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Das Blond des Erfolgs

Teil 2

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Redaktion

Liebe Leser,

die folgende Geschichte befasst sich unter anderem mit der Thematik Suizid. Dies ist ein sensibles Thema, das Nickstories.de nicht unkommentiert lassen kann und will. Deshalb haben wir uns entschieden diese Geschichten generell mit einem Vorwort zu versehen.

Für uns ist dieses Thema in Stories kein Tabu, aber wir wollen deutlich machen, dass Selbstmord mit Sicherheit kein Weg ist, um ein Problem zu lösen. Jeder, der sich in einer scheinbar aussichtslosen Lage befindet, sollte wissen, dass er Hilfe finden kann.

Wenn du jemanden kennst, der über diesen Schritt nachdenkt oder ihn geäußert hat, solltest du das nicht auf die leichte Schulter nehmen und versuchen mit dieser Person zu reden. Erst dann wird deutlich, wie ernst die Lage wirklich ist.

Wenn du über Selbstmord nachdenkst, bitten wir dich, Kontakt mit einer Hilfseinrichtung aufzunehmen, bevor du etwas tust, das für deine Freunde und deine Familie ein unwiederbringlicher Verlust sein wird.

Informationen und Notrufnummern findest du z.B. unter: www.telefonseelsorge.de

3 - Freunde und Feinde

Zuerst dachte ich, ich wäre in einer anderen Welt gelandet. Der Raum war komplett mit dunklem Nussbaumholz getäfelt und so spärlich beleuchtet, dass man für den ersten Moment rein gar nichts erkennen konnte. Erst als sich meine Augen langsam an die ungewohnte Finsternis gewöhnt hatten, sah ich mehr von der seltsamen Einrichtung. Es gab lediglich einen einzigen - ziemlich unbequem aussehenden - Stuhl aus Holz vor einem hohen, etwas angelaufenen Spiegel. Dahinter stand ein kleiner Hocker mit einer Sitzfläche aus abgewetztem Kunstleder.

Soweit das wenige Licht, das die einzelne Glühbirne, die nackt an einem Kabel von der Decke baumelte, in den Raum warf, erkennen ließ, hatte man hier schon lange nicht mehr sauber gemacht. In fast allen Ecken hingen riesige Spinnennetze, auf der spartanischen Einrichtung - einem Sideboard, zwei Kommoden und mehreren Regalen, in denen sich verschiedene Töpfe stapelten - konnte man sogar trotz des schwachen Lichtes eine dicke Staubschicht erkennen.

Was mach ich hier eigentlich?, fragte ich mich. So wie das hier aussah, war schon seit ewiger Zeit niemand mehr hier gewesen - was bei dieser Aufmachung auch nicht verwunderlich war. Ich kam mir mehr wie in einem Museum vor als einem Friseursalon. Doch gerade als ich die Türklinge wieder in der Hand hatte und nach Hause gehen wollte, trat plötzlich eine Gestalt aus dem Schatten in den schwachen Lichtkegel der Lampe.

"Du willst schon wieder gehen? Ohne bedient worden zu sein?"

Danke, ich bin schon bedient - das alles hier reicht mir. "Naja …", sagte ich anstelle dessen, was ich eigentlich dachte. Dieser Typ kam mir irgendwie seltsam vor. Bradleys Beschreibung war sehr treffend gewesen. Er reichte mir kaum bis zu Schulter - und ich war schon einer der Kleinsten meines Jahrgangs - was durch seinen Buckel nur noch deutlicher auffiel. Seine grauen Haare hingen in fettigen Strähnen in sein Gesicht und verliehen ihm irgendetwas Wildes. Das Einzige, das nicht zu seiner Gesamterscheinung passen wollte, waren seine Hände.

Ich hatte noch nie so … schöne Hände gesehen. Ja, ein anderes Wort würde nicht passen. Seine Finger waren ausgesprochen lang und schlank, aber dennoch strahlten sie eine besondere Stärke aus. Sie wirkten zerbrechlich und schienen zugleich auch fest zupacken zu können. Und im Gegensatz zu dem von Falten zerfurchten Gesicht des Mannes hatte die Zeit auf ihnen keinerlei Spuren hinterlassen. Hätte ich nur die Hände gesehen, hätte ich vermutet, einem höchstens Dreißigjährigen gegenüberzustehen. Aber ein Blick in sein Gesicht machte diesen Eindruck sofort zunichte. Er musste mindestens 80 sein.

"Das hört sich so an, als wüsstest du nicht, warum du überhaupt hier bist", bohrte der Mann nach. Ich sah ein bisschen verzweifelt zur Tür zurück, entschied mich dann aber zu bleiben.

"Na ja, ich bin erst vor einem Jahr hergezogen … und da hab ich gedacht …"

"Du könntest ein bisschen deine Beliebtheit durch eine Aussehensänderung erhöhen?"

"Nein, eigentlich wollte ich nur alle Läden ansehen, die es hier gibt. Und dieser hier ist … besonders."

"Oh, ja. Das ist er." Der Alte lächelte tiefgründig. "Aber wenn du schon mal hier bist, willst du dann vielleicht doch eine neue Frisur?"

"Ich weiß nicht." Ich betrachtete mich kurz im Spiegel. "Eigentlich bin ich mit meiner Frisur so ganz zufrieden."

"Vielleicht brauchen dein Leben und du etwas Farbe." Wieder sein seltsames Lächeln.

"Also, ich weiß nich' …"

"Also wirklich!" Der Alte schien aufgebracht zu sein. "Die Leute kommen zu mir, wenn sie wissen, was sie wollen, wenn sie ein ernsthaftes Anliegen haben und nicht einfach nur so!"

"Ja okay, ist ja schon gut", versuchte ich zu beschwichtigen. "Ich geb' ja zu, dass ich schon gerne etwas mehr Erfolg bei Männern hätte. Es ist so verdammt langweilig, alleine zu sein."

"Bei Männern?" Er schien neugierig zu sein.

"Mein Privatleben geht Sie nun wirklich nichts an! Ich möchte einfach nur Glück beim Kennenlernen von Männern haben und außerdem ein paar mehr Freunde." Irgendwie konnte ich mich nicht bremsen. Mir fielen auf einmal tausend Dinge ein, die ich - mehr oder weniger - wollte. "Ich will auch, dass meine Eltern mehr Zeit für mich haben, ich will mehr Geld, das Übliche halt. Aber da können Sie mir ja eh nicht helfen."

"Nein, wirklich nicht. Das liegt nur an dir. Genauer gesagt daran, um welchen Preis du erfolgreich sein möchtest." Sein Blick wurde irgendwie … gierig. "Das allein bestimmt, welche deiner Wünsche in Erfüllung gehen. Denn dein Erfolg bestimmt, was du erreichen kannst. Also, was würdest du dafür geben?"

Das hörte sich alles so schön an, dass ich in Versuchung geriet, Alles zu sagen. Doch dann fiel mir eine Passage aus Bradleys Brief ein: Erfolg um jeden Preis, das ist etwas, das nicht erstrebenswert ist. Ich habe es nicht geglaubt und bezahle nun schon mein Leben lang dafür. Vielleicht hatte er damit ja recht.

"Ich will eigentlich nur meine Unschuld verlieren. Mehr Glück brauche ich gar nicht." Im ersten Moment war ich selber überrascht über meine Worte, dann entsetzt und fassungslos. Wieso hatte ich gerade einem komplett Fremden meinen geheimsten Wunsch mitgeteilt?

"Nur? Das ist auch schon ganz schön viel", meinte der Alte und sein Blick sah irgendwie enttäuscht aus. "Aber es ist gerade so wenig, dass wir wohl mit ein paar modischen Strähnchen auskommen sollten. Das dürfte dir genügend Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen den Richtigen zu finden. Da bist du übrigens der Erste. Setz dich." Er wies auf den Holzstuhl, holte einen mottenzerfressenen Umhang aus dem Sideboard und warf ihn über mich.

"Wie viel muss ich eigentlich bezahlen? Ich hab' nämlich nich' viel Geld dabei."

"Och, bei deinem Wunsch nicht sonderlich viel. Die meisten meiner Kunden bezahlen eh erst später."

"Das heißt, Sie arbeiten im Voraus? Das ist sicher manchmal schiefgegangen, oder?"

"Weißt du, irgendwann bezahlen sie immer. Du erinnerst mich stark an einen meiner Kunden, der hier vor gut zehn Jahren herkam. Er war verzweifelt und wollte Erfolg um jeden Preis. Ich hab' ihm eine Frisur verpasst, die sein Leben verändert hat. Er hatte plötzlich so viel mehr Aufmerksamkeit und der Erfolg blieb nicht aus. Erst letzte Woche hat er sich selbst umgebracht. Schrecklich."

Der sachliche, nüchterne Ton, mit dem der Alte über diese schreckliche Sache sprach, verhöhnte den Inhalt der Worte. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter.

"Den meisten meiner Kunden ist der Erfolg irgendwann zu viel geworden. Oder sie haben erkannt, welchen Preis sie dafür gezahlt haben. Denn du musst wissen, dass jeder Mensch, der auf einmal erfolgreich und berühmt wird, all seine alten Charakterzüge ablegt und sich komplett wandelt, weil er den neuen Erfolg um jeden Preis festhalten will.

Doch vielen fällt dabei nicht auf, dass sie auch Eigenschaften verlieren, die sie individuell machen. Die sie zu etwas Einzigartigem machen - oder gemacht haben. Sobald sie Erfolg haben, biedern sie sich der Masse an, um ja nicht wieder als Einzelgänger zu enden. Das mag vielleicht ein paar Jährchen gut gehen, aber irgendwann stellt jeder von ihnen fest, dass er sich selbst verloren hat. Dass er sein Selbst aufgegeben hat für ein bisschen Ruhm, Geld oder Beliebtheit. Viele verkraften das nicht. Sie fangen an zu trinken, nehmen Drogen oder sich das Leben.

Ich warne jeden meiner Kunden davor. Eigentlich ist es allen egal. Zumindest am Anfang. Später war noch jeder von ihnen wieder hier, weil er bezahlen musste. Darum mach dir mal keine Sorgen über meine Entlohnung. Außerdem dürfte der Preis bei dir nicht allzu hoch sein. Schließlich willst du ja nicht um jeden Preis Erfolg, sondern nur Sex. Ist doch so?"

Erstaunt über diese prägnante Formulierung meines Problems konnte ich nur nicken.

"Siehst du, das wird es dir sicher einfacher machen. Du wirst dich nicht selbst verlieren. Was dein Preis ist, kann man schwer sagen. Nur eins ist sicher: Du wirst ihn zahlen - früher oder später."


08.11.1999

Ach es ist alles so toll! Gestern hab' ich mich ja mit diesem Typ getroffen und der meinte doch tatsächlich, dass er mich gerne zu einem Casting für 'nen Film einladen würde. Und dass ich sehr gute Chancen hätte. Ich sähe gut aus und ihm gefiele mein Charakter. Nächste Woche muss ich da hin und eine vorbereitete Szene vorspielen. Aber da hab' ich keine Bedenken. Denn seit heute weiß ich, dass ich alles schaffen kann. Heute war ich ja nach der Schule bei ihr, wir haben zuerst etwas Latein gemacht und dann hab' ich ihr von diesem Filmtypen erzählt.

Sie war hin und weg. Ich sollte ihr genau erzählen, was ich denn genau tun müsste. Weiß ich nich', hab' ich gesagt. Schließlich hab' ich die Rolle ja noch nicht. Aber sie fand das trotzdem unheimlich cool und toll und spannend und ich weiß nich' was alles noch. Sie kam auf jeden Fall nicht mehr aus dem Schwärmen heraus.

"Stell dir das mal vor", sagte sie. "Du, einer aus unserer Klasse, wird ein Filmstar. Das ist echt unheimlich cool!" Fand ich auch. Noch toller fand ich allerdings, dass sie ganz normal mit mir geredet hat. Normalerweise hatte sie immer nur ein überhebliches Grinsen für mich übrig, wenn ich mich vor ihr mal wieder total zum Deppen gemacht hab'. Das muss an meiner neuen Frisur liegen. Ich fand das Blond zwar etwas gewöhnungsbedürftig, aber anscheinend haben's blonde Menschen einfacher im Leben.

Ich hab' da ja gehört, dass das für Blondinen - also jetzt blonde FRAUEN - wohl besonders gilt. Dass es auch auf blonde MÄNNER zutrifft … naja, mir soll's recht sein. Bringt mir ja nur Vorteile.

In der Schule waren heute auch irgendwie fast alle netter zu mir. Nur Harry hat kein Wort mit mir geredet. Vermutlich hat er wieder Kummer wegen dieses Jungen. Er sollte sich den Typen gleich aus dem Kopf schlagen. Was will er denn mit einem Dreizehnjährigen? So was ist strafbar, verdammt! Und ich will nicht, dass mein bester Freund wegen 'ner Beziehung zu 'nem Kind in den Knast wandert.

Dazu ist er mir viel zu wichtig.

