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Am Ende die Nacht

Teil 3 - Miguel

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Redaktion

Liebe Leser,

die folgende Geschichte befasst sich unter anderem mit der Thematik Suizid. Dies ist ein sensibles Thema, das Nickstories.de nicht unkommentiert lassen kann und will. Deshalb haben wir uns entschieden diese Geschichten generell mit einem Vorwort zu versehen.

Für uns ist dieses Thema in Stories kein Tabu, aber wir wollen deutlich machen, dass Selbstmord mit Sicherheit kein Weg ist, um ein Problem zu lösen. Jeder, der sich in einer scheinbar aussichtslosen Lage befindet, sollte wissen, dass er Hilfe finden kann.

Wenn du jemanden kennst, der über diesen Schritt nachdenkt oder ihn geäußert hat, solltest du das nicht auf die leichte Schulter nehmen und versuchen mit dieser Person zu reden. Erst dann wird deutlich, wie ernst die Lage wirklich ist.

Wenn du über Selbstmord nachdenkst, bitten wir dich, Kontakt mit einer Hilfseinrichtung aufzunehmen, bevor du etwas tust, das für deine Freunde und deine Familie ein unwiederbringlicher Verlust sein wird.

Informationen und Notrufnummern findest du z.B. unter: www.telefonseelsorge.de

Vorwort

Ja ich weiß, es hat lange gedauert, bis ich hier wieder was veröffentlicht habe und alle, die angefangen haben zu lesen, werden vermutlich vergrault sein. Leider gab es erst von meiner Seite aus eine Schreibblockade und dann ist auch noch der befreundete Komponist aus dem Projekt ausgestiegen, weil er leider keine Zeit mehr hatte. Manche Stücke (auch für die späteren Teile) sind noch fertig geworden. Andere leider nur in Rohfassung vorhanden. Darum habe ich lange gezögert, ob ich weiterschreiben soll. Aber irgendwie muss ich die Geschichte zu Ende bringen, weil es mir doch keine Ruhe lässt.

Ich werde das, was weitestgehend fertig ist, an die entsprechende Stelle einfügen.

Hoffentlich findet der Fortgang noch Freunde unter den Lesern.

Zu diesem Teil wurde eigentlich das Thema: Miguel's Theme verfasst https://www.youtube.com/watch?v=ewSoOytiCkw), allerdings bin ich davon nicht so ganz überzeugt und empfehle als Thema für Miguel lieber das nachgelagerte Stück "A despicable life", das zwischen dem Thema und dem letzten Stück, das für Teil 3 noch fertig wurde, liegt. Aber vielleicht seht ihr das anders.

1

Als er aufwachte, sich umdrehte und ihm plötzlich dieser vertraute Duft in die Nase stieg, den er schon so lange nicht mehr wahrgenommen hatte, musste er unwillkürlich lächeln. Er drehte sich vollends auf die Seite, stütze den Kopf auf seinen angewinkelten Arm, so dass sich sein Ellbogen tief in die Matratze bohrte. Seine Augen wanderten über das friedlich entspannte Gesicht der Person neben ihm. Er hatte beinahe vergessen, wie schön Jan aussah, wenn er schlief. Dieser Anblick ließ nicht erahnen, welche tiefe Trauer und welches dunkle Geheimnis hinter den weichen Gesichtszügen lauerte, verborgen von der Maske des Schlafes.

Er streckte seine Hand aus und fuhr mit ihrer Oberseite sanft über Jans Wangen, ohne sie jedoch wirklich zu berühren, da er ihn nicht aufwecken wollte. Das hätte die Illusion zerstört, den Schleier zerrissen, der ihn als Beobachter von dem schwarzen Abgrund trennte, der sich in Jans Innerstem verbarg. Langsam schob er die Bettdecke voran, um immer mehr von Jans makellosem Körper freizulegen. Erst als der Bauchnabel zu sehen war, stoppte er und biss sich auf die Lippen. Wie hatte er diesen wunderbaren Menschen nur so enttäuschen können? Wie hatte er freiwillig darauf verzichten können, jeden Tag neben Jan aufzuwachen, ihn jeden Morgen beim Schlafen zu beobachten?

Doch viel drängender brannte er auf die Antwort zu einer anderen Frage: Wieso hatte er sich nicht von sich aus das zurückgeholt, was er so schmerzlich vermisst hatte? Warum hatte er sich erst für einen undurchsichtigen Plan instrumentalisieren lassen, der die zarten Bande zu Jan so schnell wieder zerreißen konnte, wie sie sich neu gebildet hatten? Er riss den Blick von Jan los, schwang die Beine aus dem Bett, stand auf und trat ans Fenster. Über der Stadt hingen wieder schwere graue Wolken und vereinzelte Tropfen klopften an das Fenster, als ob sie Einlass begehrten. Er legte den Kopf an die Scheibe und ließ die Ereignisse noch einmal an seinem inneren Auge vorüber ziehen, die dazu geführt hatten, dass er jetzt hier stand.

 

(A despicable life https://www.youtube.com/watch?v=SRcEb9RgMWs)

Miguel Sanchez hätte nie von sich behauptet ein glückliches Leben zu führen, obwohl das wohl jeder andere Mensch nicht geglaubt hätte. Denn immerhin war Miguel der reichste Achtzehnjährige der Stadt gewesen, damals als sein Vater gestorben war. Er hatte knapp eine Milliarde Euro geerbt, doch das Geld hatte ihn nicht für die miserable Kindheit entschädigt, die er geführt hatte. Seitdem er sich erinnern konnte, hatte sein Vater ihn nur mit äußerster Distanz behandelt. Offiziell, weil er von seinen Geschäften so vereinnahmt war, dass nur wenig Zeit für die Aufgabe als alleinerziehender Vater übrig blieb. Doch Miguel glaubte das nicht. Er war fest überzeugt, dass das Ganze damit zusammenhing, das seine Mutter bei seiner Geburt gestorben war und sein Vater indirekt ihm die Schuld dafür gab.

Natürlich hatte er seinen Vater danach gefragt, doch der hatte das stets als Hirngespinst abgetan, doch jedes Mal, wenn Miguel versuchte mit ihm über seine Mutter zu reden, konnte er den tiefen Schmerz in den Augen seines Vaters erkennen. Das machte Miguel immer wieder klar, dass er mit seiner Vermutung Recht hatte. Da sich Miguel also andauernd dem Gefühl ausgesetzt fühlte, seinem Vater etwas beweisen zu müssen, sozusagen als Wiedergutmachung, versuchte er in allen Lebenslagen immer perfekt zu sein.

Aber seinem Vater reichten seine Bemühungen nicht. Egal, was Miguel machte, für seinen Vater war es immer minderwertig. Er zeigt seinem Sohn stets, dass nur das, was ER erreicht hatte, wirklich etwas wert war. Miguels Verdienste dagegen schienen ihm nichts zu bedeuten. Und wie jedes Kind, dessen Sehnsucht nach Zuwendung nicht erfüllt wurde, begann Miguel bald nach Möglichkeiten zu suchen, die ihm vielleicht kein Lob einbrachten, dafür aber Tadel und damit einhergehend etwas Aufmerksamkeit.

Zuerst kamen kleinere Straftaten wie Graffiti, Schule schwänzen oder Alkohol und Zigaretten, als er gerade einmal vierzehn war. Doch als das bei seinem Vater irgendwann wie zu einem Gewöhnungseffekt führte, musste Miguel das Ganze steigern. So folgten Einbrüche, Ladendiebstähle, härtere Drogen. Und kurz vor seinem siebzehnten Geburtstag hatte er das ultimative Mittel entdeckt, seinen Vater zur Weißglut zu treiben.

Dabei kam er zu diesem Mittel äußerst unfreiwillig und es kostete ihn viel Überwindung es als Waffe einzusetzen. Seine ganze Pubertät hindurch war er, wo er auch hinkam, von vielen Mädchen begehrt und umschwärmt worden und er hatte dies auch großzügig ausgenutzt, doch wirklich interessiert hatte er sich für keine. Für ihn waren das alles nur Schlampen, die lediglich sein Vermögen möchten – und nachdem er mit ihnen im Bett war, vielleicht auch seinen Schwanz. Ja, Miguel hatte von der Natur schon ein großes Geschenk bekommen, mit dem man viele Leute beeindrucken konnte. Und das tat er, so oft es nur ging. In der Umkleide, auf Partys, im Freibad. Er ließ sich keine Gelegenheit nehmen, sein Geschenk zu präsentieren.

Bis ihm irgendwann auffiel, dass er es sehr viel lieber Männern als Frauen zeigte. Das verwirrte Miguel, denn bisher hatte er sich niemals seine Sexualität in Frage gestellt. Doch dann kam Tom. Und Tom änderte so ziemlich alles.

Miguel kannte Tom eigentlich schon seit der Grundschule, doch er hatte sich nie sonderlich für ihn interessiert, dazu war Tom einerseits zu unscheinbar und Miguel andrerseits zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Doch zwei Wochen vor seinem siebzehnten Geburtstag hatte Tom ihn zu einer Party bei sich zu Hause eingeladen. Eine Party, die ziemlich aus dem Ruder lief – zumindest für Miguel. Er wusste von diesem Abend im Nachhinein gar nichts mehr und war dementsprechend entsetzt am Morgen nackt neben einem ebenso nackten Tom aufzuwachen.

Als Miguel panikartig aus dem Bett sprang, ergriff Tom seine Hand, zog ihn wieder zurück und legte seine andere Hand auf Miguels Penis. Sofort durchzuckte Miguel ein heißer Blitz des Verlangens, doch gleichzeitig wurde ihm auch furchtbar übel. Er sammelte seine Sachen vom Boden auf, beeilte sich, sie anzuziehen und verließ so schnell es ging Toms Haus.

Zu Hause angekommen schloss er sich in seinem Zimmer ein und begann zu weinen. Er hatte vorher noch nie geweint. Die ständige Abweisung durch seinen Vater hatte ihn gelehrt die Verbitterung, die er dadurch verspürte, tief in sich zu vergraben, aber niemals nach außen hin zu zeigen. Sein Vater hatte ihm immer klar gemacht, dass er Schwäche verabscheute. Und während Miguel weinend auf seinem Bett lag und über all das nachdachte, wurde ihm eines klar: Er wollte nicht mehr so weiter machen. Das Verlangen, das in ihm geweckt worden war, ließ sich nicht so verdrängen wie der Zorn auf seinen Vater.

Dieses Begehren, welches sich in ihm regte und von dem er bisher nicht gewusst hatte, dass er es in sich trug, es passte nicht zu ihm. Miguel wollte es nicht. Doch dann kam ihm ein ganz andrer Gedanke: Was wenn er das Ganze nutzen könnte? Die Lust mit Männern zu ficken war also offenbar ein Teil von ihm und er war sich sicher, dass dieser Teil bei seinem Vater nur Abscheu hervorrufen würde. Aber Abscheu war auch eine Form von Aufmerksamkeit.

