sprach er flüsternd, nachdem er geendet hatte und senkte seinen Blick. Ich konnte nicht mehr, ich wandte meinen Blick ab, als ich merkte wie die Umgebung vor meinen Augen zu verschwimmen begann. Man Mike, musst du denn ausgerechnet jetzt losheulen? Wo er neben dir steht? Aber warum diese Worte? Warum zum Teufel sang er diese Worte?

Chester

Das war’s. Aber die Spannung in meinem Körper ließ nicht nach, ich war bis in die letzte Faser meines Körpers angespannt und nervös, weil er nicht einmal einen Meter von mir entfernt stand. Ich wusste selbst nicht, weshalb ich hergekommen war. Vielleicht hatte ich gehofft er wäre nicht hier, ich wollte ihn doch eigentlich nicht sehen, ich wollte nur ein letztes Mal zu diesem Ort kommen. Wahrscheinlich würde ich nie wieder hierher kommen, also wollte ich den letzten Abend dazu nutzen. Aber er war hier und als er mich bemerkt hatte, konnte ich auch keinen Rückzug mehr antreten, vielmehr drängte irgendetwas in mir mich dazu zu ihm zu gehen, mit ihm zu sprechen und etwas in mir verlangte danach mich zu entschuldigen.

Ich wusste nicht recht, was ich da tat, als ich anfing zu singen, doch ich wollte es. Ganz egal weshalb ich das tat, ich tat es und ich merkte auch, dass Mike sich wegdrehte, als ich leise wiederholte, dass das das Ende war. Aber es war so, es musste so sein. Ich konnte tun was ich wollte. Manchmal dachte ich, er wäre jetzt derjenige der mich hasste, manchmal glaubte ich, er hätte Angst vor mir und manchmal dachte ich, er würde am liebsten wieder in meinen Armen liegen. Aber ich konnte das nicht. Ich wollte nicht noch mehr Beleidigungen hören und irgendetwas in mir versuchte mir zu sagen, dass ich nicht noch einmal etwas mit ihm anfangen durfte, weil ich ihn nicht verdient hätte, weil ich vielleicht wieder durchdrehen würde.

Zudem schämte ich mich in Grund und Boden, weil ich ihn so behandelt hatte und wegen all dem traute ich mich seit Tagen nicht einmal mehr ihn anzusehen. Ich versuchte nicht zu abweisend zu ihm zu sein, oder besser abweisend schon, aber ich versuchte ihm nicht das Gefühl zu geben, dass ich ihn hasste. Ob ich das richtig machte, indem ich ihn versuchte völlig zu ignorieren, wusste ich nicht. Dass das alles falsch war, war mir manchmal sogar bewusst, aber ich hielt mich davon ab all meine Bedenken über Bord zu werfen und ihn einfach zu küssen. Ich durfte das nicht tun, für mich, für alle anderen und für ihn durfte ich das nicht tun.

Als Mike leise schluchzte und sich nervös mit dem Händen übers Gesicht fuhr, wurde mir klar, dass ich ihn zum heulen gebracht hatte und es tat so weh, es tat so weh. „Das war’s“, hörte ich ihn ganz leise flüsternd und merkte, dass er sich Mühe gab nicht weiter zu heulen. Bitte Mike, hör auf zu heulen. Ich konnte das nicht, ich konnte nicht mit ansehen, mit anhören wie er heulte und sich die Tränen aus dem Gesicht strich, damit ich nicht merkte, dass er es tat, was ich doch schon lang bemerkt hatte. Selbst mir kamen die Tränen, doch ich schaffte es sie zu unterdrücken. Langsam drehte ich mich um und blickte für einige Momente Richtung Wald, atmete tief durch und setzte mich dann langsam in Bewegung. „Chester?“, hörte ich Mikes Stimme, nachdem ich ein paar Schritte gegangen war und verharrte auf der Stelle. Ich schluckte und unterdrückte meine Tränen mit aller Kraft, er klang so zerbrechlich...

„J-Ja?“, stotterte ich fast schon und drehte mich wie in Zeitlupe zu ihm um, sah als wäre es wirklich in Zeitlupe, wie er sich noch einmal mit dem Handrücken über die Wange fuhr und einen Schritt auf mich zuging. „Würdest du... würdest du mich ein letztes Mal küssen?“, fragte er kaum hörbar und schluchzte zwischendurch. W-was? Ihn... küssen? Ein letztes Mal? Was verlangte er da von mir? Ich.. ich konnte ihn doch nicht einfach so... küssen? Oder doch? Verdammt, ein letztes Mal! Ich versuchte meine Gedanken kurz auszuschalten und ging wieder einige Schritte zurück, bis ich direkt vor ihm stand. Seine Augen waren leicht gerötet und blickten mich unendlich traurig an, ängstlich, abwartend und vor allem traurig.