Ich hatte diese Zeilen gelesen und war danach an den Spiegel getreten, um mein neues Erscheinungsbild zu überprüfen. Da ich ja ein einigermaßen geschultes Auge dafür besaß, wann ein Mann gut und geil aussah, konnte ich nicht anders, als mir diese Attribute zuzuschreiben. Ich konnte mir nicht erklären, woran es genau lag, aber ich fand mich plötzlich unwiderstehlich. Die blonden Strähnen zierten bloß die Haarspitzen und dennoch veränderten sie meinen ganzen Kopf. Wo mich meine widerspenstige Frisur sonst nur genervt hatte, sah sie jetzt mit den hellen Spitzen irgendwie verwegen und … süß aus. Naja, so hätte ich es vielleicht bei jemand anderem beschrieben, der so ausgesehen hätte.

Entgegen meiner ursprünglichen Befürchtung fügte sich die kleine Narbe mitten in der Stirn nahtlos in mein neues Gesamtbild ein, das mir von Minute zu Minute besser gefiel. Vielleicht sollte ich meine neue Anziehungskraft heute gleich mal testen und in die Rainbow-Lounge gehen. Ja, ich fand es selbst verwunderlich, dass dieses Kaff einen Schwulen-Club hatte, aber natürlich fand ich die Tatsache nicht sonderlich schlimm.

13.11.1999

Ja, ich hab' länger nicht geschrieben. Aber ich hatte leider keine Zeit. Entweder hat mich Harry mit seinen Problemen zugetextet oder sie mit ihren Fragen zu Latein oder mein Manager. Hörst du, ich hab jetzt einen Manager. Jaah, er heißt Rolf Becker und ist ein unheimlich netter Typ. Gar nicht viel älter als ich. Der Kerl, der mich zum Casting eingeladen hat, hat ihn mir vermittelt, gleich nachdem ich gewonnen hab'.

Jaah, ich bin jetzt ein Schauspieler. Find' ich super. Ich mein', ich musste mich auch so immer verstellen, um meine Wut gegenüber diesen ganzen Ignoranten nicht hervorbrechen zu lassen. Da wird so 'ne kleine Filmrolle sicher kein Problem werden. Soll 'ne Komödie werden. Hab' das Drehbuch schon gelesen, ist echt witzig. In meiner Klasse werde ich deswegen schon vielmehr beachtet. Die Leute interessieren sich plötzlich für mich.

Ganz besonders sie. Es ist einfach herrlich. Ich war schon zweimal bei ihr, um wieder zu lernen. Aber wir unterhalten uns die ganze Zeit nur über belangloses Zeugs. Manchmal schaut sie mir tief in die Augen und ich würde sie am liebsten küssen. Aber irgendwie geht das nicht. Sie hat mich die ganze Zeit nicht beachtet, also soll sie auch den ersten Schritt machen. Falls sie wirklich mehr will. Aber ich hab' schon mitbekommen, dass inzwischen mehr Mädels was von mir wollen. Ich hab' auf einmal so viele Freunde. Es ist Wahnsinn!

Nur Harry verhält sich anders. Ich denke, das hat mit diesem "Kind" zu tun. Letzthin hat er ihn mir gezeigt. Er sieht wirklich süß aus - was aber daran liegt, dass er eben noch halb wie ein Kind aussieht. Blonde Haare, blaue Augen, ein wandelndes Klischee. Der wird später nie Probleme haben, 'ne Freundin zu finden - oder 'nen Freund, wenn es nach Harry geht. Dieser Depp hat seinem Schwarm doch tatsächlich Mathenachhilfestunden angeboten! Ich glaub', der will unbedingt in den Knast!

Wie zum Teufel will er sich unter Kontrolle halten, wenn ihm dieser Junge zweimal die Woche gewissermaßen ausgeliefert ist? Wenn er in seiner Nähe ist, er seinen Duft riechen kann, seine Finger ganz nahe an dessen Haut liegen, nur eine Handbreit davon entfernt, so nah, so verführerisch.

Verdammt, was laber ich da nur? Es ist Harrys Sache, nicht meine. Aber eins ist klar: Wenn er diesen Jungen auch nur anlangt, ist er die längste Zeit mein Freund gewesen. Ich decke doch keine Päderasten!

Nun ich hoffe, dass ich das nächste Mal eher schreiben kann, aber sicher bin ich nicht.


Fröstelnd zog ich meine Jacke enger an meinen Körper, als ich durch den eisigen Wind stapfte. Warum musste ausgerechnet heute meine Mutter mit dem Auto unterwegs sein? Sonst nahm sie doch auch immer den Bus. Naja, egal. Ich bin in Hochstimmung. Klar, der letzte Eintrag aus dem Tagebuch war wieder einmal ernüchternd, was Bradleys Toleranz anging - wobei ich es ihm eigentlich fast nicht verdenken konnte. Dennoch konnte mir das meine gute Laune nicht verderben. Mir ging es zum ersten Mal seit Tagen wieder richtig gut und ich hatte das Gefühl, alles schaffen zu können, was ich wollte.

Gerade wollte ich in die Straße einbiegen, in der die Rainbow-Lounge lag, da wurde ich unsanft am Arm gepackt.

"Guck mal, Mirko, was wir hier haben", ätzte eine tiefe Stimme. "Wieder einer von denen."

"Dem seine Eier müssen ganz schön geschwollen sein, wenn der hierher kommt, der kleine Spasti!"

"Wegen dem und seinen Fickbekanntschaften traut sich mein kleiner Bruder nachts nich' mehr auf die Straße, Alter. Hat Angst, dass sie ihn in 'ne Gasse zieh'n und ihm sein' Arsch entjungfern!"

"Haste recht, Martin! 'ne Schande, dass die Macker hier so 'nen Fickschuppen erlaubt ham. Wie die schon rumlaufen!" Der Typ namens Mirko öffnete mit einem Ruck meine Jacke, sodass darunter mein leicht transparentes schwarzes Nylon-Shirt zutage kam.

"Schau den perversen Sack an, ey! Warum hängt er sich nich' gleich 'n Schild um, wo FICK MICH draufsteht, hä? Würd' dem echt gern meine Faust in den Arsch rammen, aber ich will ihm ja keinen Gefallen tun, stimmt's Leute?" Hämisches Lachen.

"Was dem Schwanzlutscher seine Eltern bloß für Menschen sin', dass sie so was geboren ham? Bestimmt ham die's mit Tieren getrieben und der Spasti is' die Strafe dafür."

Ich sagte zu all dem nichts. Was denn auch? Gegen solche Idioten konnte man einfach nichts machen. Wenn ich halbwegs heil aus der Sache rauswollte, hielt ich einfach schön weiter meine Klappe.

"Nils, was meinste, warum der sein Maul nich' aufbekommt?"

"Bestimmt noch 'ne Ladung Wichse vom Lover drin, ne?" Wieder dreckiges Lachen.

"Hey, kennt ihr den schon? Wie viel Wichse hat 'n Schwuler? - 'N ganzen Arsch voll!"

"Boah, Alter, der war geil!"

"Ihr müsst es ja wissen, ob das geil ist", meinte ich leise. Und biss mir sogleich auf die Lippen.

"Was war das? Ey, der Schwanzlutscher will uns verarschen! Fett! Dann isses Notwehr, wenn ich ihm eins auf die Fresse geb'."

"Wie wärs, wenn du das lässt und stattdessen mit deiner Mutter fickst?", mischte sich plötzlich eine andere Stimme ein.

"Hä, was bist du denn für 'n Affe?"

"Bestimmt auch einer vom Arschfickverein."

"Ja, aber Mirko, der sieht verdammt stark aus", flüsterte Nils seinem Kumpan zu.

"So was aber auch!", höhnte der Fremde. "Jetzt wisst ihr nicht, wie ihr da wieder rauskommt. Gegen mich gewinnen könnt ihr nicht, dafür bin ich zu stark. Verlieren könnt ihr auch nicht. Wer will schon gegen 'ne Schwuchtel verlieren, was? Hm, am besten ihr versucht es erst gar nicht, sondern denkt euch schön 'ne Geschichte aus, wie ihr mich heftig vermöbelt habt. Weiß ja keiner, dass eure Klappe so groß ist wie euer Hirn klein. Und jetzt zieht Leine!"

Unter heftigsten Flüchen - die ich jetzt nicht wiedergeben möchte - zogen sie tatsächlich ab. Ich lehnte keuchend an der Wand und starrte nur zu Boden. Das war knapp!

"Hey, Kleiner. Alles okay bei dir?"

Ich sah auf und versank im eisblauen Meer seiner Augen. Mir war ohnehin schon kalt, doch jetzt begann ich noch mehr zu zittern.

"Danke … ich … die … das … ich … danke", stotterte ich.

"Ach kein Ding. Solche Spackos darfst du nich' allzu ernst nehmen. Schau dir doch nur mal an, wie die laufen. Als hätten sie in die Hose geschissen. Und sie meinen, das schaut cool und machomäßig aus. Kein Mensch würde so laufen. Aber es soll halt so aussehen, als hätten sie 'nen ganz Dicken in der Hose. Alles bloß Fassade." Der Fremde lachte und schüttelte seine dunkelblonden Haare, die ihm danach in einzelnen Fransen ins Gesicht fielen.

Ich wollte zu gerne irgendetwas Geistreiches erwidern, aber meine Gedanken waren wie eingefroren. Da lag sie, meine Gelegenheit zur Beziehung, und ich schaffte es nicht einmal, den einfachsten Satz zu formulieren.

"Wolltest du gerade in die Lounge?", fragte er. Angesichts meiner Aufmachung war diese Frage eher eine goldene Brücke für ein Gespräch.

"Eigentlich schon, aber ich weiß nicht, ob mir jetzt noch nach Tanzen ist." Wow, das war ja richtig gekonnt und nicht mal gestottert!

"Ach was. Lass dir von solchen Idioten doch nicht den Abend verderben."

"Besser kann er doch nicht mehr werden." Uups. Hatte ich das gerade wirklich gesagt? Ich sah ein Lächeln über sein Gesicht huschen und beschloss aufs Ganze zu gehen: "Hast du Lust, was trinken zu gehen. Ich würd' mich gern revanchieren."

"Quatsch, das musst du nicht. Das war nicht der Rede wert", wollte er mich gerade abwimmeln. Ich beschloss, hartnäckig zu bleiben.

"Bitte. Schließlich hast du mir gerade das Leben gerettet."

"Bisschen melodramatisch … findest du nicht?" Wieder ein zuckersüßes Lächeln. "Aber bevor wir draußen noch festfrieren: Was schlägst du vor?"

"Da hinten ist ein kleines Café, weiß nich', ob du's kennst."

"Nee, ich bin neu hier."

"Dacht ich's mir doch. Jemand wie du wäre mir vorher schon mal aufgefallen."

"Sag' mal, flirtest du gerade mit mir?"

"Kann sein", erwiderte ich und lief federnd an ihm vorbei. Nach ein paar Schritten hatte er mich eingeholt.

"Hey! Wenn das hier zu deiner Strategie gehört, dann solltest du die mal überdenken. So unwiderstehlich bist du nämlich nicht."

"Hat das wer behauptet?"

"Verdammt! Hab' ich mich jetzt verraten?" Er lachte. "Normalerweise bin ich ja nicht so direkt, aber du bist irgendwie süß. Es wäre wirklich eine Schande gewesen, wenn diese Deppen dein schönes Gesicht verunstaltet hätten. Obwohl …", er hielt mich kurz fest, um im Schein einer Straßenlaterne mein Gesicht zu begutachten, "… obwohl es zu deiner kleinen Narbe da ganz gut gepasst hätte." Er fuhr mit dem Finger über meine Stirn.

"Betatscht du jeden, den du gerade kennenlernst?", fragte ich provozierend.

"Nur die, die es wert sind", meinte er und piekste mich mit dem Zeigefinger unterhalb des Rippenbogens. Ich zuckte zur Seite.

"Hey! Ich hasse das."

"Gut zu wissen." Ein erneuter Piekser.

"Womit hab' ich das nur verdient?"

"Vielleicht wegen deines Aussehens?"

"Du bist ein Schleimer! Eigentlich sollte ich sofort wieder nach Hause gehen. Leute die mich pieksen und ärgern, brauch ich nicht."

"Und was ist mit Lebensrettern?"

"Okay, die könnte ich vielleicht gebrauchen."

"Gut, dann bin ich jetzt dein Aufpasser. Oder noch besser: Dein Bodyguard."

"Erwart' jetzt aber nicht, dass ich And I will always love you sing'. Das willst' nicht wirklich hören."

"Och, wer weiß. So 'nen kleinen Tinnitus würd ich schon vertragen." Er grinste frech.

"Idiot", zischte ich und knuffte ihm in die Seite.

"Ich find' dich auch sehr nett", meinte er und grinste. "Also dann bin ich mal gespannt, wo dein tolles Café ist."

Ich konnte mein Glück kaum fassen. Mein neues Styling hatte mir sofort weitergeholfen. Ich hatte einen unheimlich süßen Typen getroffen, der Ambitionen zum absoluten Hyper-Traummann hatte. Und dieser Typ mochte mich sogar! Ich warf mich den Rest des Abends voll ins Zeug, um ihn von mir zu überzeugen, ihn gewissermaßen zu fesseln.