Und so arrangierte Miguel alles so, dass sein Vater ihn in flagranti mit Tom erwischte. Es folgte das längste Gespräch (wobei sein Vater ihn hauptsächlich anschrie und beschimpfte) seines Lebens und Miguel genoss es. Er genoss jedes einzelne Schimpfwort, mit dem ihn sein Vater bedachte, er genoss es, an den Armen gepackt zu werden, Auge in Auge mit dem Mann, den er gleichzeitig am meisten verachtete und bewunderte.

Und Miguel konnte sich darauf verlassen, dass sein Vater jedes Mal derartig reagierte, wenn er auf die Entartung seines Sohnes zu sprechen kam. Oft begann ein solches Gespräch, wenn Miguel wieder einen neuen Typen mit nach Hause gebracht und sein Vater es mitbekommen hatte. Offenbar schien dieser zu glauben, dass sich sein Sohn in einer temporären Phase befand und dass er ihm nur oft genug ins Gewissen reden musste, um das Ganze zu beenden. Dabei war es doch nur das REDEN, weswegen Miguel damit weitermachte. Die Typen selbst interessierten ihn genauso wenig wie zuvor die zahlreichen Schlampen. Seit Tom – und selbst für diesen galt das bereits – waren alle nur Mittel zum Zweck für ihn gewesen, mehr Aufmerksamkeit von seinem Vater zu erhalten. Und das funktionierte auch hervorragend.

Bis sein Vater starb.

Miguel konnte sich noch immer an jedes kleine Detail dieses Tages erinnern. An das blau-beige karierte Hemd und die graue Leinenhose, die er getragen hatte. An die Worte, die der Polizist an der Tür zu ihm sagte und die nun retrospektiv betrachtet zäh und wie in Zeitlupe sich den Weg in sein Ohr und Gehirn gebahnt hatten, ohne dort die Reaktion auszulösen, auf die alle warteten. Trauer. Nein Miguel war nicht traurig. Er war zornig, ja sogar stinksauer. Endlich hatte er eine Methode gefunden, um seinem Vater die Aufmerksamkeit abzutrotzen, nach der er sich sein ganzes Leben lang gesehnt hatte und dann starb dieser Penner einfach!

Viele Leute bedauerten Miguel damals, weil sie dachten, der Verlust des Vaters würde ihn schmerzen, doch das stimmte nicht. Miguel wollte lieber einen toten Vater als einen, der sich einen Dreck um ihn scherte. Andere beneideten Miguel, der nun zum reichsten Jugendlichen der ganzen Stadt aufstieg. Doch Miguel wollte nicht beneidet werden, nicht bewundert, nicht geliebt. Er wollte dem Schmerz entkommen, der sein Leben viel zu lange bestimmt hatte. Und da kam ihm das viele Geld gerade recht, da es ihm Dinge ermöglichte, von denen andere nur träumen hätten können. Bald war er bei der städtischen Polizei durch mehrere Drogendelikte auffällig geworden, doch niemand unternahm etwas gegen ihn. Miguel hatte nicht nur Geld, sondern dank der Firma seines Vaters auch großen Einfluss bis in hohe Verwaltungsämter. Niemand wagte es, ihm zu sagen, was er zu tun hatte.

Niemand – bis er Jan traf.

Auf der Party zu seinem achtzehnten Geburtstag hatte er sich von einem seiner Lieferanten ein ganz besonderes Geschenk überbringen lassen. Er zog sich zurück und war gerade dabei, sich mit der Ladung weißen Pulvers die Nasenscheidewand zu durchlöchern, als dieser Typ in der Tür stand. Er fragte ihn, ob es Miguels Plan wäre, sich sein Hirn weg zu koksen. Miguel wollte ihn zunächst abwimmeln, doch der andre ließ nicht locker. Und als Miguel ihn sich näher ansah, musste er gestehen, dass von diesem Typen doch irgendwie eine Art Anziehungskraft auf ihn ausgeübt wurde, der er sich nicht entziehen konnte. Und so wurde sein Geburtstag der erste Tag, an dem er fünfmal hintereinander Sex in allen nur möglichen Positionen hatte.

Als er von Jans prekärer finanzieller Situation gehört hatte, lud er ihn ein bei sich zu wohnen – Kost und Logis gegen Sex, sozusagen. Doch bald schon musste Miguel sich eingestehen, dass es nicht nur der grandiose Sex war, den er an Jan mochte, nein, er mochte ganz einfach nur Jan. Wie er lachte, wie er bei schnulzigen Filmen weinte, wie er morgens immer ewig im Bad brauchte und abends mit Miguel durch alle Klubs der Stadt zog. Es war etwas geschehen, womit Miguel nie gerechnet hätte: er hatte sich verliebt.

Die folgenden drei Jahre waren daher auch die schönste Zeit in Miguels Leben gewesen. Tagsüber hatte er in der Firma seines Vaters – seiner Firma – gearbeitet und anders als zunächst gedacht, machte ihm das sogar Spaß. Abends kehrte in das Loft zurück, wo Jan auf ihn wartete, meistens mit irgendeinem köstlichen Essen, aber jedes Mal mit einem Begrüßungskuss und einem gehauchten "Ich liebe dich". All die Zeit der Abweisung, der Verachtung und des Desinteresses waren mit einem Schlag vorbei. Miguel blühte förmlich auf und diese Energie brachte er in die Arbeit mit ein und führte die Firma zu neuen Höhen. Es hätte alles so schön sein können.

Doch dann kam er eines Tages von der Arbeit nach Hause und zum ersten Mal begrüßte Jan ihn weder mit einem Kuss noch den gesäuselten drei Worten. Es stand auch kein Essen auf dem Tisch oder köchelte in unzähligen Töpfen noch vor sich hin. Stattdessen saß Jan im hohen Ledersessel direkt am Fenster und starrte in die Ferne. Miguel sprach ihn mehrmals an, doch er antwortete nicht. Seine rechte Hand hing lasch zur Seite herunter und umklammerte ein Stück Papier. Miguel nahm es vorsichtig an sich und während er die Zeilen überflog, stellten sich die Haare auf seinen Armen auf und Tränen traten ihm in die Augen.

Dann tat er etwas, für das er sich noch heute hasste. Er ging. Er ließ Jan am schrecklichsten Tag in dessen Leben allein, nur weil er es nicht ertrug, bei ihm zu sein. Er hätte es nicht ausgehalten, Jan in die Augen zu sehen und ihm Trost zu spenden, er wäre zu schwach gewesen. Er hätte Jan keine Stütze sein können, keinen Halt geben, den dieser brauchte. Er war lange genug ein Arschloch gegenüber anderen Menschen gewesen und hielt sich selbst für unwürdig, jetzt als der heldenhafte Tröster aufzutreten – ganz egal, ob es das gar nicht war, was Jan brauchte.

Also zog Miguel sich von Jan zurück, aber nicht, weil er mit der Diagnose nicht zurechtkam, sondern weil er sich selbst für zu schwach hielt, Jan beizustehen. Er trennte sich erst ein halbes Jahr später von Jan, und zwar weil er ihn noch immer liebte und es lange vor sich hergeschoben hatte, obwohl er wusste, dass er nicht die Person war, die Jan brauchte, und hoffte, dass dieser seinen Weg finden würde. Er überließ ihm die Wohnung und verschwand aus Jans Leben.

Bis dieser Anruf kam.

Miguel hatte nach der Trennung von Jan keinen anderen Lebensinhalt mehr als die Arbeit und so stürzte er sich mit beiden Händen in ein Großprojekt, das sein Vater begonnen, aber wegen unzähliger Probleme auf Eis gelegt hatte. Eines der Probleme war eine Genehmigung, die nur der Bürgermeister ausstellen konnte, doch der stand dem Projekt als Ganzem sehr skeptisch gegenüber, weil er befürchtete, dass es seinem Ruf und damit seiner Wiederwahl schaden könnte. Miguel hatte sich mehrfach um Zusammenkünfte mit ihm bemüht, doch immer war ihm abgesagt worden. Dann erhielt er vor vier Tagen diesen verwirrenden Anruf.

Eine Frau meldete sich und behauptete, dass sie einen Weg wüsste, ihm die benötigten Unterlagen zu beschaffen. Doch was sie dafür als Gegenleistung verlangte, wollte Miguel zuerst nicht glauben.

"Könnten Sie das wiederholen?"

"Gehen Sie zurück zu Ihrem Ex-Freund. Er ist im Begriff einen großen Fehler zu machen. Wenn Sie wieder mit ihm zusammen sind, werde ich Ihnen die Dokumente zukommen lassen.

"Aber warum?", hatte Miguel noch gefragt, doch keine Antwort mehr erhalten. Er überlegte lange, was er tun sollte. Wieder mit Jan zusammen zu sein war etwas, das er wirklich wollte, und zudem würde ihm das Zugang zu der Genehmigung verschaffen. Doch wenn er nur aus diesem Grund wieder mit Jan zusammenkam, würde das einen faden Beigeschmack haben. Dennoch beschloss Miguel die Lage zu sondieren. Er hatte eigentlich schon länger vorgehabt, sich wieder bei Jan zu melden, da er davon ausging, dass es diesem vielleicht wieder soweit gut ging, dass er nicht unbedingt die seelische Unterstützung benötigte, die Miguel ihm nicht hätte geben können. Außerdem fehlte ihm zugegebenermaßen auch der Sex mit Jan.

Zuerst ließ er sich vom Hausmeister des Komplexes, in dem sich auch das Loft befand, erzählen, was Jan so trieb. Da erfuhr er, dass Jan offenbar schon seit einiger Zeit mehrfach Bekanntschaften mit nach Hause genommen hatte. Obwohl er wusste, dass es kindisch war, wurde er dennoch eifersüchtig und beschloss Jan aufzusuchen, bevor es zu spät war und er vollkommen über die Beziehung hinweg war. Als er an der Wohnung angekommen war, erzählte ihm der Hausmeister, dass Jan gerade wieder Besuch von einem Mann hatte. Daher wartete Miguel auf dem Gang vor dem Loft. Er wollte schon fast doch an der Tür klopfen, als diese sich öffnete und Jan in Begleitung eines weiteren Manns herauskam, dessen Augen vor Tränen rot angeschwollen waren.

"Es wird alles gut, Daniel", hörte Miguel Jan sagen. "Das war sicher nur eine Fehldiagnose." Dann stiegen die beiden in den Aufzug und Miguel war alleine auf dem Gang. Er versuchte einzuordnen, was er da gesehen hatte. Eigentlich gab es nur eine plausible Erklärung, doch die verwarf Miguel so schnell wieder, wie sie in seinen Gedanken aufgetaucht war. Nein, wahllos andere Typen mit diesem Scheiß-Virus anzustecken, nur aus Verbitterung über die Ungerechtigkeit, das hätte vielleicht zu Miguel selbst gepasst, aber nicht zu Jan. Dafür war Jan einfach nicht der richtige Mensch.