Ich spürte, dass seine Wangen noch immer feucht waren, als ich vorsichtig eine Hand an seine Wange legte und meine letzten Gedanken wegschob. Ich schloss einfach meine Augen und beugte mich zu ihm hinüber. Es entstand ein Gefühl, was ich mein Leben lang nicht mehr vergessen wollte, als ich vorsichtig seine Lippen mit meinen berührte und spürte, wie er eine Hand auf meine legte, die immer noch auf seiner Wange ruhte. Ich wollte der Moment wäre nie, nie wieder vergangen, doch zu schnell schalteten sich meine Gedanken wieder ein. Noch bevor wir uns richtig küssten löste ich meine Lippen auch schon wieder von seinen und drehte mich um, ich konnte das nicht, ich konnte das einfach nicht.

Lauter und ungehaltener als zuvor hörte ich ihn weinen und merkte, dass auch ich meine Tränen nicht mehr unterdrücken konnte. Ich lief weg, setzte erst langsam einen Fuß vor den anderen und hörte, wie Mike noch lauter heulte. Für einen kurzen Moment wandte ich mich wieder um und sah, wie er mit, vor Verzweiflung verzogenem Gesicht auf dem Boden zusammensank und wieder schluchzte. „Es tut mir Leid, Mike“, flüsterte ich, doch er konnte mich wahrscheinlich nicht mehr hören, weil er hemmungslos heulte und seinen Kopf in seinen Armen vergrub. Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten und fing selbst an zu heulen, doch ich konnte nicht stehen bleiben. Ohne ihn noch mal anzusehen lief ich los, erst langsam, doch schon nach wenigen Schritten begann ich zu rennen, ließ meinen Tränen freien Lauf und rannte.

Die ganze Zeit sprang sein Name durch meinen Kopf, die ganze Zeit sah ich seinen Blick vor mir, wie er mich traurig ansah und schreckliche Angst davor zu haben schien, ich würde jeden Moment auf ihn losgehen. Als ich weit genug weg war und mal wieder, wie es häufiger vorgekommen war in den letzten Tagen, nicht mehr wusste, wo ich war, blieb ich stehen. Schwer atmend ließ ich mich an einem Baum herunterrutschen. Meine Wangen waren feucht und ich strich mir einige Male übers Gesicht um mein vor nur wenigen Momenten versiegtes Heulen unkenntlich zu machen. Zögernd strich ich mir mit den Fingern über die Lippen. Vor ein paar Minuten lagen Mikes Lippen noch auf meinen, vor ein paar Minuten schien für wenige Augenblicke wieder alles gut zu sein, auch wenn es das nicht war.

Mein Gott, warum musste ich das nur machen? Dieser stechende Schmerz ganz, ganz tief im Herzen war wieder genauso heftig, wie an dem Tag, an dem wir erwischt worden waren. Es war doch besser geworden in den letzten Tagen, es tat zwar weh, aber es kam mir vor, als wäre dieser verdammte Schmerz irgendwie betäubt. Aber jetzt? Jetzt war diese Taubheit wieder weg und es tat so unmenschlich weh, wenn ich wieder an ihn dachte und wieder vor mir sehen musste, wie er heulend auf dem Steg zusammenbrach.

Warum zur Hölle musste das nur alles passieren? Nicht zum ersten Mal wünschte ich mir in dem Moment, dass wir uns nie, nie, nie begegnet wären. Lieber hätte ich die ganzen Zwei Wochen lang völlig allein verbracht, als jetzt diesen Schmerz zu spüren und wissen zu müssen, dass Mike, der mir doch eigentlich so unheimlich viel bedeutete, nur ein paar hundert Meter entfernt auf dem Steg saß und sich die Seele aus dem Leib heulte. Alles wäre mir lieber gewesen, als jetzt in dieser Situation zu sein, Alles.