Ich erzählte ihm von meinem Umzug, von meiner Schwärmerei für Bradley, die er bedingungslos teilte. Ich hätte vor Glück laut aufschreien können. Wir redeten fast den ganzen restlichen Abend über unser beider Idol. Er wusste wirklich viele Dinge über Bradley, Dinge, von denen ich nie zuvor gehört hatte. Aber auch Geschichten, die nur mir als echtem Fan bekannt waren. Das überzeugte mich davon, dass er mir nichts vormachte, sondern echtes Interesse an Pitt Bradley gehabt hatte.

Der Abend ging so rasend schnell vorbei und ich schwebte so auf Wolke sieben, dass ich vergaß, nach seinem Namen und seiner Handy-Nummer zu fragen. Natürlich fiel mir das erst auf, als ich bei mir zu Hause war und meinen Schlüssel ins Schloss steckte. Ich fluchte leise. So was konnte auch nur mir passieren. Da traf ich vielleicht den Mann meines Lebens und dann riskierte ich es, ihn nie wiederzusehen. Na vielleicht musste ich nur öfter in die Lounge gehen, dann würde ich ihn bestimmt wiedertreffen. Zumindest hoffte ich das.


24.11.1999

So langsam frage ich mich, was manche Leute als die Schattenseiten des Ruhms bezeichnen. Ich hatte bisher nur Vorteile. In meiner Klasse ist fast niemand mehr, der mich hänselt oder mich ignoriert. Ich werde von allen geachtet und bewundert. Ein echter Schauspieler unter ihnen, das finden die wohl alle toll. Mir ist egal, ob sie mich bewundern, damit ich sie dann als meine Freunde in irgendeinen erlesenen Zirkel erhebe.

Hauptsache, sie bewundern mich überhaupt. Ich habe so lange darauf gewartet. Ich musste so viel Gelächter erdulden, Hohn und Spott. Doch das ist jetzt vorbei. Denn seit gestern bin ich mit IHR zusammen. Ja, genau sie, die mich am allerwenigsten beachtet hat, mit ihr bin ich zusammen! Ich bin der glücklichste Mensch der Welt - oder ich wäre es, wenn dieser blöde Streit mit Harry nicht wäre. Ja genau, ich hab' mich mit Harry gestritten. Eigentlich war es nicht schlimm, aber wenn ein Wort das andere ergibt …

Er kam vor zwei Tagen zu mir und stand völlig unter Spannung. Er sagte, er wäre völlig fertig, weil sein Gewissen es nicht zulässt, dass er was mit diesem Jungen anfängt. Aber er wäre sich sicher, dass da was zwischen ihnen wäre.

"Red dir das doch nicht ein", hab' ich gesagt. "Je eher du dich auf jemand anderes konzentrierst, umso besser für dich."

"Woher willst du wissen, was gut für mich ist?"

"Ich bin dein Freund, Harry. Freunde geben sich Ratschläge in solchen Situationen."

"Ach, du bist mein Freund? Jetzt gerade hast du mal wieder Zeit mein Freund zu sein. Hast wohl mal wieder Platz in dei'm Terminplaner, was? Wenn SIE dich nicht in Dauerbeschlag nimmt, dann hängst du mit diesen Pseudofreunden und Speichelleckern ab. Die mögen dich doch eigentlich nicht, die …"

"Ach und das weißt du? Du steckst doch bloß in deinen Tagträumen von IHM fest, um mich kümmerst du dich doch fast nicht mehr." Wir hatten beide die Angewohnheit, vom Schwarm des anderen immer nur das Pronomen zu nennen und nie den Namen.

"Ich spür aber ganz genau, dass da was ist, verdammt! Und das will ich nicht aufgeben."

"Verdammt, Harry! Der Junge ist DREIZEHN! Ich will nicht, dass du im Knast landest, verstehst du das nicht?"

"Oh ja klar, du bist ja der edle Bewahrer von Tugend und Moral, ich vergaß! Wer hat mir denn immer davon erzählt, wie gern er SIE umbringen würde, diese arrogante Schnepfe? Wer wollte Amoklaufen?

"Das war was ganz andres! Das waren Gedankenspiele. Ich hätt' das doch niemals ernsthaft in die Tat umgesetzt."

"Das sagt sich so einfach, jetzt, wo du berühmt bist."

"Du sagst das so, als ob es was Schlimmes wär'."

"Ja weil es verdammt noch mal so ist, Piet! Wir sehen uns kaum noch. Früher waren wir wie Pech und Schwefel, aber jetzt darf ich nur noch zweite Geige spielen. Das kotzt mich an! Wir konnten uns immer alles erzählen, ohne Angst zu haben, dass der andre einen nicht versteht. Aber jetzt? Du willst mir die Liebe ausreden."

"Weil sie falsch ist! Harry, merkst du denn nicht, dass du dich da in was verrennst? ER ist momentan tabu für dich, Mann. Außerdem weißt du ja nicht mal, ob er was von dir will."

"Ach, leck' mich doch!"

Und dann ist er einfach verschwunden. Seitdem haben wir kein Wort mehr miteinander geredet. Einerseits finde ich es schade, weil er ja eigentlich mein bester Freund ist. Andrerseits finde ich, dass er es mit seiner Neigung etwas zu weit treibt. Wenn er unbedingt auf Jungs abfährt, ja okay, meinetwegen. Aber nich' auf KINDER! Sollte er wirklich was mit diesem Typ anfangen, dann wäre er für mich gestorben, so viel ist klar!

War das der Grund dafür, dass ich noch nie von diesem Harry gehört hatte? War eingetreten, was Bradley beschrieben hatte? Hatte Harry was mit einem Dreizehnjährigen angefangen? Das musste damals eine sehr schwierige Zeit für Bradley gewesen sein. Auf der einen Seite der Ruhm und die neuen Freunde, auf der anderen sein alter Freund und dessen Neigung. Bradleys Wortwahl stieß mir sauer auf. Ich hatte ihn immer für so tolerant gehalten, für einen der Menschen, die Schwule akzeptierten und nicht insgeheim für krank hielten. Denn so was hatte ich auch erlebt.

Einer meiner Lehrer hatte mal gesagt, er halte Schwulsein für eine Unregelmäßigkeit, für etwas Unnatürliches, das behandelt gehöre. Damals war ich noch ungeoutet, also kamen keine dämlichen Sprüche von Mitschülern. Trotzdem haben mich die Worte verletzt. War ich etwa krank, ein Aussätziger, nur weil ich mehr auf Männer stand? Ich hatte in meiner Selbstfindungsphase, die letztendlich zum Outing führte, oft solche Gedanken und weigerte mich, das zu akzeptieren.

Bradleys hohe Meinung von Schwulen - beziehungsweise sein völlig normaler, unvoreingenommener Umgang mit ihnen - hatte mir in dieser Zeit geholfen. Denn als noch viele Homosexualität als unnormal brandmarkten, trat er schon für Homo-Ehe ein. Ich fand das toll und inspirierend. Wenn ich jetzt so recht darüber nachdachte, war das damals wahrscheinlich der Grund dafür gewesen, dass ich ein glühender Fan von ihm wurde.

Aber wenn ich jetzt hier saß und in Bradleys geheimsten Gedanken herumstöberte, geriet mein Bild von ihm total ins Wanken. Sicher, es stand hier mit keinem Wort, dass er Schwule ablehnte. Aber allein seine Haltung zum Liebesleben seines besten Freundes sprach eine recht deutliche Sprache. Soweit ich es richtig interpretierte, hatte er zwar nichts gegen Schwule, aber es selbst zu sein, erfüllte ihn anscheinend mit tiefer Abscheu.

Aber jetzt wollte ich nicht länger darüber nachdenken. Mir schwirrte nämlich was ganz andres im Kopf herum. Oder besser gesagt: Jemand andres. So sehr ich es auch versuchte, ich konnte mir diesen Typen einfach nicht aus dem Kopf schlagen. Wenn ich doch nur seinen Namen wüsste! Ich hatte es nach der ganzen Sache mit Jan gar nicht mehr für möglich gehalten, relativ schnell jemanden kennenzulernen und doch war es passiert.

Beim Stichwort Jan fiel mir siedend heiß ein, dass heute ja wieder Training war, und so machte ich mich auf den Weg. Schließlich wollte ich ja nicht schon wieder den Zorn von Maya auf mich ziehen.

4 - Harrys falsche Schlange

Die Turnhalle, in der ich im Verein Badminton spielte, lag glücklicherweise nicht weit von meinem Haus entfernt und so konnte ich es mir leisten, etwas später loszulaufen. Und im Gegensatz zu den meisten anderen Tagen kam ich heute sogar äußerst pünktlich dort an. Zwar waren die Meisten schon fertig - das hieß, ich musste mich alleine umziehen - doch nach einem Blick auf meine Uhr war ich mir sicher, dass sie eben alle nur zu früh da gewesen waren.

Ich war perfekt getimt eingetroffen. Das wurde bestätigt, als ich die Halle betrat und alle noch mit dem Aufbauen der Netze beschäftigt waren. Eine Aufgabe, die keiner gerne machte. Und deshalb war ich froh, dass ich nicht zu pünktlich gewesen war.

"Ah, Ced, sieht man dich auch mal wieder?", begrüßte mich Kai, der Trainer. Er war zwar nur circa zwei Jahre älter als die meisten hier, aber weil es dem Verein an Badmintonspielern mangelte, war er eben zum Trainer ernannt worden. Er war auch der Beste von uns, daher hatte keiner Einwände dagegen erhoben. Allerdings hatte er die Angewohnheit, die Namen von jedem Spieler so abzukürzen, dass sie nur noch einsilbig waren. So wurde aus Maya May, aus Ronja Ron, aus Dirk - obwohl auch so schon eine Silbe - Di, aus Cedric Ced. Und aus Julian wurde Jan. Bei ihm hatten wir uns die Abkürzung bereits so stark eingeprägt, dass eigentlich niemand mehr Julian zu ihm sagte.

Apropos Jan: Wo steckte der eigentlich? Ich sah die anderen drei, aber von Jan fehlte jede Spur. Hoffentlich hielt er sich jetzt nicht meinetwegen aus dem Training fern. Das wäre mir äußerst unangenehm gewesen.

"Sieh mal an, wer da wieder zu uns stößt", sagte da Dirk und klopfte mir auf die Schultern. "Auch mal wieder hier, was?"

"Ja, mir ging's letztes Mal nich' so gut."

"Ach komm, wir wissen alle, warum du nicht da warst."

"Nein wirklich. Pitts Tod hat mich wohl 'n bisschen mehr mitgenommen, als ich mir eingestehen wollte."

"Dir ist echt nich' zu helfen. Mann, das war nur'n Promi. Du tust ja grad so, als ob das dein Vater oder Bruder oder dein Freund gewesen wäre."

Ich war nahe dran zu sagen, dass er gewissermaßen mein Freund gewesen war, als Kai durch die Halle brüllte.

"Hey, ihr Tratschtanten da hinten! Vielleicht könntet ihr eure werte Aufmerksamkeit nach hier vorne richten. Wir haben einen Neuzugang." Er deutete auf den Typen neben sich. Ich hätte mich fast an meiner Spucke verschluckt. Dort stand, unbeschreiblich sexy und genauso zum Anhimmeln wie bei unserem ersten Treffen, der Typ, der mich vor den Schlägern gerettet hatte. Ich rieb mir die Augen, damit ich sicher sein konnte, nicht zu träumen.

"Hey, mach den Mund zu, du geiferst schon." Dirk stupste mir den Ellbogen zwischen die Rippen.

"Was? Wie?", stotterte ich, ohne aber recht darauf zu warten, auch eine Antwort zu bekommen. Schließlich stand dort vorne mein potentieller Traummann. Ich wollte eigentlich nur zu ihm hin und erneut in seinen Augen versinken. Aber halt. Stand dort nicht Jan neben dem Typen?

"Das hier ist Marcel Wegener, Jans Großcousin, wenn ich das richtig verstanden hab'", stellte Kai den Neuen vor. "Also Marcel, ab jetzt wirst du hier immer nur Mars genannt, das is' einfacher."

Was hab ich gesagt? Jeder Name wurde von Kai auf eine einzige Silbe zurechtgestutzt.

"Klar, geht im Spiel bestimmt schneller."

"Der Mann versteht mich. So, jetzt aber genug geplaudert. Hopp, hopp zehn Runden ums Spielfeld laufen zum Aufwärmen."

Wir kamen seiner Aufforderung sofort nach, denn Kai hatte es nicht gerne, wenn man zu lange bei der Umsetzung seiner Befehle zögerte. Ich lief zu Beginn absichtlich etwas langsamer, damit ich bald von Marcel eingeholt werden konnte. Leider hatte er Jan im Schlepptau, sodass es recht unwahrscheinlich schien, unbeobachtet mit ihm zu reden. Aber er schien das auch gar nicht zu wollen.

