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Am Ende die Nacht
Teil 5 - Nacht
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Informationen
- Story: Am Ende die Nacht
- Autor: Waldi Anders
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Da ist es nun also, das letzte Kapitel dieser Geschichte. Ich habe mir das Ende nicht leicht gemacht (siehe auch das Nachwort) und gemäß dem Titel und der vielfältigen Vorgeschichte kulminiert hier auch das ganze angesammelte Drama. Einführend sei darauf hingewiesen, dass Daniels Abschnitte (bis auf den Epilog) rückwärts-chronologisch sind – nur um der Verwirrung vorzubeugen. Und entgegen seiner Lage ist die Erzählung aus Jans Sicht die weitaus frohere und erhält die schöneren Momente der beiden (besonders zu empfehlen sind hier das Ende von Kapitel 4 und der Anfang von Kapitel 6). Auch wenn es dafür eine passende Stelle im entsprechenden Teil gibt, lege ich den Titel "Falling for loving you" ans Herz, der das Liebesthema der beiden bildet (https://youtu.be/KXmVTOwGtXY)
Wie bereits bei Teil 3 angekündigt, gibt es nur noch die bereits fertiggestellten Stücke zu hören, wieder an den entsprechenden Stellen eingefügt.
Es sei noch angemerkt, dass ich kein Arzt bin, und sollten sich dieselben an meinen Ausführungen zu Jans Krankheitsverlauf am Ende stören, dann möchte ich das gerne mit etwas künstlerischer Freiheit kontern.
Na dann, viel Spaß (auch wenn es oftmals sehr tragisch ist und der Spaß auch für die beiden nur sehr kurz kommt). Als übergreifendes Thema dieses Teil ist das sogenannte "Night Theme" gedacht, das schon öfters in anderen Titeln angeklungen ist und auch nochmals im direkt folgenden Stück aufgegriffen wird (Night Theme: https://youtu.be/5pDsU-8u5gQ).
Daniel
(Stück Daniel's Nightmare:https://youtu.be/Qk9GaPKP4mY)
Erschöpft zog Daniel die Tür hinter sich zu und starrte in den schier endlosen Gang, der vor ihm lag. Die grellen Neonröhren tauchten alles in ein unnatürliches Weiß und als Daniel seine Hand betrachtete, die noch immer auf der Türklinke lag, erschien sie ihm so bleich wie die eines Toten. Er rieb sich müde die Augen und schlurfte den Gang entlang, wie schon so oft in den letzten Wochen. Einfach nur raus hier. Mehr wollte er gar nicht.
Plötzlich fiel ihm in der Ferne ein Flackern auf, das die unnatürliche Regelmäßigkeit der Beleuchtung durchbrach. Irrte er sich oder war das Ende des Gangs, dort, wo sich eigentlich die Treppen und der Fahrstuhl befanden, plötzlich düsterer als zuvor? Als hätte dort jemand das Licht ausgeschaltet. Doch je länger Daniel es beobachtete, desto seltsamer wurde es. Das Dunkel war irgendwie – organisch. Und es kam näher! Daniel schüttelte unwirsch den Kopf. So ein Blödsinn, dachte er. Er lief weiter – nur um sofort wieder stehen zu bleiben. Das Dunkel war tatsächlich näher gerückt, hatte eine der Neonröhren quasi verschlungen und sich damit eines weiteren Stückes des Gangs bemächtigt. Ein kalter Schauer lief Daniel über den Rücken. Was genau lief hier? Er drehte sich um, wollte wieder durch die Tür zurückgehen. Doch sie war weg. Nicht verschwunden, sondern nur in gleicher Entfernung wie das Dunkel auf der anderen Seite.
Jetzt packte Daniel doch die Angst. Was auch immer dieses Dunkel war, es würde ihm gewiss nicht guttun, das herauszufinden. Dessen war er sich sicher. Und so begann er zu rennen. Er musste durch diese Tür zurück, dahin zurück, von wo er in den letzten Tagen immer lieber geflohen wäre. Auch wenn ihn diese Gedanken immer erschreckt hatten, war es dennoch so gewesen, dass er sich immer unwohler in diesem Zimmer gefühlt hatte, eine Empfindung, die mit jedem Tag stärker geworden war. Doch jetzt schien es ihm die einzig sichere Zuflucht vor diesem Dunkel, dieser Nacht im taghellen Flur, zu sein. Je schneller er allerdings rannte, desto weiter entfernte sich die rettende Tür und desto näher kam die Nacht.
Sein Herz pochte laut in seinen Ohren. Er wollte nicht von der Nacht verschlungen werden. Dieser Angst hatte er seit der Trennung von Rebecca oft genug in die Augen gesehen. Einfach ins Dunkel zu fallen, ohne Hoffnung auf Rettung. Verschlungen von seinen eigenen Dämonen, die ihn einfach nicht loslassen wollten. Er blieb stehen, atmete tief durch und drehte sich zum Dunkel um.
"Ich habe keine Angst!", rief er entschlossen. Er schloss die Augen, ließ die Dunkelheit über ihn wegbranden. Als seine Lider wieder öffnete, lag die Tür direkt vor ihm. Er stieß sie auf und trat hindurch.
Die Szene wandelte sich blitzschnell. Anstelle des Krankenbettes, das er zu sehen erwartet hatte, blickte Daniel über eine weite Ebene, an deren Ende ein tiefer Abgrund lag. Jan stand davor, mit dem Rücken zum Abgrund – und lief langsam, Schritt um Schritt, darauf zu. Daniel sog entsetzt die Luft ein und winkte Jan hektisch zu. Dieser hob nur müde lächelnd die Hand und winkte zurück. Und lief weiter. Und dann stieg aus dem Abgrund dasselbe Dunkel auf, das zuvor Daniels Weg verschlungen hatte.
"JAN! Bitte bleib stehen!", schrie Daniel und rannte los, doch seine Worte schienen auf dem Weg von seinem Mund zu Jans Ohr ihre Bedeutung zu verlieren, denn Jan lief unbeirrte weiter. Rückwärts auf den Abgrund zu. Doch diesmal war Daniel schneller. MUSSTE schneller sein als der Schatten, der sich Jans bemächtigen wollte. Er würde das nicht zulassen. Und gerade als Jan mit seinem letzten Schritt in den Abgrund trat, war Daniel bei ihm, ergriff seinen Arm und zog ihn zurück – und beide wurden von der Dunkelheit verschlungen.
Schweißgebadet schlug Daniel die Augen auf. Er atmete heftig und sah sich um, im ersten Moment unwissend, wo er sich befand.
"Schon wieder schlecht geträumt?", kam von rechts die ihm mittlerweile vertraute kratzige Stimme des alten Mannes.
"Sie sollten mal deine Schlafmitteldosis anpassen", wurde ihm von der anderen Seite des Raumes zugestimmt. "Du bist ja völlig zugedröhnt. Es ist noch nicht mal acht Uhr Abend und du schläfst seit drei Stunden. Mehr oder weniger."
"Ach komm, wenn sie ihm nichts geben, könnte er doch gar nicht einschlafen", erwiderte der Alte.
"Lieber gar nicht schlafen, als dauernd Albträume zu haben."
"Nur weil du schläfst wie ein Stein und schnarchst wie ein Sägewerk."
"Ich schnarche nicht", erwiderte der junge Journalist in Bett 2 und verschränkte trotzig die Arme.
"Was glaubst du denn, warum wir überhaupt Schlafmittel brauchen", lachte der alte Mann im Bett neben Daniel. Dann wurde er ernst und sah ihn direkt an.
"Wenn du wieder den gleichen Traum hattest wie letzthin, solltest du vielleicht mit jemandem drüber reden. Jemandem, der sich auskennt."
"Nein!", gab Daniel zurück. Er würde sich mit keinem Psychoonkel unterhalten. Der einzige Mensch, den er jetzt brauchte, war Jan. Er drehte sich zur Seite und schwang die Beine aus dem Bett.
"Du gehst wieder zu ihm, oder?", wollte der Journalist wissen. Nick. In seinem Blick lag tiefes Mitgefühl.
"Ich muss wissen, dass es ihm gut geht."
"Zweifelst du daran?" Der Alte sah ihn fragend an.
"Weiß nich'", nuschelte Daniel, während er den Infusionsständer vorsichtig neben sich herschob, an dem der Beutel mit der Kochsalzlösung pendelte wie eine pralle Frucht von einem metallisch glänzenden, toten Baum. Nur dass von dieser Plastikfrucht ein Schlauch den Fruchtsaft direkt in Daniels Vene leitete. Er glitt in seine Badeschlappen, die ihm Becki vorbeigebracht hatte, und der Gedanke an sie versetzte ihm einen tiefen Stich. Trotz allem, was passiert war, kümmerte sie sich immer noch um ihn. Eine kleine Träne lief seine Wange hinunter.
"Ich komme gleich wieder", sagte er – ob an sich selbst oder an seine Zimmergenossen gewandt, konnte er selbst nicht festmachen. Langsam, damit der Schlauch mit der Infusionsnadel in seiner Ader nicht zu heftig wackelte, machte er sich auf den Weg. Glücklicherweise lag Jans Krankenzimmer nicht allzu weit von seinem eigenen entfernt. Dann betrat er den Gang, den er gerade erst im Traum gesehen hatte, allerdings von der anderen Seite aus. Er stand jetzt in dem Teil, den das Dunkel zuerst verschlungen hatte. Wie passend, dachte er bitter. Als Daniel ins Krankenhaus gekommen war, war es Jan gewesen, der ihn täglich besucht hatte – bis er selbst eingeliefert wurde. Zu dem Zeitpunkt hatte sich Daniels Zustand schon wieder halbwegs stabilisiert gehabt, doch seither ging es ihm im gleichen Maße wie Jan schlechter. An sich eine romantische Vorstellung, dass sie so sehr verbunden waren, dass ihre Gesundheit so voneinander abhing. Allerdings stand es wirklich schlecht um Jan und jeder ansatzweise romantische Gedanke verbot sich von selbst.
Als Daniel den Flur entlangschlurfte, kamen ihm mehrere Krankenschwestern und ein Arzt entgegen, die ihn alle mehr oder weniger missbilligend musterten. Ja, dachte Daniel, ich weiß: ich sollte im Bett bleiben. Eine der Schwestern hob sogar etwas verärgert die Augenbrauen und wollte gerade etwas sagen, aber Daniel schüttelte nur den Kopf und flüsterte: "Nur fünf Minuten." Sie atmete geräuschvoll aus, erwiderte aber nichts, sondern lief an ihm vorbei. Sicher hatte sie Patienten, die ihrem Rat eher folgen würden, überlegte Daniel.
Dann stand er vor Jans Tür. Er legte seine Hand auf die Klinke und zögerte einen Moment. Irgendwie war er trotz allem jedes Mal verunsichert, ob er das Ganze durchstehen würde. Ob er die Kraft aufbringen könnte, die Jan im Moment fehlte und die er doch so dringend benötigte. Er atmete tief durch und öffnete die Tür. Daniel hatte schon fast befürchtet, wieder auf Miguel zu treffen, doch Jans Einzelzimmer war tatsächlich leer. Also, natürlich bis auf Jan, der tatsächlich relativ munter in seinem Bett saß und ihn sofort anstrahlte.
"Daniel! Schön, dass du da bist." Daniel musste offenbar noch immer sehr mitgenommen von seinem Traum aussehen, denn Jans Augenbrauen hoben sich besorgt. "Alles okay bei dir?"
Daniel beeilte sich zu nicken, schluckte den dicken Kloß hinunter, der immer in seinem Hals lag, wenn er mit Jan redete, beziehungsweise, wenn er daran dachte, wie es um seinen Freund stand, und sagte: "Ja, alles gut. Ich wollte dich vor dem Schlafengehen nur noch mal sehen." Er setzte ein verlegenes Grinsen auf, von dem er hoffte, dass es Jan von seinen wahren Gefühlen ablenkte. Offenbar klappte das ganz gut, weil sein Freund ebenfalls lächelte und ihn zu sich heranwinkte.
"Komm schon her, was stehst du denn da so angewurzelt an der Tür?" Daniel tat nichts lieber als das, auch wenn jeder Schritt, der ihn näher zu Jan brachte, ihm dessen Zustand offenbarte. Aus der Ferne mochte er relativ fit ausgesehen haben, doch jetzt, wo Daniel direkt vor Jans Bett stand, fiel ihm schon die ungesunde Blässe seiner Haut auf. Er beschloss aber, nichts dazu zu sagen, denn Jan wirkte im Moment halbwegs entspannt und glücklich und ein solches Gespräch würde nur die Stimmung vermiesen. Daher setzte er sich lediglich auf die Bettkante und legte seinen Kopf auf Jans Brust, um dem leisen, aber stetigen Herzschlag darin zu lauschen. Es war ein beruhigendes Geräusch, dessen Gleichmäßigkeit Daniel vor den unruhigen Umständen abschirmte und diese für einige Momente vergessen ließ. Seine innere Anspannung fiel ein Stück weit von ihm ab, während er sich auf das Pochen des geliebten Herzens und das Auf und Ab von Jans Brustkorb konzentrierte.
"Weißt du, was schön wäre?", fragte Jan so unvermittelt, dass Daniels Kopf ruckartig hochfuhr.
"Sorry, ich muss wohl eingenickt sein", meinte er entschuldigend. Er richtete sich auf und zog den Infusionsständer näher zu sich heran.
"Das hab' ich schon gemerkt." Jan lächelte ihn an und versetzte Daniel damit einen tiefen Stich. Wie lange oder wie oft würde er dieses Lächeln noch zu sehen bekommen?
"Also, was wäre schön?"
"Wenn wir nochmal ans Meer fahren würden. Du weißt schon, in den kleinen Ort, wo die Hochzeit war. Und zu der Hütte am Strand, wo wir …"
"Ich weiß", sagt Daniel und presste seine Lippen fest zusammen, als ob das helfen würde, die Tränen zu verhindern, die sich in seinen Augen sammelten. Er ergriff Jans Hand und sah ihm tief in die Augen. "Das wäre wirklich schön."
"Dann sollten wir es tun." Jan hatte sich aufgerichtet und in seinem Blick spiegelte sich wilde Entschlossenheit. "Lass uns von hier verschwinden."
"Aber …"
"Nix aber! Ich hab' da lange drüber nachgedacht und es ist das Sinnvollste, was wir machen können. Wie lange bin ich jetzt hier? Zwei Wochen? Ich will nicht hier sterben. Ich …" Ein Hustenanfall unterbrach ihn. Als er vorüber war, war sein Blick wirr und fast gebrochen.
"Du wirst gar nicht sterben, hörst du! Ich brauche dich doch."
"Du alter Quatschkopf", flüsterte Jan. "Wir wissen beide, was passieren wird. Könntest du mir nicht vielleicht diesen einen letzten Gefallen tun. Nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, bist du mir was schuldig." Er grinste matt. Daniel sah ihn verzweifelt an.
"Aber hier bekommst du alles, was du brauchst. Wenn wir weggehen, dann… "
"Dann ist es schneller vorbei. Und ich durfte ein letztes Mal glücklich sein. Ist das denn so schlimm?"
"Ich will dich aber noch nicht aufgeben."
"Dir bleibt keine andere Wahl, schätze ich." Mit diesen Worten drehte er sich zur Seite und war augenblicklich eingeschlafen. Daniel starrte das Fenster gegenüber an. Konnte er das wirklich machen? Wollte er das? Seine Überlegungen wurden unterbrochen, als sich die Tür öffnete und Jans Eltern sowie seine Schwester eintraten. Für einen Moment erschien auf dem Gesicht von Jans Vater ein leicht missbilligender Ausdruck, doch der war sofort wieder verschwunden.
"Sollen wir später noch einmal wiederkommen?", fragte er vorsichtig.
"Nein", sagte Daniel. "Es ist sogar ganz gut, dass ihr da seid." Dann erläuterte er ihnen Jans Plan.
"Kommt überhaupt nicht in Frage!", begehrte Jans Vater auf. "Er muss hier bleiben, wo er die Versorgung bekommt, die er braucht."
"Das habe ich ihm auch gesagt, aber er will das nicht hören."
"Ich finde das verständlich", murmelte Marlies und sah mit leerem Blick zum Bett ihres Bruders.
"Was meinst du?", fragte Herr Abelt.
"Ach komm schon, würdest du nicht auch lieber am Strand s- … also …", sie schluckte, atmete tief durch und verbesserte sich, "… möchtest du es nicht auch so schön wie möglich haben, wenn es so weit ist?"
"Jan wird NICHT sterben!"
Marlies schüttelte resignierend den Kopf. "Wieso willst du das nicht akzeptieren?"
Ihr Vater starrte sie unverwandt an. "Ich lasse meinen Sohn nicht …"
"Ach, JETZT ist er plötzlich dein Sohn?", fauchte Marlies verbittert. "All die Jahre, wo er nichts anderes gewollt hätte, als das von dir zu hören, bist du stumm geblieben. Und jetzt fällt es dir plötzlich ein, oder was?"
Herr Abelt antwortete nicht sofort. Daniel sah den feuchten Film, der sich über die Augen von Jans Vater gelegt hatte, und vermutete, dass er schwieg, weil seine Stimme sonst gebrochen wäre. Schwäche war nach wie vor nichts, was er leichtfertig zeigen würde.
"Es tut mir leid", kam es dann als ein leises Flüstern über seine Lippen. Marlies schnaubte nur und schüttelte mit dem Kopf. Als sie etwas erwidern wollte, legte Daniel ihr seine Hand auf den Arm und deutete ihr stumm an, es gut sein zu lassen.
"Was meinen Sie?", fragte Jans Vater an Daniel gewandt, ehe er sich seiner Wortwahl bewusst wurde. "Äh, was meinst du?" Sie hatten schon vor einigen Tagen zum Du gewechselt. "Denkst du, dass er gehen sollte?"
"Ich habe meine Zweifel", begann Daniel und ein erleichtertes Lächeln huschte über das Gesicht von Herrn Abelt. "Aber ich glaube, Marlies hat Recht." Das Lächeln erstarb.
"Aber dann, dann stirbt er … das lasse ich nicht zu. NIEMALS!"