Mike

Erschöpft ließ ich meine Tasche neben mich auf den Boden fallen. Ich war zurück und wieder allein. Nach mehrstündiger Busfahrt, die ich alleine auf einem Zweierplatz verbrachte war ich wieder zuhause. „Na, freust du dich denn, wieder zu Hause zu sein?“, fragte meine Mutter lächelnd und legte mir eine Hand auf die Schulter. Ich drehte mich ein Stück zu ihr und nickte mit einem etwas gequälten Lächeln. Ich wollte meine Familie nicht gleich wieder mit meiner momentan wirklich sehr miesen Laune quälen, schließlich konnten sie nichts für all das.

„Möchtest du etwas Essen? Oder trinken?“, fragte Mom gleich und nahm mir meine Jacke ab. Ich wusste ihre momentane Fürsorge ja zu schätzen, aber ich ertrug es einfach nicht länger bei ihr zu sein und mich zusammenzureißen. Ich hatte seit dem vorherigen Abend fast die ganze Zeit durchgeheult, langsam hatte ich zwar das Gefühl, dass ich keine Tränen mehr hatte, aber mir war dennoch ziemlich nach heulen zumute. „Sorry Mom, aber ich bin ziemlich müde, die Busfahrt war anstrengend und ich lege mich wohl lieber mal etwas hin“, lehnte ich mit einem Lächeln ihr Angebot auf etwas zu Essen ab und brachte sofort die passende Ausrede um nicht den ganzen Abend von der Klassenfahrt erzählen zu müssen.

Ihr Blick wurde auf der Stelle mitfühlend und besorgt meinte sie, ich solle wirklich sofort hoch gehen und mich schlafen legen. Ich atmete tief durch und schleppte meine Tasche mit nach oben. Vorsichtig zog ich meine Zimmertür hinter mir zu und ging erst einmal wirklich ein paar Schritte auf mein Bett zu und ließ mich darauf fallen. Ich war erschöpft, oder besser gesagt, ich war völlig am Boden und langsam hatte ich das Gefühl nicht mehr lang so weitermachen zu können. Aber trotzdem traten mir wieder die Tränen in die Augen, ein leiser Schluchzer entfuhr mir und ich griff nach meinem Kopfkissen, was ich fest an mich drückte.

Ich war ja so ein Weichei. Mittlerweile heulte ich fast ununterbrochen durch seit gestern Abend und es war mir nicht einmal möglich gewesen, meine Fassung zu behalten, wenn die anderen anwesend waren. Die Sprüche, die ich deshalb hörte, setzten dem Ganzen noch einen drauf. „Mike ist eine Heulsuse“, „Eine Schwuchtel-Heulsuse!“, „Sind die alle so?“, „Kann der sich nicht mal zusammenreißen? Es reicht doch, dass er den Jungs präsentieren musste, wie pervers er ist!“ oder „Nur weil er schwul ist heißt das doch nicht, dass er gleich machen kann, was er will!“ hörte ich die ganze Zeit. Ich konnte doch verdammt noch mal auch nichts dafür! Ich gab mir doch alle Mühe mich zusammen zu reißen, aber es ging nicht, es ging einfach nicht.

Chester ignorierte mich wieder völlig. Mir fuhr ein kalter Schauer über den Rücken, bei dem Gedanken. Warum war er nur an den See gekommen? Warum musste er mir das nur antun? Er hätte mir so viele Tränen erspart, wenn er das gestern nicht getan hätte. Dabei war es so schön ihn zu küssen! Ich wusste nicht mehr, weshalb ich ihn darum gebeten hatte, es hätte mir eigentlich klar sein müssen, dass das noch viel mehr weh tun würde. Aber es war so schön gewesen und für ein paar Sekunden war alles wie vorher, bevor er begonnen hatte, mich zu hassen.

Diese Stimme, diese Gott verdammte Stimme! Unser Lied, unser Lied hatte er mir vorgesungen! Unser Lied, während dem wir uns das erste Mal geküsst hatten, unser Lied, was uns überhaupt erst zu Freunden gemacht hatte. Wusste er denn, dass es sich anfühlte, als hätte er mir gerade bei lebendigem Leibe das Herz herausgerissen, als er nach diesen Zeilen dir Worte „Das war’s wohl“ flüsterte? Nein, wahrscheinlich wusste er das nicht, sonst hätte er es doch nicht getan. Oder doch? Vielleicht war es ja seine ganze Absicht mir noch mehr weh zu tun? Weil ich ihn in diese Lage gebracht hatte? Weil ich Schuld war, dass die anderen mich und eben auch ihn mieden und sich über mich und auch ihn lustig machten? Weil ich Schuld war, dass sie uns erwischt hatten, als wir uns küssten?