"Hey, so schnell sieht man sich wieder", sagte er nämlich, sobald er mich erreicht hatte, und klopfte mir auf die Schulter.

"Ihr kennt euch?", fragte Jan überrascht.

"Naja, kennen ist übertrieben. Sagen wir, es war eine flüchtige Bekanntschaft", meinte Marcel. Auf Jans Gesicht breitete sich ein Ausdruck aus, der erkennen ließ, dass er das Wort Bekanntschaft deutlich missverstand.

"Ja, wir haben uns mal getroffen und sind einen trinken gegangen. Ich wusste bis eben ja nich' mal seinen Namen", versuchte ich mich gleich zu rechtfertigen, was von Jan wiederum mit einem sehr seltsamen Blick gewürdigt wurde. Marcel dagegen schien das etwas anders zu sehen.

"Weil du nich' gefragt hast. Da rette ich dir schon das Leben und dann …"

"Bitte was?"

"Dein Cousin übertreibt wirklich maßlos", versuchte ich die Situation wenigstens halbwegs zu retten. "Da war'n halt so'n paar Idioten, die mich blöd angemacht haben. Marcel is' dazwischen gegangen, mehr nicht."

"Mehr nicht?" Marcel sah leicht verärgert aus. "Die hätten dich wegen deiner großen Klappe totgeprügelt, wenn ich nicht gewesen wäre. Und außerdem …"

"Hey, Mars! Wenn du nur hier bist, um mit Ced zu quatschen, kannst du gleich wieder gehen. Warum setzt ihr euch dann nicht in ein gemütliches Café und beredet eure Probleme bei einer schönen Tasse Kaffee, hä?"

"'Tschuldigung, Kai", meinte Marcel nur geknickt, warf mir einen reichlich wütenden Blick zu und spurtete davon. Jan behielt sein Tempo bei und blieb somit an meiner Seite.

"Marcel übertreibt manchmal wirklich", sagte er. "Also nimm es nicht persönlich, dass er dich so anblafft. Er ist recht aufbrausend - und meistens beruhigt er sich so schnell wieder, wie seine schlechte Laune gekommen ist. Du magst ihn oder?"

Ich wusste gar nicht so recht, was ich von dieser Frage halten sollte. Sie war so beiläufig gestellt, dass es mir fast unmöglich erschien, dass Jan nicht irgendwelche Hintergedanken dabei hegte. Vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein. Vielleicht hatte ich in Marcel nur eine willkommene Ablenkung gefunden, nicht dauernd an Jan zu denken.

"Weiß nicht. Kann schon sein", nuschelte ich.

"Ich hab' lang nichts von Marcel gehört, bevor er vor ein paar Tagen einfach vor unserer Tür stand", wechselte Jan urplötzlich das Thema, als ob ihm die Antwort unangenehm gewesen wäre. Ich sah mich in meiner Annahme bestätigt. "Er meinte, er wäre auf der Durchreise und wollte mal seine Heimatstadt besuchen."

"Wo war er denn bisher?"

"Irgendwo in Amerika unterwegs. Ich glaub L.A.. Aber am besten fragst du ihn da selber."

"Falls er überhaupt noch mit mir reden will."

"Stell dich mal nicht so an. Ich hab' dir doch grade gesagt, dass das bei ihm so schnell geht, wie es gekommen ist. Keine Sorge. Ich finde übrigens, dass ihr gut zusammenpassen würdet."

Was sollte das denn jetzt? Bis vor Kurzem hatte mich Jan eigentlich komplett gemieden und jetzt gab er mir Beziehungstipps? Klar, ich hatte zu der Distanz zwischen uns mit meinem übereilten Kuss größtenteils selbst beigetragen, aber dass er sich so darum sorgte, dass ich in ihn verknallt sein könnte, dass jetzt mit einem ganzen Zaunpfahlsortiment winkte, war mir nicht bewusst gewesen.

"Keine Sorge, ich will nichts von dir", rutschte mir es also auch heraus. Ich hätte mich ohrfeigen können.

Jan sagte nichts, sondern sah mich nur wieder so seltsam an, dann beschleunigte auch er sein Tempo und zog an mir vorbei.

"Jan, hey Jan!", rief ich ihm hinterher und beeilte mich, wieder zu ihm aufzuschließen. "So war das nicht gemeint! Es ist nur … ich komm mir immer noch so dämlich vor, wegen der Sache nach dem Spiel. Ich wünschte …"

Jan wirbelte herum und fauchte mich an: "Ach, das ist ja wirklich wunderbar, dass du dir dämlich vorkommst! Hast du dich auch einmal gefragt, wie's mir geht?" Er wartete kurz, ob ich nicht vielleicht doch was Gegenteiliges sagen würde. Doch leider musste ich wahrheitsgemäß schweigen. Ich kam mir plötzlich noch dämlicher vor als zuvor. Ich hatte in der ganzen Zeit wirklich recht selten an Jans Gefühlswelt gedacht, sondern immer daran, wie peinlich es mir gewesen war.

"Wusst' ich's doch! Siehste, genau deshalb passt du so gut zu Marcel: Ihr beide seid so egoistisch wie oberflächlich!" Damit sprintete er zu seiner Sporttasche, schleuderte sie auf den Rücken und rauschte aus der Halle.

"Super gemacht, Ced", meinte Maya, die gerade von hinten angerannt kam. "Es schaut fast so aus, als ob du einen Rekord im Wie-ärgere-ich-Jan-am-besten-und-häufigsten aufstellen willst. Bist wirklich auf dem besten Weg dazu."

"Scheiße", fluchte ich leise, als auch sie an mir vorbeigezogen war.


01.01.2000

Wir feiern ein Millennium, ohne dass das neue Jahrtausend wirklich da ist. Normale Leute verstehen einfach nicht, dass die Zeitrechnung nicht mit 0, sondern 1 anfängt. Einfältige Idioten eben. Ja, ich hab' lange nicht mehr die Zeit gefunden, zu schreiben. So langsam fängt SIE an mich zu nerven. Ständig klebt sie an mir. Ich finde gar keine Zeit mehr was mit Harry zu unternehmen. Wir haben uns wieder zusammengerauft. Schließlich sind wir ja eigentlich die besten Freunde.

Allerdings gefällt mir nicht, dass dieser Junge offensichtlich Harrys Avancen nachgibt. Jedes Mal, wenn Harry mir von seinen Nachhilfestunden erzählt, werd' ich das Gefühl nicht los, dass es nicht nur um Mathe geht. Er schwärmt davon, dass ER so aufnahmebereit ist und alle Lektionen sofort versteht. Verdammt, der ist erst vierzehn (kurz nach Weihnachten hatte er Geburtstag), was will Harry mit so einem? In unserer Parallelklasse ist auch ein Homo, warum nimmt er nicht den? Sieht gar nicht mal so schlecht aus - soweit ich das beurteilen kann.

Aber heute will ich nicht über Harrys pädophile Neigungen sprechen, sondern über meine Schauspielerei. Ich hab' meine Berufung gefunden. Alle meine Kollegen bescheinigen mir ein großes Talent. Ich wusste, dass ich zu Höherem berufen bin, als nur zum Klassenbesten. Ich werde sicher weltberühmt. Der Film hat übernächsten Monat Premiere, aber die Filmarbeiten sind schon jetzt abgeschlossen. Ich bin schon jetzt furchtbar aufgeregt. Wenn das mit dem Film gut läuft, vielleicht werden dann andere Regisseure auf mich aufmerksam und casten mich für bessere Filme.

Natürlich wäre mein Traum, einen Hollywoodstreifen zu machen. Ich glaube, dann würde es keine Steigerung für mein Leben mehr geben. Ich bin so verdammt glücklich. Was auch daran liegt, dass ich so verdammt viel Glück habe. Ständig gewinne ich irgendwelche Preise bei Kreuzworträtseln und in schulischen Wettbewerben sowieso. Vor den Ferien war so ein Debattierwettbewerb. Ich bin bis zur Bundesausscheidung gekommen, aber mehr wollte ich gar nicht. Hab' dann auch gegen so 'nen Idioten verloren. Mir war's egal, weil - wie gesagt - ich ja nicht gewinnen wollte.

Mein Leben ist zurzeit ein echt schöner Traum. Ich hoffe, dass ich nie daraus aufwachen werde.

Ich musste immer wieder die Tränen zurückhalten, während ich las. Denn mein Leben war mehr oder weniger ein Albtraum. Da traf ich einen süßen Typen, mit dem ich sicher auch Sex haben könnte. Dann stellte sich heraus, dass der Typ der Großcousin von dem Typ ist, den ich vorher zum Anbeißen fand. Und gerade der ignorierte mich, weil ich ihm gesagt hab', dass ich nichts von ihm will. Es war zum aus der Haut fahren. Ich fragte mich, ob meine kurze Glückssträhne schon wieder vorbei war. Immerhin hatte ich zwar jemanden kennengelernt, aber so wie es zurzeit aussah, konnte ich das Ganze knicken.

Und Bradleys Gelaber über das Liebesleben seines besten Freundes trug nicht gerade zur Besserung meiner Stimmung bei. In unserer Parallelklasse ist auch ein Homo, warum nimmt er nicht den? Was hatte Bradley sich in diese Dinge seines Freundes einzumischen? Wenn Harry nun mal in diesen namenlosen Jungen verliebt war, warum ließ Pitt ihn dann nicht einfach das tun, was er wollte? Sicher, es war weder legal noch moralisch vertretbar, was Harry da tat. Aber das war ja immer noch seine Sache.

Ich hatte Pitt Bradley immer für einen Menschen gehalten, der für die Menschen, die ihm wichtig waren, da gewesen war. Doch hier dachte er anscheinend nicht daran, Harry in seinem Konflikt zur Seite zu stehen. Stattdessen hatte er bei allen möglichen Gelegenheiten versucht, Harry diese Liebe auszureden, sie schlecht zu machen. Sicher war auch daran etwas Ehrbares, wollte er doch sicher nicht, dass sein Freund in den Knast wanderte. Aber ab einem gewissen Punkt hätte er Harrys Ansicht akzeptieren müssen.

Ich legte das Tagebuch zur Seite und begab mich in die Küche, um mir einen heißen Kakao zu machen, als es an der Tür klingelte. Ich musste mich stark dazu überwinden, nicht einfach wieder nach oben zu gehen und das Klingeln zu überhören. Doch als der beharrliche Besucher zum fünften Mal Sturm läutete, konnte ich es nicht länger ignorieren. Also trabte ich missmutig zur Tür und öffnete sie einen Spalt weit. Eigentlich hätte ich sie am liebsten wieder zugeschlagen, aber Marcel hatte schon seinen Fuß dazwischengeklemmt.

"Ich hatte schon Angst, du bist nicht da", meinte er und sah mich mit zusammengepressten Lippen an. Ich hasste Leute, die diesen Unschuldsblick draufhatten. Da konnte ich meistens einfach nicht widerstehen. Aber diesmal wollte ich hartbleiben. Wenn Marcel sich einbildete, dass ich so einfach …

"Jan hat mir deine Adresse gegeben."

"So? Hat er das?", fragte ich bitter. "Und wozu? Damit du mich noch mehr zutexten kannst, wie scheiße ich bin, weil ich ja doch nicht ganz so schlimm bedroht wurde, wie du es gerne hättest? Vielen Dank auch. Sag ihm, dass er sich solche Geschenke gerne sparen kann."

"Du verstehst das falsch. Ich … sag mal, kann ich nicht vielleicht reinkommen. Hier draußen ist es furchtbar ungemütlich." Er deutete hinter sich, wo es in der Tat sehr heftig stürmte. Eigentlich erwartete man, dass es langsam kälter wurde und zu schneien begann, aber der Herbst ließ in diesem Jahr einfach nicht locker.

"Nein", sagte ich dennoch hart - auch wenn er mir verdammt leidtat. "Was du mir zu sagen hast, das kannst du bestimmt auch hier draußen machen. Wird ja sicher nicht lange dauern. Ein Ich find dich nett oder Lass uns Freunde bleiben macht es nicht nötig, dass du reinkommst."

"Und was ist mit einem Ich liebe dich?"

Am liebsten hätte ich mein Erstaunen mit einer herunterfallenden Kinnlade zum Ausdruck bringen sollen, doch ich fand, dass das meine bisherige harte Haltung zu sehr unterminiert hätte. Also entschied ich mich für einen grimmigen Gesichtsausdruck und abweisenden Ton, als ich weiterredete.

"Ist das deine Masche, ja? Erst mal total dumm anmachen und hinterher mit so einem Schmalzzeugs ankommen? Vielleicht funktioniert das bei den Ami-Jungs, aber nicht bei mir, klar?!"

