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Dich für mein Leben

Teil 2

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Inhaltsverzeichnis

5

Nur langsam begann sich die Dunkelheit zurückzuziehen und wich dafür einer konturlosen Umwelt aus verschwommenen Flächen und zerlaufenen Farben. Mein Kopf vibrierte förmlich unter ständig wiederkehrendem Schmerz und den Rest meines Körpers konnte ich weder fühlen noch bewegen.

Dafür vernahm ich ein Rauschen, aus dem sich ganz allmählich Stimmen herauskristallisierten. Wem sie gehörten konnte ich nicht sagen – genauso wenig war es mir möglich, das Gehörte zu verarbeiten und in einen einigermaßen logischen Zusammenhang zu bringen.

"Er ... wieder... "

"Gott sei Dank! Ich ... Schuld ... er von mir ... getrunken."

"Meinen Sie ... und wie lang ..."

Ich beschloss, mich dem Wirrwarr an Worten nicht länger auszusetzen, weil es die Schmerzen in meinem Kopf nur noch steigerte. Was war geschehen? Dunkel konnte ich mich an den Unfall erinnern, doch wo war ich hier? Vielleicht sollte ich doch noch einen Versuch unternehmen, meine Umwelt genauer wahrzunehmen. Also öffnete ich meine Augen erneut und konzentrierte mich mit aller Kraft darauf, scharf zu sehen.

Für einen kurzen Moment erkannte ich einen kleinen Raum voller technischer Apparate und eine Gruppe von Menschen in grünen Kitteln und Hauben, vermummt mit hellblauen Atemschutzmasken. Dann wurde der Schmerz hinter meiner Stirn zu stark und ich musste die Augen wieder schließen.

"Er ... zu sich!"

"Hat er ... schlimm?"

Ich versuchte meine Fäuste zu ballen, um meine Aufmerksamkeit von diesen nervenzerreibenden Wortfetzen abzulenken. Doch anstelle eines Schmerzes im Kopf durchzuckte mich nun einer in meinen Armen. Warum musste ich das alles mitmachen, warum war ich nicht tot? Ich konnte mich an den Baum erinnern und daran, dass ich nicht besonders langsam unterwegs gewesen war. Eigentlich müsste ich tot sein.

"Hallo? Herr ... mich hören?", vernahm ich eine gänzlich unbekannte Stimme. Ich wollte nicken, doch mein Kopf war mit irgendetwas fixiert worden, so dass es mir nicht möglich war.

"Manu, nicht ... zu arg." Vanessa! Innerlich sprang ich vor Freude auf. Ich erkannte die verschiedenen Stimmen. Ich erinnerte mich – oder begann mich zu erinnern.

"Ich ... an allem." Das war Mario!

"Du ... dafür." Lukas. Sogar Lukas war hier!

"... aufhalten sollen." Wieder Mario. Vielleicht sollte ich einen Versuch unternehmen, den unzusammenhängenden Fetzen endlich einen Sinn abzugewinnen. Also konzentrierte ich mich, wann immer eine der Personen das Wort ergriff und bekam so tatsächlich etwas von dem ablaufenden Gesprächen mit.

"Ich muss Sie jetzt bitten, zu gehen. Ihr Freund braucht jetzt dringend Ruhe." Die fremde Stimme.

"Jetzt?!" Isabelle! "Wir gehen jetzt bestimmt nicht. Er kommt endlich zu sich!"

"Genau darum ist es wichtig, dass er allein ist. Die Reizüberflutung könnte sonst zu stark sein. Es ist ohnehin ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt. Da können Sie ihm diese kurze Zeit in Ruhe doch wohl gönnen."

"Wir wollen ihm aber beistehen." Vanessa.

"Das können Sie jetzt am besten, indem Sie ihn in Ruhe lassen, glauben Sie mir."

"Vielleicht hat er Recht." Lukas. "Wir können eh nichts machen."

" Du ... ihn ... lassen?" Meine Kräfte begannen zu schwinden und mit ihnen die Konzentration. Ich hatte mich anscheinend zu sehr angestrengt. Vielleicht sollte ich ... ehe ich noch einen klaren Gedanken fassen konnte, spürte ich einen heftigen Schmerz im Bauch. Und draußen begann etwas hektisch zu piepsen. Dann kehrte die Schwärze zurück.

Der Schmerz ging – die Leere kam wieder.


Als ich das nächste Mal meine Augen öffnete, konnte ich sofort alles scharf sehen – zumindest relativ. Richtig erkennen konnte ich die Gesichter meiner Freunde zwar nicht, aber mein Gehirn schien den unscharf gezeichneten Konturen trotzdem die richtigen Personen zuordnen zu können.

"Er ist wieder wach!", rief Vanessa.

"Oh Manu, Gott sei Dank." Isabelle wollte sich auf mich legen, doch Lukas hielt sie zurück.