Jans Mutter trat vor und legte ihrem Mann beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. "Horst", sagte sie nur und wartete, bis er ihr in die Augen blickte. "Lass es gut sein." Seine Lippe bebte leicht, als er sie fragend ansah. Sie nickte nur leicht und nahm ihn dann in den Arm. "Aber er ist doch unser Sohn", murmelte er, als würde dieser Umstand etwas an der Situation ändern. Er klang irgendwie wie ein kleines Kind, das nicht verstehen konnte, dass sein Lieblingsspielzeug nicht mehr da war.
"Dann sollten wir mit dem Arzt so bald wie möglich alles klären", begann Daniel behutsam und sah lange von einem zum anderen. Mittlerweile hatten sie alle Tränen in den Augen und nickten nur zaghaft.
Es dauerte keine zwei Tage, bis Daniel erwartungsgemäß Besuch von einem völlig entfesselten Miguel bekam. Glücklicherweise waren seine beiden Zimmergenossen nicht anwesend – die Szene ersparte er ihnen gerne.
"Was fällt dir eigentlich ein?!", keifte Miguel, kaum dass er zur Tür hereingekommen war.
"Ich weiß nicht, was du meinst", log Daniel gleichgültig.
"Ach komm schon! Verarschen kann ich mich selbst! Wie KANNST du es wagen, Jan zu entlassen? Wie kannst …"
"Jan hat sich selbst entlassen. Und seine Familie hat dem zugestimmt."
"Ja, weil du es ihnen eingeredet hast, du mieser kleiner …"
"Jetzt pass mal gut auf, du blöder Idiot!", schrie jetzt auch Daniel, weil ihm Miguels Gehabe ganz allmählich auf die Nerven ging. "Akzeptier endlich, dass du nicht mehr mit Jan zusammen bist, klar? Er geht dich nichts mehr …"
"Natürlich geht er mich was an! Ich liebe ihn und er …"
"Redest dir das immer noch ein?"
"Hätte er mich sonst gerettet?"
"Oh Mann, deine Logik ist so verquer! Er hat dich gerettet, weil man das halt so macht, wenn jemand direkt vor seinen Augen in den Tod springen will! Du hast deinen Platz in der Klapse echt zurecht!"
Miguel sprang nach vorne und packte Daniel an den Schultern. "Fick dich, Daniel! Du hast ihn doch gar nicht verdient!"
"Ach ja, aber du schon, oder was? Du hast ihn in seiner schlimmsten Zeit allein gelassen. Und wenn nicht ein lukrativer Deal dabei rausgesprungen wäre, wärst du auch nie zu ihm zurückgekommen!"
Als Miguels Gesichtszüge entgleisten, lächelte Daniel triumphierend. "Ja, da schaust du blöd, was? Ich weiß von der Abmachung wegen des Bauprojekts. Anette hat mir alles davon erzählt, nachdem das ganze passiert ist. Ich könnte mir vorstellen, dass Jan das nicht toll finden wird und …"
"Das würdest du nicht tun!"
"Ach nein? Hmm, ja du hast Recht. Das will ich ihm eigentlich nicht zumuten. Aber vielleicht verplappere ich mich irgendwann, falls du uns nicht endlich in Ruhe lässt, du verdammter Freak!"
Miguels Mundwinkel zuckten und er öffnete und schloss mehrmals den Mund, ohne wirklich etwas zu sagen. Dann ballte er seine Fäuste so fest zusammen, dass seine Knöchel knackten. "In Ordnung", flüsterte er kaum hörbar.
"Wie bitte?" Daniel legte die Hand an sein Ohr und sah Miguel triumphierend an. "Wie war das?"
"In Ordnung", wiederholte er. "Du hast gewonnen."
Daniel schüttelte nur traurig den Kopf. "Siehst du, genau das ist das Problem: Das hier ist kein Spiel, verdammt. Es gibt keine Sieger oder Verlierer, nur Beteiligte. Und ich will nicht, dass du noch länger an unserem Leben beteiligt bist. Du hast uns lange genug auseinandergehalten, das ist jetzt vorbei."
"Ich liebe ihn aber."
"Wenn das wirklich stimmen würde, dann wüsstest du, was du zu tun hast", sagte Daniel ruhig. "Und dann weißt du auch, warum wir Jan entlassen haben. Wir müssen ihn …"
"Ich weiß. ICH WEISS!!", schrie Miguel plötzlich und mit einem Mal begann er hemmungslos zu weinen. Daniel war von diesem Gefühlsausbruch so überwältigt, dass er nichts darauf erwidern konnte. Selbst als Miguel sich ihm an den Hals warf und an seiner Schulter schluchzte, war er immer noch starr vor Schreck.
"Ich weiß, dass wir ihn gehen lassen müssen. Aber ich kann das nicht", jammerte Miguel. Daniel hätte wegen der Ironie der Geschichte fast laut aufgelacht, verkniff es sich jedoch. Miguel und Jans Vater mochten die wohl unterschiedlichsten Lebensentwürfe haben und sich wahrscheinlich gegenseitig verachten, aber in ihrem Unwillen, Jan gehen zu lassen, waren sie sich unheimlich ähnlich. Vor allem, weil die Motive dafür beinahe dieselben waren. Jeder von ihnen hatte Jan im Stich gelassen und daher jetzt das Gefühl, nicht genügend Zeit mit ihm verbracht zu haben. Daher konnten es beide nicht ertragen, dass die letzten Tage von Jan jetzt Daniel gehören sollten und dass die Zeit, die sie vielleicht noch mit Jan genießen konnten, schmerzlich knapp bemessen war. Aber da durfte er kein Mitleid mit ihnen haben. Sie hatten ihre Chance gehabt und nicht genutzt. Jetzt war seine Zeit.
Jan
Die Geräusche der Umgebung drangen nur gedämpft in sein Bewusstsein. Er sah nach oben und versuchte herauszufinden, ob er die Stelle von hier unten aus erkennen konnte. Den Ort, wo er vor gerademal dreißig Minuten Miguel das Leben gerettet hatte. Aber der feine Nieselregen, der gerade eingesetzt hatte, erlaubte es, nur blinzelnd nach oben zu sehen, so dass Jan nichts weiter erkannte als die Fassade des Hochhauses. Er zog die Rettungsfolie etwas enger an sich, die ihm einer der Sanitäter umgelegt hatte. Jan versuchte sich an die Geschehnisse zu erinnern, aber ihm kamen nur noch Bruchstücke ins Gedächtnis: Miguel, wie er Jans Hand hielt und dann ein "Danke" hauchte; im nächsten Erinnerungsfetzen hingen sie schon beide über dem Abgrund, Jan, der Miguels Arm ergriffen hatte und sich verzweifelt mit den Beinen am Geländer festhakte, und Miguel, der immer wieder flehte, Jan solle ihn doch endlich gehen lassen.
Doch er hatte nicht daran gedacht, das zu tun. Einen solchen feigen Ausweg wollte er Miguel nicht nehmen lassen. Als ob Selbstmord je die Lösung für irgendwelche Probleme wäre! Er hatte Miguel zugerufen, was dieser denn meinte, wie er sich fühlen würde, wenn Miguel sich seinetwegen in den Tod gestürzt hätte. Immerhin hätte Jan sich sein ganzes Leben lang Vorwürfe gemacht. Aber Miguel sah das nicht ein, rief immer wieder, dass Jan ihn gehen lassen sollte.
Im nächsten Erinnerungsfetzen, den sein adrenalinaufgepeitschtes Gedächtnis abspeichern hatte können, hatte Jan es irgendwie geschafft, sie beide über das Geländer zu ziehen, und sie blieben auf dem kiesbedeckten Dach liegen, schweratmend und vollkommen erschöpft. Offenbar musste er danach ohnmächtig geworden sein, denn als nächstes war er von einem Haufen Rettungssanitäter umgeben, die sich besorgt um sie herum postiert hatten. Als Jan die Augen aufgeschlagen hatte, war sofort ein junger Sanitäter zu ihm gekommen und hatte ihn gefragt, ob es ihm gut ginge. Blöde Frage! Jan hatte nur wirr umhergeblickt und als er Miguel nirgends sehen konnte, war er panisch geworden. Hatte er nur geträumt, dass es ihm gelungen war, ihn zu retten? War Miguel vielleicht doch in die Tiefe gestürzt und hatte er selbst danach einen Schock erlitten? Aber auf Nachfrage erklärte ihm der Sanitäter, dass Miguel schon in den Wagen nach unten gebracht worden war. Dann half er Jan auf und legte ihm die Rettungsfolie um – immerhin war es Ende November, es nieselte und Jan trug nur ein dünnes Shirt.
"Wieso sind Sie hier?", hatte Jan sich fragen hören, ohne wirklich an der Antwort interessiert zu sein. Der Mann hatte ihm erklärt, dass ein Passant auf der Straße das ganze Drama beobachtet und den Notruf gewählt hatte. Sie waren in betretenem Schweigen mit dem Aufzug hinuntergefahren, weil Jan Miguel noch einmal sehen wollte, bevor dieser ins Krankenhaus gebracht werden würde. Anscheinend hatte er einen Nervenzusammenbruch erlitten, etliche Beruhigungsmittel verabreicht bekommen und sollte nun intensiv betreut werden. Was einem der Status "reichster Bewohner der Stadt" nicht alles ermöglichte! An die eigentliche Begegnung mit Miguel erinnerte sich Jan dagegen nicht mehr.
Er blinzelte noch mal die feinen Regenperlen aus den Augen, legte die Rettungsfolie ab und wollte zurück zum Haus gehen. Doch der junge Sanitäter hielt ihn zurück.
"Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht? Wir können Sie gerne mitnehmen zur Beobachtung. Das Ganze muss für Sie auch sehr belastend gewesen sein."
"Vielen Dank, aber es geht mir gut", sagte Jan. Der Sanitäter lächelte ihn an und nickte. Eigentlich, dachte Jan, sah er ganz süß aus und es hatte sich gut angefühlt, dass gerade der sich um ihn gekümmert hatte. Er schüttelte den Kopf. Lächerlicher Gedanke! Der Einzige, von dem er wollte, dass er sich jetzt um ihn kümmerte, war Daniel. Jan fragte sich, ob das Miguels Absicht gewesen war: Daniel aus seinem Kopf zu verdrängen. Wenn ja, dann war es ihm zumindest für eine Weile gelungen. Aber jetzt kam das Bewusstsein zurück, dass er und Daniel ja ab jetzt zusammen waren und eine Welle des Glücks durchströmte ihn. Im Aufzug angekommen, zückte er sein Handy und wählte Daniels Nummer. Sein Finger schwebte bereits über der Anruftaste, doch dann hielt er inne.
Daniel hatte bestimmt gerade andere Dinge zu tun, als sich mit ihm zu beschäftigen. Immerhin hatte seine Frau ihn in flagranti erwischt – und dabei war es dann auch egal, dass Daniel bereits vorgehabt hatte, es ihr zu beichten. Das konnte er ihr gegenüber sicherlich viel beteuern, doch Jan bezweifelte stark, dass sie ihm glauben würde. Wenn man einmal erwischt worden war, ließ es sich leicht davon reden, dass man es eigentlich bereits gestehen wollte. Also steckte Jan das Handy wieder ein, trat aus dem Aufzug und ging zurück in seine Wohnung. Er starrte auf das Sofa, wo er und Daniel gerade erst noch dabei gewesen waren einen weiteren wichtigen Schritt für Daniel zu gehen, bevor sie unterbrochen worden waren und das Drama seinen Lauf genommen hatte.
Trotzdem musste Jan lächeln, wenn er an diesen Moment dachte – zumindest an den Moment, bevor Miguel und Rebecca hereingeplatzt waren. Er hatte auf Daniels Schoß gesessen und dessen Erregung durch ihrer beiden Hosen hindurch gespürt, hatte seine weiche Haut berührt und ihn endlich küssen können, ohne dass der danach wie elektrisiert zurückgeschreckt wäre. Es hätte alles so schön sein können.
Jan trat an die große Fensterscheibe, an der wie so oft in letzter Zeit Regentropfen herabrannen, und starrte von dort aus nach unten. Der Gehweg direkt unter dem Haus war von hier oben nicht zu erkennen, dort wo es ohne Jans Eingreifen sicherlich ein großes Polizeiaufgebot gegeben hätte. Und eine breiige Masse, die einmal Miguel gewesen war. Zum Glück war es nicht so weit gekommen. Jan fragte sich immer noch, was Miguel eigentlich dazu getrieben hatte. Und zum ersten Mal mischte sich auch Zorn mit in seine Gefühle, wenn er über das Geschehene nachdachte. Miguel hatte es tatsächlich geschafft, in Jan Schuldgefühle auszulösen, weil er ihn verlassen hatte. Jan lachte bitter auf. Diese Ironie!
Immerhin hatte Miguel ihn zuerst verlassen und sich einen Dreck um sein Gefühlsleben geschert. Warum sollte es andersherum nicht genauso sein? Warum konnte er das Ganze nicht einfach abhaken und die Akte Miguel abschließen? Jan wusste eigentlich schon warum. Weil Miguel es durch diese Tat geschafft hatte, das Ganze von einem normalen Trennungsszenario in ein waschechtes Drama zu verwandeln. Ja, Drama hatte er schon immer gekonnt. Jan musste unwillkürlich doch lachen. Dann zog er das Handy aus der Tasche und wählte Daniels Nummer. Er meldete sich relativ schnell.
"Ja. Hey, du es ist grad schlecht. Ich bin bei …"
"Miguel hat gerade versucht, sich umzubringen." Was half es, um den heißen Brei herumzureden?
"ER HAT WAS? Ja okay, bleib da, ich bin gleich bei dir." Damit war das Gespräch auch schon beendet.
Jan überlegte, was er machen sollte, bis Daniel eintreffen würde. Da fiel sein Blick auf den Stapel mit Post, den er am Morgen mit hochgebracht, aber dann nicht mehr gelesen hatte, als Daniel unvermittelt in der Tür gestanden und sich ihm um den Hals geworfen hatte. Jetzt ging er die Briefe schnell durch – zum Großteil Rechnungen oder Werbung –, bis er den Umschlag aus kunstvoll geprägtem Papier sah und dessen Absender las. Seine Augen flogen gerade nur so über die Zeilen des Briefes; er konnte es nicht glauben. Also rief er den Absender an.
"Sänger", meldete sich der.
"Hey, ich hab' gerade deine Einladung bekommen. Das hatte ich ja fast vergessen. Noch mal herzlichen Glückwunsch!"
"Mensch Jan, danke schön", erwiderte Friedrich erfreut. "Kommst du?"
"Also ich würde ja wirklich gerne, aber hältst du das für eine gute Idee? Mein Vater …"
"Lass das mal unsere Sorge sein. Ich hab' das mit Marlies geklärt und sie ist einverstanden. Sie sagt auch, dass euer Vater sich wie ein Idiot verhält und sollte er uns deswegen irgendwie dumm kommen, wissen wir, wem unsere Loyalität gilt."
"Ist … ist Marlies auch da?" Jans Stimme wurde belegt. Das, was Friedrich da gerade gesagt hatte, hatte ihn zutiefst bewegt.
"Ja Moment." Friedrich musste die Hand auf das Telefon gelegt haben, denn Jan vernahm nur ein gedämpftes "SCHATZ!", das wahrscheinlich lauter war, als es durch das Kabel in Jans Hörer ankam.
"Hey, kleiner Bruder. Na wie geht's dir so?"
"Danke, danke, danke, danke, danke, danke", war alles, was Jan sagen konnte.
"Hey, hey, hey. Womit hab' ich das denn verdient?", lachte Marlies.
"Dafür, dass du mich zu eurer Hochzeit einlädst, egal, ob das dem Alten schmeckt oder nicht. Auch, wenn er dich wahrscheinlich dafür enterben und ächten wird. Dann wird Andi sein einziges Kind bleiben."
"Oh, ich denke, dass er sich das doch gut überlegen sollte, oder?" Sie lachte und Jan musste mit einstimmen. Sie hatten ihren Bruder beide nie wirklich leiden können, hatten sich oft gegen den "großen" Bruder verbündet – man musste ja schließlich zusammenhalten.
"Nein, jetzt mal ehrlich, hast du dir das gut überlegt?"
"Jan, ich hab' in dieser Sache schon viel zu lange nichts gesagt. Ich finde es einfach unmöglich, dass du so ausgeschlossen wirst, nur weil ihm dein Lebensstil nicht passt. Ganz ehrlich, er sollte froh sein, dass du beständig mit einer Person zusammenbleiben kannst und nicht wie Andi das ganze Geld für immer neue Zwei-Wochen-Freundinnen rausschmeißt. Aber das ist ja 'männlich'." Jan konnte direkt sehen, wie sie die Augen verdrehte. Er musste lachen.
"Also mach dir da mal gar keine Gedanken. Apropos, Friedrich hat mir erzählt, dass es wieder jemand neues in deinem Leben gibt. Wie läuft das?"
"Ja, es wird langsam", gab sich Jan geheimnisvoll.
"Du musst ihn uns unbedingt vorstellen, wenn ihr kommt."
"Moment mal", warf Jan erstaunt ein. "Ich soll Daniel mitbringen??"
"Ja hast du die Einladung nicht gelesen? Da steht doch extra drin 'mit Begleitung'. Denkst du, das haben wir zum Spaß reingeschrieben?"
"Ich denke, dass das vielleicht zu viel für …"
"Hör doch endlich auf, Rücksicht auf diesen verbohrten alten Idioten zu nehmen, Jan!" Jan war erstaunt, dass Marlies plötzlich so leidenschaftlich an dieses Thema heranging, wo sie sich all die Jahre schon eher zurückgehalten hatte. "Du hast jemanden in deinem Leben, der dich glücklich macht. Warum solltest du ihn dann nicht an unserem glücklichsten Tag mitbringen. Das wäre ja unfair dir gegenüber." Sie lachte wieder.
"Das ist wirklich eine unbestechliche Logik", gab Jan ebenfalls lachend zurück.
"Du, hör mal, Fritz wollte ich noch was fragen." Fritz. Jan musste unwillkürlich schmunzeln. So hatte er Friedrich früher immer genannt, weil er wusste, dass dieser das überhaupt nicht leiden konnte.
"Klar, mach's gut."
"Danke, du auch. Wir sehen uns. Ich bin ja schon echt auf Daniel gespannt."
"Na, überzeugt?", meldete sich wieder Friedrich zu Wort.
"Ich denke schon", meinte Jan fröhlich. "Du wolltest mich noch was fragen?"