"Verdammt, Ced, mir ist das ernst! So was ist mir vorher echt noch nie passiert. Seit ich meinen ersten Freund sitzen gelassen hab', hatte ich nur Pech mit den Jungs. Ich hatte schon fast Angst, dass ich so was wie verflucht …"

"Hörst du dir überhaupt zu, wenn du solche Scheiße laberst? Fluch? Vielleicht solltest du einfach mal an deinem Charakter arbeiten, daran hapert's viel eher. Ich fand dich eigentlich ganz nett von Anfang an, aber dein cholerischer Anfall vom Training hat mir echt gereicht. Du musst dich nicht als großer Retter und Beschützer aufspielen, damit andere dich toll finden, kapierst du das nicht?"

"Manchmal vergess ich das halt. Die meisten, die ich bisher hatte, wollten mich halt nur deswegen: Weil ich ein Retter und Beschützer bin."

"Und wer sagt mir, dass du mich nicht nur flachlegen willst?" Irgendwie hörte sich die Frage für mich selbst seltsam an, weil ich eigentlich genau das wollte: Flachgelegt werden. Aber für den Moment spürte ich Marcels Verzweiflung und - auch wenn ich mich dafür hasste - genoss die Macht, die ich über ihn hatte.

"Dein Gefühl", murmelte er und sah mir tief in die Augen. Für einen Moment spürte ich ein wohliges Kribbeln im Bauch, doch dann entschloss ich mich, es ihm nicht so leicht zu machen, mich rumzukriegen.

"Beweis es mir!"

"Wie?"

"Lass dir was einfallen." Und damit schlug ich ihm die Tür vor der Nase zu.


Ich hatte Glück, dass meine Mutter die ganze Woche über arbeiten musste. Wäre sie nämlich zu Hause gewesen, hätte ich ihr für die täglichen Pakete und Blumensträuße, die bei uns eingingen, eine gute Erklärung liefern müssen. Und ich war verdammt schlecht im Ausredenerfinden. Mir reichte schon der Blick des Postboten, als er mir am Freitag zum fünften Mal in Folge einen großen Strauß roter Rosen überreichte.

"Hier ist auch noch ein Paket für Sie dabei", meinte er und hielt mir sein elektronisches Kästchen hin, damit ich darin eine Unterschrift leisten konnte. Ich kannte das Prozedere ja aus den vergangenen Tagen. Dann ging er wieder, auch wenn der Blick, den er mir währenddessen zuwarf, Bände sprach. Ich kämpfte gegen das Blut an, das mir in den Kopf zu steigen drohte, und beeilte mich stattdessen, hastig die Tür zu schließen.

Was hab' ich mir da nur eingehandelt?, fragte ich mich, während ich in mein Zimmer ging und den Strauß zu den übrigen stellte. Ich fand es natürlich schon süß, wie sehr Marcel sich bemühte, und ich hatte jeden Tag mit mir zu kämpfen, ihn nicht sofort anzurufen. Heute würde ich es aber dennoch machen, weil ich mir noch einen Strauß - noch dazu am Samstag - nicht erlauben konnte. Wenn meine Mutter das Ganze mitbekam, würde das nur unangenehme Fragen bedeuten.

Aber zuerst warf ich einen Blick in das Paket. Ich atmete tief durch, als ich den Inhalt sah: Pitt-Bradley-Autogrammkarten aus seinen Anfangsjahren, als er etwa in meinem Alter gewesen war. Ich fand sogar, dass er mir etwas ähnelte. Aber vielleicht war das nur eine vom Wunschdenken generierte Einbildung. Ich hatte ihn so verehrt, dass es wohl eher so war, dass ich ihm ähnlich sah - und nicht er mir. Er war mein Idol gewesen, da war es doch verständlich, dass ich alles tat, um so zu sein wie er.

Die Karten waren wirklich ein wertvolles Geschenk. Bei ebay hätte jede von ihnen - es waren zehn Stück - bestimmt mindestens hundert oder zweihundert Euro gebracht - vor seinem Tod. Welche posthume Wertsteigerung sie wohl erfahren hatten, wollte ich mir nicht vorstellen, denn das Geschäft mit Bradleys Tod kotzte mich an. Was erlaubte diesen Idioten so mit seinem Andenken umzugehen? Er hätte mehr Respekt verdient für alles, was er getan hatte. Schließlich hatte er unzählige caritative Projekte ins Leben gerufen und sich auch für mehr Verständigung mit der Dritten Welt eingesetzt. Ehe ich aber noch weiter darüber nachdenken konnte, klingelte das Telefon.

"Hey Ced", drang Marcels Stimme aus dem Hörer, kaum dass ich mich gemeldet hatte. "Sag' mal, hättest du vielleicht heute Zeit, zum Quatschen. Ich würd' gerne vorbeikommen. Geht das?"

Eigentlich wollte ich gleich ablehnen, doch dann fiel mein Blick auf die fünf Blumensträuße, die in meinem Zimmer lagerten. Wenn ich jetzt nicht nachgab, würden es vielleicht noch mehr werden, und morgen kam ja meine Mutter wieder.

"Okay, is' gut. Wann willst du denn kommen?"

"Echt? Boah, ich freu mich so! Naja, vielleicht so gegen drei?"

"Gut, bis später." Damit legte ich auf. Irgendwie war mir nämlich nicht wohl bei dem Gedanken an Marcels Gesellschaft. Klar, ich fand ihn scharf und wäre lieber heute als morgen mit ihm in die Kiste gesprungen, aber irgendetwas hielt mich davon ab. Vielleicht war es einfach deswegen, weil ich für ihn einfach nicht das empfand wie er für mich. Aber ich redete mir ein, dass das schon noch kommen würde.


05.02.2000

Gestern war die Premiere. Ach, ich bin so glücklich. Es gab Standing Ovations für uns, die Kritiker lobten den Film als eine der besten deutschen Komödien der letzten Jahre. Schon gleich nach der Vorstellung kamen mehrere Regisseure zu mir und wollten, dass ich demnächst bei ihren Filmen mitspiele. Mein Leben könnte gerade gar nicht besser laufen. Gerade deswegen macht mir Harry momentan besonders Sorgen. Er hat mir letzte Woche erzählt, dass ER ihn geküsst hat. Relativ harmlos zwar, aber ich kenne Harry. Der wird das Ganze schon zu seinen Gunsten auslegen. Verdammt, ich kann als angehender Filmstar doch keinen Pädophilen decken, oder?

Ich hab Angst, dass aus den beiden mehr werden könnte. Ein kleiner Kuss war an und für sich ja eigentlich schon hart an der Schmerz- und Legalitätsgrenze - was würde erst sein, wenn sie weitergingen? Zum einen mochte ich mir das nicht vorstellen, weil es abartig war, und zum andern, weil ich nicht wollte, dass Harry weniger Zeit mit mir verbringt. Ich meine, immerhin sind wir ja die besten Freunde, was wenn er dann nur noch Augen für IHN hätte? Nein, daran will ich jetzt nicht denken. Schließlich hab' ich ja grad nur Grund zum Feiern, da braucht mich diese Sache nicht zu interessieren.

Ich legte das Tagebuch fluchtartig beiseite und schob es unter mein Kopfkissen, als es an der Tür klopfte.

"Cedric, Schatz, da ist Besuch für dich", flötete meine Mutter durch die Tür.

"Okay."

"Hey, Ced", sagte Marcel und ein breites Lächeln trat in sein Gesicht, als er an meiner Mutter vorbei in mein Zimmer trat. Die hatte kaum die Tür hinter ihm geschlossen, als er auch schon zu reden begann. "Ach, ich bin ja so froh, dass wir doch noch miteinander reden können. Ich hatte schon Angst, dass du mich nie wieder sehen willst. Immerhin hättest du ja auch allen Grund dazu gehabt. Aber anscheinend hab ich dir doch bewiesen, dass meine Absichten ernstgemeint sind. Ach, ich find das alles so …"

"Stopp, Mars", unterbrach ich ihn - warum ich seinen 'Badmintonnamen' benutzte, wusste ich nicht. "Bevor du dich da jetzt in was verrennst, muss ich dir sagen, dass … also ich … das mit uns …" Es war wie verhext. Ich wusste genau, was ich sagen wollte, hatte mir die Worte vorher schon zurechtgelegt. Aber ich bekam sie einfach nicht heraus.

"Ja, ich weiß, dass es etwas besonderes ist", vollendete Marcel den Satz mit einem gänzlich anderen Sinn, als ich ihn geplant hatte. "Mir ging es gleich von Anfang an so. Als diese Schläger auf dich losgingen, hab' ich da schon so was gespürt. Nenn es Schicksal oder so was."

"Sicher." Sicher?! Ich hätte mich am liebsten geohrfeigt. Ich wollte, dass er sich keine Hoffnung auf eine Beziehung mit mir machte und dann gab ich ihm in seinen Schwärmereien auch noch recht? Ich hatte keine Ahnung, in welchem Film ich hier gerade saß.

"Ich wusste, dass du das genauso siehst." Marcel seufzte erleichtert und nahm meine Hand in seine. Obwohl ich eigentlich gerade absolut nicht dazu in der Stimmung war - dafür war ich einfach nur zu perplex wegen meiner Unfähigkeit, Marcel die Wahrheit zu sagen - begann meine Hose im Schritt stark zu spannen. Was ging hier bitte vor?

"Hör zu, Mars. Ich kenn dich kaum und …"

"Ja, das möchte ich auch unbedingt ändern. Wie wär's, wenn wir heute ins Kino gehen. Da läuft doch seit letzter Woche der neue Harry Potter Film."

"Stehst du etwa auf so 'n Kinderkram?"

"Naja, seit ich mal so 'n Poster vom Radcliffe gesehen hab, wo der doch voll nackt ist … naja, da find ich den schon geil."

"Ach, du meinst das für Equus? Das ist'n Fake."

"Blödsinn. Warum sollte der sich nackt zeigen, wenn er's dann gar nicht ist. Also ich fand ihn da schon echt zum Anbeißen."

"Glaub's mir einfach. Die haben mit digitaler Bearbeitung den Unterkörper von 'nem andern da hin kopiert. Wahrscheinlich, um noch mehr Groupies anzulocken."

"Beweis es!" Marcel grinste mich so unwiderstehlich unverschämt an, dass ich nicht anders konnte und meinen Laptop startete.

" 'n kleinen Moment", brabbelte ich vor mich hin, während ich den Internetbrowser startete und Marcel die entsprechende Website zeigte. (Wer das nicht glaubt, möge hier nachschauen: http://www.circumstitions.com/Restric/Gallery2.html)

"Tatsächlich! So ein Betrüger! Lässt sich digital mit fremden Schwänzen verschönern! Ich glaub's ja nicht. Hmm, da vergeht mir doch gleich die Lust auf Harry Potter."

"Läuft nich' vielleicht noch was andres?" Ich verfluchte mich erneut für mein dämliches Gelaber. Ich wollte doch gar nicht mit Marcel ausgehen, verdammt!

"Glaub nicht, aber wie wär's mit einem Abstecher in die Rainbow-Lounge? Immerhin ist das ja so was wie UNSER Platz. Zumindest die Straßenecke davor." Er lachte kurz auf.

"Ja okay, gerne." Cedric, du bist so ein Vollidiot! "Holst du mich so gegen zehn ab? Vorher sind da eh nur wieder die ganzen Emo-Kiddies, die meinen, nur weil sie mit dreizehn mal 'nen Jungen geküsst haben, sind sie jetzt Hardcore-Schwuchteln."

"Findest du das okay, so über andre Leute herzuziehen? Ich meine, du weißt doch gar nichts über die."

"Mehr als du denkst."

"Will ich das eigentlich wissen?" Marcel legte kurz die Stirn in Falten und schüttelte dann energisch den Kopf. "Aber trotzdem freue ich mich schon auf später. Wird bestimmt ein denkwürdiger Abend werden." Er zwinkerte mir verschwörerisch zu, drückte mir einen kurzen Kuss auf die Backe und verschwand dann wieder aus meinem Zimmer.

Ich atmete erst mal tief durch. Offenbar stand die Erfüllung meines größten Wunsches direkt bevor. Ich hatte so das Gefühl, dass Marcel ganz heiß darauf war, mit mir in der Kiste zu landen. Ich ja eigentlich auch, aber irgendwie … fühlte es sich nicht richtig an. Ich hätte mit jemandem mein erstes Mal haben sollen, den ich liebte, mit dem ich auch länger zusammenbleiben wollte. Und so jemand war Marcel nun leider einfach nicht. Vielleicht würde er das Ganze auch nicht allzu eng sehen. Schließlich hatte er ja indirekt angedeutet, eigentlich kein Kind von Traurigkeit zu sein, wenn es um wechselnde Sexualpartner ging. Ich hoffte einfach mal das Beste.

14.04.2000

Ich bin so ein Arschloch! Ich verdiene das Glück, das ich zurzeit habe, so was von überhaupt nicht! Ja ich weiß, dass ich mich lange nicht mehr um dich gekümmert hab', aber das liegt nicht daran, dass ich kein Thema hätte, das ich hier reinschreiben kann. Ich hatte zuerst keine Zeit (einfach zu viele Castings) und dann hab' ich mich einfach nur geschämt. Geschämt für mich selbst.