Wobei Miguel sich eingestehen musste, dass Extremsituationen sehr wohl in der Lage sein könnten, einen Menschen zu verändern. Er nahm dabei wieder sich selbst als Beispiel: Er hatte sich auf einem Selbstzerstörungstrip befunden, der ihn eventuell mit Anfang zwanzig mit einer Überdosis in irgendwelchen dunklen Gassen hätte enden lassen können, bevor er Jan getroffen hatte. Die Beziehung zu ihm hatte das Beste in Miguel hervorgebracht. Liebe war auf jeden Fall eine Extremsituation.

"Also", hatte Miguel vor sich hin gemurmelt. "Was geht hier vor?" Die einfachste Erklärung wollte Miguel nicht gelten lassen, da sie sein Unternehmen nur gefährdete. Jan durfte einfach keinen neuen Freund haben! Vielleicht, überlegt Miguel, hatte er eine Art Selbsthilfegruppe gegründet, um andren Infizierten zu helfen. Ja, das passte zu Jan! So musste es sein.

Da Miguel aber noch nie seinem Gefühl allein getraut hatte, befragte er den Hausmeister, ob der denn diesen besagten Mann schon öfter gesehen hatte. Der Hausmeister war an die sechzig und hatte in seinem Leben nicht viel andres zu tun, als die Gewohnheiten der Bewohner der Luxusappartements zu beobachten. Es hatte sich für ihn schon in der Vergangenheit als lohnend herausgestellt, denn auch andere Menschen vertrauten ihren Liebsten selten so, wie sie es sollten. Er konnte Informationen über unangemessene Besucherinnen oder andere seltsame Vorkommnisse liefern, weswegen er im Haus relativ isoliert war. Niemand wollte, dass er Informationen über einen selbst besaß, aber auf Hinweise zu den Skandälchen der anderen, da wollte niemand verzichten.

Dem Hausmeister war's egal. Auf solche Heuchler konnte er getrost verzichten und außerdem wurde die Sache auch gut bezahlt. Besonders der junge Herr Miguel, dem das luxuriöseste Appartement gehörte, war besonders großzügig, wenn es um den Austausch von Geld gegen Geheimnis ging. Was aber auch nicht weiter verwunderlich war, immerhin hatte der Junge ja auch Geld wie Heu.

"Diesen Typ?" Der Hausmeister kratzte sich nachdenklich am Kopf. "Hmm, mal nachdenken…ich bin nicht ganz sicher…hmmm…ah, Moment, ja der war schon mal da."

"Wann?"

"Der ist da heut' früh ganz schnell weggegangen. Sah nicht allzu frisch aus der Gute." Der Hausmeister grinste.

"Sie meinen, er war über Nacht da?" Miguel schwante nichts Gutes.

"Kann ich nich' genau sagen, weil ich ihn ja nich' hab kommen sehn. Aber ich nehm's doch mal an, ja."

"Okay, danke, Sie haben mir wie immer sehr geholfen", meinte Miguel geistesabwesend und steckte dem Hausmeister ein Geldbündel zu. "Wenn dieser Typ nochmal hier auftaucht, informieren Sie mich bitte?"

"Klaro, Meister!"

"Danke."

Der Rest war recht einfach gewesen. Es hatte durchaus Vorteile einer der reichsten Bürger – wenn nicht sogar der Reichste – der Stadt zu sein. So bekam Miguel relativ schnell heraus, das Jans neuer Freund Daniel Zeus hieß, 26 Jahre alt war und – verheiratet mit einer gewissen Rebecca war. Miguel jubelte, schrie innerlich auf vor Freude, als er das gehört hatte. Der Hausmeister hatte ihn derweil informiert, dass Daniel und Jan zurückgekehrt waren und Daniel schon bald darauf wieder verschwunden war. Etwa kurz danach erhielt Miguel von seiner unbekannten Auftraggeberin einen weiteren Anruf.

"Sie sollten sich beeilen, wenn Sie das Geschäft abschließen wollen."

"Ja, aber ich…" Miguel kam nicht weiter, denn das war alles, was die Person am anderen Ende sagte. Das war wirklich seltsam, aber Miguel musste nun sein Tun beschleunigen. Und daher besuchte er Jan am nächsten Morgen. Natürlich war der nicht erfreut ihn zu sehen, doch Miguel vertraute auf ihre einst enge Bindung und so konnte er eine unangenehme Situation zwischen Jan und Daniel schaffen.

Und auch als er es tags darauf noch einmal versuchte, diesmal mit all der Überzeugungskunst, die er aufbieten konnte – nämlich Tschaikowsky – merkte er, wie Jans Widerstand bröckelte, auch wenn der es nicht zugeben wollte. Miguel hatte die Karten für das Ballett bei Jan zurückgelassen in der Hoffnung, dass der es sich vielleicht anders überlegen würde.

Was er dann ja letztlich auch getan hatte. Beide hatten einen wirklich lustigen Abend verlebt und waren zuletzt geradezu unausweichlich im Bett gelandet. Es war der beste Sex, den Miguel seit langem gehabt hatte. Naja, es war zugegebenermaßen auch der erste Sex, den er seit der Trennung gehabt hatte.

 

Und jetzt saß er direkt neben Jan, der immer noch friedlich schlummerte, und fragte sich, was in ihrem Leben nur schief gelaufen war. Wieso hatte er nicht einfach versucht, der Mensch zu werden, den Jan brauchte, anstatt immer nur zu lamentieren, dass er es nicht wäre? Miguel fand sich selbst im Nachhinein einfach nur noch feige und verräterisch, und wenn er Jan jetzt so ansah, ärgerte er sich über sich selbst. Egal was er sich damals gedacht haben mochte, es war einfach falsch gewesen.

Miguel beugte sich nach vorne und hauchte Jan einen Kuss auf die Wange.

"Guten Morgen", sagte er.

"Morgen, Daniel", nuschelte Jan und setzte im Halbschlaf ein seliges Lächeln auf. Miguel musste sich extrem zusammenreißen, damit ihm keine Tränen in die Augen traten. Was war nur los mit ihm? Wieso nahm ihn Jans Aussage so mit? Er hatte die letzte Zeit gut ohne ihn leben können, warum machte er sich also jetzt plötzlich so viel aus ihm?

"Falsch geraten", sagte er nur und beugte sich nach vorne, bis seine Haare Jan in der Nase kitzelten. Dieser fuhr sich mürrisch mit der Hand übers Gesicht und öffnete die Augen.

"Du?" Jan klang ehrlich überrascht.

"Soll ich das jetzt als Vorwurf nehmen?" Miguel schob die Unterlippe vor. Er konnte sehen, wie es hinter Jans Kopf arbeitet und sich allmählich die Verhältnisse klärten.

"Ach ja, stimmt", murmelte er und presste die Lippen zusammen.

"Hey, ich kann auch nichts dafür, dass dieser Typ so'n Arsch ist."

"Er hat einen Namen."

"Sag mal Jan, ganz ehrlich: Warum bin ich hier?" Miguel hatte eigentlich Angst vor der Antwort, denn wenn Jan nicht wirklich an ihm interessiert war, könnte er den ganzen Plan vergessen.

Jan atmete hörbar ein. "Gute Frage. Es war wirklich mal wieder schön mit dir und…"

"Mal wieder?" Miguel richtete sich auf und sah Jan von oben herab an. "Soll das heißen, dass jetzt immer, wenn dieser Daniel-Depp keinen Bock auf dich hat, der dumme alte Miguel herhalten darf?"

"Nein, ehrlich nicht." Jan legte seine Hand auf Miguels Arm. "Ich weiß nur noch nicht, wo das Alles hinführen soll."

Miguel setzte alles auf eine Karte: "Hättest du was dagegen, wenn ich eine Zeitlang wieder hier einziehen würde?"

Jan sah ihn nachdenklich an. "Meinst du, dass das gut geht?"

"Hör zu, ich weiß, was ich gemacht hab', war keine Glanzleistung, ganz klar. Aber vielleicht könnten wir drüber wegkommen. Irgendwie. Irgendwann."

"Also ganz ehrlich …ich weiß nicht."

"Ja, ist schon gut. Ich kann dich verstehen, wenn du das zu schnell findest." Miguel machte Anstalten aufzustehen, aber Jan hielt ihn zurück.

"Warte. Okay, lass es uns probieren."

"Das ist schön." Miguel beugte sich nach vorne und küsste Jan. "Jetzt muss ich aber trotzdem los, sonst komm' ich zu spät in die Arbeit." Er stand auf und zog sich an. Jan angelte sich sein Handy und spielte ein bisschen darauf herum, bis Miguel fertig war und sich verabschiedete. Als er zur Tür hinausging, hörte er Jan hinter sich in das Telefon sprechen.

"Du wirst mich jetzt gleich erwürgen, aber…" Dann war Miguel zur Tür raus und lief den Flur zum Aufzug entlang. Er musste unwillkürlich grinsen. Das hatte ja hervorragend geklappt! Hätte ihm noch vor zwei Tagen jemand erzählt, dass Jan mit ihm im Bett landen würde, hätte er denjenigen in die Irrenanstalt einweisen lassen. Und jetzt war es tatsächlich passiert. Dieser Daniel war wirklich ein Idiot. Klar, okay er war zugebenermaßen in einer ganz andren Situation als Miguel, aber WIE konnte man NICHT mit Jan ins Bett wollen? Aber na gut, das hatte seine eigene Annäherung an Jan ja überhaupt ermöglicht, also wollte er Daniel nicht verurteilen. Wenn jetzt nur noch… Miguels Handy klingelte.

"Ja?"

"Ich habe Sie unterschätzt."

"Woher…?" Miguel war ehrlich verblüfft.

"Heute Abend haben Sie die erforderlichen Dokumente auf Ihrem Schreibtisch. Es war mir eine Freude mit Ihnen Geschäfte zu machen." Dann hatte die Auftraggeberin auch schon wieder aufgelegt. Wie um alles in der Welt hatte sie davon wissen können? Miguel grübelte kurz, entschied dann aber, dass ihm das herzlich egal sein konnte. Er hatte seine Arbeit erledigt und obendrein phantastischen Sex gehabt. Was will man mehr?

2

Der Tag wurde sogar noch besser. Jan rief zweimal an, um zu hören, wie es ihm denn so ginge. Miguel war völlig baff. Damit hätte er ja wirklich nicht gerechnet, aber entweder hatte Jan die Trennung nie überwunden und war froh über den Neustart oder… Miguel verschwendete keinen Gedanken an die zweite Möglichkeit, da sie seinem Verständnis nach absolut unwahrscheinlich war. Wie hätte Jan nicht verrückt nach ihm sein sollen. Er war es ja selbst auch.

Kurz bevor Miguel gegen sechs Uhr seine Sachen in seine kleine schwarze Aktentasche räumen wollte, stand seine Sekretärin in der Tür.

"Herr Sanchez?"

"Ja, Sabrina?"

"Eben war ein Kurier da, der das hier" sie hielt ihm einen braunen Briefumschlag hin "für Sie abgegeben hat."

"Danke Sabrina. Sie können übrigens Feierabend machen. Ich werde auch gleich gehen."

"Ist gut, Boss."