Aber zum Küssen gehören doch wohl Zwei! Warum sollte ich denn alleine Schuld daran sein? Er hatte doch genauso mit gemacht, er hatte doch genauso gesagt, dass er das wollte, er hatte es doch auch angezettelt, dass wir gemeinsam ‚duschen’ waren! Warum sollte ich dann Schuld an allem sein? Er war mindestens genauso schuldig, was sollte er also für einen Grund haben, mir noch mehr weh zu tun? Es war Alles so kompliziert und das Schlimmste war, dass ich keinen blassen Schimmer hatte, warum Chester nun wirklich so zu mir war. Klar hatte ich meine eignen Begründungen dafür gefunden, aber ich wusste nicht, weshalb es nun wirklich so war.

Vielleicht wartete er ja nur darauf, dass ich ihn das fragte? Darauf, dass ich ihm sagte, dass ich nicht wollte, dass das alles so lief? Aber warum hatte er dann diese Worte gesagt, als wir dicht nebeneinander am See standen „Das war’s wohl“? Ich wollte es so gern wissen, ich hätte doch fast alles getan, nur damit es wieder so werden konnte wie vorher. Doch diese Kälte und Ignoranz taten so weh und es war verdammt noch mal unmöglich einfach auf ihn zu zugehen, wenn man auf eine Eisfront stieß, die einem jegliches Wort abschnitt!

„Mike? Ist alles in Ordnung mit dir?“, hörte ich plötzlich eine Stimme, die auf keinen Fall meiner Mutter gehörte. Ich richtete mich langsam etwas auf und blickte zur Tür. Es war ja so dermaßen peinlich, dass ausgerechnet Jason, mein ältester Bruder, mich hier heulend auf dem Bett liegen sah. Ich schluchzte ungewollt auf und vergrub mein Gesicht in meinem Kopfkissen. Was sollte denn noch kommen? Sicher würde er mich jetzt auch noch dafür hoch nehmen, dass ich heulte. Schließlich ging es mir doch bestimmt noch nicht dreckig genug, ein bisschen mieser konnte es mir doch sicher noch gehen, irgendwie würde es diese Gott verdammte Welt schon noch schaffen, dass es mir noch beschissener gehen würde!

„Hey, kleiner Bruder, was ist denn los?“, hörte ich Jason in einem komisch einfühlsamen Ton sprechen und zuckte zusammen, als er mir eine Hand auf die Schulter legte. Ich drehte meinen Kopf etwas zur Seite und sah ihn an. Er blickte besorgt auf mich herab und streichelte mir über die Schulter. Verdammt, warum war er plötzlich so einfühlsam? Ich war doch nur sein Bruder, den er doch vorher auch immer einfach weggeschickt hatte, wenn ihm danach war! „Mike, warum weinst du? Was ist denn passiert?“, fragte er fast schon flüsternd und strich mir kurz über die Wange, was mir nun entgültig den Rest gab. Warum musste er so nett sein? Warum musste er mir jetzt über die Wange streichen und mich damit so unendlich an Chester erinnern? Ich schluchzte wieder auf, richtete mich aber noch etwas weiter auf und fiel in Jasons Arme, der mir vorsichtig beide Arme um den Körper legte und über meinen Rücken streichelte. „Ssscht... Es wird alles wieder gut, Mike, es wird alles wieder gut...“

Chester

Erst als ich es mit der Ausrede, dass ich müde war, geschafft hatte, in mein Zimmer gehen zu dürfen, musste ich mich endlich nicht mehr zurückhalten. Ich achtete erst gar nicht darauf meine Tasche mit hochzunehmen, ich ließ einfach alles stehen und liegen und stürmte in mein Zimmer. Ich schaffte es noch nicht einmal bis zu meinem Bett, schon als ich meine Zimmertür von innen schloss, brach alles aus mir heraus. Ich konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten und brach heulend auf dem Boden zusammen. Die letzten Stunden waren mit Abstand die schlimmsten in meinem ganzen Leben gewesen. Die ganze Zeit, wirklich die ganze Zeit hatte er geheult, auch wenn man ihm ansah, dass er dagegen ankämpfte.