"Ja. Eigentlich wollte ich heute bei dir vorbeikommen und es persönlich machen, aber wenn du jetzt schon mal dran bist … ich möchte gerne, dass du mein Trauzeuge bist."
Jan blieb der Atem weg und er konnte nichts antworten.
"Jan? Noch da?"
"Ja … jajajaja … bin noch da."
"Und?"
"Das ist … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll."
"Ich akzeptiere eh nur eine Antwort."
"Na, wenn das so ist: Ja, natürlich gerne. Aber hast du dir das gut überlegt? Das wird meinem Va-"
"Das ist nicht dein Problem, ja?"
"Aber es wird ihm schon nicht gefallen, dass ich da sein werde. Mit Daniel. Wenn ich dann auch noch dein Trauzeuge bin, werden mich alle sehen. Mich, den verstoßenen Sohn. Das wird ihm so peinlich sein. Das wird er dir ewig übelnehmen, ich schwör's dir."
"Soll er doch. Wenn ich möchte, dass ein guter Freund mein Trauzeuge ist, dann hat er da nichts mitzureden. Basta!"
Jan wollte gerade etwas erwidern, als es an der Tür klingelte.
"Du hör mal, ich muss leider auflegen. Daniel ist hier."
"Ah ja, verstehe", meinte Friedrich und Jan meinte, sein süffisantes Grinsen direkt vor sich zu sehen. "Viel Spaß."
"Idiot", meinte Jan und legte auf. Dann ging er zu Tür, öffnete sie und wäre beinahe von Daniel über den Haufen gerannt worden.
"Wie geht es dir? Alles okay? Wie geht's dir? Warum sagst du denn nichts? Stehst du unter Schock? Sollen wir ins Krankenhaus fahren? WARUM SAGST DU DENN NICHTS?"
Jan musste lachen. "Weil du mich ja gar nicht zu Wort kommen lässt." Ganz offensichtlich war das nicht die Reaktion gewesen, die Daniel erwartet hatte, denn sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen Verwunderung und leichter Verärgerung.
"Was genau ist so lustig?", fragte Daniel und seine Miene verdunkelte sich etwas. Jans Lachen verschwand von seinen Lippen. "Könntest du mir vielleicht mal sagen, was hier eigentlich los ist? Ich hab' Becki vollkommen blöd zu Hause stehen lassen, als du mich angerufen hast, und jetzt stehst du vor mir und grinst wie der glücklichste Mensch der Welt."
"Oh ja, Becki ist natürlich wieder wichtiger." Jan wusste im selben Moment, dass das ein unnötiger Satz gewesen war.
"Wir waren mitten in einer Aussprache und wenn du dich nicht so fertig angehört hättest, wäre ich jetzt wohl auch nicht hier."
"Hey, hey, ist ja gut." Jan hob beschwichtigend die Hand und legte sie Daniel auf die Schulter. "Als ich dich angerufen hab', da ging's mir auch mies. Ich meine, Miguel hat versucht, sich unseretwegen umzubringen. Da hatte ich schon extreme Schuldgef-"
"Das ist ja unglaublich!", brach es aus Daniel heraus. "Das hat er ja gut hinbekommen!"
"Was?" Nun war es Jan, der verwundert dreinblickte.
"Naja, dass er nichts anderes wollte, als dass du dich schlecht fühlst. Stell dir mal vor, wie's dir ginge, wenn er es geschafft hätte! Das war nichts anderes als ein letzter und feiger Versuch, unsere Beziehung zu torpedieren."
"Ich halte es eher für eine Verzweiflungst-"
"Ja, natürlich. Und das wusste er!"
"Was?"
"Dass du dir Vorwürfe deswegen machst, dass er wegen uns so verzweifelt ist. Jan, sowas passiert andauernd. Leute werden für andere verlassen. Aber die bringen sich nicht gleich um. Miguel wollte nur das Drama. Er wollte dich mitreißen in den Abgrund, nur weil er dich nicht haben kann. Weil ich dich jetzt habe." Damit kam Daniel einen großen Schritt auf Jan zu und umarmte ihn. Eine Träne rollte über seine Wange. "Ich hätte dich verloren, wenn er sich umgebracht hätte", hauchte er ängstlich.
"Das stimmt doch nicht", erwiderte Jan, doch tief in sich wusste er, dass es sehr wohl stimmte. Da Daniel nichts darauf sagte, war ihm klar, dass Daniel wohl bewusst war, wie Recht er hatte. Wenn Miguel sich umgebracht hätte, hätte das für immer wie ein Schatten auf der Beziehung zwischen ihnen gelegen.
"Magst du mir jetzt vielleicht mal sagen, warum du trotzdem so gegrinst hast, als ich reinkam?", fragte Daniel.
"Friedrich hat mich zu seinem Trauzeugen gemacht."
Daniels Miene hellte sich augenblicklich auf. "Das ist ja eine Spitzennachricht! Und was ist mit deinem Vater?"
"Es ist ihnen egal, was er davon hält. Und mir auch. Ich will, dass du mitkommst auf die Hochzeit."
Daniel lockerte den Griff um Jan und sah ihn skeptisch an.
"Hältst du das für eine gute Idee?"
"Ja, wieso nicht? Ich will, dass alle sehen, wie glücklich ich bin."
"Ja, aber dein Vater …"
"Was ist mit ihm?"
"Naja, wenn er mich bei dir sieht … bei seiner Einstellung, da … ich …"
"Soll das heißen, dass dir dein Job wichtiger ist als ich?"
"Nein, aber …"
"Daniel, da gibt's kein 'Aber'."
"Ich finde schon. Jan, du musst doch verstehen, dass ich nicht einfach auf das Einkommen verzichten kann! Ich habe eine Familie."
"Ich dachte, ich bin jetzt deine Familie."
"Das ändert nichts an meiner bestehenden Familie", meinte Daniel und sah Jan tief in die Augen. "Ich habe mich in dich verliebt, ich will mit dir zusammen sein, aber ich kann und darf meine Verpflichtungen nicht vergessen."
"Stehen die uns dann immer im Weg, bei allem, was wir machen wollen? Darf ich immer nur die zweite Geige spielen?"
"Seit wann bist du eigentlich so egoistisch?", fragte Daniel aufbrausend und ging auf Abstand zu Jan. Dieser fragte sich im Moment genau dasselbe. Wieso legte er es gerade darauf an, mit Daniel zu streiten, wo er doch eigentlich mit ihm glücklich sein könnte? Also verkürzte er schnell den Abstand zu Daniel und legte die Arme um seinen Hals.
"Du hast Recht. Wir sollten uns deshalb nicht streiten. Ich verstehe, dass die Situation schwierig ist, und ich will nicht, dass du das nur für mich machst. Wenn du denkst, es wäre besser so, dann ist es das vermutlich auch."
"Okay, gut. Ich werd' es mir überlegen, ja?"
"In Ordnung. Und jetzt sollten wir da weitermachen, wo wir vorhin unterbrochen worden sind", meinte Jan grinsend und zog Daniel sein Shirt über den Kopf.
Daniel
"Wie geht es dir, Papa?", fragte Jakob und seine kleine Hand griff nach der von Daniel.
"Schon viel besser, mein Großer", erwiderte Daniel und rang sich ein Lächeln ab, nach dem ihm überhaupt nicht zumute war.
"Wann kommst du wieder nach Hause?", wollte Lisa wissen, die auf der anderen Seite von Daniels Bett stand. Auf ihrer Schulter ruhte die Hand von Becki, deren Miene regelrecht versteinert war – zumindest solange keines der beiden Kinder zu ihr hochsah.
"Darüber haben wir doch schon gesprochen, mein Schatz", flüsterte Daniel. "Mama und ich machen gerade eine Pause, und in der Zeit ist es besser, wenn ich woanders wohne."
"Aber du fehlst mir", schluchzte seine Tochter und vergrub ihr Gesicht in seiner Bettdecke.
"Kommt, ihr zwei. Oma geht mit euch mal ein Eis holen, ja?" Becki nahm die beiden an die Hand und brachte sie nach draußen zu ihrer Mutter. Als sie zurückkam, lag ein Schatten auf ihrem Gesicht.
"Bist du zufrieden, Daniel?"
"Was meinst du?"
"Du siehst doch, wie es sie verletzt, dass du weg bist. Wie kann man nur so egoistisch sein?"
"Wenn ich dazu auch mal was sagen dürfte", kam es aus Bett Nummer eins. "Wie können Sie so egoistisch sein, Ihrem Mann sein Glück vorenthalten zu wollen? Und wie… "
"Entschuldigen Sie bitte, aber ich denke nicht, dass Sie das etwas angeht", erwiderte Becki wütend. "Das ist eine Sache zwischen mir und meinem Mann."
"Das mag vielleicht so sein, aber ich denke trotzdem, dass Sie ihn zu hart verurteilen. Immerhin hat er auch einiges durchgem-"
"Und was ist damit, was ich durchgemacht habe?" Beckis Stimme war nur noch ein ersticktes Schreien. "Von einem Tag auf den andern stellt er hier unser ganzes Leben auf den Kopf und alle Welt erwartet von mir, dass ich das einfach akzeptiere und weitermache wie bisher. Ich liebe ihn nun mal, verdammt. Wieso versteht eigentlich niemand, dass mir das unendlich wehtut?"
"Aber wenn Sie ihn lieben, können Sie ihm dann nicht einfach sein Glück gönnen?"
"Das sagt sich so leicht. Und es wäre auch ganz sicher leichter, wenn unsere Kinder nicht da wären. Wie sollen wir denen das bitte erklären? Nein, der Papa kommt nicht mehr nach Hause, weil er jetzt bei einem Mann lebt?"
"Warum nicht? Ich denke, dass ihnen momentan noch nicht klar sein würde, was das genau bedeutet. Von daher ist die Wahrheit vielleicht die beste Wahl."
"Wie ich schon sagte: Ich denke nicht, dass Sie das etwas angeht." Damit wandte sie sich wieder an Daniel. "Also, hör zu. Ich fahr jetzt erst mal mit den Kindern ein paar Tage zu meinen Eltern. Danach sehen wir weiter. Gute Besserung." Dann verschwand sie ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer. Daniel starrte unglücklich zur Decke hinauf.
"Ich habe alles kaputt gemacht", seufzte er.
"Weißt du, was ich davon halte?", fragte der junge Journalist. "Ich stimme Holger hier voll und ganz zu. Deine Frau hat kein Recht, dir Schuldgefühle einzureden, nur weil du glücklich sein willst. Sie würde das Gleiche machen, wenn sie sich verliebt hätte. Und dabei ist es ganz egal, ob du jetzt eine andere Frau oder einen Mann liebst."
"Danke, Leute. Ich weiß das leider alles selbst, aber es macht das Ganze trotzdem nicht einfacher." Daniel schwang seine Beine aus dem Bett und trippelte zum Badezimmer. Er verschloss die Tür hinter sich, stützte sich mit beiden Händen am Waschbecken auf und starrte in den Spiegel. Sein Ebenbild erwiderte den Blick aus dunklen, eingesunkenen Augen. Seine Haut war blass geworden und der Mangel an Bartpflege gab seinem Gesicht das Aussehen eines gehetzten Tieres.
Daniel musste husten. Er hielt sich seine Hand vor den Mund, weil er genau wusste, was passieren würde, und er wollte nicht das Badezimmer verschmutzen. Er behielt Recht, denn als er seine Finger vor die Augen hochhob, glänzten sie blutrot. So hatte es angefangen und war seit seinem Aufenthalt hier immer schlimmer geworden. Weder Becki noch Jan oder seine beiden Zimmergenossen wussten darüber Bescheid und er selbst hatte auch noch keine Auskunft von seinem Arzt darüber erhalten, was das Ganze bedeutete. Aber er hatte so eine Ahnung. Die Dunkelheit machte sich bereit, ihn zu verschlingen.
"Was willst du denn hier?" Daniels Blick verfinsterte sich, als er Jans Zimmer betrat und sein Blick auf die Person fiel, die über Jans Bett gebeugt dastand. Als diese zuerst nicht reagierte, wiederholte er seine Frage und versuchte, dabei einen möglichst verachtungsvollen Tonfall anzuschlagen.
"Sehen, wie es ihm geht." Miguel hielt Jans Hand, sah aber nicht auf und würdigte Daniel keines Blickes.
"Ich glaube nicht, dass er das möchte."
"Daniel", sagte Miguel im Tonfall einer Mutter, die mit einem störrischen Teenager redete und wusste, dass ihre Worte gegen eine Wand aus Ablehnung prallen würden. Er lächelte. "Ich denke, das ist ganz genau das, was er möchte. Immerhin hat er mir das Leben gerettet."
"Wüsste nur zu gerne wieso", murmelte Daniel leise.
"Was?"
"Ach nichts."
Miguels Blick ließ keinen Zweifel daran, dass er genau verstanden hatte, was Daniel gesagt hatte. Die Hand, die nicht nach Jan gegriffen hatte, ballte sich knackend zu einer Faust.
"Was ich eigentlich meinte war: Was tust du hier? Haben sie dich schon wieder rausgelassen, oder was?" Daniel verschränkte die Arme vor der Brust, soweit es der Infusionsschlauch zuließ.
"Ach naja, weißt du", begann Miguel und setzte ein süffisantes Grinsen auf. "Es hat schon gewisse Vorteile, wenn man zu den größten Wohltätern der Einrichtung gehört, in der man untergebracht ist."
"Einrichtung?!" Daniel schnaubte verächtlich. "Und ich dachte, das Gute an einer Klapse wäre, dass die Irren da drinnen bleiben und uns in Ruhe lassen."
"Ich bin nicht irre!", fauchte Miguel und seine Augen begannen zu blitzen.
"Du wolltest dich vor Jans Augen umbringen, verdammt!" Daniel musste mit sich kämpfen, um nicht komplett auszurasten. "Wenn er nicht schnell reagiert und dich noch erwischt hätte, wäre ein großer Teil von dir jetzt Teil des Straßenbelags."
"Und du einer der ersten, die darauf herumgetrampelt wären."
"Ich …" Daniel verstummte. Sie wussten beide, dass jedes Abstreiten nur eine Lüge gewesen wäre.
"Tja, und da wundert es dich, dass ich sehen will, wie es meinem Lebensretter geht. Nachdem du ihn so im Stich gelassen hast."
Daniel zog zischend die Luft ein. Miguel grinste. Er wusste, dass das Daniels wunder Punkt war.
"Das ist nicht wahr!"
"Vielleicht nicht. Aber es war doch so, dass du nicht bei ihm warst, als es passiert ist, oder?"
"Ich war selber hier", presste Daniel hervor und musste sich jetzt beherrschen, nicht zu weinen.
"Obwohl es ihm nicht gut ging. Tststs." Miguel schüttelte gespielt vorwurfsvoll den Kopf.
"Raus!"
"Ich denke nicht, dass …"
"RAUS HIER!", brüllte Daniel los.
Miguel hob abwehrend die Hände. "Nicht so laut, die anderen Pat-"
"Das ist mir SCHEISSEGAL! Verschwinde! Endlich! Aus! Unserem! Leben!", schrie Daniel und bei jedem Wort knallte eine Faust gegen Miguels Brust.
"Dank Jan gehöre ich da jetzt dazu. Ob du willst oder nicht." Dann ging er tatsächlich. Daniel sank zitternd auf Jans Bett und begann nun doch haltlos zu schluchzen. Erst als er eine flüchtige Bewegung wahrnahm und spürte, wie Jans Hand nach seiner griff, hörte er auf.
"Hey", sagte Jan mit schwacher Stimme. Es war kaum mehr als ein Flüstern.
"Hab' ich dich geweckt?", fragte er sorgenvoll.
"Nein, ich war schon wach, bevor du die Station zusammengeschrien hast." Jan lächelte kraftlos.
"Wie geht's dir?"
"Beschissen."
"Es tut mir soooo leid, dass ich nicht …"
"Hör nicht auf Miguel, ja? Was hätte es bitte geändert, wenn du da gewesen wärst?"
"Du wärst nicht alleine gewesen."
"Ich bin nicht alleine. Du bist immer bei mir." Wieder ein Lächeln, doch diesmal strahlte es eine Wärme aus, die Daniel einen wohligen Schauer über den Rücken jagte. Er unterdrückte eine Träne, die sich in seinem Augenwinkel sammeln wollte.
"Ich hab' mit deinem Arzt geredet und …"
"Ich weiß", meinte Jan tonlos und drehte sich zur Seite, um Daniel nicht in die Augen sehen zu müssen. "Es ist so weit."
"Nein, nein, nein", versuchte Daniel zu beschwichtigen, aber Jan schüttelte den Kopf.
"Ich weiß es. Ich kann es spüren. Hier drinnen." Er legte seine Hand auf die Brust. Dann zeigte er mit dem Finger auf seinen Kopf. "Und hier ist es auch schon angekommen. Hat lange gedauert, aber ich denke, ich bin jetzt bereit dafür."
"Sag sowas nicht", sagte Daniel mit belegter Stimme. In seinem Hals hing ein dicker Kloß, der es ihm beinahe unmöglich machte, weiter zu reden.
"Daniel", erwiderte Jan mit unglaublich ruhiger Stimme. Wie konnte er nur so ruhig bleiben, verdammt?! "Es bringt uns doch nichts, wenn wir das nicht akzeptieren. Davon wird es nicht besser."
"Vielleicht schon. Ich hab' viel recherchiert und der Experte, den dein Vater angefragt hat, meint, dass man da …"
"Bitte nicht."
"Was?"
"Hör auf, dich damit auch noch kaputt zu machen."
"Wieso kaputtmachen?" Daniel sprang auf. "Nur weil ich nicht aufgeben will?"
"Wieso aufgeben? Man kann auch einfach zugeben, wenn man verloren hat."
"Das ist doch hier kein Spiel, Jan!", rief Daniel erregt. "Du musst kämpfen!"
"Wozu?"
"Wenn schon nicht für dich, dann wenigstens für mich! Ich habe alles für dich geopfert!"
"OH, wie toll", meinte Jan sarkastisch und Daniel wurde sofort bewusst, wie das geklungen haben musste.
"Hör zu, so war das nicht gemeint. Ich wollte nur sagen, dass ich so viel aufgegeben habe, um endlich mit dir zusammen zu sein. Und da will ich nicht einsehen, dass das jetzt schon vorbei sein soll. Verdammt, Jan, ich liebe dich! Ist es so schwer zu verstehen, dass ich dich nicht verlieren will? Ich würde für diese Liebe sterben, verdammt nochmal!"