Miguel lächelte. Sabrina war ungefähr so alt wie er und die Assistentin der Sekretärin seines Vaters gewesen. Nachdem Miguel beide quasi übernommen hatte und die Sekretärin letztes Jahr in den Ruhestand gegangen war, war Sabrina aufgerückt. Sie und Miguel hatten sich schon immer gut verstanden und immer, wenn sie ihn necken wollte, nannte sie ihn Boss.

"Dann wollen wir doch mal sehen, was wir hier haben", sagte Miguel zu sich selbst, als Sabrina das Zimmer verlassen hatte, und öffnete das Kuvert. Er hätte vor Freude fast laut aufgeschrien, als er den Stapel Behördenpapiere herausholte, mit dem Stempel und der Unterschrift des Bürgermeisters unten in der Ecke.

"Na, wer sagt's denn", murmelte Miguel voll Freude und legte die Dokumente in den büroeigenen Safe. Dank dieser Genehmigung konnte er mit dem Bauvorhaben am nächsten Tag beginnen. Das Projekt sollte der Firma wieder Prestige bringen und so neue Kunden anlocken.

Aber damit würde er erst morgen beginnen, dachte er bei sich. Jetzt erst einmal heim zu Jan.

 

Als Miguel aus dem Aufzug stieg, wäre er fast mit Daniel zusammengestoßen.

"Oh", murmelte der nur. "Jan ist nicht da."

"Ach wirklich?", Miguel fragte sich, wo Jan war. "Wollen Sie vielleicht in der Wohnung auf ihn warten." Er zückte die Schlüssel.

Daniel sah ihn fragend an, doch Miguel ging schon mit schnellem Schritt zur Wohnung, so dass Daniel ihm folgen musste.

"Sie haben die Schlüssel?", fragte er dann, gerade als Miguel die Tür aufschloss. Der Typ war irgendwie schwer von Begriff.

"Naja, immerhin ist das hier mein Appartement. Und außerdem…" Miguel machte eine wohldosierte Pause, während der er sich umdrehte und eine einladende Geste machte. "…wohne ich seit gestern auch wieder hier." Genüsslich betrachtete er die verschiedenen Ausdrücke, die auf Daniels Gesicht erschienen. Zuerst erstaunt, dann bestürzt, dann sogar kurzzeitig wütend, aber am Ende blieb eine Traurigkeit darin zurück.

"Kommen Sie also rein und warten Sie auf Jan?" Miguel konnte genau sehen, wie es hinter Daniels Stirn arbeitete. Aber dann trat er doch ein.

"Freut mich", meinte Miguel, warf seine Jacke über den großen Bürostuhl und ging zur Whiskey-Karaffe. "Auch einen?"

Daniel schüttelte nur mit dem Kopf und stand dann unschlüssig neben dem Sofa herum.

"Setzen Sie sich doch", fordert Miguel ihn auf und machte es sich dann selbst im Sessel bequem. Langsam glitt Daniel auf die Couch hinunter.

"Sind Sie…ich meine, Sie und …Jan" Daniels Stimme stockte. Miguel hörte die wahnsinnige Verunsicherung, die aus diesem jungen Mann sprach. Er nickte nur und Daniel verstummte wieder. Miguel musterte sein Gegenüber eingehend. Er konnte verstehen, was Jan an diesem Typ fand, auch wenn er wohl niemals zu sich stehen würde und damit auch nicht zu Jan. Langsam benetzte er seine Lippen mit Whiskey, dann öffnete er seinen obersten Hemdknopf. Daniel folgte jeder seiner Bewegungen argwöhnisch.

"Wissen Sie, Herr Zeus", begann Miguel dann, wobei er den Kopf etwas schief legte und mit seiner freien Hand über sein Kinn fuhr. "Wissen Sie, was ich mich schon die ganze Zeit über frage?" Daniel schüttelte den Kopf und hauchte ein stummes "Nein."

"Ich frage mich, was so jemand wie Sie mit jemandem wie Jan anfangen will. Sie, Sie stehen mit beiden Beinen im Leben, berufstätig, mit Familie. Jan dagegen ist ein Freigeist, das war er schon immer. Ich denke zwar, dass …diese Sache …ihn etwas geerdet hat, aber im Grunde sehnt er sich nach der großen Freiheit und Weite."

"Vielleicht ist es das, was mir an ihm gefällt", murmelte Daniel und blickte verlegen zu Boden, als Miguel ihn durchdringend ansah.

"Also geben Sie zu, dass Sie trotz der Show, die Sie mit ihm abziehen, doch etwas für ihn empfinden?"

"Das ist keine Show!" Daniels Lippen bebten.

"Wenn es das nicht wäre, dann würden wir, glaube ich, jetzt nicht hier zusammen sitzen. Dann würden Sie mit Jan die Bettlaken zerwühlen, stundenlang. Ich weiß wovon ich rede." Er grinste, als Daniel zusammenfuhr.

"Sehen Sie, das meine ich: Sie erzählen mir was von Gefühlen und dem Quark, aber der Gedanke daran, wie zwei Männer es heftig und wild und hemmungslos miteinander treiben, der ist Ihnen fremd und verängstigt Sie."

"Sowas ist halt neu für mich", verteidigte sich Daniel. Miguel sah mit Genugtuung, wie er sich immer unwohler fühlte. "Ich denke, ich sollte jetzt gehen und wann anders wiederkommen, wenn Jan da ist."

"Ach, jetzt seien Sie doch nicht so." Miguel stellte sein Glas ab und trat nah an Daniel heran. "Wenn da nur ein bisschen Homosexualität in Ihnen ist, dürfen Sie das nicht unterdrücken." Er beugte sich tief über ihn und hauchte in sein Ohr: "Lassen Sie es raus, ergreifen Sie die Chance!" Damit griff er Daniel in den Schritt, wodurch jener reflexartig aufsprang und Miguel von sich wegschubste.

"Niemals!"

"Wir wissen beide, dass Sie da gerade nicht ohne Reaktion durchgekommen sind. Ich konnte es fühlen und Sie, denke ich, ebenfalls. Aber ist ja auch egal. Denn Jan gehört jetzt wieder mir."

Miguel war sich nicht sicher, aber waren das tatsächlich Tränen in Daniels Augen?

"Ich hätte nicht mit herkommen dürfen", schniefte Daniel und verschwand. Miguel setzte sich wieder in den Sessel, überschlug kurz die Beine und nippte wieder am Whiskey.

"Miguel", murmelte er. "Du hast es immer noch drauf."

 

Der Sex der folgenden Nacht war noch besser als der zuvor. Miguel und Jan harmonierten perfekt zusammen und sein Triumph über Daniel versüßte Miguel die Sache noch weiter. Er wusste eigentlich nicht, was ihm daran so gefiel, den armen Kerl so fertig zu machen. Vielleicht war es die Angst, dass Daniel schon einen so großen Anteil in Jans Leben ausmachte, dass er diesen umstimmen könnte, wenn er sich für ein schwules Leben entscheiden würde. Deswegen würde er höchstpersönlich dafür sorgen, dass sich zwischen den beiden eine möglichst große Distanz aufbauen würde.

"Sag mal", nuschelte er in Jans Haare, als sie beide erschöpft in den zerwühlten Decken lagen. "Was hältst du davon, wenn wir in Urlaub fahren?"

"Hä?"

"Naja, einfach mal raus hier. Weg von allem. Den ganzen Müll hinter uns lassen und von vorne anfangen."

"Hmm."

"Das klingt ja wahnsinnig begeistert."

"Nein, nein." Jan stützte sich auf und sah Miguel tief in die Augen. "Ich fände das wirklich schön, aber ich… naja…ich…"

"Daniel?", fragte Miguel einfach ins Blaue hinein und drehte sich zur Seite, als Jan nickte. Der packte ihn an der Schulter und zog ihn zurück, um ihm wieder ins Gesicht zu sehen.

"Du verstehst das nicht. Er braucht mich gerade dringend."

"Also so wie ich das sehe, ist das totaler Blödsinn. Wenn er die Eier in der Hose hätte, mit der Geschichte endlich mal zu seiner Alten zu gehen, hättest du den los. Du hast weiß Gott eigene Probleme."

"Danke, dass du mich dran erinnerst", meinte Jan säuerlich.

"Ja, sorry, ist doch so. Der meint, dass er immer dann, wenn es ihm passt, zu dir rennen kann, nur weil du ja auch ein schwieriges Schicksal hast und deswegen wohl der beste Ratgeber bist. Das ist doch Scheiße, Jan! Du musst zuallererst auf dich schauen, dann kannst du dich als Kummerkasten anbieten."

"Ja, das kann ja sein, aber…"

"Nichts aber! Der Typ hat ein intaktes soziales Netz und kommt nicht aus so kaputten Verhältnissen wie du."

"Na vielen Dank auch! Meine Familie ist ja wohl nicht kaputt, sondern besteht zum Großteil nur aus intoleranten Ärschen!"

"Nicht viel besser, oder?"

"Sag mal, was hast du eigentlich gegen Daniel? Bist du etwa ei-fer-süch-tig?", fragte Jan und piekte Miguel bei jeder Silbe in die Seite.

"Ach laber' doch keinen Quatsch! Ich kann es bloß nicht ab, dass er meint, dass dein Schicksal dich dazu bestimmt, ihm bei seinem zu helfen."

"Du BIST eifersüchtig." Jan schüttelte lachend den Kopf. "Ich fass es nich'."

"Pah!", machte Miguel und drehte sich wieder um. Eifersüchtig, so ein Blödsinn! Miguel Sanchez hatte es nicht NÖTIG, eifersüchtig zu sein. Das würde dieser Daniel-Penner schon noch früh genug zu spüren bekommen!

 

Die nächste Woche lief eigentlich jeden Tag gleich ab. Miguel war den ganzen Tag damit beschäftigt, seinen großen Deal einzufädeln und das Projekt auf den Weg zu bekommen, und wenn er abends nach Hause kam, wartete Jan schon mit Essen auf ihn, dass sie meistens erst nach einem kurzen Quickie zu sich nahmen. Von der mysteriösen Auftraggeberin und auch von Daniel hörte und sah er nichts.

Bis zu diesem Freitag, an dem er heimkam und kein Essen vorfand, sondern stattdessen Jan, der mit Daniel auf dem Sofa saß und sich angeregt mit ihm unterhielt.

"Na siehst du, das sind doch ganz gute Nachrichten", sagte Jan gerade, als Miguel eintrat.

"Oh, hi Miguel", meinte Jan in seine Richtung, schien ihn aber eigentlich gar nicht wirklich wahrzunehmen. Miguel kniff die Augen zusammen, als er bemerkte, dass Jans Hand die von Daniel umschlossen hatte. Dieser schnellte dagegen sofort hoch, als er Miguel gesehen hatte.

"Ich denke, ich geh' jetzt besser", murmelte er nur, doch Jan hielt ihn zurück.

"Ach Quatsch, bleib doch noch ein bisschen. Miguel hat sicher nichts dagegen. Oder?", sagte er gedehnt. Miguel setzte ein falsches breites Grinsen auf und flötete: "Aber natürlich nicht, Schatz." Dann trat er einen Schritt an Jan heran und flüsterte ihm zu: "Kann ich dich mal kurz alleine sprechen?"