Warum zur Hölle war alles nur so weit gekommen? Hier musste doch irgendetwas schief laufen! Wenn Mike mich dafür hassen würde, dass ich ihn einfach hatte fallen lassen, dann hätte er mich doch sicher nicht darum angefleht, dass ich ihn küssen würde? Wenn er mich nicht dafür hasste, warum hatte ich dann gestern ganz offiziell ‚Schluss’ gemacht, wenn es überhaupt etwas zum Schluss machen gab? Warum war ich nicht einfach bei ihm geblieben nach unserem Kuss? Und warum hatte Mike um einen letzten, einen allerletzten Kuss gefleht? Wollte er, dass es der letzte war, oder dachte er, es würde der letzte sein?

Verdammt, warum musste das alles so kompliziert sein? Diese ganzen Gedanken ließen in mir das Gefühl hochkommen, dass mein Kopf jeden Moment platzen musste. Ich wusste nicht weiter, wusste nicht, wie Mike für mich fühlte, wusste nicht, wie ich für Mike fühlte, wusste nicht, wie es in Zukunft weitergehen sollte, wusste nicht, ob wir beide jemals über das Alles hinweg kommen würden. So wie Mike geheult hatte, so sehr wie es ihm scheinbar wehgetan hatte, würde das mit dem ‚darüber wegkommen’ eine ziemlich schwere Angelegenheit werden. Herr Gott, mir tat das Ganze genauso weh, aber das mit dem Heulen ging nicht. Irgendetwas in mir lehnte sich dagegen auf, in der Öffentlichkeit zu heulen, wenn ich sah, wie man Mike dafür runtermachte.

Aber jetzt, jetzt wo ich ganz allein war und niemand, gar niemand mich mehr sehen konnte, flennte ich genauso wie Mike. Mike, Mike, Mike. Konnte ich denn an nichts anderes als Mike denken? Nein! Verdammt, nein, das konnte ich nicht! Dieser Kerl spukte in meinen Gedanken rum, egal was ich machte. Warum konnte ich ihn nicht einfach vergessen? Vergessen, was in den zwei Wochen geschehen war? Vergessen, dass wir uns jemals so nah gekommen waren? Vergessen, wie glücklich ich in seinen Armen war? Vergessen, wie wohl ich mich in seiner Nähe gefühlt hatte? Vergessen, wie wundervoll es sich anfühlte, ihn zu küssen und zu berühren?

Völlig erschöpft und in Gedanken noch immer bei Mike und den wundervollen Tagen, die wir miteinander hatten, war ich irgendwann auf dem Boden eingeschlafen. Als ich wach wurde, war es stockdunkel, die LCD Anzeige meines Weckers zeigte Neun Uhr abends an. Mein Rücken tat höllisch weh, doch ich ignorierte den Schmerz und drehte mich von der Seite auf den Rücken, starrte für einige Momente an die Decke. Es war so unwirklich. Alles war so unwirklich, doch zum ersten Mal seit Tagen hatte ich wieder einen klaren Kopf. Ich hatte alles vermasselt. Ich hatte Mike wehgetan, sehr weh getan und ich hatte mir selbst großen Schmerz zugefügt.

Seufzend schloss ich meine Augen wieder. Wem sollte ich noch etwas vormachen? Ich war vor ihm weggerannt, als er mich am See mit der Bitte ihn zu küssen, angefleht hatte, ihn nicht einfach so allein zu lassen. Langsam fuhr ich mit beiden Händen über mein Gesicht und ließ sie in meinen Haaren ruhen. Und da spürte ich plötzlich dieses Gefühl auf meinen Lippen. Es war das selbe, warme, kribbelnde Gefühl, das Mikes Lippen auf meinen verursacht hatten und ich spürte die selbe Wärme, die selbe Zuneigung. Erschrocken öffnete ich meine Augen wieder, doch natürlich war ich allein und ich schloss meine Augen wieder. Warum spielte mir mein Körper das vor? Und warum fühlte alles sich so kalt an, nachdem dieses Gefühl wieder verschwunden war? Was war das überhaupt für ein Gefühl?

„Liebe“, hörte ich mich plötzlich selbst flüstern und riss erschrocken meine Augen wieder auf. Liebe? Warum hatte ich das gesagt? Mein Gehirn hatte in Zeitlupe mit meinem Herzen kommuniziert und plötzlich schalteten meine Gedanken auf Zeitraffer. Liebe! Verdammt, ich liebte Mike! Ich liebte ihn! Das war dieses Gefühl, das war dieses Phänomen und plötzlich schien alles komplizierte ganz einfach. Und plötzlich schienen all die Fehler, die ich gemacht hatte, so einfach zu umgehen. Doch warum behandelte man uns so, wenn es doch Liebe war, was Mike und mich verband? Ich erschauderte. Mike liebte mich! Es war nicht nur Nicht-Hassen, was er mir am See, mit seinem Flehen gezeigt hatte, es war Lieben!