"Warum lässt du mich das dann nicht machen?"
"Hä?"
"Warum lässt du mich nicht für unsere Liebe sterben?"
"So war das doch gar nicht …"
"Ich weiß", sagte Jan und sein Blick wurde unendlich traurig. "Ich will mich auch gar nicht mit dir deswegen streiten. Aber es tut mir weh, dass du nicht akzeptieren kannst, was ich schon längst angenommen habe. Dass du einen Kampf beginnen willst, den wir nicht gewinnen werden – nicht gewinnen können."
"Wir haben es ja noch nicht mal versucht!"
"Und was bringt uns das? Zwei Monate? Ein halbes Jahr? Ein ganzes?"
"Das ist mehr als wir jetzt haben, verdammt!"
"Und wer garantiert dir, dass wir diese Zeit genießen können? Dass wir nicht die ganze Zeit hier verbringen müssen, zwischen all den anderen Kranken?"
"Ich will nicht …"
"Was ist damit, was ich will, Daniel?" Jan richtete sich mühsam im Bett auf, ergriff mit beiden Händen Daniels Hand und zog ihn zu sich heran.
"Willst du nicht mit mir zusammen sein?", fragte Daniel mit erstickter Stimme.
"Doch", flüsterte Jan. "Bis zum Ende." Dann begannen beide zu weinen. Sie weinten so lange, bis Jan erschöpft einschlief. Daniel presste seine Lippen zusammen, um den Strom an Tränen zu stoppen, der in seine Augen drängte. Er stand auf, küsste Jan noch einmal auf die Stirn und ging dann zur Tür. Als er draußen war, lehnte er sich einen Moment erschöpft an der Tür ab und atmete tief durch. Dann starrte er zum Ende des Gangs, in Richtung der Aufzüge. Bildete er sich das Flackern dort nur ein oder war es dunkler geworden? Langsam bewegte er sich darauf zu, starrte nur auf die Neonlampe mit Wackelkontakt, die den Gang abwechselnd in weißes Licht oder Dämmerung tauchte. Es erinnerte ihn irgendwie an die letzten Minuten eines Sonnenuntergangs: Sah man direkt in die Sonne, war noch alles hell; doch ringsherum begannen die Farben der Welt bereits zu verblassen und einem ewigen Grau zu weichen. Daniel fragte sich, ob seine Welt so aussehen würde, ohne Jan. Grau.
Er war so in seine Gedanken vertieft, dass er den Zusammenstoß gar nicht wirklich registrierte. Doch dann sah er in das Gesicht seines Gegenübers und er wusste, dass es diesem genauso ergangen war. Er rang sich zu einem schwachen Lächeln durch und nickte. Jans Vater erwiderte den Gruß auf gleiche Weise.
Jan
"Kannst du mir mal kurz helfen?" Jan blickte von seiner Zeitschrift auf und sah Daniel etwas verlegen vor dem Spiegel stehen. Sein weißer Hemdkragen stand steil nach oben und das schwarze Band der Fliege baumelte um seinen Hals.
"Ja?"
"Ich hab' mir noch nie eine Fliege gebunden, immer bloß Krawatten." Er warf Jan einen hilflosen Blick zu. Der musste kichern.
"Ja, schon blöd, dass Friedrich darauf besteht, dass alle außer ihm Fliege tragen müssen. Warte, ich helf' dir." Er trat von hinten an Daniel heran, sah ihm über die Schulter und begann die Fliege zu verknoten. Als er damit fertig war, drehte er den Kopf zur Seite und hauchte Daniel einen Kuss auf die Wange. Im Spiegel sah er, wie ein Lächeln über die Lippen seines Freundes huschte.
Sein Freund. Jan konnte es immer noch nicht fassen, dass es tatsächlich so weit gekommen war. Nach allem, was passiert war, standen sie jetzt hier in seinem Schlafzimmer und zogen sich gemeinsam für Friedrichs und Marlies' Hochzeit an. Die Hochzeit, auf der er Trauzeuge sein sollte und Daniel seinem Vater vorstellen würde. Das machte ihnen beiden noch etwas Angst. Auch wenn Jan versuchte, Daniel zu beruhigen, fühlte er selbst keine hundertprozentige Gewissheit, dass das Ganze nicht zu einem Eklat ausarten würde. Er hoffte einfach nur, dass sein Vater sich in aller Öffentlichkeit weitestgehend unter Kontrolle haben würde – der Schein musste ja immer gewahrt werden.
"Du siehst gut im Anzug aus", meinte er dann.
"Wir sehen beide gut aus", erwiderte Daniel und grinste verschmitzt. Jan musste lachen und gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. "Idiot."
Daniel verließ das Schlafzimmer und Jan blieb noch einen Moment vor dem Spiegel stehen und musterte sich kritisch. Zumindest sein Aussehen sollte seinem Vater keinen Anlass zur Beanstandung geben – die Genugtuung wollte er ihm nicht verschaffen. Wobei, dachte Jan, wenn dieser Abend vorbei wäre, würde sich sein Vater sicher um etwas anderes als seine Kleidung Gedanken machen. Jan lächelte in sich hinein und folgte Daniel ins Wohnzimmer. Dieser stand am Schreibtisch, hielt einen Brief in der Hand, den er offenbar gerade gelesen hatte, und starrte mit leerem Blick aus dem Fenster.
"Seit wann?", war alles, was er tonlos sagte.
"Was?"
Daniel drehte sich zu Jan herum und warf den Brief zu ihm herüber. Jans Augenbrauen zogen sich zusammen. "Wieso liest du meine Post?", fragte er wütend.
"Weil du den Brief auf meinen Stapel gelegt hast", antwortete Daniel in sachlichem Ton. Er schien sich mit aller Gewalt beherrschen zu müssen, das Ganze nicht emotional, sondern rational zu betrachten, um nicht ausfällig zu werden.
"Ich … oh … tut mir leid." Jans Ärger war so schnell verraucht, wie er gekommen war. Jetzt bedrückte ihn sein schlechtes Gewissen.
"Ja, das kann ich mir denken. Tut dir leid, dass du ihn versehentlich herumliegen hast lassen, oder?" In Daniels Stimme hatte sich eine Spur Bitterkeit geschlichen, die Jan einen schmerzlichen Stich versetzte.
"Nein, so war das nicht gemeint. Ich wollte dir davon erzählen, aber …"
"… aber du wolltest auf den richtigen Moment warten, oder wie?" Daniels Augen funkelten. "Ich glaube nicht, dass es dafür so was wie einen passenden Augenblick gibt. 'Du Schatz, ich und mein bekloppter Exfreund, der sich vor meinen Augen umbringen wollte und deswegen jetzt in der Klapse sitzt, sind jetzt Brieffreunde.' Den Moment, der dafür passend ist, würde ich gerne mal sehen!"
"Komm schon, Daniel, ich will mich nicht mit dir streiten. Nicht wegen ihm."
"Dann hättest du den Brief verbrennen sollen, als er gekommen ist. Oder wegwerfen oder im Klo runterspülen oder was weiß ich. Aber ihn nicht auf meinen verfickten Poststapel legen sollen!" Jetzt war er doch laut geworden und schien es augenblicklich zu bereuen. "Sorry."
Jan trat zu ihm und nahm ihn in den Arm. "Schon gut. Ich würde wahrscheinlich genauso reagieren. Ich weiß auch nicht, warum ich ihm zurückgeschrieben hab, als der erste Brief kam. Denke, dass da meine Schuldgef-"
"Jan, begreif das doch endlich: Dich trifft keine Schuld an seinem Zustand! Wenn er es nicht verkraftet, dass ihr nicht mehr zusammen seid, ist das seine Sache. Becki hat es ja auch akzeptiert, ohne ein Drama zu veranstalten."
"Aber Miguel ist …"
"… nicht Becki, ja ich weiß"
"Nein, er ist anders. Er war schon immer ein schlechter Verlierer und ich weiß ja auch, dass du Recht hast, aber es ist so verdammt schwer, wegzuhören, wenn er mit seinen Problemen ankommt."
Daniel seufzte schwer und wuschelte durch Jans Haare. "Ach, mein kleiner verkappter Sozialarbeiter!" Dann sah er auf die Uhr und zuckte zusammen. "Oh, Fuck! Wir müssen uns beeilen, sonst kommen wir zu spät!"
"Ja, geh schon mal vor, ich komm gleich."
Daniel sah ihn fragend an. Jan musste lachen. "Du hast meine Frisur zerstört. Das muss ich wieder hinbekommen!"
Trotz Jans Protest hatte sich Daniel zumindest während der kirchlichen Zeremonie im Hintergrund gehalten. Er hatte gemeint, dass es sicher für Jans Vater wahrscheinlich schon zu viel sein würde, dass Jan Trauzeuge wäre, und man ihm nicht auch noch gleich einen neuen Schwiegersohn in spe vor die Nase setzen musste. Obwohl Jan das nicht gefallen hatte, musste er jetzt, wo er vor dem Altar neben Friedrich stand und den bohrenden Blick seines Vaters förmlich in seinem Rücken spüren konnte, zugeben, dass es wohl eine gute Idee gewesen war. Die Begrüßung zwischen ihnen beiden war erwartungsgemäß sehr frostig ausgefallen und als Friedrich Jans Vater erklärt hatte, wer sein Trauzeuge sein würde, konnte man nur froh sein, dass Blicke und Gedanken nicht töten konnten.
Die Hochzeit selbst lief ohne Probleme über die Bühne – was sollte man aber auch schon anderes erwarten? Immerhin befanden sich ja alle in der Realität und nicht irgendeinem Hollywood-Streifen, in dem die Braut in letzter Minute kalte Füße bekommt und ihren (dann nicht mehr) zukünftigen Ehemann vor dem Altar stehen lässt. Nein, Marlies und Friedrich waren ein richtiges Traumpaar und Jan konnte sich mehrere Tränen nicht verkneifen, während sich die beiden immerwährende Treue im Angesicht Gottes schworen. Gerade als sie die Ringe getauscht hatten, drehte Jan sich um und ließ seinen Blick durch die Halle schweifen, bis er Daniel erfasste.
"Ich liebe dich", formte er wortlos mit seinen Lippen und sah, wie sich das Lächeln in Daniels Gesicht schlich, das er so sehr liebte. In diesem Moment wünschte Jan sich nichts mehr, als zusammen mit Daniel Friedrichs und Marlies' Platz einzunehmen: Glücklich bis ans Ende aller Tage.
"Das war wirklich eine schöne Zeremonie", meinte Jan zu Daniel, als sie beide im Auto saßen und sich auf den Weg zum Hotel machten, in dem die Feier stattfinden würde. Daniel antwortete nicht. Er hatte den Blick nach draußen gerichtet, wo einzelne kleine Schneeflocken am Fenster vorbeizogen.
"Hat es dir nicht gefallen?"
"Was?" Daniel schüttelte den Kopf und blinzelte verwirrt, als wäre er gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht.
"Was ist denn mit dir los?", fragte Jan, setzte den Blinker und bog auf die Landstraße ein. Der Schneefall war etwas dichter geworden. Jetzt wunderte er sich schon, wieso seine Schwester nicht im Sommer heiratete – normale Menschen machten das doch so, oder?
"Ach nichts", brummte Daniel, klang aber nicht sehr überzeugend.
"Jaja, du mich auch", neckte Jan. Daniel schnaubte.
"Ich weiß halt einfach nicht, ob es so eine gute Idee war, mitzukommen. Dein Vater …"
"… ist ein dummer, alter Ignorant und mir ist scheißegal, was er denkt. Und dir sollte es auch scheißegal sein."
"Aber wenn …"
"Er kann dich nicht feuern, nur weil du schwul bist. Und wenn doch, dann verklagen wir ihn und bringen ihn ins Armenhaus. Eigentlich eine ganz nette Vorstellung."
Daniel musste tatsächlich grinsen, wie Jan zufrieden zur Kenntnis nahm.
"Du bist mein Begleiter und als Friedrichs Trauzeuge habe ich schon einen gewissen Sonderstatus bei der Hochzeit. Mein Vater wird das einfach akzeptieren müssen. Basta!"
"Wo findet die Hochzeit eigentlich genau statt?", fragte Daniel und Jan merkte genau, dass er sich nur auf andere Gedanken bringen wollte. Da spielte er gerne mit.
"Ach, das ist so ein nobles Hotel mit erstklassigem Restaurant direkt am Meer. Eigentlich ein Grund mehr, warum die beiden völlig bescheuert sind: Es ist Winter und sie feiern am Meer. Ich mein', was soll das bitte? Das ist doch deprimierend."
"Vielleicht konnten sie es einfach nicht erwarten."
"Hmm, eigentlich sind sie schon so lange zusammen, dass ein paar Monate echt nichts geändert hätten. Ich wäre wirklich gerne mit dir dort baden gegangen." Jan grinste. "Dann hätte Marlies mal so richtig neidisch auf mich sein können. Friedrich ist nämlich nicht so gut gebaut wie du – in keinerlei Hinsicht." Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete Jan, wie Daniel knallrot anlief, und musste lachen.
"Da musst du dich jetzt nicht schämen. Das war ein Kompliment!"
"Ja, danke. Aber woher …?"
"Woher ich das über Friedrich weiß?" Jan kicherte in sich hinein. "Ich hab' sehr lange bei den beiden gewohnt, da kann es schon mal passieren, dass man in einem ungünstigen Moment ins Badezimmer reinplatzt. Jaja, ich mag ihn ja schon, aber mit dir hatte ich eindeutig mehr Glück."
"Sehr witzig! Das ist nicht nett, Jan. Da kann er doch nix für."
"Komm schon, das war doch nur ein Witz." Jan schielte zur Seite. "Naja, egal. Wir können eh nicht ins Wasser, außer es soll uns alles abfrieren." Daniel antwortete nicht, und den Rest des Weges legten sie schweigend zurück.
Auch wenn Jan sich geschworen hatte, keine Angst vor dem Treffen mit seinem Vater zuzulassen, wurde ihm doch etwas mulmig, als er mit Daniel den Vorraum des Restaurants betrat, in dem der Sektempfang abgehalten werden würde. Sie waren zwar recht früh dran, aber natürlich hätte sich sein Vater niemals die Blöße gegeben, nicht als Erster vor Ort zu sein und alle Gäste begrüßen zu können. Als Jan und Daniel eintraten, stand sein Vater jedoch mit dem Rücken gewandt zu ihnen, so dass Jan hoffte, vorerst ungesehen an ihm vorbeikommen zu können. Doch gerade als er seinen Mantel abgelegt hatte, begann seine Schwester ihnen freudig zuzuwinken, was natürlich die Aufmerksamkeit ihres Vaters auf sich zog. Also drehte der sich um, in Erwartung neuer Gäste, die es jovial zu begrüßen galt.
Allein das Wechselspiel der Gefühle, die sich dann in kürzester Zeit auf seinem Gesicht abspielte, war es wert gewesen herzukommen, befand Jan. Aus der vornehmen Freundlichkeit wurde zuerst ehrliche Überraschung, einen klitzekleinen Moment Unsicherheit und deutliche Verärgerung und letztlich eine geradezu festzementierte Gleichgültigkeit. Jan ging bereits fest davon aus, dass sein Vater sich einfach wieder seinem Gespräch zuwenden würde, ohne ein Wort mit ihm zu wechseln, doch dann sah er, wie dessen Blick nach links wanderte und Daniel ins Auge fasste. Nun gewann eindeutig Erstaunen und handfester Unwillen die Oberhand über seine Miene. Er bewegte sich sogar auf sie beide zu.
"Zeus?", begann er misstrauisch. "Was machen Sie denn hier? Ich wusste gar nicht, dass Sie meine Tochter oder ihren Mann kennen."
"Ich … ähm … ich …", stammelte Daniel und er begann Jan sofort leidzutun.
"Daniel ist mein Begleiter", sprang Jan ihm daher bei. Die Augen seines Vaters verharrten auf Daniel, während er antwortete.
"Ach, so ein Unsinn! Was würde ein integrer Mann wie Zeus sich schon von einer Bekanntschaft mit dir erwarten?" Er schnaubte verächtlich.
"Er ist keine Bekanntschaft", widersprach Jan und sah Daniel durchdringend an.
"Ach nein?"
"Nein, ich bin sein Freund", sagte Daniel jetzt, wobei er sich sehr bemühte, seine Stimme nicht zu sehr zittern zu lassen. "Sein fester Freund", fügte er noch hinzu, als Jans Vater fragend eine Augenbraue hob.
"Tatsächlich? Ich dachte, Sie wären verheiratet und hätten Kinder?", fragte er lauernd.
"Das stimmt. Aber ich habe mich in Jan verliebt und mich von meiner Frau getrennt."
"Ach?", war alles, was als Antwort kam. Dann drehte sich Jans Vater abrupt um und mischte sich wieder unter die Gäste.
"Na, so schlimm war es ja dann doch nicht", meinte Jan aufmunternd, aber Daniel ließ niedergeschlagen den Kopf hängen.
"Er wird mich feuern", murmelte er nur. Zum Glück kam jetzt Marlies herangeeilt und umarmte sie beide.
"Ich freu mich ja so, dass ihr beide hier seid", rief sie und strahlte dabei übers ganze Gesicht. "Du musst Daniel sein, oder?" Sie umarmte auch Daniel. "Sehr schön, dass ihr beide hier seid. Ich rechne es dir hoch an, dass du so für meinen kleinen Bruder da bist. Und dass du dich nicht von unserem miesepetrigen Erzeuger hast einschüchtern lassen. Also dann, habt einen schönen Abend!" Dann verschwand sie auch schon wieder, wurde aber gleich darauf von ihrem Ehemann ersetzt.
"Na, Trauzeuge, wie geht's?", fragte Friedrich und klopfte Jan freundschaftlich auf die Schulter. "Und dir, Daniel? Wir haben uns ja schon einmal gesehen. Ich bin Friedrich." Er reichte Daniel die Hand, der verwirrt einschlug.
"Tatsächlich?"
"Ja, damals als ich mit Jan in der Bar war, wo du und deine Frau ihn mal getroffen habt."