Jan runzelte die Stirn, folgte ihm aber ins Schlafzimmer.

"Was soll das?"

"Was soll was?", wollte Jan wissen.

"Ach komm, das weißt du ganz genau! Was will dieser Typ hier? Und wieso darf ich ihn nicht rauswerfen?"

"Jetzt komm mal wieder runter!" Jan stemmte die Fäuste in die Seite und funkelte Miguel an. "Ich wüsste echt gern, was eigentlich dein Problem mit Daniel ist."

"Was WILL er hier?"

"Er hat gerade die ersten Zwischenergebnisse bekommen – und die sind recht vielversprechend."

"Na schön, dann soll er halt zu seiner Frau gehen und ein bisschen Freuden-Ficken veranstalten!"

"Miguel!" Jan wurde jetzt langsam sichtlich wütend.

"Ja, ja, schon gut." Miguel hob beschwichtigend die Hände. "Dann bestellen wir halt was zu Essen und feiern hier."

"Danke." Jan kam näher und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Dann kehrte er zu Daniel zurück. Miguel hörte ihn sagen: "Ich kann auch gehen, wenn…"

"Kein Problem", wiegelte Jan ab.

"Ja, alles super", murmelte Miguel. Wohlweislich so leise, dass keiner der anderen es hören konnte. Das konnte ja lustig werden.

 

Wider Erwarten war es sogar wirklich ganz lustig. Miguel verstand mit jeder Minute mehr, was Jan an Daniel fand, denn der war wirklich nett und witzig. Natürlich sah er auch echt gut aus und was Miguel damals in seinem Schritt gefühlt hatte, war auch nicht ohne gewesen. Kurz und knapp – Daniel war echt ein Traummann. Und so kam Miguel in den Zwiespalt, dass er ihn mochte und zugleich auch irgendwie hasste. Letzteres lag vor allem daran, dass Miguel das Gefühl nicht loswurde, dass Jan permanent Daniels Nähe suchte und dieser das auch angenehm fand und – noch viel schlimmer – Miguel jedes Mal, wenn es wieder passierte, irgendwie herausfordernd ansah. Daher nutzte dieser die Gelegenheit, als Jan kurz das Zimmer verließ, um einige Snacks zu holen.

"Ich weiß ja nicht, was Sie mit Ihrem Auftritt hier bezwecken, aber Jan ist jetzt wieder mit mir zusammen."

Daniel sah nur kurz auf und vergewisserte sich, dass Jan auf jeden Fall außer Hörweite war. "Vielleicht im Bett", sagte er dann und fixierte Miguels Augen.

"Ja, und dort verbringen wir viel Zeit mit versautem, schwulem SEX", versuchte Miguel Daniel wieder aus der Fassung zu bringen, doch heute gelang ihm das nicht.

"Schön für Jan", konstatierte Daniel nur trocken. Und ehe Miguel es sich versah, stand der andere direkt vor ihm. Die Situation vom letzten Mal hatte sich nun gewandelt, die Personen die Plätze getauscht.

"Jetzt will ich SIE mal was fragen", zischte Daniel. "Was WOLLEN Sie von Jan? Und kommen Sie mir jetzt nicht mit Liebe, denn das können Sie mir nicht weismachen."

"Jans Nähe scheint Sie ja direkt zu beflügeln. Das letzte Mal ein kleines Häufchen Elend und jetzt – der große Macker."

"Ich war nur überrumpelt."

"Ja, ein heißer Typ greift einem nicht jeden Tag an den Schwanz. Nicht wahr?" Miguel grinste und tat genau das.

"Was ist hier denn bitte los?"

"Jan? Wie…ich…das", stotterte Miguel und ließ seine Hand sinken. Daniel schien kein bisschen entsetzt, er sah Miguel eher mit einer gewissen Genugtuung an.

"WAS IST HIER LOS?"

"Jan es tut mir wirklich leid", sagte da Daniel. "Ich wollte gerade zur Toilette und als ich hier vorbei kam…da hat er mich einfach begrabscht." Er ging zu Jan und legte ihm mitfühlend seine Hand auf die Schulter. "Manche Menschen ändern sich nicht", flüsterte er Jan zu, aber gerade so laut, dass Miguel es noch hören konnte. Der saß wie gelähmt da. Er hatte sich von diesem Typen völlig überrumpeln lassen und stand jetzt da wie der letzte Idiot. Und vor allem musste er mit ansehen, wie Jans Hand sich in Daniels verschränkte – das war zu viel!

"Jan, du musst mir glauben, das war nicht…"

"Hast du, oder hast du nicht deine Hand auf seinen Schwanz gelegt?"

"Ja doch, aber…"

"Willst du mir jetzt vielleicht irgendwie erzählen, dass du Muskelzuckungen hast und nichts dafür kannst? Ich glaub' es einfach nicht, da lässt man dich fünf Minuten aus den Augen und du …AHHH!" Schreiend stürzte Jan zu Boden und hielt sich mit beiden Händen den Bauch. Daniel kniete sich neben ihn, seine Augen ruckten panisch hin und her.

"Jan! Was hast du?"

"Weiß nicht", presste Jan hervor. "Schmerzen." Mehr bekam er nicht heraus.

Miguel war mit einem Satz am Telefon und verständigte den Notarzt. Dann beugte auch er sich über Jan und sah ihn sorgenvoll an.

Doch der wandte sich ab und sah nur Daniel an, während er sich vor Schmerzen krümmte. Miguel ließ jedoch seine Hand nicht los, auch nicht als die Sanitäter Jan mitnahmen.

 

(First signs of decay https://www.youtube.com/watch?v=Kr3sezjbjhw)

Am liebsten wäre Miguel unruhig den Krankenhausflur auf und ab gegangen, aber da Daniel das gleiche machte, wären sie sich dabei nur zu nahe gekommen. Und das war etwas, das Miguel momentan wirklich nicht ertragen hätte, ohne dem andern an die Gurgel zu gehen. Also beließ er es nur bei einem nervösen Wippen seines rechten Beines, während er mit verschränkten Armen auf dem harten Plastikstuhl saß und Daniel beobachtete, der wie ein eingesperrtes Tier herumirrlichterte. Irgendwann hielt er es aber nicht mehr aus.

"Kannst du das mal lassen, Mann? Du machst mich ganz kirre!"

Daniel hielt nur kurz an, um Miguel eine Art Todesblick zuzuwerfen, dann marschierte er weiter. Jedes Mal, wenn irgendeine der Türen auf- oder zuging, ruckte sein Kopf in die entsprechende Richtung, und jedes Mal machte sich danach wieder Verzweiflung auf seinem Gesicht breit, wenn es nicht das Zimmer von Jan war.

Miguel lehnte den Kopf gegen die Wand des Flurs und starrte an die Decke. Was war an diesem Abend nur passiert? Selbst ohne Jans Zusammenbruch hatte er sich vermutlich weit ins Abseits geschossen. Wie konnte er nur schon wieder die Beziehung mit Jan verspielen? Und das nur, weil er einem armen Irren zeigen wollte, wer hier der Herr im Haus war. Aber offensichtlich hatte Daniel das gewusst und genau darauf abgezielt, und jetzt standen Miguels Aktien bei Jan sicher extrem mies. Miguel überlegte, was wohl der Grund für Jans Zusammenbruch gewesen sein mochte, aber er kam zu keinem Ergebnis. In der einen Sekunde, war es ihm noch gut gegangen und dann…aus heiterem Himmel hatte er solche Schmerzen erlitten, dass Miguel gemeint hatte, sie nur vom Zusehen ebenfalls zu spüren. Was konnte…?

"Na endlich!", riss ihn Daniels Stimme aus seinen Gedanken. Miguel sah sich um. Ein Arzt kam zielstrebig auf sie zu und wandte sich direkt an Daniel. "Wie geht es ihm?"

Der Arzt sah kurz auf sein Klemmbrett und dann wieder zu Daniel. "Herrn Abelt geht es den Umständen entsprechend gut. Wir konnten…"

"Welchen Umständen?", rief Miguel aufgebracht und sprang auf. Die Anspannung, die er unterdrückt hatte, entlud sich mit einem Schlag. "Was hat er?!"

"Medikamenten-induzierte Pankreatitis", erwiderte der Arzt mit einem abschätzigen Blick zu Miguel, dann wandte er sich wieder an Daniel. "Die antiretrovirale Therapie, die Herr Abelt erfährt hat zu einer Entzündung seiner Bauchspeicheldrüse geführt. Daher die starken Schmerzen."

"Und jetzt?", fragte Daniel und fuhr sich nervös mit zitternden Händen übers Gesicht.

"Wir haben die Entzündung gestoppt, er bekommt momentan hohe Dosen Cortison, um eine Ausbreitung zu verhindern. Und seine Medikation wurde umgestellt auf ein besser verträgliches Medikament."

"Und warum hat er das nicht von Anfang an bekommen?", schrie Miguel den Arzt an.

"Diese Nebenwirkungen sind sehr selten und man versucht erst eine standardisierte Therapie", erklärte der Arzt, allerdings eher an Daniel gewandt, da er Miguel keines Blickes würdigte.

"Wird er wieder gesund?", wollte Daniel wissen. Der Arzt lächelte nur knapp.

"So gut wie Sie und ich." Daniels Miene versteinerte.

"Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber meinen Zustand wünsche ich Jan nicht." Der Arzt runzelte nur kurz die Stirn, nickte dann aber.

"Kann ich zu ihm?"

"Eigentlich wäre es besser, wenn er jetzt in Ruhe gelassen würde. Zumindest bis morgen."

Daniel nickte und machte sich auf den Weg. Plötzlich blieb er stehen und drehte sich zu Miguel um.

"Was ist? Willst du nicht auch gehen?"

"Kleinen Moment, ich genieße die Ruhe deiner Abwesenheit", sagte Miguel und grinste den anderen breit an. Wann sie beide zum Du übergangen waren, wusste er nicht. Daniel sah ihn nur zweifelnd an, zuckte dann aber mit den Schultern und verschwand. Miguel vergewisserte sich, dass er und der Arzt wirklich weg waren, dann schlüpfte er zu Jan ins Zimmer.

Als er ihn dort so liegen sah, mit den ganzen Schläuchen und Kabeln, da begannen seine Augen zu brennen und er musste hart mit sich kämpfen, damit die Tränen nicht sichtbar wurden. Bis auf das stete langsame Piepsen des EKG war es gespenstisch ruhig im Zimmer.

60 Schläge pro Minute.

Miguel trat langsam an das Bett heran und ließ sich neben Jans Hüfte auf der Matratze nieder. Dann nahm er Jans Hand langsam in die seine, ganz vorsichtig, um die Kanüle nicht zu stark zu bewegen, die in Jans Handrücken steckte. Auf Jans Stirn standen einige Schweißperlen, doch er schien ganz ruhig zu schlafen. Vielleicht ein vorangegangener Albtraum, vielleicht Zeichen der furchtbaren Schmerzen, die Jan durchlitten hatte. Miguel beugte sich vor und fuhr mit seiner Hand über Jans Wange. Er spürte ein kurzes Zucken.