Warum? Naja, das ist eine lange Geschichte. Deswegen hab' ich ja auch so lang gebraucht, um sie endlich niederzuschreiben. Ich wollte einfach alles gut überlegen, ob es vielleicht nicht doch eine Möglichkeit gibt, wie ich mich in dieser Sache halbwegs in gutem Licht darstellen könnte. Aber ich hab' keine gefunden und außerdem grade ausnahmsweise mal genügend Zeit, meine Abscheulichkeit in jeder Kleinigkeit darzulegen.

Hm, also wo fange ich am besten an? Eigentlich begann alles vor drei Wochen, als Harry völlig abgedreht vor meiner Tür stand.

"Du glaubst ja gar nicht, was mir gerade passiert ist", überfiel er mich freudestrahlend.

"Hm, vielleicht hast du endlich Vernunft angenommen und dich von IHM ferngehalten."

"Wir hatten das Thema doch schon oft genug, oder?", hatte er mich kurz angeknurrt, war aber sofort wieder in sein überglückliches Grinsen zurückverfallen. "Nein, es ist viel toller und … ach, einfach unfassbar. Wir, also ER und ich, wir haben uns endlich richtig geküsst. So richtig mit Zunge, verstehst du? Kannst du dir das vorstellen?"

"Ich weiß nicht mal, ob ich mir das vorstellen will. Mann, Harry, lass den Scheiß! Du kommst damit in Teufels Küche. Das ist verboten, das weißt …"

"Laber nicht! Seitdem er 14 ist, ist es sogar legal - naja zumindest halbwegs, weil seine Eltern ja nix davon wissen und die könnten das vielleicht nicht so gerne sehen. Aber weil er 14 und ich unter 21 bin, ist da vom Gesetz her nix dagegen einzuwenden. Also hör auf, hier ständig den Moralapostel zu spielen."

"Genau darum geht's aber! Das Ganze ist verdammt noch mal unmoralisch! Wenn man mal von Abnormität an sich absieht, dann …"

"Hast du mich gerade abnorm genannt?"

"Harry, du weißt doch, was ich meine. So was gehört sich eigentlich nicht. Ich halte ja bloß still, weil du mein Freund bist, ansonsten …"

"Ansonsten was?! Würdest du allen erzählen, dass ich kleine 14-jährige Ärsche ficke? Oh ja, du hast mich schon richtig verstanden! Morgen Abend haben ER und ich uns verabredet, zu unserem ersten Mal. Schau nicht so entsetzt! Nur weil du und SIE schon seit Wochen 'ne Flaute habt. Du hast dir die falsche Freundin ausgesucht. Sie erzählt das nämlich schon überall rum, dass ihr erst einmal …"

"Es ist besser, du gehst jetzt."

"Ach, da wird's dem Herrn unangenehm. Das war ja klar. Austeilen kannst du, aber wenn's ans Einstecken geht, kneifst du."

"Dass du dich mit dem Einstecken auskennst, war mir ja klar."

"Manchmal frage ich mich echt, warum ich jemanden wie dich noch meinen Freund nenne. Seitdem du so berühmt bist, erkenn' ich dich nicht wieder. Denk da mal drüber nach!"

Und damit verschwand er. Ja, ich weiß, dass das nicht ganz korrekt war, was ich ihm da an den Kopf geworfen hab'. Aber verdammt, er kann doch nicht mit diesem Jungen vögeln! Das geht eindeutig zu weit. Und genau deswegen hab' ich dann endlich Schritte gegen diese vermaledeite Beziehung in die Wege geleitet, derentwegen ich mich jetzt in Grund und Boden schäme.

Ich bin nämlich gleich nach meinem Gespräch mit Harry zu IHM gegangen, um IHN zur Rede zu stellen. Es war nicht schwer, IHN dazu zu bringen mit mir zu reden, weil sich herausstellte, dass ER ein riesengroßer Fan von mir war.

"Hey, das ist ja so cool, dass du - ich darf doch du sagen oder? - zu mir kommst. Heute ist der schönste Tag in meinem Leben."

"Naja, übertreib mal nicht. Schließlich weißt du ja noch gar nicht, warum ich hier bin."

"Nun, mach's nicht so spannend. Ich hasse Überraschungen. Um was geht es denn?"

"Also genau genommen geht es um jemanden. Sagen wir einen gemeinsamen Freund von uns beiden."

"Wir haben einen gemeinsamen Freund? Oh, das ist ja so was von cool und abgefahren. Wer ist es denn?"

"Harald."

"Harry? Ich … ähm … du … du kennst ihn? Er ist mein Nachhilfelehrer. Warum genau sollte er der Grund dafür sein, dass du hier bist?"

"Ach komm schon. Er ist mein bester Freund, ich weiß genau, welche Art von Nachhilfe er dir gibt. Guck nicht so erschrocken, ich hab' nicht vor, es jemandem zu erzählen. Zumindest nicht, wenn du dich halbwegs kooperativ zeigst."

"Was soll das heißen?", hat ER gefragt und mich nur misstrauisch angesehen.

"Verlass ihn. Such dir jemand anderen. Harry hat jemand Besseren als dich verdient."

"Ach und du kannst das beurteilen, ja? Du kommst hier her und verlangst einfach, dass ich mal eben meinen Freund verlassen soll, weil DU der Meinung bist, er hätte jemand Besseren verdient. Wer gibt dir denn bitte das Recht dazu, darüber zu urteilen, was wir machen?"

"Verdammt, du bist ja genauso stur wie er! Verlass ihn einfach, du bekommst auch alles von mir, was du willst."

"Alles?"

"Ja, wirklich alles."

"Dann will ich statt mit ihm mit dir poppen. Er ist zwar wirklich nett, aber dir kann er nicht das Wasser reichen."

"Vergiss es! Ich bin nicht … so wie ihr beide."

"Klar. Und deswegen machst du hier so einen Aufstand. Meinst du, ich merk nicht, dass du eigentlich in Harry verknallt bist und hier deswegen einen auf großen Moralapostel machst? Du willst ihn für dich. Aber das kostet dich 'ne ganze Menge."

"Okay, pass auf. Wir schließen einen Pakt. Ich hab' die nächsten Monate ziemlich viel zu tun, neuer Film und so. Wenn der im Kasten ist, treffen wir uns … und … du … kriegst, was du wolltest. Abgemacht?" Ich hatte so gehofft, dass er nicht darauf eingehen würde, aber ich wurde bitter enttäuscht.

"Na klar! Aber bitte machen wir das schriftlich. Hier schreib das mal auf das Autogramm hier drauf. Damit ich auch 'ne Sicherheit hab', falls du kneifen willst."

Ich weiß nicht, welcher Teufel mich an diesem Abend geritten hat, als ich auf der Rückseite meines eigenen Autogramms in kurzen Worten ein Versprechen kritzelte, das ich weder eingehalten noch erfüllt wissen wollte.

Ja, ich hasse mich deswegen, denn ER hat tatsächlich mit Harry Schluss gemacht, gerade als sie eigentlich ficken wollten. Harry ist seitdem nicht mehr derselbe. Er lässt niemanden an sich heran, nicht mal mich. SO hab ich das sicher nicht gewollt.

5 - Pitt Bradleys Geheimnis

Wie gebannt starrte ich auf die Seiten des Tagebuchs, las die Sätze wieder und wieder, als würde ich hoffen, dass sie ihren furchtbaren Inhalt beim zehnten Mal vielleicht verlieren würden. Aber es blieb dabei. Bradley hatte seinen einzigen Freund so dermaßen hintergangen, dass mir beinahe schlecht davon wurde. Doch was mich noch mehr wunderte, als dass er überhaupt zu so etwas fähig war, war die Tatsachen, dass er eingewilligt hatte, mit einem Jungen zu schlafen. Sollte es tatsächlich zur Erfüllung des Paktes gekommen sein, dann hätte ich hier endlich einen Beweis dafür, dass an den ganzen Gerüchten doch etwas dran gewesen war.

Am liebsten hätte ich jetzt sofort weitergelesen, aber es war schon kurz nach neun und ich musste mich ja noch fertig machen. Schließlich konnte ich ja nicht im Schlabberlook in die Rainbow-Lounge gehen. Vielleicht traf ich ja einen geilen Typen - also einen der Marcel in den Punkten potentieller Traummann für die Zukunft und guter Bettgenosse übertraf. Ich wusste nicht, warum mir Marcel nicht reichte, der sich ja ganz offenbar total in mich verknallt hatte. Eigentlich hätte ich vor ein paar Wochen noch alles dafür gegeben, einen wie ihn an der Angel zu haben. Aber mittlerweile hatten sich die Ereignisse so überschlagen, dass ich schon gar nicht mehr wusste, wo mir der Kopf stand.

Und alles wegen dieses Tagebuches. Ein letztes Mal überflog ich das eben Gelesene, kam aber zu demselben unglaublichen Ergebnis. Also beschloss ich nur zu schauen, wo diese recht spannende Geschichte weiter fortschritt. Ich musste relativ lange suchen und war mir auch nicht sicher, genau den Anschluss an den überraschenden Eintrag gefunden zu haben. Aber die vielen großen ERs in dem Abschnitt ließen darauf schließen. Ich legte mein Lesezeichen - eine der Autogrammkarten, die mir Marcel geschenkt hatte - an die entsprechende Stelle. Den Rest dazwischen konnte ich auch noch zu anderer Zeit lesen.

Als ich auf die Uhr sah, zuckte ich erst einmal zusammen, denn es war bereits halb zehn. Also sprang ich auf und warf alle möglichen und unmöglichen Klamotten aus meinem Kleiderschrank vor mir auf den Boden. Dann verdeckte ich mit der Handfläche meine Augen und deutete mit der anderen Hand wahllos auf irgendein Kleidungsstück. Der Zufall war mir gewogen, denn ich hatte ein recht enges schwarzes T-Shirt mit rotem Aufdruck gewählt, das wirklich ausgesprochen körperbetont war. Dazu eine dunkelblaue Jeans, die an den Hintertaschen schon reichlich zerschlissen war - ja, ich wusste, wie das aussah. Aber das war ja auch der Zweck des heutigen Abends.

Ich rannte ins Bad und nebelte mich mit einer Wolke von Jil Sanders Sun for Men ein, drückte mir einen kleinen Pickel über der linken Augenbraue aus, bevor ich selbige dort zu zupfen begann, wo sie über der Nasenwurzel mit der rechten öfter mal zusammenwachsen wollte. Ich spülte meinen Mund mit einem antibakteriellen Wasser aus, cremte mein Gesicht mit feuchtigkeitsspendender, antifettender Hautcreme ein. Dann raspelte ich mit der Nagelfeile noch mal kurz über meine Fingernägel, bevor ich wieder in mein Zimmer zurückging.

Dort packte ich meine Hantel aus und machte schnell noch je drei Sätze für den Bizeps pro Seite. Ich wusste, dass ein Kurz-Workout vor dem Ausgehen meinem Arm immer den Anschein verlieh, dauerhaft muskulös zu sein. Ich packte die Hantel gerade wieder zurück, als es unten auch schon klingelte. Ich warf mir schnell eine leichte Jacke über und verließ mein Zimmer.

"Hey, Ced, schön dich zu sehen", begrüßte mich Marcel freudestrahlend. "Meinst du nicht, dass die Jacke für die Jahreszeit etwas zu dünn ist?"

"Ach das geht schon. Wir sind ja eh bald dort und dann wird's ja heiß."

"Stimmt wohl." Marcel grinste breit.

Wir liefen von meiner Haustür über den kleinen Pflasterweg zur Straße hinunter, wo Marcels Wagen stand, ein wirklich schicker Audi A6.

"Wow, wie kannst du dir so was leisten?"

"Ach, naja, ich hab' 'ne kleine Erbschaft gemacht. Ich hab's einem meiner Exfreunde so angetan, dass er mir relativ viel vererbt hat."

"Vererbt? Wie alt war der denn bitte?!"

"Auch nicht viel älter als ich. Hatte schwere Depressionen. Hat sich umgebracht. Aber das Geld hat er mir schon vorher gegeben. Hätte im Testament ja reichlich seltsam ausgesehen, wenn ein völlig Fremder recht viel von der Knete abbekommen hätte."

"Hm, da in L.A. müssen die Leute wohl alle 'ne Geldscheiße haben, was?"

"Nein nicht alle. Aber ich hab' mir halt hauptsächlich immer genau die rausgesucht."

"Und was willst du dann mit mir?" Das Gespräch wurde mir allmählich unangenehm, aber diese Frage hatte sich mir einfach aufgedrängt.

"Ich will dich und das ist mehr als das, was diese reichen Schnösel drüben in L.A. von mir bekommen haben. Bei denen hatte ich's meistens nur auf die Kohle abgesehen. Nicht, dass ich als Stricher gearbeitet hätte, aber die haben es sich schon immer einiges kosten lassen, dass ich bei ihnen geblieben bin."

"Und du warst niemals vor mir so richtig verliebt?"

"Doch ganz am Anfang. Aber ich hab' meinen Freund verraten und betrogen. Vielleicht wollte ich seitdem keinen Typen mehr lieben, weil ich Angst hatte, ihm das Gleiche anzutun."