Jan hätte Friedrich erwürgen können. Wie kam er nur auf die dämliche Idee, jetzt mit Rebecca anzufangen? Daniels Gesichtsausdruck sprach demnach auch Bände, was Friedrich sogar auffiel, der sich hastig entschuldigte. "Oh tut mir leid, ich wollte nicht …"
"Nein, nein, schon gut", wiegelte Daniel tonlos ab. Friedrich sah Jan entschuldigend an und mischte sich dann ebenfalls wieder unter die Gäste.
"Das war jetzt peinlich", murmelte Jan, eigentlich eher zu sich selbst, aber Daniel hatte es natürlich gehört.
"Ist schon in Ordnung. Becki gehört nun mal zu meinem alten Leben dazu, das lässt sich nicht vermeiden. Aber du", sagte er, nahm Jan in den Arm und drückte ihm einen langen Kuss auf den Mund, "du bist meine Gegenwart und Zukunft. Und jeder soll das wissen." Das war wohl auf die Umstehenden gemünzt, die schon ein bisschen pikiert Daniels Liebesbezeugung mitverfolgt hatten. Allen voran Jans Vater, der knallrot anlief und in eine regelrechte Schnappatmung verfiel. Jan musste kichern, als er Daniels Kuss erwiderte, seine Hand ergriff und sich mit ihm auf die Suche nach ihrem Platz machte.
Der Abend war im Großen und Ganzen recht ereignislos. Marlies und Friedrich hatten sie beide in weiser Voraussicht so weit von Jans Familie entfernt gesetzt wie nur möglich. Auch wenn Jan das im ersten Moment schon etwas schmerzte, war er doch froh darüber. Es war zwar schon irgendwie ein Zeichen, dass er nicht wirklich dazugehörte, andererseits hätte er keine Lust gehabt, den ganzen Abend die miesen Launen seines Vaters ertragen zu müssen. Allein die Blicke, die er hin und wieder auffing, reichten völlig, um die Zufriedenheit mit seinem Sitzplatz zu steigern.
Die Gesellschaft war zudem sehr angenehm, denn das Brautpaar hatte sie an einen Tisch mit lauter Leuten in ihrem Alter gesetzt, deren Einstellung zu ihrer Beziehung durchwegs tolerant ausfiel. Auch das war in diesem Umfeld alles andere als selbstverständlich, aber da es hauptsächlich Studienkollegen von Friedrich und Marlies waren, standen sie Jans Beziehung deutlich offener gegenüber als der Teil der Gäste, der sich aus der gehobeneren Schicht von Kollegen seines Vaters sowie von teil-mumifizierten Großtanten zusammensetzte, die ihm und Daniel immer wieder pikierte Blicke zuwarfen. Auf jeden Fall hatten sie eine sehr schöne Zeit und erst als es Zeit war zu tanzen, mussten sie sich wieder unter feindlicher gesinnte Leute begeben.
"Willst du führen?", fragte Jan und grinste schelmisch. Daniel lachte.
"Bitte, ja. Ich wüsste eh nicht, wie ich was anders machen sollte."
Stück Moon Night Waltz https://youtu.be/MN7BxTdYF_M
Sie befanden sich nun alle in einem vollverglasten Saal, dessen Licht so gedämpft war, dass der Vollmond von außen den Raum heller erleuchtete, als die dezenten Lampen es taten. Das hatte zur Folge, dass alle Gäste in ein silbriges Licht getaucht wurden, das dem Ganzen eine fast schon ätherische Atmosphäre verlieh. Dann setzte die Musik ein und alle bewegten sich im schnellen Walzerschritt durch die Bahnen von Mondlicht, das durch das Glasdach hereinfiel. Jan musste zugeben, dass es eine gute Idee gewesen war, Daniel führen zu lassen, denn der wusste eindeutig, was er da tat. Und während sich die anderen Gäste der Reihe nach vom Tanzparkett verabschiedeten, schwebten er und Daniel durch den Mondschein, im schnellen Wirbel zu den – wie Jan erschien – himmlischen Klängen der Soundanlage. Er kannte das Stück nicht, da er eh keine Ahnung von klassischer Musik hatte, aber für ihn klang es nach dem Himmel. Die Zeit verlor ihre Bedeutung und alle Probleme, die draußen hinter dem Glas in der Welt auf sie warteten, verblassten im Angesicht dieses Momentes, dieses Augenblicks des Glücks, in dem Jan von Daniel geführt im silbernen Licht des Mondes herumgewirbelt wurde. Und am Ende drückte Daniel Jan einen dicken Kuss auf die Lippen und so standen sie engumschlungen als letztes Tanzpaar in der Mitte des Raumes, eingehüllt in die sanfte Musik und den Mondschein, der sie für einen Moment in engelsgleiche Gestalten verwandelte.
Der Strand hatte sich im weichen Mondlicht in silbernen Staub verwandelt, als Jan und Daniel gegen Mitternacht engumschlungen durch den Sand liefen. An einer kleinen Bank machten sie Halt und sahen versonnen auf das Meer hinaus, auf dem der Schein des Mondes eine helle und leicht gekräuselte Straße erschuf, die sich vom Strand bis zum Horizont erstreckte. Das sanfte Rauschen der Wellen kam ihnen wie das Atmen einer gigantischen, uralten Kreatur vor, die irgendwo hinter dem Rand der Welt schlief. Jan musste grinsen, als er sich all dieser Eingebungen bewusst wurde. Er war schon echt ein Spinner. Daniels Arm lag auf seiner Schulter, zwar schwer, aber nicht unangenehm. Nein, dieses Gewicht zu fühlen, das war wie ein Anker für Jan, der ihn in der Realität festhielt. Nur so konnte er sich wirklich sicher sein, dass er nicht träumte.
Wie hatte er nur jemals ohne Daniel leben können? Wenn er an die Beziehung mit Miguel zurückdachte und sie mit seiner jetzigen verglich, kam ihm das alles so unwirklich vor. Daniel tat ihm einfach nur gut. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Daniels Lippen näherten sich Jans Ohr, der dem Impuls widerstand zu kichern, als Daniels Haare seine Schläfen kitzelten.
"Ich liebe dich", hauchte dieser dann in Jans Ohr. Ein wohliger Schauder durchlief ihn.
"Sag es nochmal", bat er flüsternd.
"Wieso?"
"Weil ich immer noch nicht glauben kann, dass es so ist." Jan drehte seinen Kopf zur Seite und blickte direkt in Daniels Augen. Er legte seine Hand auf dessen Wange und genoss, wie die Wärme seine Handfläche durchströmte; ein schöner Kontrast zur kalten Nachtluft.
"Ich liebe dich", wiederholte Daniel grinsend und auch Jan lächelte. "Nochmal!"
"Ich liebe dich, ich liebe dich, ICH LIEBE DICH!", schrie Daniel jetzt und sprang auf. Jan musste lachen. "Dummkopf", sagte er nur und drückte Daniel einen dicken Kuss auf den Mund.
"Ja, stimmt schon. Ziemlich dumm, dich zu lieben", erwiderte Daniel und lachte ebenfalls.
"Idiot!" Jan zog schmollend die Lippen zusammen, doch Daniel küsste ihn trotzdem.
"Deswegen magst du mich do so. Ich bin dein kleiner, dummer Idiot."
"Ich mag dich nicht."
"Ach so?" Daniel hob überrascht eine Augenbraue.
"Ich liebe dich", war es nun an Jan zu gestehen.
"Na, dann ist doch alles prima", lachte Daniel. "Du, ich hab' da vorhin so eine kleine Strandhütte gesehen, die zum Hotel gehört. Was meinst du?" Er zwinkerte Jan verschwörerisch zu.
"Oui, Monsieur!" Jan reichte Daniel seine Hand und zusammen stolzierten sie durch den silbernen Mondstaubsand zurück zum Hotel.
Daniel
Das erste, woran Daniel sich erinnern konnte, nachdem er wieder die Augen öffnete, war Jans Gesicht, mit von Tränen feuchtglänzenden Wangen und verquollenen Lidern.
"Oh Gott, endlich!", schluchzte er und schlang seine Arme um Daniel. "Ich hatte schon gedacht, ich hätte dich verloren."
"Was …?"
"Ich weiß nicht. Als wir von dem Strandhaus zum Hotel zurück sind, bist du plötzlich zusammengebrochen. Ich konnte nicht einmal mehr deinen Puls fühlen. Oh Mann, ich hatte solche Angst um dich!" Jan brach erneut in Tränen aus.
"Aber, was …?"
"Gute Frage! Hier will mir keiner was dazu sagen. Sie reden nur mit Becki." Eine tiefe Verbitterung stahl sich in Jans Stimme. "Immerhin ist sie ja deine Frau." Daniel war klar, dass das wohl nur eine Wiederholung der Worte der Ärzte war, dennoch tat es ihm weh, wie Jan davon sprach.
"Becki?"
"Ja, sie ist gerade beim Arzt und redet mit ihm. Sie war nicht gerade glücklich darüber, dass du dich hier zum Versuchskaninchen hast machen lassen. Ehrlich gesagt, war sie stinksauer."
Daniel war irgendwie froh, dass er in Jans Armen aufwachte und nicht Beckis.
"Daniel, haben die dir irgendwann mal was von irgendwelchen Nebenwirkungen erzählt? Könnte es sein, dass das Ganze irgendwie furchtbar schiefläuft?" Jan sah ihn besorgt an und strich vorsichtig mit seiner Hand über Daniels Stirn. Der schwieg beharrlich. Denn natürlich hatte sein Arzt ihn vor möglichen Komplikationen gewarnt, die eine solch experimentelle Therapie haben könnte, aber damals war er auf dem Ohr taub gewesen. Er hatte nur "gute Heilungschancen" gehört, das hatte ihm gereicht. Jetzt kamen ihm allerdings leise Zweifel an dieser Einstellung.
Jan griff nach Daniels Hand und drückte sie fest. "Du musst mir versprechen, mich nicht alleine zu lassen, ja? Ich kann ohne dich nicht mehr leben und weiß nicht, was ich machen würde, wenn du jetzt gehst."
Daniel sah ihm fest in die Augen, schluckte alle Bedenken hinunter und sagte: "Das wird nicht passieren, hörst du? Ich werde bei dir bleiben. Für immer." Jans Augen begannen wieder zu glänzen, aber er beherrschte sich. Dann wurde die Tür geöffnet und Becki stand mit Daniels Arzt im Zimmer. Ihr erster Blick wanderte zu den Händen von ihnen beiden, die immer noch fest ineinander verschränkt waren. Sie verzog missbilligend den Mund, sagte aber nichts weiter.
"Ah Herr Zeus, Sie sind wieder wach. Das ist sehr gut, denn ich habe einiges mit Ihnen zu besprechen. Allein", sagte der Arzt und sah sowohl Jan als auch Becki auffordernd an. Diese schüttelte stur den Kopf.
"Ich bin immerhin seine Frau! Ich habe ein Recht, hier zu sein."
"Wenn sie bleibt, bleibe ich aber auch", protestierte Jan. Daniel schüttelte nur den Kopf.
"Bitte geht", sagte er nur und fing sich von beiden einen giftigen Blick ein. Trotzdem folgten sie seiner Aufforderung.
"Herr Zeus, ich befürchte, ich habe schlechte Nachrichten", sagte der Arzt, nachdem Jan und Becki das Zimmer verlassen hatten.
"Was Sie nicht sagen", ätzte Daniel. "Es ist schiefgelaufen, oder?"
"Nun ja, sagen wir es so: Es läuft nicht nach Plan."
Daniel schnaubte verächtlich. "Wie lange?"
"So kann man das nicht …"
"Wie LANGE?!" Daniel musste sich beherrschen nicht laut zu schreien.
"Also momentan sieht es so aus, als ob das therapeutische Virus ihre Lunge befallen hätte. Mit der richtigen Medikation sollten wir das in den Griff bekommen", kam als ausweichende Antwort zurück.
"Und wenn nicht?"
Der Arzt räusperte sich unbehaglich. "Nun ja, Sie haben jetzt so etwas wie eine verstärkte Lungenentzündung, die leider mit Antibiotika nicht in den Griff zu bekommen sein wird. Uns stehen einige Mittel zur Wahl, die alle sehr aggressiv sind und Ihnen das Leben retten, es aber leider auch für eine Zeit lang zur Hölle machen können. Sollte sich das als nicht fruchtbar erweisen, schätze ich, dass Ihre Lunge das nicht ewig mitmachen wird. Ich denke, Sie verstehen, was das bedeutet."
Daniel nickte beklommen. Was war er auch für ein Idiot gewesen, zu glauben, dass bei ihm alles anders laufen könnte. Dass er diesem Scheißkrebs ein Schnippchen schlagen und dem Tod von der Schippe springen könnte. Wenn das Leben eine Tür schloss, dann öffnete es nicht etwa anderswo ein Fenster, nein, dann brachte es ein gusseisernes Vorhängeschloss daran an.
"Und was ist mit dem Krebs?", fragte Daniel trotzdem und wider besseren Wissens. Überraschenderweise hellte sich die Miene seines Arztes auf.
"Ja, das hätte ich jetzt beinahe vergessen, aber ich wollte Ihnen erst einmal die Dringlichkeit der weiteren Behandlung nahebringen. So, wie es gerade aussieht, könnten Sie ihn tatsächlich besiegt haben. So sieht es zumindest in Ihrer letzter MRT-Untersuchung aus. Mit Sicherheit lässt sich das dann zwar erst in ein paar Monaten sagen, aber da bin ich optimistisch."
"Wenn ich vorher nicht durch die Therapie abkratze, was?", meinte Daniel sarkastisch. Der Arzt warf ihm einen tadelnden Blick zu. "So sollten Sie nicht an die Sache herangehen, Herr Zeus. Die Nebenwirkungen sind im Moment ziemlich stark, aber ich bin auch da zuversichtlich, dass wir das in den Griff bekommen können." Er machte eine kurze Pause und sah Daniel durchdringend an. "Sofern Sie die verordnete Therapie gewissenhaft weiterverfolgen."
Da Daniel im Moment nur bedingt Lust verspürte, das Gespräch weiterzuverfolgen, nickte er nur knapp. Sein Arzt runzelte zweifelnd die Stirn, beließ es aber glücklicherweise dabei und verabschiedete sich stattdessen. Wahrscheinlich würde er Daniel in den nächsten Tagen schon genug nerven. Daniel drehte sich auf die Seite und zog die Knie fest an den Oberkörper. Dann presste er die Augen so fest zusammen, als könnte er durch die dadurch entstehende Dunkelheit all den Scheiß ausblenden, der gerade in seinem Leben vorging. Wieso konnte nicht einmal alles nach Plan oder halbwegs normal verlaufen?
"Da hast du aber die volle Dröhnung abbekommen, was?", riss ihn eine Stimme von nebenan aus seinen selbstbemitleidenden Betrachtungen. Er blinzelte kurz und sah den älteren Herrn im Bett neben ihm fragend an. "Hä?"
"So ein Mehrbettzimmer hat es leider an sich, dass so private Dinge wie deine Diagnose nicht privat bleiben. Da kann der werte Herr Doktor deine Angehörigen noch so oft rausschicken. Mitpatienten werden dabei irgendwie nicht mitgezählt." Er lächelte freundlich. "Ich bin übrigens Holger."
"Hm", brummte Daniel nur, dem irgendwie gerade nicht der Sinn nach neuen Bekanntschaften stand. Daraufhin kicherte der Patient im Bett gegenüber leise los. "Oh Mann, Holger, dein Gespür für Menschen ist bescheuert. Wie kannst du bitte nur ein Polizist gewesen sein? Null Menschenkenntnis!"
"Ach komm schon, Nick", grummelte Holger beleidigt. "Ich wollte unseren neuen Mitbewohner nur freundlich willkommen heißen."
"Denkst du wirklich, dass er unter diesen Umständen gerne hier ist?" Der andere lachte, was in einen längeren Hustenanfall überging. Daniel drehte sich um, damit er auch seinen zweiten "Mitbewohner" besser in Augenschein nehmen konnte. Dieser Nick musste in etwa in seinem Alter sein, auch wenn die eingefallenen Wangenknochen und tief in den Höhlen versunkenen Augen ihn deutlich älter wirken ließen. Als er wieder bei Puste war, fuhr Nick fort: "Du hast doch gesehen, dass er neben seiner Krankheit ganz offenbar auch noch ein größeres privates Problemchen mit sich herumträgt." Er legte den Kopf schief und wartete offenbar auf eine Bestätigung von Daniels Seite aus. Der presste nur die Lippen aufeinander und zog es vor, an die Decke zu starren.
"Und du redest von Menschenkenntnis", höhnte Holger, doch es klang nach ziemlich freundschaftlichem Spott. "Nur damit du dein journalistisches Gespür beweisen kannst! Hör nicht auf ihn, ja? Wie war nochmal dein Name?"
"Du passt aber auch überhaupt nicht auf! Er heißt Daniel, das hat sein Freund doch gesagt."
"Ich finde es eben unhöflich, bei so intimen Gesprächen zu lauschen", grummelte Holger beleidigt.
"Aber Arzt-Patienten-Gespräche, da passt du auf, was?", neckte Nick weiter. Daniel fragte sich, wie lange die beiden sich schon ein Zimmer teilten, dass sie sich so aufführten wie ein altes Ehepaar. Da er ja vermutlich noch eine Zeitlang mit beiden verbringen musste, sprang er als über seinen Schatten und stellte die entsprechende Frage.
"Ja, sieh mal einer an", meinte Holger grinsend. "Es spricht" Und an Nick gewandt: "Wie viele Monate sind es jetzt schon? Zwei? Vier?"
"Geh' ich dir so auf die Nerven, dass du unseren Jahrestag vergisst?", fragte Nick mit gespielter Entrüstung. "Ich kam vor genau vierzig Tagen zu dir ins Zimmer, als hier noch dieser komische Paul lag, der die ganze Zeit über nur über Fürze kommuniziert hat." Er verzog angewidert das Gesicht. "Und das, wo's draußen jetzt so kalt war und man nicht dauernd das Fenster öffnen konnte."
Auch Holger schüttelte sich bei dem Gedanken. Dann blickte er Daniel scheinbar erschrocken an. "Deine Darmtätigkeit ist aber normal, oder?"
Die schiere Absurdität dieser Frage ließ Daniel auflachen. Diese zwei Typen waren echt schräge Vögel und wenn er schon für längere Zeit hierbleiben musste, dann war er froh, es mit ihnen zu tun.