"Nicht, du weißt ja nicht, ob er Schmerzen hat." Sie nickte schuldbewusst.

Mario stand etwas abseits und sah mich nur ganz vorsichtig an. Er sagte nichts und er lächelte auch nicht – zumindest nicht so wie die anderen. Er war allem Anschein nach zwar froh mich wieder unter den Lebenden zu sehen, aber ... vielleicht bildete ich mir auch zu viel ein.

"H-h-h-i", hauchte ich und alle brachen in einen begeisterten Jubelsturm aus.

"Oh mein Schatz, ich bin ja so froh, dass es dir gut geht." Vom Rand meines Blickfelds aus drängten meine Eltern sich zu mir heran und meine Mutter setzte sich auf die Bettkante. "Ich hatte solche Angst um dich."

"Die hatten wir alle. Manu hat uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt." Lukas grinste mich schief an.

"Was ...was ...", krächzte ich, doch mein Mund war so trocken, dass selbst die Sahara ein Feuchtgebiet dagegen war und jeder Ton gewissermaßen versandete. Meine Mutter schaffte dem natürlich gleich Abhilfe und hielt mir ein Wasserglas unter den Mund, aus dem ich langsam zu trinken begann.

"Was ist ... passiert?", setzte ich erneut an, nachdem ich meine Kehle befeuchtet hatte – auch wenn ich das Gefühl hatte, noch einen ganzen Kasten vertragen zu können.

"Du hattest einen schlimmen Unfall, Schatz."

"Unfall?" Natürlich erinnerte ich mich ganz dunkel an das, was geschehen war, aber die Einzelheiten waren wie weggewischt.

"Ja. Du bist von der Straße abgekommen und gegen einen Baum gefahren. Wenn nicht zufällig ein Auto vorbeigefahren wäre, dann wärst du jetzt ... tot." Meine Mutter begann allein aufgrund dieses Gedankens zu weinen, so dass mein Vater ihr tröstend den Arm um die Schulter legte.

"Du hast ziemlich viel Blut verloren", fuhr er daher fort, mir die Geschichte weiter zu erzählen. "Als man uns verständigt hat, hieß es, deine Chancen würden sehr schlecht stehen. Und dann hattest du, während du hier warst, ein Nierenversagen. Die Ärzte meinten, das hat mit dem hohen Blutverlust zu tun."

Nierenversagen? Der Schmerz im Bauch. Jetzt verstand ich. Aber ich war doch zu mir gekommen. Wie war es möglich, dass mein Körper gleich darauf eine weitere schwere Verletzung erlitten hatte?

"Aber die Hauptsache ist, dass jetzt wieder alles in Ordnung ist", meinte Vanessa. "Deine Nierenfunktion ist wieder hergestellt und für eine vollständige Heilung bestehen gute Chancen."

"Und sonst fehlt mir nichts?" Ich wollte nicht glauben, dass ich solches Glück gehabt hatte.

"Na du hast dir eine Rippe gebrochen und drei Wirbel verrenkt", erwiderte Lukas. "Und dein Gesicht sah auch schon mal besser aus." Er grinste schief. "Nasenbeinbruch."

"Aber, Schatz, jetzt sag uns doch mal, welcher Teufel dich eigentlich geritten hat, so früh Auto zu fahren. Besonders wo du doch – wie uns Mario erzählt hat – sicher noch nicht nüchtern warst." Meine Mutter sah mich fragend an.

Da ich mir diese Frage sicherlich noch des Öfteren anhören dürfen würde, beschloss ich, mir bis zur endgültigen Aussprache noch eine gute Ausrede einfallen zu lassen. Für den Moment beließ ich es bei einem: "Bitte seid mir nicht böse, aber ich bin noch immer völlig fertig."

"Natürlich, wir sind sofort weg, Schatz. Jetzt wo's dir wieder gut geht, muss ich das erst mal allen Verwandten und Bekannten erzählen." Meine Mutter – die Klatschtante in Person.

"Ich ... äh ... muss eh noch was erledigen", meinte Lukas und verschwand nach einem kurzen Abschied, bei dem er Isabelle und Mario bewusst außen vor ließ. Es hatte mich ohnehin gewundert, dass er es so lange in einem Zimmer mit den beiden ausgehalten hatte.

"Ja, mach's gut Manu", sagte Isabelle und Vanessa wie aus einem Mund, grinsten und verschwanden zusammen mit meinen Eltern. Nur Mario machte keine Anstalten zu gehen. Daher drehte ich mich demonstrativ zur Seite.

"Ich bin müde. Gehst du jetzt bitte auch."

"Ich muss mit dir reden."

"Ach ja? Ich aber nicht mit dir." Ich machte mir nicht einmal die Mühe, ihn überhaupt anzusehen, aber ich hörte das schlechte Gewissen in jedem seiner Worte mitschwingen.