Doch warum behandelte man uns so? Wussten sie denn alle nicht, dass das Liebe war? Konnte es denn, obwohl wir uns liebten, falsch sein, was wir getan hatten? Ich war mit einem Male wieder völlig verunsichert, obwohl doch wenige Augenblicke vorher alles so klar gewesen war. Aber... wenn wir uns liebten, konnten wir das dann einfach so ignorieren? Aufgeben? Vergessen? War das der Grund, weshalb ich Mike einfach nicht vergessen konnte? Weil ich ihn liebte? Natürlich war das der Grund und es war plötzlich wirklich alles so einfach. Ich hatte mir eingestanden, dass ich ihn, Mike, Michael Shinoda, liebte und dieses warme, kribbelnde Gefühl, dass er in mir ausgelöst hatte, war wieder da und es blieb.

Ich verstand nicht, woher diese Klarheit herkam und warum dieses innere Geständnis, dass ich ihn liebte, soviel bedeutete, aber es war einfach so und alle Argumente, die dagegen gesprochen hatten, schienen so unbedeutend dagegen. Mit weichen Knien stand ich auf und blickte mich um. 21:16. Ich musste handeln. Ich hatte die Chance glücklich zu werden und dieses Gefühl, Liebe, weiterhin zu spüren und war gerade dabei, sie zu verpassen. Und was war mit den anderen? Ich stockte in meiner Bewegung, die ich in Richtung Zimmertür gemacht hatte. Was war mit ihnen? Was war mit den Beleidigungen? Was war mit den Sprüchen? Was war mit ihrem Lachen? Er hatte es durchhalten müssen und ich hatte es durchhalten müssen.

Wie hatte ich mir das gedacht? Wenn wir nichts mehr miteinander zu tun haben würden, würden sie früher aufhören uns auszulachen? Doch diese Klarheit schlug auch erbarmungslos an dieser Stelle zu, das war alles Schwachsinn. Sie würden genauso lange Lachen, doch wenn wir zusammen gegen sie antreten würden, würden sie uns vielleicht irgendwann akzeptieren, oder wenigstens ignorieren. So lange wir alleine waren und selbst nicht zu einander standen, war es für sie viel einfacher zu lachen und tat es noch viel mehr weh, sie lachen zu hören. Was hatte ich mir noch gedacht? Es wäre falsch gewesen, dass wir uns körperlich so nah gekommen waren. Gehörte das nicht dazu? Wir liebten uns, da durften wir uns doch auch körperlich nah sein, uns küssen, festhalten, das gehörte dazu!

Was hielt mich noch an dieser Stelle? Nichts. Und ich begann zu handeln. Ich musste zu Mike, ich musste ihm sagen, dass ich der größte Idiot auf der ganzen Welt war und... dass ich ihn liebte und dass er mich liebte. Wusste Mike das? Bestimmt fühlte er das auch, aber vielleicht hatte er diese Erkenntnis bisher auch noch nicht so durchlebt? Ich musste zu ihm. Ich musste mich entschuldigen. Dieses Erkennen, dass ich ihn liebte und dass wir uns lieben durften, hatte gerade einmal eine viertel Stunde gedauert. Es war irreal, dass plötzlich alles so richtig schien. Ich zögerte wieder für einen Moment. Was war, wenn ich mir diese Erkenntnis nur einbildete?

Und wieder erschauderte ich, als eine regelrechte Welle dieses Gefühls durch meinen Körper strömte, die scheinbar die Antwort auf meine Zweifel war. Ich bildete mir gar nichts ein. Ein Lächeln huschte über meine Lippen und ich griff nach einem Jahrbuch aus meinem Schrank. Sein Name war schnell gefunden und seine Adresse hatte ich nach Zweimal lesen im Kopf. Ich musste handeln, für ihn und für mich. Doch vor allem für ihn. Ich hatte ihm diesen ganzen Schmerz zugefügt und jetzt war es Zeit dafür, dass ich mich entschuldigte und ihm das gab, was er wollte. Mich. Noch immer lächelnd stürmte ich aus meinem Zimmer und rannte die Treppe hinunter. Aus der Garage holte ich mein Fahrrad und fuhr los.