"Na danke, dass du dann mich dafür ausgesucht hast", brummte ich sarkastisch. Marcel antwortete nicht und so fuhren wir den Rest des Weges in einem unangenehmen Schweigen weiter. Marcel war und blieb ein Rätsel für mich. Da erzählte er mir erst was von großer Liebe und so weiter und dann kam er mit so einer Story an. Das passte doch alles gar nicht zusammen! Vielleicht sollte ich das Ganze gleich beenden, bevor es unangenehm für uns beide werden konnte.

Doch vorerst konnte ich das nicht, weil ich Spaß haben wollte. Und Marcel war genau der Typ für Spaß. Ich merkte das sofort, als wir auf der Tanzfläche standen und mit engem Körperkontakt zur Musik abgingen. Er versuchte immer wieder, mir seine Zunge in den Hals zu schieben, was ich erst zögerlich, doch dann mit immer mehr Begeisterung geschehen ließ. Das war es doch, was du immer gewollt hast, flüsterte eine kleine Stimme in meinem Kopf. Warum gefällt es dir dann nicht? Denn genau so war es. Natürlich blieb das andauernde Gefummel von Marcel bei mir nicht ohne Wirkung, so richtig genießen konnte ich es aber nicht. Vielleicht lag es einfach daran, dass er nicht der war, den ich gewollt hatte.

Urplötzlich nahm ich aus den Augenwinkeln ein Gesicht wahr und hätte fast in Marcels Zunge gebissen. Ich riss mich von ihm los und bahnte mir meinen Weg durch die Menge zu auf ihn.

"Jan?!", rief ich ungläubig. "Was machst du denn hier?"

"Darf ich nicht auch mal weggehen und Spaß haben, ist das verboten?"

"Ja, aber das hier ist eine Homo-Disko. Was willst du hier?"

Jans Augen verengten sich zu Schlitzen und er sah auf einmal extrem wütend aus. Er packte mich an den Schultern und schüttelte mich.

"Das ist alles nur deine Schuld!", zischte er. "Seitdem du mich geküsst hast, weiß ich nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Ich fang an, Männer geil zu finden. Warum hast du das mit mir gemacht?"

"Mal ganz langsam, Jan", meinte ich und riss mich los. "Was kann ich dafür, dass du nur zu verklemmt bist, es dir einzugestehen. Ich hab' da gar nichts gemacht. Das bist alles du."

"Aber, bevor du mich geküsst …"

"Hey, wenn das mal nicht mein Cousin ist", brüllte da Marcel, der inzwischen wohl schon einige Schnäpse mehr intus hatte, als zu dem Zeitpunkt, wo ich ihn zurückgelassen hatte. "Heyho, Juli, alter Junge", lallte er und gab seinem Cousin einen Klaps auf die Schulter. "Sag mal, was machst du denn in so 'nem Schuppen wie der Rainbow Lounge? Müsstest du nicht eher wo sein, wo's dicke Titten gibt?"

"Lass die blöden Sprüche, du Vollprolo."

"Hey, redet man so etwa mit seinem Lieblingscousin?"

"Du bist mein einziger Cousin, Marcel."

"Ja eben." Marcel grinste angeheitert und schlang seine Arme um meinen Hals. "Ceddy, Schatz komm tanzen."

"Na sieh mal einer an." Jans Blick schien mich förmlich zu durchbohren. "Hab' ich da was verpasst? Gibt's vielleicht noch eine große Verlobungsparty?"

"Jan, lass den Quatsch. Wir sind nur hier um Spaß zu haben."

"Ja, den Spaß, den ihr haben werdet, kann ich mir vorstellen. Ihr dämlichen Wichser!" Und damit verschwand er in der tanzenden Menge.

"Was hat er denn?", fragte Marcel und legte seinen Oberkörper auf meinen Schultern ab. "Naja, vielleicht hatte er schon lang keine Ische mehr zum poppen und wildert jetzt in fremden Gewässern. Mir egal. Solange er dich in Ruhe lässt, mein Süßer."

Ich hörte gar nicht hin, was Marcel da laberte. Dazu war ich viel zu verwirrt. Was war bloß in Jan gefahren und vor allem, warum war er hier gewesen? Das ergab alles keinen Sinn. Schließlich hatte er mich nach dem Kuss total ignoriert. Oder hieß das vielleicht …? Ich hätte mir ja wirklich noch gerne Gedanken über Jans Beweggründe gemacht, aber Marcel war so verdammt aufdringlich, dass ich nun vollauf damit beschäftigt war, ihn mir halbwegs vom Hals zu halten.

"Was ist denn los, Schnucki?", lallte er, als ich ihn wieder mal etwas auf Abstand brachte. "Gefällt dir das etwa nicht?" Er beugte sich wieder über mich und begann erneut an meinem Ohrläppchen herumzukauen. Ich drückte ihn weg.

"Doch, schon. Aber nicht hier."

"Na, wenn das so ist. Was hält uns dann noch auf, zu gehen?"

"Ich will aber noch tanzen."

"Okay, wie du meinst." Und schon hatte er seine Arme wieder um meinen Körper geschlungen, mich an sich gedrückt und auf die Tanzfläche gezerrt. Mir blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen und weiter mit ihm auf Tuchfühlung zu gehen. Es war zum Auswachsen! Da tanzte ich mit einem heißen Typ, der nur darauf wartete, mit mir in die Kiste zu springen, und dann war ich innerlich so blockiert, dass ich nicht einmal mehr ein paar anständige Dance-Moves zustande brachte.

"Ich bin echt so froh, dass ich dich getroffen hab'", hauchte er, während er mir erneut am Ohr herumknabberte. So langsam begann das Ganze zu nerven. Gleichzeitig genoss ich es aber irgendwie. Ich schrieb das dem Alkohol zu. Wenn ich davon noch ein bisschen mehr zu mir nehmen würde, dann wäre Marcel recht schnell an seinem Ziel angelangt.

Doch ich wusste nicht, ob ich ihm das antun konnte. Schließlich schien es ihm ja ernst mit mir zu sein. Ich glaubte nicht, dass er Verständnis dafür hätte, wenn ich ihm plötzlich eröffnen würde, dass ich nur auf einen Fick mit ihm scharf war. Aber vielleicht sollte ich einmal im Leben auch nur an mich denken. Schließlich hatte ich mir bisher nichts sehnlicher gewünscht als entjungfert zu werden. Und vor mir stand der Mann, der das endlich tun könnte und vor allem auch wollte.

Allerdings würde ich mich beeilen müssen, wenn ich nicht wollte, dass mir Marcel dann beim Orgasmus mein Bett vollkotzte. Er war nämlich schon ziemlich abgefüllt. Vielleicht war das ein Zeichen. Vielleicht aber auch nicht und hieß lediglich, dass es Zeit für mich war, so viel zu trinken, dass meine kleine Stimme im Hinterkopf verstummte. Dass die Zeit für meinen ersten Sex da war. Ja, ich beschloss, dass es genau das war, was mir Marcels Zustand sagen wollte und exte drei Wodka Orange.

"Komm, ich denke, wir sollten die Party an einem anderen Ort fortsetzen", flüsterte ich Marcel ins Ohr. Der grinste nur.

"Was immer du willst, Baby!"

"Dich", giggelte ich und zog ihn mit mir. Wie wir zu mir nach Hause kamen, weiß ich nicht mehr, weil die Wirkung des Wodkas einsetzte, kaum dass wir die Lounge verlassen hatten. Das Nächste, woran ich mich wieder erinnerte, war, dass ich mit Marcel auf meinem Bett lag und er wie wild meinen Hals ableckte. Ich erschauerte. Sollte ich das Ganze jetzt und hier vielleicht doch noch beenden? Aber dafür war ich eigentlich schon zu nah dran an der Erfüllung meines sehnlichsten Wunsches, dass ich es mir nicht leisten konnte, Rücksicht zu nehmen. Marcel würde es schon verstehen.

Ich stieß mit meinem Kopf gegen etwas Hartes und bemerkte voller Schrecken, dass Bradleys Tagebuch noch immer auf meinem Bett lag. Glücklicherweise war Marcel zum einen zu betrunken und zum andern zu sehr darin vertieft mich abzuknutschen, so dass er es bisher nicht bemerkt hatte. Vorsichtig schob ich es bis zur Bettkante am Kopfende und stieß es von dort in einen Spalt zwischen Bett und Wand. Den dumpfen Aufschlag ließ ich in einem tiefen Stöhnen untergehen.

"Gefällt dir das, ja?"

"Mach weiter, das ist genau richtig so."

Marcel kicherte und begann mir langsam mein T-Shirt auszuziehen. Seine Hände fuhren fachmännisch über meinen Körper - er wusste, was mich anmachte. Sicherlich hatte er darin schon genug Übung. So langsam begann mir die Sache Spaß zu machen, vor allem weil ich mein Gewissen mittlerweile komplett ausgeblendet hatte und mich ganz darauf konzentrierte, Lust zu empfinden und diese auszuleben. Marcel erhob sich kurz, um sich sein Shirt über den Kopf zu ziehen und achtlos auf den Boden zu werfen. Mann, er sah verdammt gut aus, das musste man schon sagen.

Seine Hände wanderten über meinen bebenden Oberkörper über meinen Bauch abwärts zu den Hüften, wo sie sich am Gürtel zu schaffen machten. Ich presste den Kopf gegen die Matratze, bog meinen Bauch nach oben durch und atmete tief und fest ein. Ich hatte mal gehört, dass es wichtig war, sich vor dem Eindringen zu entspannen. Aber so weit waren wir ja noch gar nicht. Marcel hatte mir eben erst die Hose ausgezogen - seine übrigens auch - und begann nun unter Einsatz beider Hände und seines Oberkörpers meinen Unterleib in helle Aufruhr zu versetzen. Er fuhr zuerst mit seiner Hand, dann mit seiner Nase und schließlich sogar mit der Zunge an den Konturen meines Schwanzes die Boxershorts entlang, kehrte wieder um und wechselte dann den massierenden Körperteil.

Ich schluckte schwer. Marcel wusste wirklich, was er da tat. Und er tat es verdammt gut. Meine Hände verkrampften sich zu Fäusten, krallten sich im nächsten Moment ins Bettlaken, ich richtete mich auf und umschlang Marcels muskulösen Oberkörper. Ich spürte, dass ich nah dran war zu kommen und - dann hörte er auf.

"Wir wollen doch nicht jetzt schon so schnell das Schönste vorwegnehmen oder?", meinte er grinsend und schlüpfte geschwind aus seinem Slip. Eigentlich stand ich ja auf Penisse und je schöner sie waren, umso geiler machten sie mich. Und obwohl Marcel meine Kriterien aufs Höchste erfüllte, konnte ich mich nicht so recht darüber freuen. Irgendwo in meinem Hinterkopf drängte mich eine kleine Stimme dazu, ja nicht auf Mars' Unterleib zu schauen, sondern zwanghaft irgendwo andershin. Natürlich war dass situationsbedingt fast unmöglich.

"Gefällt er dir?", wollte er wissen und sah an sich herunter. "Ja, das ist wirklich ein Prachtexemplar. Fanden bisher auch alle immer toll." Er grinste und warf sich im Bett herum und brachte seine Lenden genau vor meinem Gesicht in Position. Ehe ich noch recht wusste, was ich jetzt weiter tun sollte, demonstrierte er es mir an meinem eigenen Körper. Ich hätte spätestens jetzt die Sache beenden sollen, doch aus irgendeinem Grund konnte ich nichts anderes tun, als das Gleiche wie er.

Ein wirklich seltsames Gefühl. Zuerst überschätzte ich das Fassungsvermögen meines Mundes und musste erst mal heftig würgen. Mir schossen Tränen ins Gesicht. Vorsichtig wagte ich einen zweiten Versuch und diesmal funktionierte es sogar halbwegs. Aber richtig warm wurde ich damit nicht. Vielleicht lag es auch daran, dass sich immer wieder mein schlechtes Gewissen meldete, sodass ich teilweise nicht wusste, ob meine Tränen nicht vielleicht etwas anderem geschuldet waren als dem Würgereiz.

Nach ein paar Minuten, in denen wir da so aneinander gedrängt auf dem Bett lagen, drehte sich Marcel erneut herum, richte sich auf, sodass er vor mir kniete, und zog mich ruckartig zu sich hoch.

"Du weißt ja gar nicht, wie sehr ich dich liebe, Ced."

"Wie sehr denn?"

"Hey, das ist fies." Er küsste mich und knuffte mich dann in die Seite. "So was kann man nicht erklären oder in Worte fassen. Du bist auf jeden Fall seit Langem mal wieder jemand, der mich völlig fertigmacht. Ich bin fertig, wenn ich nicht bei dir bin, aber wenn du in meiner Nähe bist, geht's mir nicht anders."

"Na danke fürs Kompliment."

"Ach nein, so mein ich das doch nicht. Immer wenn ich bei dir bin, bringt mich deine Nähe um den Verstand, weil ich dich ständig berühren möchte und vor allem weil ich nicht fassen kann, dass du mich magst. Ich dachte bisher immer, dass ich bloß zum Fi… naja zu dem EINEM gut bin. Aber bei dir merk' ich, dass das anders ist."