"Holger!", wies Nick den Älteren zurecht. "Nur, weil du eh bald abkratzt, heißt das nicht, dass du jetzt auf alle guten Manieren verzichten kannst, ja?"
Daniels Lachen erstarb und er blickte bestürzt zu Holger. "Du stirbst?"
Holger nickte nur knapp und warf Nick einen vorwurfsvollen Blick zu. "Ganz prima, jetzt ist die Stimmung wieder futsch."
"Was hast du denn?", wollte Daniel wissen. "Wenn ich fragen darf."
"Aber selbstverständlich darfst du das. Ich habe mein Leben ein bisschen zu geistreich gestaltet."
Daniel blickte fragend zu Nick hinüber, der die Hand an den Mund setzte und aus einem unsichtbaren Gefäß tiefe Schlucke nahm. "Ah", machte Daniel, als er verstand.
"Genau, 'Ah'", erwiderte Holger. "Alkoholbedingte Leberzirrhose. Kann man nichts mehr machen. Aber bin ich auch selbst schuld dran, ne?" Er zuckte nur die Schultern. Daniel fand es bemerkenswert, wie entspannt Holger mit dieser Situation umging.
"Du hast also schon aufgegeben?"
"Pah!" Holger schnaubte verächtlich. "Ich weiß eben, wann ich verloren hab'. Und im Gegensatz zu dir, wo es ja trotz allem noch Hoffnung gibt, ist das bei mir halt nicht so."
"Nicht, dass ich es verdient hätte", murmelte Daniel.
"Hör dir den an!", rief Holger. "Er hat es nicht verdient zu leben. Wieso sollte das so sein, hä?"
"Weil ich alle Menschen, die ich liebe, nur verletzt habe."
"Pff", stieß Holger schnell Luft aus. "Anders als mein Freund hier meint, habe ich schon einiges von vorhin mitbekommen und es sah nicht gerade so aus, als wäre der junge Mann vorhin sonderlich von dir verletzt worden. Er ist quasi nicht von deiner Seite gewichen, seitdem du hier bist. Das mit deiner Frau, nun, da mag das ganze etwas anders liegen." Er machte eine kurze Pause, in der er anscheinend überlegte, ob seine folgende Frage zu indiskret sein mochte. "Willst du uns vielleicht ein bisschen was davon erzählen?"
"Das ist eine lange Geschichte."
"Also, ich hab' heute nichts mehr vor, du etwa, Nick?" Der andere grinste nur. "Nein, eigentlich nicht. Außer die heiße Schwester kommt später wieder rein, um mich zu waschen. Dann könnte ich kurz etwas unaufmerksam werden."
"Du alter Sexist!" Holger schnaubte. An Daniel gewandt fügte er erklärend hinzu. "Du musst wissen, dass diese Krankenschwester seine Freundin ist. Er darf also so davon reden." Er kicherte in sich hinein. "Also Daniel, dann lass mal hören."
Daniel schob sich sein Kopfkissen unter dem Rücken zurecht, so dass er halbwegs aufrecht im Bett saß, räusperte sich und begann von seiner verlorengeglaubten Beförderung zu erzählen.
Daniel hatte sich zu Beginn keine großartigen Vorstellungen darüber gemacht, wie lange sich sein Aufenthalt im Krankenhaus wohl ausdehnen mochte, aber nach zwei Wochen wurde er doch langsam unruhig. Vor allem, da seit einigen Tagen die Nebenwirkungen immer deutlichere Symptome hervorriefen. Am Anfang hatte er sich lediglich immer sehr matt und müde gefühlt und die meiste Zeit des Tages verschlafen, wenn er nicht gerade zu Untersuchungen musste oder entweder Jan oder Becki ihn besuchten. So sehr er sich vor allem auf Jan freute, bewegten ihn die Besuche seiner Frau doch tief. Trotz allem, was er ihr angetan hatte, kam sie immer noch fast jeden Tag vorbei, um zu sehen, wie es ihm ging. Doch je länger sein Aufenthalt dauerte, desto kürzer wurde die Zeit, die sie bei ihm verbrachte und Daniel beschlich das Gefühl, dass sie langsam den Sinn hinter ihrem Tun in Frage stellte. Vor allem, wenn sie unmittelbar auf Jan traf, konnte Daniel in ihrem Blick eine stetig wachsende Verärgerung ablesen und er fragte sich dann jedes Mal unwillkürlich, wie lange es wohl dauern würde, bis sie nicht mehr auftauchte.
Doch es war Jan, der als erstes nicht mehr zu ihm kam. Anders als Becki, die sich ja zu Hause um die beiden Kinder kümmern musste und daher natürlich nicht jeden Tag im Krankenhaus verbringen konnte, hatte Jan ihn wirklich immer zur fast selben Uhrzeit besucht (was Becki irgendwann herausgefunden und ihre Besuche so geplant hatte, dass sie ihm nicht über den Weg laufen musste). Als er aber zum ersten Mal nicht auftauchte, dachte sich Daniel nichts dabei, denn er erwartete ja auch gar nicht, dass sich Jans Leben jetzt nur um ihn drehen musste. Argwöhnisch wurde er erst, als er auch am Abend desselben Tages keinen Anruf oder sonst irgendeine Nachricht erhalten hatte. Aber gut, vielleicht war Jan irgendwo unterwegs, wo er keinen Empfang hatte; allerdings hatte er zuvor von nichts derartigem gesprochen.
Als er auch am nächsten Tag nichts von Jan hörte, begann er doch langsam, sich Sorgen zu machen. Er haderte lange mit sich selbst, denn die einzige Person, die ihm weiterhelfen konnte, wollte er eigentlich nicht anrufen. Er teilte seine Bedenken mit Holger und Nick und beide redeten ihm gut zu, doch über seinen Schatten zu springen.
"Ja?", meldete sich eine schlaftrunkene Stimme. Offenbar hatte Anette schon geschlafen. Daniel zögerte etwas zu lange mit seiner Antwort, was ihm ein verärgertes "Hallooo?" einbrachte.
"Anette, ich bin's, Daniel." Schweigen. Dann ein kurzes Rascheln.
"Daniel? Das … ich … schön, von dir zu hören." Daniel schluckte eine schnippische Erwiderung hinunter, die ihm schon auf der Zunge lag.
"Sag mal, weißt du was von Jan?", fiel er stattdessen gleich mit der Tür ins Haus. Am anderen Ende der Leitung folgte ein tiefes Durchschnaufen.
"Oh Daniel, es tut mir so leid."
"Was?", rief Daniel alarmiert in den Hörer und schnellte aus dem Bett empor. Holger und Nick sahen ihn verwundert und besorgt an. Er wedelte ungeduldig mit der Hand, um ihnen anzudeuten, dass er ihnen nachher alles erzählen konnte.
"Ich wollte das alles nicht. Ich habe deiner Frau das Ganze nur erzählt, weil ich Angst um Jan hatte. Ich wollte nicht, dass du ihn verletzt und …"
"Anette, das interessiert mich nicht", schnauzte Daniel sie an. "Was ist mit Jan los? Ich hab' seit zwei Tagen nichts mehr von ihm gehört."
"Er ist im Krankenhaus."
Daniel brachte keinen Ton heraus, sondern saß still und wie vom Donner gerührt auf der Bettkante, halb im Aufstehen, halb im wieder Zurückfallen.
"Bist du noch dran?"
"Was ist passiert?", krächzte Daniel, dem seine Stimme plötzlich den Dienst zu verweigern schien.
"Ich weiß auch nichts Genaueres, aber er ist wohl bei sich zu Hause zusammengebrochen. Zum Glück nicht in der Wohnung, deswegen hat der Hausmeister alles gesehen und gleich den Notruf gewählt, sonst …" Das unheilvoll in der Schwebe gehaltene Ende des Satzes jagte Daniel einen eisigen Schauer den Rücken hinunter.
"Er ist auch hier im Krankenhaus?", fragte er dann halb verzweifelt, halb hoffnungsvoll, denn das gäbe ihm die Chance, Jan zu besuchen.
"Ich glaube schon." Diese Antwort klang wie ein wortgewordenes, ratloses Achselzucken.
"Danke, das finde ich schon raus."
"Daniel, es …" Aber da hatte Daniel schon aufgelegt, sich den Infusionsständer geschnappt und war auf den Flur hinausgehechtet. Er packte die erstbeste Krankenschwester, die er zu fassen bekam, bei den Schultern und schrie ihr förmlich ins Gesicht: "Jan Abelt? Ist er eingeliefert worden? Wo liegt er?" Die Pflegerin riss sich wütend aus seinem Griff und setzte zu einer Schimpftirade an, als ihr offenbar der tiefbesorgte Ausdruck auf Daniels Gesicht auffiel. Er hatte anscheinend das Glück, an eine besonders mitfühlende Frau geraten zu sein, denn sie sagte nur "Warten Sie bitte hier, ich gehe nachsehen", und verschwand. Daniel schien es, als würden Stunden vergehen, und er knabberte nervös an seinem Daumennagel herum, eine Angewohnheit, die er eigentlich schon lange abgelegt hatte, die ihn aber ab und an in Momenten der größten Anspannung wieder überfiel. Schließlich kam die Schwester wieder zu ihm und wies ihn an, ihr zu folgen.
"Herr Abelt wurde gestern Morgen eingeliefert. AIDS-assozierte Kryptokokkose der Lunge und Meningen. Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen."
Mehr? Daniel verstand kein einziges Wort bis auf AIDS. Das reichte allerdings aus, um ihn das Schlimmste befürchten zu lassen. Die Schwester blieb vor einem Zimmer stehen, das gar nicht weit von Daniels entfernt lag, und klopfte zaghaft an. Als sich niemand rührte, öffnete sie vorsichtig die Tür und warf einen Blick hinein. Dann winkte sie Daniel heran, bugsierte ihn ins Zimmer und verabschiedete sich hastig. Der Raum war nur spärlich erhellt, weswegen Daniels Augen etwas brauchten, um sich von den grellen Neonleuchten im Gang auf dieses Dämmerlicht umzustellen. Dann aber sah er Jan und es schnürte ihm die Kehle zu, denn sein Freund sah furchtbar aus. Er hing offenbar an einer Beatmungsmaschine, denn ein dicker geriffelter Schlauch steckte in seinem Mund und bei jedem Zischen des Geräts an seiner Seite hob sich sein Brustkorb leicht an.
Daniel traten die Tränen in die Augen. Das konnte doch alles gar nicht wahr sein. Das musste ein fieser Albtraum sein. Er trat mit den blanken Zehen, die aus seinen Schlappen herausspitzen, gegen den Infusionsständer. Der heiße Schmerz, der seinen Fuß durchzuckte, verstärkte den Tränenfluss auf doppelte Weise, denn neben der physischen Komponente machte er ihm auch bewusste, dass es eben kein Traum war.
"Ja, ich wünschte auch, dass es so einfach wäre, aus diesem Albtraum aufzuwachen", sagte da plötzlich jemand hinter ihm und Daniel zuckte vor Schreck heftig zusammen. Als er sich umdrehte, sah er auf einem Stuhl in der hinteren Ecke des Zimmers Jans Vater sitzen, der, in sich zusammengesackt, mit auf den Schenkeln abgestützten Ellenbogen kauerte und missmutig auf seinen Sohn starrte. Daniel war unschlüssig, was er jetzt tun sollte.
"Keine Sorge. Ich schicke Sie schon nicht weg", murmelte der alte Abelt und schnaufte tief durch. "Es hat lange gedauert, aber …" Seine Stimme zitterte. "Ich will nicht, dass es zu spät ist." Er versenkte den Kopf zwischen den Handflächen und Daniel meinte ein leises Schluchzen zu vernehmen. Er konnte sich immer noch nicht rühren, daher stellte er die Frage, die ihm seit Betreten des Zimmers unter den Nägeln brannte.
"Was sagen die Ärzte?"
Jans Vater hob zwar den Kopf, starrte aber nur das Bett an, als hätte er Daniels Frage überhaupt nicht registriert.
"Herr Abelt?" Wieder keine Reaktion. Daniel atmete tief ein, nahm all seinen Mut zusammen und schob ein behutsames "Horst?" nach. Das wirkte. Horst Abelt blinzelte erstaunt und schien Daniel nun zum ersten Mal richtig wahrzunehmen.
"Lungen- und Gehirnentzündung", sagte er dann tonlos und es hörte sich an, als hätte er in den letzten vierundzwanzig Stunden diese Worte immer wieder aufgesagt, wie ein tödliches Mantra. "Sie haben ihn erstmal auf Antibiotika gesetzt und müssen ihn beatmen, sonst wäre er schon jetzt …" Er brachte es nicht über sich, den Satz zu vollenden.
"Wird er wieder gesund?"
Der Abelt sah Daniel nur entgeistert an. "Gesund?" Dann wiederholte er das Wort noch einmal geistesabwesend und so langsam, als könnte die entschleunigte Abfolge der Buchstaben dem Begriff eine andere Bedeutung verleihen, eine, mit der er zufrieden sein konnte. Doch das war offenbar nicht der Fall, da er schließlich nur müde den Kopf schüttelte. "Nein", sagte er dann. "Zu weit fortgeschritten. Ich werde noch einen anderen Arzt hinzuziehen, selbstverständlich mache ich das, jawohl. Genau!", rief er dann so plötzlich aus, dass Daniel erschrocken zusammenzuckte. Jans Vater hatte plötzlich einen fiebrigen, aber entschlossenen Ausdruck im Blick, als er an Daniel vorbeistürmte.
"Keine Sorge, Daniel", meinte er und der registrierte, dass sie ganz einfach zum 'Du' übergegangen waren. "Ich krieg' das schon hin. So einfach nimmt mir niemand meinen Sohn weg!" Und damit war er zur Tür hinaus.
Daniel ließ das erst einmal sacken, ehe er langsam an Jans Bett herantrat und dem gleichförmigen Rauschen des Beatmungsgerätes lauschte, während seine Augen der grünen Linie des EKGs folgten. Jans Gesicht war von feinen Schweißperlen überzogen, die seiner Haut ein wächsernes Aussehen verliehen, fast so, als hätte man ihn schon zur Aussegnung aufgebahrt. Daniel schüttelte diesen grauenvollen Gedanken ab, setzte sich auf die Bettkante und ergriff Jans Hand. Auch sie fühlte sich nicht wirklich menschlich an, und schon gar nicht so, wie er sie in Erinnerung hatte.
"Womit haben wir das verdient, hm?", flüsterte Daniel mit erstickter Stimme. "Ist das die Bestrafung für das, was wir Becki angetan haben? Was ich ihr angetan habe? Das ist nicht fair!" Dann legte er den Kopf auf Jans Brust und begann hemmungslos zu weinen.
Jan
Falling for loving you: https://youtu.be/KXmVTOwGtXY
Die kleine Hütte, von der Daniel gesprochen hatte, war das Bootshaus des Hotels und zu dieser Jahreszeit natürlich vollgestopft mit irgendwelchem Gerümpel gewesen. Jan wunderte sich schon ziemlich, dass das Gebäude nicht abgesperrt war, aber andererseits, wer wollte diesen Plunder schon stehlen? Als sie die Hütte betreten hatten, war er sich nicht sicher gewesen, ob das Ganze nicht vielleicht völliger Blödsinn war und sie lieber ins Hotel zurückgehen und dort in ein schönes heißes Schaumbad tauchen sollten. Aber dann hatte er den Stapel Handtücher gesehen, der inmitten dieses ganzen Chaos von einem silbernen Streifen Mondlicht erhellt wurde, das durch ein staubiges Fenster fiel. Also, wenn das mal kein himmlisches Zeichen war, dann wusste er auch nicht. Gut, was wusste er ohnehin schon davon, schließlich war er schon lange aus der Kirche ausgetreten und seinen Glauben an Gott hatte er verloren, als sein erster Freund von dessen Vater verprügelt worden war und sein eigener Erzeuger nichts Besseres zu tun gehabt hatte, ihn danach mit nichts als Verachtung zu strafen.
Aber hier, in dieser Hütte, war das hereinfallende Licht wie ein silberner Fingerzeig, dass er genau dort war, wo er sein sollte, und dass alles, was ihm bisher passiert war, ihn genau hierhergeführt hatte. Er bugsierte Daniel in Richtung des Lichts und stieß ihn mit sanfter Gewalt auf den Boden aus weichem Frottee. Daniel kicherte und sah ihn mit großen Augen von unten an. Ein seliges Lächeln lag auf seinen Lippen. Gott, wie er dieses Lächeln liebte; und diese Lippen erst. Er tauchte in den Mondschein ab und presste seinen Mund so gierig auf Daniels, als würde sein Leben von diesem einen Kuss abhängen. Und vielleicht tat es das auch, denn er wusste nicht, was passieren würde, wenn Daniel ihn je verlassen sollte. Er hätte … Verärgert kniff Jan die Augen zusammen und schüttelte diesen Gedanken ab. Der hatte hier und jetzt nichts zu suchen!
"Das war eine hervorragende Idee", hauchte er Daniel ins Ohr, während er an dessen Fliege herumnestelte. Daniel kicherte nur leise und Jan kam sich wieder wie ein Teenager beim ersten Mal vor. Nur dass sie dieses Mal nichts und niemand stören würde. Dieser Augenblick gehörte nur ihnen beiden. Schließlich hatte er die Fliege endlich entwirrt und riss Daniel förmlich sein Hemd vom Körper. Er lehnte sich ein bisschen zurück und betrachtete zufrieden sein Werk. Wie das Mondlicht so über Daniels Körper brandete, schien es seine Haut in glitzernden Marmor zu verwandeln, eine lebende Statue eines antiken Gottes. Jeder einzelne Muskel hob sich genau definiert im Licht ab, wie das perfektionierte Werk eines italienischen Renaissance-Bildhauers. Und all das gehörte nur ihm, ihm allein. Jan seufzte schwärmerisch.