Ohne anzuhalten jagte ich durch die Straßen, nur mit dem Gedanken im Kopf, dass ich zu Mike musste. Je näher ich seinem Zuhause kam, desto intensiver wurde das Gefühl und desto mehr kribbelte es in mir. Ganz sicher, das alles war keine Einbildung gewesen. Und dann sah ich sein Haus, sah die große 48 neben der Tür stehen und ließ mein Rad einfach auf der Einfahrt fallen. Völlig außer Atmen stürmte ich auf die Haustür zu und lächelte, als ich auf die Klingel unter seinem Nachnamen drückte. Wenig später stand eine Kopie von Mike, nur größer und älter, vor mir. „Ha-hallo, mein Name ist... Chester. Ich wollte zu... zu Mike“, stotterte ich und schnappte nach Luft.

Das Gesicht vor mir verfinsterte sich etwas. „Was willst du?“, meinte er und sah abwertend auf mich herab. Vor mir baute sich die Szene auf, wie Mike auf dieser Brücke gesessen und von seinen Brüdern gesprochen hatte. Scheinbar war das einer seiner Brüder. Ich musste wieder lächeln – auch wenn ich kaum Luft bekam – er war einfach unglaublich, selbst wenn er nichts, gar nichts Besonderes tat. „Ich muss mit ihm reden“, brachte ich als Antwort nur heraus, doch Mikes Bruder wollte mich einfach nicht vorbei lassen. „Ich denke nicht, dass Mike mit dir reden möchte, Chester“, zischte er regelrecht und ich sah in sein Gesicht. Er hatte mit Mike gesprochen und der hatte ihm alles erzählt, den ganzen Mist, den ich gebaut hatte.

Doch plötzlich sah ich ihn. Langsam sah ich ihn die Treppe gegenüber der Haustür heruntergehen und sah, wie er erschrocken und etwas entsetzt zu mir blickte. Ohne etwas zu sagen drückte ich seinen Bruder zur Seite und stürmte ins Haus. Mike sah mich nur entgeistert an und trat rückwärts eine Stufe zurück nach oben. „Mike!“, brachte ich zuerst nur heraus, sah ihn einfach nur an und griff nach seinen Händen. Als ich seine Haut spürte, ging dieses Gefühl wieder durch meinen ganzen Körper und es machte mir Mut. Ich liebte ihn, ich liebte ihn wirklich. „Mike, ich...“, begann ich wieder und bemerkte, dass ich gar nicht wusste, was ich sagen wollte.

„Mike, ich weiß, dass ich totalen Mist gebaut habe! Ich hab’ das alles nicht gewollt, das ist alles falsch gewesen. Ich weiß, dass du gestern nur wolltest, dass ich dich nicht alleine lasse, ich hätte nicht gehen dürfen. Ich hätte dir niemals sagen dürfen, dass ich dich hasse! Mike, das stimmt nicht! Ich hasse dich nicht und es war nicht falsch, gar nichts war falsch was wir gemacht haben! Was die anderen sagen ist ganz egal und wenn sie lachen, dann ist mir das ab jetzt auch egal, weil du mir viel wichtiger bist, als alle anderen. Sie sollen alle lachen, das ist ganz egal, Mike! Das ist egal, weil... weil ich dich liebe! Und weil du mich liebst, das hab’ ich endlich verstanden. Mein Gott, Mike, ich... wir lieben uns!“

ENDE

Nachwort:

Das war es jetzt wohl! Es gab also doch noch fast so etwas wie ein hollywoodreifes Happy End für die beiden. Hoffen wir mal, dass sie doch noch glücklich werden, oder... Nun ja, falls Interesse besteht, wird vielleicht irgendwann auch die Fortsetzung veröffentlicht, die allerdings bisher nur im Ansatz existiert. Ich wäre also sowohl abschließenden Meinungen zu der Story und auch ihrem Ende (von dem ich zugebe, dass es sich doch zu sehr hingezögert hat) als auch Antworten, ob es sich lohnen könnte die Fortsetzung irgendwann zu veröffentlichen, nicht abgeneigt! Noch einmal danke an alle Feedbackschreiber, ich hoffe mal, dass vielleicht wenigstens zum letzten Teil ein paar mehr Leser ihre Meinung kundtun könnten :) Vaines

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