80 Schläge pro Minute.

"Was'n los?", nuschelte Jan. Miguels Hand zuckte zurück, er hatte ihn nicht aufwecken wollen.

"Schon Frühstück? Noch fünf Minuten, ja?", murmelte Jan und drehte sich zur Seite.

70 Schläge pro Minute.

Miguel stand auf und wollte gerade gehen, als sich das Piepsen beschleunigte.

120 Schläge pro Minute.

"DU?", rief Jan. Miguel drehte sich um und sah, wie sein Freund versuchte, sich hochzustemmen.

"Ganz ruhig Jan, du sollst dich nicht aufregen", beschwichtigte Miguel, aber Jan schien das nur noch mehr aufzuregen.

130 Schläge pro Minute.

"Was willst DU hier?"

"Sehen, ob es dir gut geht."

"Als ob dich das interessiert! Ich weiß zwar nicht, wieso ich hier bin, aber ich weiß, was DAVOR passiert ist. Wie konntest du nur?"

"Ich…ich…er hat mich provoziert", sagte Miguel und senkte den Blick.

"Daniel?" Jan lachte rau. "Komm schon, was Besseres fällt dir nicht ein? Du hast seinen Schwanz begrabscht."

"Ich…er…ich…es tut mir Leid."

"Ja, mir auch", meinte Jan und in sein Gesicht trat ein Ausdruck unendlicher Trauer. "Ich hätte es mir ja gleich denken können. Ich möchte wirklich gerne wissen, warum ich mich wieder auf dich eingelassen habe."

"Vielleicht, weil du mi…"

"Mach dich nicht lächerlich!", begehrte Jan auf.

140 Schläge pro Minute.

"Ich HABE dich mal geliebt, das stimmt. Aber jetzt…ich weiß es nicht." Er sank kraftlos zurück auf sein Kissen.

"Wir können…"

"Geh bitte."

"Jan, bitte gib mir noch eine Chance", flehte Miguel. "Bitte."

"Geh einfach."

Miguel biss sich auf die Lippe, tat dann aber, was Jan ihm befohlen hatte. Bevor er zur Tür hinaustrat, drehte er sich noch einmal um. Jan lag mit offenen Augen da, den Blick starr zur Decke gerichtet und Tränen liefen über sein Gesicht.

70 Schläge pro Minute.

3

Zu Hause angekommen, ließ Miguel sich zuallererst in den Bürostuhl am Fenster fallen und starrte über die Dächer der Stadt. Er mochte diesen Platz, denn wenn sein Blick über die Vielfalt an Gebäuden streifte, die allesamt weit unter ihm lagen, dann fühlte er sich frei. Es war, als würden seine Gedanken sich verselbstständigen und sich Probleme von alleine lösen. Doch heute wollte das nicht funktionieren. Egal wie lange und intensiv er in den langsam heller werdenden Nachthimmel starrte, seine Probleme blieben und verhinderten dieses Gefühl der Freiheit.

Neben ihm auf dem Schreibtisch stand ein Bild von ihm und Jan aus den glücklichen Tagen, vor der Diagnose. Jan stand darauf hinter Miguel, hatte seine Arme um dessen Hals geschlungen und strahlte in die Kamera. Und auch Miguels Augen leuchteten vor Freude. Er hatte eine Hand auf die verschränkten Arme seines Freundes gelegt, die andere verstrubbelte dessen Haare.

Miguel nahm das Bild in die Hand und betrachtete es so lange, bis seine Augen wieder brannten. Diesmal stoppte er die Tränen nicht, so dass sie langsam von seiner Nasenspitze auf das Deckglas des Fotorahmens tropften. Dann drückte er das Bild fest an sich und begann nun richtig zu weinen, so wie er es seit der Nacht mit Tom nicht mehr getan hatte. Es waren richtiggehende Krämpfe, die ihn heftig durchschüttelten, und er wusste noch nicht einmal, warum ihn das Ganze so stark mitnahm. Er hatte Jan doch schon einmal verlassen und damals war die Trennung zwar hart gewesen, aber Miguel konnte sich denken, dass es Jan damals sicher tausendmal schlimmer ergangen sein musste.

Vielleicht war das der Grund. Dieses Mal hatte nicht ER Schluss gemacht, sondern Jan. Das hieß…hatte er überhaupt Schluss gemacht? Miguels Tränen versiegten so plötzlich, wie sie gekommen waren. Mit einem Mal kam er sich lächerlich vor. Das Ganze war doch nicht mehr als ein Streit, wie er in jeder guten Beziehung einmal vorkommen konnte. Man sprach sich darüber aus und hatte dann köstlichen Versöhnungssex. Ja, genauso würde es sein, wenn Jan wieder aus dem Krankenhaus zurückkam, dachte Miguel. Er schnaufte tief durch und wollte gerade ins Bad gehen, als es klingelte.

"Sie?", fragte Miguel überrascht, als er die Tür öffnete.

"Waren wir nicht schon beim Du?", meinte Daniel und zwängte sich an Miguel vorbei, ohne auf dessen Einladung zu warten.

"Ich hatte das für ein Ergebnis der Extremsituation gehalten, nichts dauerhaftes, aber bitte, wie du willst."

Daniel sah Miguel abschätzig an.

"Ich werde aus dir nicht schlau", sagte er dann freiheraus.

"Was meinst du?"

"Na, dass ich nicht weiß, was du eigentlich willst. Und vor allem, was du eigentlich bist."

Miguel sah ihn fragend an.

"Du tust immer so abgebrüht und alles, aber wenn ich deine roten Augen und dein nasses Gesicht so sehe, glaube ich nicht, dass das wirklich du bist. Und ich denke, dass Jan genau dieses DU kennt und dass er nur deswegen mit dir zusammen war."

"Quatsch, als wir uns kennengelernt haben, war ich ein selbstzerstörerischer, selbstverliebter Arsch. Und es hat ihn nicht gestört."

"Vielleicht hat er es übersehen."

Miguel lachte auf. "Das ist gut möglich. Aber vor einem Monat, als ich mich von ihm getrennt hab, da konnte er es wohl nicht mehr übersehen."

"Einen Monat?", murmelte Daniel plötzlich gedankenversunken.

"Was ist?"

"Ach, als ich Jan zum ersten Mal getroffen habe, meinte er, dass du ihn da gerade verlassen hättest. Aber das ist noch keinen Monat her."

"War das in dieser Spelunke im Industriegebiet?" Miguel sah Daniels Erstaunen. "Ja, da ist er oft hingegangen, schon nach seiner Diagnose. Ich hab immer versucht, ihn davon abzuhalten, aber wer nimmt schon Ratschläge von einem an, der selbst schon den Schmerz mit Drogen betäubt hat. Ich denke, er hat jedem erzählt, dass er gerade an dem Tag dort trinken war, an dem ich ihn verlassen hätte. Das kommt dann nicht so Gewohnheitssäufer-mäßig rüber. Oder was hättest du gedacht, wenn er dir erzählt hätte, dass er seit einem Monat jeden Abend die Bestände der Kneipe leeren würde?"

"Ich hätte ihn für einen Säufer gehalten", gab Daniel widerwillig zu.

"Siehste."

"Aber das war jetzt nicht das Thema", wandte Daniel ein. "Ich wollte wissen, was du von Jan willst."

"Ich will ihn. Ich liebe ihn."

"Du hast ihn verlassen, weil er HIV hat. Nicht gerade der Liebesbeweis." Daniels Lippen kräuselten sich verächtlich.

"Was weißt du schon?!" Miguel drehte sich um und ballte seine Hände zu Fäusten. Er wollte Daniel auf keinen Fall sehen lassen, dass er schon wieder im Begriff war, loszuheulen. Was war nur heute mit los?

"Ich weiß, dass man den Menschen, den man liebt, nicht verlässt, nur weil es mal schwieriger wird."

"AH, und deswegen sagst du deiner Frau auch nichts von deiner Krankheit, was? Scheinst ja nicht gerade auf IHRE Liebe zu vertrauen." Miguel hatte beschlossen, zum Gegenangriff überzugehen. Er wollte jetzt Daniel verletzen, nur um selbst nicht noch mehr verletzt zu werden.

"Ich sage ihr nichts", erwiderte Daniel mit bebender Stimme, "gerade WEIL ich auf ihre Liebe vertraue. Sie würde bis zum Ende bei mir bleiben, das könnte ich nicht ertragen. Darum sollte sie mich eher verlassen und jemand anderen finden, aber glücklich sein."

"Bist du deswegen scharf auf Jan? Benutzt du ihn?", flüsterte Miguel. Er sah die Faust kommen, aber er war zu langsam, um auszuweichen. Daniels Hand krachte hart gegen Miguels Wangenknochen, der zweite Schlag traf ihn in die Magengegend. Dann ging er zum Gegenangriff über und kurz darauf rollten sie über den Boden, immer wieder die Fäuste in den Körper des Anderen versenkend. Als Daniels Kopf ganz nah über Miguels Gesicht war, setzte er seine ultimativ letzte Waffe ein; er küsste Daniel. Der zuckte wie vom Blitz getroffen zurück, sprang auf und verschwand so schnell, wie er gekommen war. Da fiel Miguel ein, dass er gar nicht gefragt hatte, was er eigentlich hier gewollt hatte.

Als er aufstand, zuckte ein heißer Schmerz durch seine Seite, aber Miguel ignorierte das. Im Gegenteil, er genoss es, weil es ihm zeigte, dass er noch am Leben war. Dann begab er sich ins Bad und ließ sich eine Wanne dampfenden Wassers ein, in die er dann hineinglitt, die Augen schloss und endlich doch seinen Gedanken freien Lauf lassen konnte.

 

Als Jan eine Woche später aus dem Krankenhaus entlassen worden war und wieder in der Wohnung auf dem Sofa saß, dachte Miguel, dass alles wieder wie früher werden konnte. Doch irgendetwas stimmte nicht, etwas hatte sich verändert. Jan hatte es akzeptiert, dass Miguel immer noch in dem Appartement wohnte, auch wenn der Blick, den er ihm bei seiner Ankunft zugeworfen hatte, Bände gesprochen hatte. Aber Miguel hatte ihn ignoriert und zu Beginn so getan, als wäre nichts passiert. Doch allmählich begriff er, dass das nicht funktionierte.

"Sollen wir nochmal darüber reden?", fragte er vorsichtig und setzte sich neben Jan. Der starrte stur geradeaus, die Lippen zusammengepresst.

"Ich weiß, du hältst mich für ein Arschloch und ich gebe zu, dass ich mich oft wie eines verhalte. Aber ich weiß, dass du auch meine andere Seite kennst." Warum zum Teufel bequatschte er ihn jetzt mit dem Zeug, was Daniel zu ihm gesagt hatte. Jan schien das ähnlich zu sehen, denn er schnaubte nur und schüttelte resigniert den Kopf.