"Jaah, ganz anders", meinte ich und hoffte, dass er mein schlechtes Gewissen nicht bemerkte. Schon begann ich wieder mich zu hassen. Doch Marcel ließ mir keine Gelegenheit, dieses Gefühl lange aufkommen zu lassen.

"Siehste", meinte er nur und sprang aus dem Bett.

"Was machst du da?"

"Naja, jetzt geht der Spaß doch erst richtig los." Er hatte in seiner Jackentasche gekramt und ein kleines viereckiges Plastiktütchen und eine schmale Tube herausgezogen. "Ich bin mal davon ausgegangen, dass du so was nicht zu Hause hast", meinte er und riss die Kondomverpackung auf. Ich schluckte. Jetzt also wurde es ernst. Ich schloss kurz die Augen, atmete tief ein und zählte in Gedanken bis fünf. Eigentlich wollte ich sie wieder öffnen, aber ich hatte zu sehr Angst davor, was ich sehen könnte - vor allem davor, dass es mir die ganze Stimmung vermiesen würde.

Also versuchte ich mich einfach nur zu entspannen. Das war wichtig, hatte ich mir sagen lassen. Immerhin würde ich gleich mein erstes Mal begehen. Schlagartig wurde mir bewusst, dass Marcel mitnichten derjenige war, mit dem ich es erleben wollte. Ich schlug die Augen auf und sah, wie er sich über mich beugte.

"Ich … ich … kann das nicht", hauchte ich mit zitternder Stimme.

"Du brauchst keine Angst haben. Ich bin ganz vorsichtig." Er lächelte so zuckersüß, dass ich mich für den Moment fragte, was für ein Arsch ich war, ihn auszunutzen. Je länger ich mit ihm hier zusammen war, drängte sich ein anderes Gesicht in meine Gedanken - eines, das ich bisher erfolgreich verdrängt hatte. Ich wollte es mir nicht eingestehen, dass ich hier gerade dabei war, Marcels Gefühle so dermaßen in den Dreck zu ziehen, wie ich es niemals von mir gedacht hatte.

Doch da ich ja noch halb im Rausch des Alkohols und auch ein bisschen der Geilheit schwelgte, wurde mein schlechtes Gewissen immer leiser. Alle Zweifel verblassten. Meine Gedanken wurden hinfort gerissen von einem Strudel aus Lust und Gefühlen, wie ich sie nie zuvor verspürt hatte, und zum ersten Mal an diesem Abend überdeckte die Lust mein schlechtes Gewissen. Ehrlich gesagt wäre ich zu so etwas komplexen wie weiteren Zweifeln wahrscheinlich auch nicht mehr imstande gewesen. Dazu war ich zu sehr darauf konzentriert, nicht zu laut zu stöhnen.


Am nächsten Morgen wachte ich so glücklich wie schon lange nicht mehr auf. Marcels Arm war um meine Schultern geschlungen, seine Beine mit meinen verwunden und wir klebten noch immer vor getrocknetem Schweiß und Sperma. Es war ein schönes Gefühl! Das mochte sich merkwürdig anhören, aber für mich war es im Moment das Schönste, was mir seit Langem passiert war. Ich fuhr Marcel durch die Haare, hörte, wie sein ruhiger Atem aus seiner Nase herausgestoßen wurde, sah sein Herz unterhalb seines Brustmuskels pumpen, spürte seinen Schwanz an meinem Bein, roch den wichsetypischen Geruch, der mir von unter der Bettdecke entgegenkam, schmeckte noch seinen letzten Kuss auf meinen Lippen.

Alle Empfindungen dieses Moments waren einfach himmlisch. Wenn da nicht diese Stimme in meinem Hinterkopf wieder angefangen hätte, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Denn wenn ich Marcel geliebt hätte, wäre dies in der Tat der schönste Morgen meines Lebens gewesen. So aber stellte ich mir unentwegt die Frage, wie und wann ich ihm beibringen wollte, dass ich ihn bloß zum Sex verwendet hatte. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie er darauf reagieren würde. Schließlich hatte es ihm ja auch Spaß gemacht. Vermutete ich, denn erstaunlicherweise - und auch bedauerlicherweise - konnte ich mich an die Nacht nur schemenhaft erinnern.

Ich wusste noch, wie das Gefühl, ihn in mir zu haben, extreme Geilheit hervorgerufen hatte, aber wie lange und/oder wie oft wir es getrieben hatten, konnte ich beim besten Willen nicht sagen. Verfluchter Alkohol. Naja, immerhin hatte sich wenigstens mein Wunsch erfüllt und ich war keine Jungfrau mehr. Auch ein neues Gefühl, das sich nahtlos in die Summe der schönen Empfindungen an diesem Morgen einreihte.

Bis mir plötzlich schlecht wurde. Ich presste meine Hand auf den Mund und stürzte - nackt wie ich war und es war mir im Moment egal, ob mich jemand sah - ins Badezimmer, wo ich mich erst mal ins Klo übergab. Ich hatte das Gefühl, mein ganzer Magen hätte sich umgestülpt und würde die Verdauung nun rückwärts laufen lassen. Bittere Magensäure verätzte meine Speiseröhre und ich musste zusätzlich auch noch furchtbar husten und weiterhin würgen, obwohl nicht viel mehr als Magensaft herauskommen konnte - den Hauptinhalt hatte ich ja schon vorher von mir gegeben.

Ich wartete vorsichtshalber so lange, bis ich mir sicher sein konnte, dass ich nicht noch mehr Dinge dem Klo übergeben wollte, dann erhob ich mich langsam und tapste auf wackeligen Knien wieder in mein Zimmer zurück. Ich sah nur noch eine schemenhafte, schnelle Bewegung von Marcel, als ich ins Zimmer trat. Aber weil ich mir grad nicht mehr sicher war, was ich ernst nehmen konnte und was nicht, beschloss ich das Ganze nicht überzubewerten.

"Hey, Schatz", sagte er auch schon mit sorgenvoller Miene. "Ich hab dich grade auf'm Klo gehört. Alles okay mit dir?"

"Ja, eigentlich schon."

"Und uneigentlich?"

"Da fühl ich mich richtig mies." Das entsprach der Wahrheit. Mein Magen rumorte immer noch und der Geschmack in meinem Mund trug nicht gerade dazu bei, mein Wohlbefinden zu verbessern. Dabei hätte es mir ja eigentlich hervorragend gehen sollen. Oder aber …

"Soll ich dir irgendwas aus der Apotheke besorgen? Ich wollte jetzt dann sowieso mal los. Hab noch was zu tun."

"Nein danke, aber lieb von dir. Ich glaub, das Beste is', wenn ich mich noch 'n bisschen hinleg'."

"Naja, wenn du meinst", erwiderte Marcel nur und schlüpfte in seinen Slip.

"Willst du vielleicht noch duschen?", fragte ich lahm. Ich wusste nicht, was gerade mit mir los war. Ich wurde von Minute zu Minute schlapper und matter.

"Nee, danke. Ich muss die Klamotten eh waschen, da stört so 'n bisschen Wichse nicht." Er grinste und zog sich komplett an. Dann kam er noch mal zu mir her, küsste mich und hauchte mir ein: "Gute Besserung, mein Süßer" ins Ohr. Er küsste mich nochmal und ging dann aus meinem Zimmer hinaus. Ich rutschte mein Kopfkissen so zurecht, dass ich eine halbwegs aufrechte Position erreichte. Dann zog ich aus der Ritze hinter meinem Bett Bradleys Tagebuch hervor, schlug die Seite mit der Autogrammkarte auf und begann zu lesen.

21.10.2000

Der Friseur hatte recht. Er hatte so recht. Jeder, der beliebt ist, hat irgendetwas aufgegeben, um im Mittelpunkt zu stehen, das hat er gesagt. Und ich habe mein Selbstwert und meine moralische Integrität aufgegeben. Ich bin nicht mehr der, der ich mal war. Es ist zum Heulen. Eigentlich müsste ich zurzeit vor Freude im Kreis springen. Vorgestern kam nämlich der Anruf von meinem Agenten, dass Hollywood mich will. Kann man sich das vorstellen? HOLLYWOOD! Ich werde ein berühmter Filmstar.

Aber was nützt mir das, jetzt, wo ich gerade meinen besten Freund betrogenen habe. Und zwar richtig. Ja, gestern hab' ich mit IHM, mit diesem Jungen geschlafen und es war verdammt Scheiße. Ich hab' das bekommen, was Harry unbedingt wollte, obwohl ich es nicht wollte, und werde dadurch jetzt Harry verlieren. Denn ich muss es ihm sagen. Das meinst du doch auch. Ich kann nicht so tun, als ob nichts geschehen ist, ich kann nicht weiter Harrys Freund sein. Der hat sich nämlich immer noch nicht davon erholt, dass ER sich von ihm getrennt hat. Nach all den Monaten hatte ich gehofft, dass er darüber hinwegkommt, aber Pustekuchen. Es vergeht kein Gespräch mit ihm, in dem er nicht plötzlich in Tränen ausbricht.

Und ich muss ihm dann heuchlerisch auf die Schulter klopfen und ihn in den Arm nehmen. Ihn wegen einer Sache trösten, die ich zu verschulden habe und für die ich gestern bitter bezahlt habe. Der Sex mit diesem Jungen war das Ekelhafteste, was mir bisher passiert ist. Es war abartig an sich und vor allem war es abartig zu sehen, wie viel Spaß es ihm gemacht hat. Er hätte doch mindestens ein genauso schlechtes Gewissen haben müssen, wie ich. Aber ihn hat das Ganze anscheinend kaum gejuckt.

Verdammt, fühl ich mich schlecht. Vielleicht hab' ich deswegen heute schon den ganzen Tag über gekotzt. Es ist …

Ich hielt überrascht beim Lesen inne. Das war ein höchst interessanter Zufall. Hätte ich diese Passage gestern Abend gelesen, wäre sie mir wahrscheinlich gar nicht aufgefallen, aber heute … Mir ging es gerade ähnlich schlecht wie Pitt - zwar nicht aus dieser seelischen Zwickmühle heraus, aber doch aus ähnlichen Schuldgefühlen. Schließlich hatte ich Marcel ja auch total mies "miss"-braucht für meine eigene Lust. Naja, wahrscheinlich alles nur dummer Zufall.

… sicher die Bestrafung für mein Vergehen an der Freundschaft zu Harry. Ich gehe heute zu ihm, um ihm alles zu sagen. Oh, verdammt ich hab so 'n Schiss davor. Ich will Harry nicht als Freund verlieren - schließlich ist er der einzig echte den ich habe. Alle andern mögen mich doch nur wegen meines Erfolgs und meiner Prominenz. Wer interessiert sich schon für Piet Bratling. Alle wollen doch nur Pitt Bradley - ja das ist seit Neuestem mein Künstlername. Der Name soll mir die Tore der Filmwelt in Übersee öffnen. Und auch hier finden den alle toll.

Ja klar, weil das alles nicht ich bin. Und alles, was nicht ich bin, das mögen die Leute, das ist Mainstream. Dass ich selbst dabei verloren gehe, ist denen doch scheißegal. Auch meinem Manager. Für den zählt doch nur, dass ich viel Geld einbringe. Andernfalls könnte ich ihn ja auch nicht mehr bezahlen. Nur Harry weiß, wer ich bin.

Oder zumindest, wer ich war. Denn seit gestern bin ich endgültig nicht mehr Piet Bratling. Denn nur jemand anders kann dazu in der Lage sein, seinen besten Freund zu betrügen. Nur Pitt Bradley kann das, nur er kann mit diesem Typen ficken, diesem Marcel.

Ich verschluckte mich halb an meiner Spucke, als ich den letzten Satz zu Ende gelesen hatte. Das konnte nicht wahr sein, das DURFTE nicht wahr sein! Aber Moment mal, konnte es denn überhaupt möglich sein. Ich rechnete schnell nach. Ich war jetzt achtzehn, Bradley im Alter von achtundzwanzig gestorben. Harrys Marcel war damals dreizehn gewesen, musste jetzt also dreiundzwanzig sein. Und mein Marcel war … hmm naja ich hatte ihn nie gefragt. Aber ich schätzte ihn auf genau dasselbe Alter.

Okay, das war keine Hilfe. Doch gerade da fiel mein Blick auf die Autogrammkarte, die ich als Lesezeichen benutzt hatte. Sie war, weil ich sie nur achtlos zur Seite gelegt hatte, auf den Boden gefallen, sodass mir jetzt die Rückseite entgegenzeigte. Und dort stand etwas.

Ich hob die Karte auf und las vollkommen fassungslos:

Hiermit verspreche ich, Piet Bratling, Marcel Wegener, ihn zu ficken, sobald ich mein nächstes Projekt abgeschlossen habe. Im Gegenzug dazu verlässt er meinen Freund Harald.

27.03.2000 gez. Piet Bratling & Marcel Wegener

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