"Was ist?", fragte Daniel erschrocken, doch Jan legte ihm nur seinen Zeigefinger auf die Lippen. "Sch", machte er. "Alles gut. Du bist nur so schön." Er lachte glucksend. Daniel entspannte sich und begann nun seinerseits Jan von den überzähligen Kleidungsstücken zu befreien. Bald lagen sie nackt nebeneinander in den verknäuelten Handtüchern, die sie tatsächlich ein Stück weit die Kälte, die trotz allem von draußen in das Bootshaus gekrochen war, abschirmte. Ihre Erregung tat das Übrige: Jan glaubte sogar, hin und wieder kleine Dampfwölkchen im Mondschein aufsteigen zu sehen, wenn Daniel sich aus ihrer innigen Umarmung löste, um seinen Körper wieder mit Küssen zu übersäen. Das konnte er nämlich verdammt gut. Jan lehnte sich zurück und stöhnte leise, als Daniel seinen Kopf zwischen seinen Beinen versenkte; auch das beherrschte sein Freund.
"Ich will dich", flüsterte Daniel voll mühsam zurückgehaltener Erregung, nachdem er zwischen Jans Lenden wieder aufgetaucht war und mit seiner Zunge eine im Mondlicht glitzernde Spur über Jans Bauch und Brust zu seinem Hals hinauf gezogen hatte. Jans ganzer Körper schien zu pulsieren, als er atemlos japste: "Ich dich auch." Die folgenden Augenblicke verschmolzen in einem Rausch der Hormone, in dem die Zeit gleichsam eingefroren und beschleunigt schien, ehe Jans gesamte Welt in einem bunten Kaleidoskop der Gefühle explodierte. Das hier war er, der Sinn des Lebens. Und wenn schon nicht der Sinn, dann zumindest ein verdammt guter Grund zu leben. In der unglaublich kurzen und dennoch irgendwie unendlichen Zeitspanne, die er danach in Daniels Armen lag, fühlte er sich so lebendig wie seit … eigentlich so lebendig wie noch nie in seinem Leben. Am liebsten wollte er diesen Moment einfrieren oder das Gefühl herausdestillieren und für immer bei sich tragen, um es an weniger glücklichen Tagen hervorzuholen und sich daran zu berauschen. Aber solange Daniel an seiner Seite war, würde er sowieso nicht unglücklich werden, da war er sich- …
Das Auto rumpelte über eine Bodenschwelle und riss Jan aus seinen Gedanken. Er blinzelte heftig, als die tiefstehende Wintersonne knapp unterhalb der Sonnenblende durch die Windschutzscheibe ihre Strahlen direkt in seine schlaftrunkenen Augen spießte. Er hustete und drehte sich zur Seite, um dem grellen Licht auszuweichen.
"Alles gut?", kam es von seiner Linken besorgt. Diese beiden Worte, gepaart mit diesem speziellen Tonfall, machten ihn trauriger, als er es in Worte hätte fassen können. Er wechselte die Seite, blickte Daniel fest an und meinte so ruhig wie möglich:
"Keine Sorge. Nur ein Traum."
"Schlimm?"
"Nein … von unsrer Hütte."
Ein Lächeln stahl sich auf Daniels Gesicht und Jan ging das Herz auf. Für solche Momente hatte er auf die langwierige und trotzdem sinnlose Therapie verzichtet, die der Experte seines Vaters ihm hatte aufdrängen wollen. Aber Jan hatte seinen Frieden gemacht. Seitdem er im Krankenhaus aufgewacht und zumindest von der Beatmungsmaschine befreit worden war, war ihm klar gewesen, wo seine Reise enden sollte. Wie es enden sollte. Sein Arzt hatte dankenswerterweise sehr offen mit ihm über die Optionen gesprochen, genauso darüber, wie die Chancen standen, und Jan hatte damals schon eingesehen, dass es zwecklos wäre, sich dagegen zu wehren. Wie er schon zu Daniel gesagt hatte, eine Therapie konnte ihm vielleicht noch ein paar Wochen mehr schenken, aber die hätte er dann im Krankenhaus verbringen müssen und was sollte das schon bringen? Er wollte seine letzten Momente dort sein, wo sein Leben endlich die Vollendung gefunden hatte, zusammen mit der Person, die es vollkommen gemacht hatte.
"Ja", murmelte Daniel, "das war schön." Jan bemerkte genau, wie sein Freund versuchte, sich seine bedrückte Stimmung nicht anmerken zu lassen, aber das leichte Zittern in seiner Stimme verriet ihn trotzdem. Auch wenn er wusste, wie blödsinnig das war, bekam Jan augenblicklich ein schlechtes Gewissen. Daniel könnte jetzt auch gut im Krankenhaus liegen und sich von seiner Frau pflegen lassen, nichtsahnend von dieser anderen Seite, die in ihm schlummerte, wenn sie sich damals nicht in der Kneipe getroffen hätten. Dieser Abend schien inzwischen Jahre zurückzuliegen und er haftete nur noch schemenhaft in Jans Erinnerung, denn danach war so viel passiert, dass ihm die Umstände ihres Kennenlernens – so schön es sich vielleicht angefühlt haben mochte – gar nicht mehr so wichtig erschienen. Für ihn zählte einzig und allein, dass er jetzt hier mit Daniel saß, auf dem Weg ans Meer, zu dem Ort, wo er die letzten glücklichen Stunden seines Lebens verbracht hatte und verbringen wollte.
Das klang immer noch etwas surreal in seinen eigenen Ohren, er konnte sich eigentlich nicht wirklich vorstellen zu sterben. Aber er brauchte nur den dünnen Plastikschlauch aus der Nase ziehen, der ihn mit reinem Sauerstoff versorgte, um einen Vorgeschmack darauf zu erhalten, was ihm vermutlich bevorstand. Dann nämlich, wenn seine geschädigten Lungen nur noch "Standardluft" einsogen, wurde ihm ganz schnell schwindelig und schwarz vor Augen. Es war ein keineswegs unangenehmes Gefühl – er hatte befürchtet, dass es sich wie Ersticken anfühlen würde – und das beruhigte ihn seltsamerweise. Er zuckte innerlich mit den Schultern; wenn schon sterben, dann bitte ohne leiden zu müssen.
"Wir sind bald da", verkündete Daniel und versuchte übertrieben erzwungene Gelassenheit in seine Stimme zu legen, was ihm aber misslang. Das fiel ihm wohl selbst auf, denn er murmelte ein beschämtes: "'tschuldige" hinterher.
"Schon okay", besänftige Jan. "Ich verstehe dich und du musst dich nicht entschuldigen. Es ist für uns beide eine komische Situation und …"
"Komisch?!", schrie Daniel und stieg mit voller Wucht auf die Bremse. Zum Glück war auf dieser Straße kein Mensch weit und breit unterwegs, sonst hätte Jans Vorhaben zu sterben schon ziemlich verfrüht seine Vollendung gefunden. "Komisch?", wiederholte er und seine Brust hob und senkte sich schwer. In seinen Augen standen glänzende Tränen. "Verdammt, Jan, ich fahr dich quasi zu deiner Beerdigung! Wie soll ich damit bitte normal umgehen? Wie soll ich das halbwegs durchstehen, wenn ich weiß, dass der Sitz neben mir auf der Rückfahrt leer sein wird." Die Tränen flossen nun die Wangen hinab. "Das ist doch alles scheiße!" Er schlug mit beiden Händen auf das Lenkrad ein, um seiner Verzweiflung zumindest ein bisschen Ausdruck verleihen zu können. "Es"– Schlag – "ist" – Schlag – "scheiße!" – Schlag.
Jan beugte sich zu ihm hinüber und legte ihm die Hand auf die feuchte Wange. "Es ist scheiße, ja, aber es ist okay."
"Wie könnte es denn bitte okay sein?", schluchzte Daniel. "Ich verliere dich, wo ich endlich zu dir gefunden habe, nach allem, was wir durchgemacht haben."
"Wir hatten doch schöne Momente."
"Na toll. Ich hätte aber lieber ein schönes Leben mit dir!"
"Normal ist doch langweilig." Jan brachte tatsächlich so etwas wie ein schiefes Grinsen zustande, obwohl ihm Daniels Zustand fast das Herz zerriss.
"Wie kannst du bitte so ruhig sein?" Daniel starrte ihn ungläubig an.
"Daniel." Jan atmete tief durch und sah seinem Freund fest in die Augen. "Ich hab' es dir schon mal gesagt und ich sage es gerne wieder: Ich habe mich damit abgefunden. Ich hatte die schönsten Tage meines Lebens mit dir und ich bin bereit, den Preis dafür zu zahlen."
"Aber dein Leben ist doch kein Preis!"
"Manchmal schon. Aber das ist auch egal. Ich hätte nur gerne, dass wir jetzt ins Hotel fahren, einen superschönen Abend verbringen und morgen ans Meer gehen, ja? Und kein Wort mehr über diese Scheißsituation!"
Daniels schon geöffneter Mund verriet ihm, dass schon noch das eine oder andere Wort gefallen wären, Daniel nickte schließlich nur und fuhr weiter. Den Rest der Strecke schwiegen sie wieder und irgendwann fiel Jan erneut in einen leichten Schlummer, der ihn zu der Hütte im Strand und den mondbeschienen Handtuchstapel zurückbrachte. Als Daniel einmal nach ihm sah, lag ein seliges Lächeln auf seinen Lippen.
Der Abend im Hotel verlief relativ unspannend. Sie hatten sich dazu entschlossen, sich das Essen aufs Zimmer liefern zu lassen, einerseits um ungestört zu bleiben, andererseits weil Jan mit seinem Sauerstoffgerät nicht unter andere Menschen wollte. Es reichte schon, dass Daniel seine Schwäche mitansehen musste, das musste er nicht auch noch jedem anderen Gast hier auf die Nase binden. Nach dem Hauptgericht (es gab ein köstliches Zanderfilet), stand Jan auf und ging zu seinem Rucksack, um sein Tablet herauszuholen. Er ließ sich auf dem Sofa nieder und begann auf dem Gerät herumzuwischen.
"Was machst du?", wollte Daniel wissen. Jan lächelte. Überhaupt nicht neugierig.
"Marlies und Friedrich haben mir letzthin die Fotos von der Hochzeit geschickt. Ich dachte, die wolltest du vielleicht auch mal anschauen."
"Klar, gerne!" Daniels Miene hellte sich deutlich auf. Er stand auf, kam herüber und setzte sich neben Jan. Wie ganz selbstverständlich legte er seinen Arm um Jans Schulter und rückte ganz nah heran. Das versetzte Jans Herz dann doch einen kleinen Stich, wenn er daran dachte, dass das vielleicht das letzte Mal war, dass sie so vertraut nebeneinandersaßen. Er schüttelte unwirsch den Kopf. Keinen Gedanken über das, was kommt!
"Ha schau mal!", rief Daniel und deutete auf das erste Bild. "Siehst du, wie dein Vater förmlich explodiert, als du neben den beiden am Altar stehst." Er lachte. Jan sah genauer hin und musste verblüfft feststellen, dass Daniel recht hatte. Ihm war das gar nicht aufgefallen, weil er ja schon vorher den Ausdruck im Gesicht seines Vaters gesehen hatte, als er erfahren hatte, wer Friedrichs Trauzeuge war. Aber hier war es auf Bild gebannte Verachtung. "Irgendwie schon seltsam", murmelte Jan.
"Was meinst du?" Daniel sah ihn fragend an.
"Wie sehr er sich in den letzten Wochen verändert hat. Jetzt ist er ganz der liebende Vater, den ich damals gebraucht hätte, nach der Sache mit Mark und nach der Diagnose. Aber jetzt, wo es zu spät ist, da kommt er damit an."
Daniel warf Jan einen schrägen Seitenblick zu. "Ist das nicht verständlich? Er ist trotz allem dein Vater und er liebt dich."
"Davon habe ich all die Jahre nicht viel gemerkt." Jan verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
"Es wird einem immer bewusst, wie sehr man etwas liebt, wenn man im Begriff ist, es zu verlieren." Daniels Stimme zitterte wieder und er starrte ausdruckslos in die Leere des Raums.
"Du kleiner Philosoph", versuchte Jan etwas die Spannung zu lösen. Daniel schüttelte sich, wie um die düsteren Gedanken loszuwerden, und deutete auf das Tablet. "Weiter", sagte er. Jan tat ihm den Gefallen und blätterte sich durch das virtuelle Fotoalbum.
"Stopp!", rief Daniel plötzlich und riss ihm das Gerät aus den Händen.
"Was ist denn mit dir los?", fragte Jan verwundert, erhielt aber keine Antwort, denn Daniel starrte mit einem entrückten Lächeln auf die spiegelnde Oberfläche. Tränen traten in seine Augen, als er Jan das Bild hinhielt. Der verstand sofort. Das Foto zeigte den mondlichtdurchfluteten Wintergarten des Hotels, in dessen Zentrum sie beide in einem innigen Kuss vereint standen. Der Fotograph hatte – absichtlich oder nicht – die Umgebung relativ unscharf abgelichtet und nur auf die beiden Personen in der Mitte des silbrigen Lichtkegels fokussiert, was der Aufnahme eine geradezu ätherische Atmosphäre verlieh. Jans Hände bebten, als er sie an Daniels Nacken legte, ihn zu sich heranzog und ihn so leidenschaftlich küsste wie der jüngere und sorgenfreie Jan auf dem schönsten Foto der Welt.
Als Jan am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich so stark und frisch wie schon lange nicht mehr. Die Nacht war der Wahnsinn gewesen, auch wenn sie natürlich nicht mit jener im Bootshaus mithalten hatte können – aber das hatte er gar nicht erwartet. Jan konnte es gar nicht begreifen, dass sie damit erst genau zweimal Sex gehabt hatten (wenn man die einzelnen Etappen nicht mitzählte, sondern nur die Nächte an sich), aber es war ihm auch seltsam gleichgültig. Es war unbeschreiblich schön, keine Frage, aber Jan hätte auch neben Daniel sitzen und Kreuzworträtsel lösen können und dabei immer noch eine tiefere Befriedigung verspürt, als bei manchen seiner Kurzzeitbekanntschaften. Jan drehte sich um und beobachte Daniel, der noch tief und fest schlief, auf dem Bauch, den rechten Arm unter dem Kopfkissen vergraben, den linken knapp vor seiner Nase. Einzelne Strähnen hingen ihm in die Stirn, die ausnahmsweise frei war von den Sorgenfalten, die Jan in letzter Zeit ständig dort gesehen hatte, wenn er mit Daniel geredet hatte. Im Schlaf hatte er offenbar endlich einmal Ruhe gefunden vor all dem Stress der letzten Wochen.
Jan stütze sich auf seinen Ellenbogen und fuhr mit den Fingerspitzen seiner anderen Hand sanft über Daniels Wangenknochen. Der schmatze kurz, drehte sich auf den Rücken und begann ganz leise zu schnarchen. Jan musste grinsen. Daniel war einfach nur zum Dahinschmelzen. Wieso war er ihm nicht schon früher begegnen können? Wobei, wenn er es recht überlegte, wäre das sicher nicht gut gegangen, denn dann hätte nur er sich Hals über Kopf verknallt, während Daniel weiter sein gesittetes Leben geführt hätte, mit Haus, Frau und Kindern. Es war schon irgendwie ironisch, dass ausgerechnet Jans Vater der Auslöser dafür gewesen war, dass sie beide sich überhaupt getroffen hatten, dass Jan etwas in Daniel hatte wecken können, von dem der offenbar selbst bis dahin nicht gewusst oder das er zumindest gut verdrängt hatte. Manchmal erwuchs aus einer Katastrophe wohl auch etwas Gutes.
Jan drehte sich zurück und starrte an die Decke. Auf dem Rücken liegend fiel ihm das Atmen schwerer, aber das war ihm gerade egal; auf dem Bauch ließ sich irgendwie schlecht grübeln. Er hatte einen Entschluss gefasst, aber war sich noch unsicher, ob er den Plan in die Tat umsetzen sollte. Sollte er versuchen, noch ein paar Stunden, vielleicht Tage mit Daniel herauszuschlagen? Konnte er sein Glück derart überstrapazieren? Oder war sein Gefälligkeitskonto beim Schicksal damit aufgebraucht, dass er zumindest das Krankenhaus hatte verlassen können? So ein Blödsinn, schalt er sich selbst. Wenn überhaupt, dann hatte er bei der kosmischen Gerechtigkeit noch eine ganze Menge gut für den Scheiß, den er bisher hatte erdulden müssen. Die Sache mit Mark, sein "unterstützender" Vater, die Krankheit, von Miguel verlassen zu werden, Miguels Selbstmordversuch und schließlich seine momentane Situation. Wenn das mal keine Bonuspunkte für ein nächstes Leben gäbe! Nicht dass Jan an so etwas geglaubt hätte, aber irgendwie tröstete ihn diese Sichtweise unerklärlicherweise.
"Morgen", nuschelte da Daniel in sein Ohr und Jans Welt hellte sich wieder ein Stück weit auf. "Na, schöner Mann", gab er zurück, drehte sich zur Seite und drückte seinem Freund einen dicken Kuss auf die Lippen. "Wie wär's mit Frühstück?"
"Muss ich dazu aufstehen?", nörgelte Daniel und zog die Bettdecke über den Kopf. Jan verpasste ihm einen ordentlichen Knuff in die Seite. "Nein, du Faulpelz. Ich ruf den Zimmerservice an."
Es dauerte nicht lange, da hatte man ihnen auch schon das Essen hochgebracht. Das Frühstück war einfach nur der Wahnsinn, es gab so gut wie alles, was man sich nur wünschen konnte: Croissants, Waffeln, Eier und kross-gebratenen Speck, frischen Orangensaft, eine schier unendliche Auswahl an Wurstaufschnitt und Käse, Weintrauben, Konfitüren mit den exotischsten Geschmacksrichtungen und dazu frisch aufgebrühten Kaffee. Als Jan durch das Fenster nach draußen blickte, wo der stürmische Wind graue Wolkenfetzen über den Himmel jagte, rutschte er ein bisschen tiefer in das kuschelig-warme Bett und sein Entschluss geriet ins Wanken. Er konnte einfach hier bei Daniel bleiben, in diesem Hotelzimmer, für immer und ewig, denn es war ja irgendwie klar, dass für sie beide in diesem Raum die Zeit stillstand. Nur für sie. Keine Becki, kein Miguel. Kein AIDS, kein Krebs. Nur Jan und Daniel. Ineinandergeschlungen wie Yin und Yang, zwei Teile eines größeren Ganzen.