"Andere Seite?", fragte er mit monotoner Stimme. "Ich kenne alle Seiten von dir und alle sind gleich."

"Wir beide wissen, dass das nicht stimmt", meinte Miguel und in seinem Hals schien ein dicker Kloß zu stecken. Sollte er Jan jetzt den wahren Grund erzählen, dessentwegen er ihn verlassen hatte? Es würde vielleicht wieder etwas von dem Vertrauen zurückbringen, das Miguel in den Sand gesetzt hatte.

"Ach komm. Was soll das für eine Seite sein? Die Seite, die mich in meiner schlimmsten Zeit allein gelassen hat? Die Seite, die einfach verschwunden ist, als ich sie am meisten gebraucht hätte? Oder die Seite, die sich in mein Leben zurück gestohlen hat, um mir dann hinterrücks ein Messer ins Herz zu rammen?!" Den letzten Satz schrie er geradezu und seine Hände hämmerten gegen Miguels Brust. Es war definitiv Zeit für die Wahrheit.

"Jan, hör mir zu", begann Miguel sanft und packte Jans Hände, damit sie aufhörten, ihn zu schlagen. "Hör mir zu", wiederholte er, als Jan keinerlei Anstalten machte sich zu beruhigen. "Ich erzähl' dir welche Seite ich meine: Den Teil von mir, der all die wunderschönen Dinge mit dir erlebt hat. Wie zum Beispiel auf den Kreidefelsen auf Rügen, weißt du noch? Wir standen ganz oben und haben in den Sonnenuntergang geschaut, als dort eine Wolke in Herzform vorbei geschwebt ist. Weißt du noch?" Jan nickte und Tränen traten in seine Augen. Auch Miguels Stimme zitterte. Das was jetzt sagen würde, kostete ihn sehr viel Überwindung, denn das Ganze hatte sich wie ein Geschwür in Miguels Seele gefressen und ihn seither immer gequält.

"Und du hast mich ganz fest gedrückt und mich gefragt, ob ich den Rest meines Lebens mit dir verbringen will. Und ich hab' aus Quatsch gesagt: Nur den Rest DEINES Lebens." Jan schluchzte auf. Jetzt begann auch Miguel zu weinen. "Und dann", schniefte er. "Und dann kam einen Monat später diese Nachricht und das erste, woran ich denken musste, war dieser dämliche Satz. Als hätte ich einen Fluch ausgesprochen, der uns beide getroffen hat. Als wäre ich schuld daran."

"Das warst du nicht", hauchte Jan und wischte Miguels Tränen weg. "Du nicht."

"Und ich hab' gesehen, wie scheiße es dir ging, und ich hab' gewusst, dass du jemanden brauchst, der dir Rückhalt bietet. Und mir war klar, dass ich nicht dieser Mensch war."

"Du hättest es sein können", meinte Jan und sah Miguel traurig an.

"Nein, ich hatte mein halbes Leben damit verbracht, mir selbst zu schaden und andere auf Distanz zu halten. Ich hätte nie diese starke Person sein können, die du gebraucht hast. Ich wäre daran kaputt gegangen und das hätte dir am allerwenigsten geholfen. Du brauchtest jemand anderen, jemand stärkeren, jemand, der für dich da ist, wenn du ihn brauchst."

"So wie du jetzt gerade", sagte Jan und beugte sich vor, um Miguel zu küssen.

"Deswegen hab' ich dich verlassen, damit du so jemanden finden kannst." Miguel löste sich von Jan. Er überlegte, ob er einen gezielten Angriff starten sollte. Wenn nicht jetzt, wann dann? Er senkte die Stimme zu einem Wispern und sagte: "Und dabei hat das alles nur noch schlimmer gemacht. Jetzt wird dein Leben noch mehr durcheinander gebracht."

Jan drückte ihn ein wenig von sich weg. "Was meinst du?"

"Ach vergiss es." Miguel machte eine wegwerfende Handbewegung. "Nicht so wichtig."

"Doch, das ist es! Du meinst Daniel, oder?" Jan ballte seine Hände wieder zu Fäusten. "Ich fass' es einfach nicht! Du sülzt mich zu und im selben Atemzug versuchst du, wieder gegen ihn zu reden. Das ist…"

"Mann Jan, was soll ich denn machen? Dieser Typ benutzt dich nur! Denkst du, dass der sich mit dir abgeben würde, wenn er nicht krank wäre? Meinst du, er würde sich auch nur einen Dreck um dich scheren, wenn es keinen Grund dafür gäbe? Er macht das nur, weil er seiner Frau nichts erzählen will oder kann oder was weiß ich! Du darfst für ihn Seelendoktor spielen, weil er es nicht schafft ehrlich zu sein. Du wirst für ihn einmal nur die Ausrede sein, damit er seiner Frau das ersparen kann, was ich mir bei dir ersparen wollte. Den leiden zu sehen, den man liebt. ICH habe erkannt, dass das unwichtig ist, dass das Leid die Liebe nicht beeinträchtigt. Aber für ihn wirst du nie mehr sein als diese Ausrede. Das kannst du doch nicht wollen?"

Jan sah ihn lange und durchdringend an. "Nein, das will ich nicht." Als Miguel weiter reden wollte, unterbrach Jan ihn: "Ich weiß welche Seite von dir es noch gibt. Die Seite, die mir schonungslos die Wahrheit sagt, wenn ich zu blind bin, sie zu sehen. Danke." Dann folgte ein langer Kuss und am Ende der von Miguel erhoffte Versöhnungssex. Wieder einmal grandiose Spitze.

 

Die nächsten Tage waren wieder eher nach Miguels Geschmack, denn die gewohnte Routine kehrte zurück in seinen Tagesablauf: Morgens arbeiten, abends viel Zeit mit Jan verbringen. Irgendwann hörte er sogar auf jeden Morgen so lange neben Jan zu liegen und ihn anzusehen, dass er oft fast zu spät ins Büro kam. Dort lief dagegen alles wie am Schnürchen, denn der Deal, welcher ihm zur Unterschrift des Bürgermeisters verholfen hatte, hatte die Auftragslage beträchtlich verbessert und das Unternehmen brummte.

Auch hatte sich Daniel schon lange nicht mehr blicken lassen, wodurch Miguel ihn schon fast vergessen hatte. Bis er eines Abends nach Hause kam und Jan wieder neben Daniel auf dem Sofa sitzen sah. Auf dem Tisch vor ihnen standen ein Teeservice und Teller mit Resten von Kuchen. Daniel schien also schon länger da gewesen zu sein. Die Beiden bemerkten Miguel zuerst gar nicht.

"Ich denke, ich muss es ihr langsam sagen", murmelte Daniel und Jan nickte.

"Ja, ich denke auch, dass das das Beste ist. Ich bin zwar gern mit dir zusammen, aber du brauchst Rückhalt von jemandem, den…jemand anderem als mich."

"Du meinst jemanden, den ich liebe?" Daniel hob den Kopf und aus den Augenwinkeln heraus musste er Miguel gesehen haben, denn seine ausgestreckte Hand verharrte in der Luft. Offenbar hatte er Jan gerade berühren wollen. Wo, das wollte Miguel gar nicht so genau wissen.

"Hallo, Schatz", flötete er übertrieben freundlich, trat zu Jan und küsste ihn stürmisch. Der schob ihn sanft von sich.

"Hey, hey…mal langsam. Heb dir das für später auf."

"Ich glaub', ich geh' dann mal", brummte Daniel und stand auf, doch Jan zog ihn wieder zurück.

"Oh nein, ich denke es ist an der Zeit, dass wir jetzt alle miteinander auskommen. Diese ständig angespannte Atmosphäre, das hält doch kein Mensch aus!"

Da war er wieder, der harmoniebedürftige Jan, den Miguel so liebte, auch wenn er ihn jetzt sehr gerne zum Teufel gewünscht hätte. Er hatte mit Daniel nichts zu besprechen. Gar nichts!

"Ja, du hast recht", kam ihm Daniel zuvor und streckte ihm seine Hand entgegen. "Frieden?"

"Du kannst mich", nuschelte Miguel, wohlweislich so leise, dass keiner ihn hören konnte, obwohl er sich fast sicher war, einen Schatten über Daniels Gesicht huschen zu sehen.

"Okay", meinte er dann zerknirscht und nahm die Hand entgegen.

"Prima!" Jan klatschte in die Hände und stand auf. "Das müssen wir feiern. Auf in die Disko."

"Jan, es ist erst halb 9. Da ist nirgends was los", widersprach Miguel, in der Hoffnung, dass Jan von diesem albernen Verbrüderungsplan absehen würde.

"Na, dann geh'n wir vorher eben noch was trinken."

"Hmpf", grummelte Miguel.

"Ja, wenn du nicht willst, dann gehen eben nur Daniel und ich", meinte Jan und verschwand im Schlafzimmer.

"Soweit kommt's noch", meinte Miguel zu sich selbst, doch diesmal hatte Daniel ihn ganz sicher gehört.

"Du könntest Jan zuliebe schon mal etwas kompromissbereiter sein", sagte er.

"Und ich weiß ja nicht, was für ein Spiel du hier spielst, aber glaub ja nicht, dass ich drauf reinfalle", gab Miguel zurück. "Was machst du überhaupt hier?"

"Das, was du denkst", sagte Daniel und lächelte hintergründig. Miguels Hand schnellte nach vorn und packte Daniel am Arm.

"Jan ist jetzt mit MIR zusammen, kapier das endlich, ja? Er hat verstanden, dass du ihn nicht wirklich brauchst, sondern nur als Ausrede für deine Frau benutzt."

"Vielleicht ist er das aber nicht mehr", sagte Daniel und lächelte weiter. "Und vielleicht weiß er das auch und…" Miguel ließ Daniel abrupt los, als er hörte, dass Jan zurückkam.

"Welche Bar schlägst du denn vor?", fragte er Daniel in einem lapidaren Plauderton, der die Spannung, die eigentlich zwischen ihnen in der Luft lag, ausgezeichnet verdeckte.

"Ich weiß nich'. Bin nich' so der Kneipengänger. Jan, was meinst du?"

"Gute Frage. Was haltet ihr vom Celerity? Das hat neu aufgemacht und soll ganz gute Drinks haben. Und süße Kellner", fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu, von dem Miguel irgendwie nicht ganz sicher, wem es gelten sollte.

"Klingt gut", meinte Daniel, wieder bevor Miguel irgendetwas sagen konnte, so dass es den Anschein hatte, als ob der Kommentar auf ihn gemünzt gewesen wäre. Miguel kochte innerlich vor Wut. Daniel mochte vielleicht nur ein Spiel spielen, aber das tat er verdammt nochmal sehr gut.

"Welches von beiden?", griff Jan den Spielball von Daniel auf und wieder musste Miguel hilflos mit ansehen, wie Daniel ein süffisantes Grinsen aufsetze und sagte: "Beides." Jan kicherte leise vor sich hin. Verdammt!, fluchte Miguel leise in sich hinein. Dieser Abend konnte nur mit sehr, sehr viel Alkohol zu überstehen sein.

 

Zuerst sah es aber danach aus, als ob Daniel der sein würde, der viel Alkohol benötigen würde, denn das Celerity – und das hatte Jan wohl absichtlich verschwiegen – war eine Schwulenkneipe. Der Ausdruck auf Daniels Gesicht, als sie die Bar betraten und überall Typen aneinanderhingen, entschädigte Miguel ein wenig für die kleinen Demütigungen, die er hatte ertragen müssen. Dummerweise fing sich Daniel schnell wieder und hatte sich derart gut in der Gewalt, dass Jan davon nichts mitbekam.

Außerdem hatte er nicht übertrieben: Die Kellner waren tatsächlich heiß. Miguel konnte ansehen, wen er wollte, alles Top-Material. Ihm entging auch nicht, dass Daniel ebenfalls mehr im Raum herumstarrte als Jan anzusehen, sogar wenn er mit ihm sprach. Das war seine Chance! Miguel hatte immerhin schon viele (halb-)nackte Kerle gesehen, da kam es auf die paar hier auch nicht an. Daniel dagegen hatte sehr viel aufzuholen und war auch völlig überrumpelt, als Miguel sich Jan schnappte.

"Komm, lass uns schon mal ein wenig vortanzen", sagte er zu Jan, aber gerade laut genug, dass Daniel es hören musste. "Daniel hat ja grade eh genug zu tun mit glotzen." Jan lachte und stand auf. Miguel warf Daniel einen triumphierenden Blick zu, den dieser mit einer rüden Geste beantwortete. Schlechter Verlierer, dachte Miguel und zog Jan auf die kleine Tanzfläche der Bar, wo sie dann eng umschlungen tanzten. Sooft er konnte, sah er zu Daniel hinüber, der mit verschränkten Armen dasaß und dessen Augen vor Zorn schier Funken zu sprühen schienen. Miguel lächelte in sich hinein. Das sollte ihm eine Lehre sein, sich mit ihm anzulegen!

Als sie an den Tisch zurückkamen, unterhielt sich Daniel gerade mit einem der Kellner.

"Da geht doch was", frotzelte Jan, der schon vorher reichlich getrunken hatte. Daniel senke nur kurz den Blick. Doch das reichte aus um Miguel einen Stich rasender Eifersucht zu versetzen. DAS war es, was Jan an Daniel so anziehend fand! Diese schüchterne Unschuld, die Verlegenheit, bei allem, was er tat. Daniel war das Gegenteil von Miguel und sollte Jan auch nur kleinsten Gefallen daran finden, was sagte das über die Beziehung aus, die er und Miguel führten? Dass es nichts weiter als ein Lückenbüßer war für das Optimum, das Jan nie gewagt hatte zu erhoffen und nun, da es so nahe vor ihm lag, alles versuchte, um es bei sich zu behalten? Miguel wurde klar, dass alles, was er auch tat, niemals Jans und Daniels Band zerstören konnte, denn das würde gleichsam Jan zerstören.

Der Gedanke erfüllte Miguel mit einem Zorn, den er nie zuvor gespürt und nie für möglich gehalten hatte. Er war so wütend, dass er für den ersten Moment gar nicht registrierte, wie sich einer der Kellner auf seinen Schoss setzte und mit seinem Becken wogende Bewegungen vollführte.

"Was soll das?", fragte er dann doch, aber es klang nicht so abwesend, wie er es geplant hatte. Er drehte sich zu den andern beiden um, doch nur Daniel saß da, hob sein Glas und prostete ihm zu.

"Dein Freund meinte, es wäre okay", hauchte ihm der Kellner ins Ohr und begann dann an seinem Ohrläppchen zu knabbern. Miguel gab nach. Wenn Jan das arrangiert hatte, dann war ja alles…

Ein spontaner Blick zu Daniel, dessen Mund von einem zufriedenen Lächeln umspielt wurde, obwohl er gar nicht Miguel ansah, sondern einen Punk hinter ihm, ließ ihn seinen Fehler erkennen, als der Kellner Miguels Hände in seine Hose führte.

"Was ist das denn hier?", schrie Jan und verpasste Miguel eine schallende Ohrfeige. Der Kellner verschwand augenblicklich.

"Ich…ich… er meinte, du hast gesagt, es wäre okay."

"Oh und das war natürlich einfach zu glauben, oder?" Jans Stimme bebte. "Ich dachte, du kennst mich. Du weißt, dass sowas für mich nicht okay ist!"

"Ach ja toll!" Jetzt wurde auch Miguel sauer und er dachte nicht wirklich nach, was er sagte. "Schöne Doppelmoral! Du darfst hier mit deinem persönlichen Betthäschen spielen, aber ich darf keinen Spaß haben, oder was?" Er zeigte auf Daniel.

Jan fuhr sich mit der Hand über die Augen. Er wirkte unglaublich müde. "Wann begreifst du es denn endlich? Es geht nicht um mich, sondern nur um dich! Ich will sehen, ob du dich geändert hast. Und das hast du offenbar nicht! Da kannst du mir noch so oft erzählen, dass du mich zu meinem Schutz verlassen hast. Du warst ein Feigling, bist ein Feigling und wirst auch immer einer sein!"

"Feigling, ja?", schrie Miguel. Ihm war egal, dass das halbe Lokal ihren Streit mit anhörte. "Der einzig Feige hier bist du! Du flüchtest dich in eine Traumwelt mit diesem Typen, eine Illusion, die niemals echt sein wird, weil er niemals zu dir stehen wird. DAS ist feige."

"Sag es ihm, Daniel", murmelte Jan nur. Miguel sah fragend zwischen beiden hin und her.

"Ich habe mich entschlossen, meiner Frau alles zu sagen. Ich liebe Jan."

"Wer lebt jetzt in der Traumwelt?", fragte Jan nur tonlos, nahm Daniel an der Hand und verschwand mit ihm. Miguel sank auf seinen Stuhl zurück und starrte ihnen nur nach.

 

(Don't flee from me: https://www.youtube.com/watch?v=6tiFNwzwc7o)

Am nächsten Morgen betrat Miguel völlig verkatert den Aufzug zu seinem Appartement – oder seinem Ex-Appartement, das wusste er noch nicht genau. Er hatte die ganze Nacht in der Bar verbracht, so viel getrunken, wie schon lange nicht mehr. Und mit so vielen Kerlen gefickt, dass er den Überblick verloren hatte. Jetzt stand er auf wackeligen Füßen in der Kabine und versuchte seinen Magen mit gezieltem Atmen vor einer Rebellion zu bewahren. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Wann hatte Jan eigentlich vorgehabt, das Ganze zu erzählen? Offenbar musste Daniel ihm das ja schon am Nachmittag gestanden haben, sonst hätte Jan ja nichts davon gewusst. Hatte er sich deshalb ein klein wenig abweisender zu Miguel verhalten? Weil er eigentlich schon seine Entscheidung getroffen hatte?

Als sich die Fahrstuhltüren öffneten, wäre er fast mit einer kleinen, schwarzhaarigen Frau zusammengestoßen.

"'Tschuldigung", lallte Miguel. Die Frau sah ihn etwas abschätzig an, als müsste sie sich erst überwinden etwas zu sagen. Dann tat sie es doch.

"Verzeihen Sie, aber wissen Sie zufällig, wo ein Jan Abelt wohnt?"

"Schätzchen, heute ist Ihr Glückstag", meinte Miguel und zückte seinen Schlüssel. "Bin grade auf dem Weg zu ihm."

"Das ist ja gut, dann komm ich mal mit."

"Was wollen Sie eigentlich von Jan?" Miguel war doch etwas neugierig. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und sperrte auf.

"Ach, das ist eine längere Geschichte. Ich bin…" Sie verstummte augenblicklich und als Miguel zu ihr sah, starrte sie in die Wohnung und Tränen traten in die weit geöffneten Augen. Dann drehte sie sich wortlos um und rannte davon.

Miguel wusste wieso. Er hatte es gesehen, gleich als die Tür aufgesprungen war: Daniel, mit geöffnetem Hemd auf dem Sofa sitzend, Jan rittlings auf seinem Schoß, ebenfalls mit entblößtem Oberkörper. Während Jan seine Arme um Daniels Hals geschlungen hatte, wanderten dessen Hände seinen Rücken auf und ab. Beide küssten sich leidenschaftlich.

Als die Tür aufgegangen war, waren beide zusammen gezuckt. Als Daniel sah, wie die Frau davonrannte, sprang er auf und stürmte mit einem: "Becki, warte!" hinter ihr her. Jan trat zerknirscht zur Tür.

"Dann ist es also aus?", fragte Miguel mit bebender Stimme. Jan senkte den Blick.

"Du weißt, dass ich mich für dich geändert hätte. Nur für dich."

"Miguel", begann Jan, doch Miguel wollte nichts hören. Er wollte Jan nie wieder hören. Er drehte sich um und rannte zum Aufzug.

"Miguel!", rief Jan und Miguel konnte hören, dass er ihm folgte. "Miguel, bitte, lauf nicht vor mir weg!"

Aber Miguel wollte nicht stehen bleiben. Als er sah, dass der Aufzug belegt war – wohl Daniel oder seine Frau oder beide – stürmte er ins Treppenhaus und sprang die Stufen nur so hinunter. 1 Stockwerk, 2 Stockwerke, 3 Stockwerke, dann hielt er an. Tränen strömten über sein Gesicht und er presste die Hände in die Seiten. Was machte er hier eigentlich? Wo wollte er denn hin? Für ihn gab es nur eine Richtung. Oben.

Er drehte um und rannte zurück, kam an Jan vorbei, den er einfach gegen die Wand drückte, ohne auf seine flehenden Worte zu achten. Er spurtete immer höher und höher, bis er auf dem Dach des Gebäudes angekommen war. Dort marschierte er über den groben Kies zum Rand des Daches. Unter ihm nur die Straße.

"Miguel, komm da weg!", hörte er Jan rufen. Dann stieg er auf den Sims, der das Dach vom Abgrund trennte.

"Miguel, bitte. Das ist doch keine Lösung. Komm zu mir. BITTE!" Jans Stimme zitterte und als Miguel zu ihm sah, war sein Gesicht ebenso tränenüberströmt wie sein eigenes.

"Und was ist dann die Lösung?" Miguel schüttelte den Kopf. Jan war jetzt fast bei ihm. Er glaubte seinen Duft zu riechen. Mehr wollte er nicht.

"Miguel, bitte, wir kriegen das hin. Ich versprech's". Jans Stimme klang jetzt wie die eines Kleinkindes, das flehentlich verhindern wollte, dass seine Eltern es alleine ließen. Ja, dachte Miguel, das war ich für ihn: Ein Elternersatz. Jetzt brauchte er jemand, den er liebte. Jetzt brauchte er Daniel.

Jan streckte seine Hand nach ihm aus und Miguel ergriff sie. Seine Lippen formten ein lautloses "Danke". Jans Gesicht entspannte sich.

Dann lockerte Miguel den Griff und ließ sich nach hinten fallen.

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