Gott, war Jan froh, dass Daniel seine Gedanken nicht hören konnte. Das war ja schon hochnotpeinlich! Aber selbst, wenn er es gehört hätte, Daniel war ganz damit beschäftigt, das komplette Frühstückstablett allein zu vertilgen. Wo aß der Mann das bitte hin? Jan starrte ihn eine Weile lang verwundert und neidisch an, ehe es diesem auffiel.
"Wos?", nuschelte er, seine Worte von dem halben Croissant, das gerade in seinem Mund verschwunden war, undeutlich gedämpft.
"Ich frage mich, wie ich mich in so einen Fresssack wie dich verlieben konnte", meinte Jan und grinste.
"Pah!", machte Daniel und schlang den Rest vom Croissant hinunter. "Letzte Nacht war anstrengend." Ein süffisantes Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. Er stellte das Tablett auf den Nachtisch und tauchte unter die Bettdecke. "Und jetzt geht’s weiter!" Jans Lachen ging in ein lustvolles Stöhnen über.
Nach ihrer morgendlichen Matratzenübung hatten sie beide eine Dusche dringend nötig, aber sobald sie unter dem heißen Strahl standen, konnten sie wieder die Finger nicht voneinander lassen – auch wenn dieses Intermezzo nur von relativ kurzer Dauer war, da Jan ohne seinen extra Sauerstoff recht schnell die Puste ausgegangen war. Für den Mittag hatten sie sich im Spa-Bereich des Hotels eingebucht für eine berauschende Paar-Massage – als ob sie so etwas überhaupt nötig gehabt hätten. Es war allerdings tatsächlich super entspannend und während Jan so dalag, durchgeknetet wurde und Daniels Hand hielt, kamen ihm unwillkürlich die Tränen. Er drehte sich rasch zur Seite und hoffte, dass der es nicht gesehen hatte. Falls doch, gab er sich auf jeden Fall große Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Nach ihrem Wellnessausflug war es auch schon nachmittags und als sie hoch aufs Zimmer gingen, fragte Jan: "Was hältst du noch von einem kleinen Strandspaziergang?"
"Hm, ich hatte eigentlich auf ein bisschen Entspannung gehofft", meinte Daniel, aber der schelmische Ausdruck in seinen Augen verriet, was er mit "Entspannung" eigentlich gemeint hatte. Jan verdrehte die Augen. Daniel setzte einen flehenden Hundeblick auf, dem Jan einfach nicht widerstehen konnte.
"Na gut", gab er nach. "Aber danach gehen wir zum Strand, ja?"
"Versprochen", sagte Daniel und hob die Hand zum Schwur. Jan lachte und boxte gegen seine Brust. "Quatschkopf!" Dann ließ er sich von Daniel auf dem Weg zum Bett quasi aller Klamotten entledigen – wobei es teilweise schon an Magie grenzte, wie die Klamotten von Jans Haut verschwanden, ohne dass ihr Weg ins Schlafzimmer auch nur ansatzweise verlangsamt worden war.
Als sich Jan schließlich erschöpft zur Seite rollte und seinen Kopf auf Daniels Brust legte, begann es draußen bereits etwas dunkler zu werden. Er zeigte auf das Fenster.
"Jetzt aber schnell."
"Willst du wirklich noch raus?" Daniel wirkte wenig begeistert. "Das sieht ungemütlich aus."
"Ja, ich will heute ans Meer!"
"Aber das Wetter …"
"Nix aber! Auf geht’s!" Damit sprang er förmlich aus dem Bett und hatte sich so schnell angezogen wie es möglich war, wenn man erst einmal alle Klamotten aus jeder Ecke des Raumes zusammensuchen musste.
"Na gut", nörgelte Daniel. "Aber nur, weil du es bist." Er zog sich betont langsam an, offenbar in der Hoffnung, dass bis dahin die Sonne untergehen und Jans Enthusiasmus bremsen würde. Aber dazu brauchte er dann doch nicht lange genug, denn schon bald standen sie draußen auf dem Weg vom Hotel zum Strand und ihre Haare flatterten im salzigen Nordwind.
"Bist du jetzt zufrieden?", grummelte Daniel und fuhr sich genervt mit der Hand durchs Haar, in einem erbärmlichen Versuch, seine Frisur zu retten. Jan lächelte nur, sagte aber nichts. Er hakte sich bei Daniel unter und zog ihn Richtung Meeresrauschen, diesem schallgewordenen Gefühl von Freiheit und Unendlichkeit.
- Last Breath: https://youtu.be/6l6heKVKsUU -
"Hier ist es doch ganz schön", meinte er dann und deutete auf eine Stelle gerade hinter den Dünen, wo das Sandgras nicht mehr gegen die raue Natur des Meeres ankam. Er hatte Daniel einige Handtücher mitnehmen lassen, die sie nun dort ausbreiteten und sich darauf niederließen. Daniel setzte sich mit dem Rücken zur Düne, so dass Jan zwischen seine Beine krabbelte und sich an ihn anlehnte. Daniel verschränkte seine Hände vor Jans Brust und so verbrachten sie einige Minuten in seligem Schweigen.
"Hättest du das gedacht?", fragte Jan schließlich.
"Was?"
"Dass es so endet?" Jan überstreckte seinen Kopf, um Daniel ansehen zu können.
"Endet es denn?"
"Ja, ich denke schon."
Daniel atmete tief durch. "Nicht das, was man sich unter einem schönen Ende vorstellt, oder?" Jan musste grinsen. "Das habe ich damals in der Bar zu dir gesagt. Nur dass es da ums Bier ging"
Daniel nickte verblüfft. "Stimmt. Das hatte ich gar nicht mehr auf dem Schirm. Aber weißt du, es ist schon ein bisschen so, als würde mein Albtraum doch noch irgendwie wahr werden."
"Welcher Traum?"
"Ach, als wir beide im Krankenhaus lagen, hatte ich ganz oft den Traum, von der Dunkelheit verschlungen zu werden. Und von dem Abgrund, in den du stürzen wirst, aus dem dann die Nacht emporsteigt, um mich zu überwältigen."
"Passiert das denn?"
"Wie meinst du?"
"Naja, wie läuft deine Therapie so? Kannst du dem Dunkel noch entkommen?"
Daniel ließ sich mit seiner Antwort einen Tick zu lang Zeit. "Möglich." Jan drehte sich nun vollends um, was ausgesprochen unbequem war, und sah seinem Freund fest in die Augen. "Hör mir zu, Daniel! Ich weiß genau, was in deinem Kopf vorgeht und das ist Blödsinn!"
"Aber wenn ich es möchte, dann …"
"Wenn wir beide tot sind, sind wir nicht mehr oder weniger zusammen, als wenn nur ich sterbe. Dann sind wir beide einfach nur tot. Du hast etwas, wofür es sich zu leben lohnt. Lass nicht zu, dass am Ende die Nacht gewinnt. Entscheide dich für den Tag."
"Ach, und für dich hat es sich nicht gelohnt, zu kämpfen?", fragte Daniel mit leiser Verbitterung in der Stimme.
"Das ist etwas anderes und das weißt du auch." Jan drehte sich wieder nach vorne und zog, von Daniel unbemerkt, den Schlauch mit dem Sauerstoff aus der Nase. Er atmete so tief es ging die salzige Meeresluft ein, die der Wind über die schaumigen Kronen der Wellen zu ihnen heranpeitschte. Ein herrliches Gefühl.
"Ich will nicht, dass du gehst", flüsterte Daniel mit zitternder Stimme und Jan spürte, wie Tränen auf seinen Kopf tropften. Er griff nach Daniels Hand und drückte sie fest. Trotz der niederschmetternden Stimmung begann er sich irgendwie leichter zu fühlen, fast so als läge er nicht mehr auf dem Handtuch und auf Daniel, sondern auf einer weichen Schäfchenwolke.
"Ich bin immer bei dir."
"Lügner", schluchzte Daniel und es zerriss beinahe Jans Herz.
"Nein, solange du mich nicht vergisst, werde ich da sein. Und so lange kann die Nacht nicht gewinnen, klar?" Jans Augenlider wurden schwerer.
"Okay", presste Daniel mit erstickter Stimme hervor. "Dann glaube ich dir. Ich liebe dich, Jan."
"Ich weiß." Jan atmete langsam aus. "Ich liebe dich auch." Er schloss die Augen. In der Dunkelheit blitzten Bilder von ihrem ersten Kuss auf, leuchtende Konturen, die sich lange Zeit heftig dagegen wehrten, von den schwarzen Krallen der Nacht auseinandergerissen zu werden. Letztlich lösten sie sich aber allmählich in rauchige Schatten auf und die letzten Erinnerungen an die glückliche Zeit mit Daniel verschmolzen mit der Finsternis.
Epilog - Daniel
Es dauerte eine ganze Weile, ehe Daniel merkte, dass Jan nicht einfach nur eingeschlafen war, und als ihm das klar wurde, zerbrach etwas in ihm. Die Zeit schien einzufrieren und zu kaltem Glas zu erstarren, ehe seine Welt in Abermillionen kleiner, scharfkantiger Bruchstücke zersprang, die sich tief in sein Herz und seine Seele bohrten. Alles, was er danach tat, lief wie ein einprogrammierter Automatismus ab, ohne dass etwas davon in die tieferen Ebenen seines Bewusstseins vordrang. Er hatte ja bereits bei der Ankunft das Hotelpersonal über Jans Zustand informiert und ihnen genaue Instruktionen gegeben, was zu tun sei, wenn "das Ereignis" eintreten würde. Daher hatte nun ein einfacher Anruf genügt und eine feinabgestimmte Maschinerie hatte sich in Gang gesetzt, an deren Ende er in ihrem Hotelzimmer landete. Nein, korrigierte er sich, in seinem Zimmer. Denn das "uns" war gerade mit Jan gestorben. Erst als sich dieser Gedanke inmitten seiner betäubten Gedankenströme materialisierte, begann er zu realisieren, was da gerade geschehen war, und er lehnte sich mit dem Rücken an die Zimmertür und glitt beinahe ohnmächtig daran herunter. Als er da so auf dem Boden des leeren Raums saß, brach die Wahrheit in ihrer ganzen Brutalität über ihn herein und er fing an hemmungslos zu weinen. Nein, er wurde regelrecht von Heulkrämpfen durchgeschüttelt, die ihm zeitweise beinahe die Luft zum Atmen nahmen.
Hatte sich Jan am Ende auch so gefühlt? So atemlos? Daniel biss sich auf die Lippe, um zumindest das laute Schluchzen zu unterdrücken, das immer wieder aus ihm hervorzubrechen versuchte – er wollte schließlich nicht, dass das ganze Hotel von seiner Verfassung Wind bekam. Schon schräg, kam ihm der Gedanke, da machte er sich Sorgen darüber, was die Welt von ihm denken könnte, dabei war seine ganze Welt gerade mit Jan untergegangen. Aber was wollte er schon machen? Es war von Anfang an klar gewesen, dass diese Reise so ausgehen würde, nur hatte er es bisher einfach nicht wahrhaben wollen. Jans Ärzte hatten ihm unmissverständlich erklärt, was passieren würde, doch Daniel hatte einfach bis zuletzt auf ein Wunder gehofft. Aber so etwas war eben dumm und kindisch.
So wie bei mir, dachte er verbittert. Er stemmte sich mühsam hoch und wankte ins Bad. Der Blick in den Spiegel ließ ihn beinahe vor sich selbst zurückschrecken, so wenig erkannte er sich in dem Gesicht, das ihm da entgegenstierte. Die geröteten Augen dunkel umrandet, die Wangen eingefallen, die Haut blass und von einem ungesund aussehenden Mattteint. Wenn er schon so aussah wie eine lebende Leiche, dachte sich Daniel, dann konnte er doch genauso gut einen Schritt weitergehen, oder? Was hatte sein Leben denn bitte noch für eine Bedeutung ohne Jan? Er hatte alles aufgegeben für diese Beziehung, dafür, dass er im Endeffekt gerade einmal ein paar schöne Wochen mit Jan gehabt hatte – und selbst die waren durch verschiedenste Ereignisse und Miguels Selbstmordversuch in ihrer Reinheit beschmutzt worden.
Bis auf diese Nacht im Bootshaus. Daniel musste lächeln, und selbst das wirkte in seinem Totenkopfspiegelbild irgendwie beängstigend. Diese Nacht, Jan im Mondlicht, das erste Mal, dass sie Sex hatten – und der war einfach fantastisch gewesen. Daniel konnte und wollte das gar nicht mit Becki vergleichen, denn es war schlichtweg etwas komplett anderes gewesen. Und jetzt war es für immer vorbei. Daniel stützte sich schwer atmend auf das Waschbecken und starrte minutenlang unbewegt in seine eigenen abgestumpften Augen. Was sollte er noch hier? Wenn man an ein Leben nach dem Tod glaubte, dann wäre das doch viel eher dafür geeignet, wieder bei Jan zu sein, anstatt hier allein zurückzubleiben. Und eigentlich war es ja ganz einfach.
Daniel griff zu seinem Kulturbeutel und holte die Packung Tabletten heraus, die ihm sein Arzt mitgegeben hatte. "Nehmen Sie die bitte regelmäßig. Das ist entscheidend", hatte der ihm eingeschärft. Daniel runzelte die Stirn. Und von diesen kleinen Dingern sollte jetzt sein Leben abhängen. Er schnaubte wütend und drückte sie alle aus ihrer Verpackung heraus in seine Hand. Dann zog er den Stöpsel aus dem Waschbecken und begann seine Handfläche zu neigen, um die Tabletten in den Ausguss zu schütten. Da meinte er im Spiegel hinter sich eine Bewegung wahrzunehmen. Er wandte sich um, aber natürlich war dort niemand. Aber als er sich zurückdrehte, sah er neben sich im Spiegel plötzlich Jans Gesicht, auf dem ein verärgerter und doch trauriger Ausdruck stand.
"Was machst du denn da?", hörte er Jan seltsam verzerrt fragen. Er starrte auf die Pillen in der Hand und zuckte dann gleichgültig mit den Schultern.
"Ist doch egal! Du bist weg, was soll ich hier?"
"Daniel, das habe ich dir doch schon gesagt. Du darfst die Nacht nicht gewinnen lassen! Du wirst noch gebraucht."
"Aber du …"
"Ja, ich bin weg, aber es gibt noch Leute, die dich brauchen."
"Becki kommt gut allein zurecht …"
"Ich rede doch nicht von Becki, du Dummkopf." Jan schüttelte betrübt den Kopf. Und plötzlich tauchte neben ihm Lisa auf, die Daniel aus großen Augen ängstlich anblickte.
"Du fehlst mir, Papa", schluchzte sie. Daniel begann zu zittern. Sein Blick fiel erneut auf seine Tabletten und endlich fragte er sich, was er da eigentlich tat.
"Und das ist eine wirklich gute Frage", meinte Jan mit einem verschmitzten Grinsen. Neben Lisa tauchte nun auch Jakob im Spiegel auf. "Papa, kommst du bald wieder?", fragte er und die kindliche Hoffnung stand ihm groß ins Gesicht geschrieben.
Erneut traten Daniel Tränen ins Gesicht, aber diesmal nicht aus Trauer, sondern aus Scham über seinen selbstsüchtigen Plan. "Ja", schniefte er. "Papa ist bald wieder bei euch."
Damit schüttete er die Tabletten in den Beutel zurück, warf dem Jan im Spiegel einen dankbaren Blick zu, den dieser lächelnd erwiderte, ehe er wieder zu der Erinnerung wurde, die ihn hervorgerufen hatte, und ging ins Wohnzimmer zum Telefon.
"Hallo Becki", sagte er, als sie abgenommen hatte. "Kannst du mir bitte mal die Kinder herholen?" Als er das fröhliche Quietschen der beiden aus dem Hörer schallen hörte, wusste er, dass das die richtige Entscheidung gewesen war. Die Welt gehörte den Lebenden. Und so sehr Jan ihm auch fehlte, der würde immer ein Teil von ihm sein und dadurch genauso lange leben wie er selbst. Und allein deswegen lohnte es sich zu kämpfen.
Damit das Dunkel fernblieb von seiner Welt, damit am Ende die Nacht nicht doch noch triumphierte.
Our Secret (End Titles): https://youtu.be/CZP2PEAJydE
Nachwort
So, nun habe ich es also doch noch zu Ende gebracht und ich hoffe für die Leute, die von Anfang bis Ende durchgehalten haben, dass sie damit leben können. Bei einem über beinahe 9 Jahre dauernden Schreibprozess kommt es leider immer wieder zu Änderungen der Intention und des Plans und das war hier nicht anders. Dem Titel nach wollte ich tatsächlich zuerst "Am Ende die Nacht" siegen lassen, ein Ende, bei dem die zwei nur kurz getrennt und schließlich im Tod wieder vereint wären. Aber je näher ich mich mit ihren Charakteren beschäftigte, umso deutlicher wurde für mich, dass Daniel nie so verantwortungslos sein könnte. Das ist einfach nicht er, egal wie sehr er Jan auch geliebt hat. Für seine Kinder da zu sein, das steht bei ihm über allem und der "einfache" Weg hätte diese Bestimmung zunichte gemacht.
Für Jan dagegen – so hart es auch klingt – gab es von Anfang an kein Happy End. Nicht, dass ich ihn nicht mochte, nein im Gegenteil (immerhin steckt ja auch ein kleiner Teil von mir in ihm), er ist mir über die ganze Geschichte hinweg immer mehr ans Herz gewachsen. Er ist das konzentrierte Klischee der Community (HIV-krank, intolerante Eltern, die ihn nach dem Coming-Out verstoßen), aber dennoch ein leuchtendes Beispiel dafür, dass solche Schicksalsschläge nicht das Ende sein müssen – es aber manchmal eben doch sind. Diese Krankheit mag heute durch die Medikamente in der Wahrnehmung vieler unter Kontrolle sein, aber es ist Kontrolle, keine Heilung. Anders als Daniel, dem ich durch eine (nicht-existente) experimentelle Therapie das Leben gerettet habe, sollte Jan an einer mittlerweile, meiner Meinung nach, verharmlosten Krankheit sterben – auch um wachzurütteln. Es gibt die Therapie, ja, aber es ist kein Allheilmittel.
Ich hoffe, dass dieses moralisierende Nachwort den Lesegenuss nicht schmälert und man möge es mir nachsehen, denn es wurde nach einigen Gläsern Wein verfasst. So verbleibe ich nun mit:
Lasst die Nacht nie gewinnen!
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