"Ich ... ich ... ich geb' mir irgendwie die Schuld daran, dass du fast gestorben wärst."

Das war es also. Ich drehte mich nun doch um und funkelte ihn an. "Da hast du auch verdammt Recht!", fauchte ich. "Und jetzt geh."

"Aber, Manu..."

"Verschwinde endlich!", brüllte ich und hatte mich schon halb im Bett erhoben, als ich merkte, dass das wohl zuviel der Anstrengung gewesen war, und mit einem leisen Ächzen wieder zurücksank. Mario sah mich noch einmal traurig an, dann schlurfte er mit hängenden Schultern zur Tür hinaus.

"Irgendwann wirst du reden wollen", meinte er nur und verschwand dann.

Da kannst du lang drauf warten, wollte ich ihm noch hinterher rufen, doch schon dazu fehlte mir die Kraft und so sank ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.


Als ich das nächste Mal aufwachte war ich wider Erwarten nicht allein. Doch zu meiner Erleichterung saß bloß Vanessa an meiner Bettkante, hielt meine Hand und sah mich besorgt an. Allerdings ließ sie meine Hand hastig los, als sie bemerkte, dass ich wach war.

"Oh, entschuldige ... ich ... äh ... wusste nicht, dass ... äh", stammelte sie, erhob sich und trat mit gesenktem Kopf einen Schritt vom Bett zurück.

"Kein Ding", beschwichtigte ich sie. "Ist schön zu wissen, dass sich jemand um mich Sorgen macht. Außer meinen Eltern natürlich"

"Ja, ... ähm ... also ich .... ich hatte schreckliche Angst, als ich dich hier zum ersten Mal gesehen hab'. Du hast fast schon wie 'ne Leiche ausgesehen, ganz blass, und hast kaum geatmet. Und niemand konnte mir sagen, ob du's überstehst."

"Das ist ja wirklich nett von dir", meinte ich, "aber warum genau erzählst du mir das?" Ich hatte zwar eine Ahnung, worauf Vanessa hinauswollte, wollte sie jedoch nicht direkt ins Blaue hinein darauf ansprechen.

"Nun ... ähm ... kannst du dir das nicht denken?, fragte sie und senkte erneut den Blick, als ich sie etwas zu durchdringend ansah.

"Ehrlich gesagt: nein."

"Also gut, ich hatte so große Angst um dich, weil ... weil ...weil ..."

"Hey ihr beiden!", rief da Isabelle von der Tür her und grinste. "Na, wie geht's unserem Patienten heute?"

Vanessa warf Isabelle einen Blick zu, der sie regelrecht aufspießte, aber diese hatte ohnehin nur Augen für mich. Sie hatte eine große Packung Schokolade dabei und warf sie mir aufs Bett.

"Das ist doch deine Lieblingssorte, nicht? War gar nicht so einfach, an die ranzukommen. Musste durch vier Geschäfte rennen, überall ausverkauft."

"Danke. Du kennst mich eben viel zu gut. Auch meine Fehler", lachte ich und begann die süße Versuchung in mich hineinzuschaufeln. "Bell, du bist die Beste." Dafür erntete nun ich einen bitterbösen Blick von Vanessa, der mir immer deutlicher machte, was sie mir vorhin hatte sagen wollen.

"Weiß ich doch, Schatz", flötete sie und wuschelte mir durchs Haar. "Könntest dich auch mal wieder waschen." Sie rieb mit dem Daumen über Zeige- und Mittelfinger. "Ganz schön fettig."

"Wie soll er das bitte machen?", kam es ungehalten von Vanessa.

"War doch bloß ein Scherz." Isabelle verdrehte die Augen. "Hab' ich euch bei irgendwas gestört, weil du pampig bist?"

"Um ehrlich zu sein ...", begann diese.

"...überhaupt nicht", ging ich dazwischen, bevor sich die nächsten beiden meiner Freunde zerstritten. Ich sah um Verzeihung haschend zu Vanessa hin, doch sie hatte sich vorgenommen, mich mit ihren Blicken aufspießen zu wollen.

"Na dann ist ja gut. Ich wollte eigentlich eh nur schauen, ob's dir wieder einigermaßen gut geht."

"Tut es, danke der Nachfrage."

"Super. Ich gebe nächste Woche eine Party ... hab sturmfrei ... hoffentlich bist du bis dahin wieder fit."

"Das ist ja wohl 'n bisschen übertrieben, oder?", schnaubte Vanessa. "Er ist gerade mit dem Leben davon gekommen und soll dann auf 'ne Feier gehen?"

"Ich denke, dass er das auch gut alleine entscheiden kann."

"Hallo?", schritt ich wieder ein. "Er ist anwesend. Und er wird das tun, wozu er Lust hat, ja?"

Die beiden nickten. Dann stand Isabelle auf und verabschiedete sich wieder. Vanessa hüpfte ungeduldig von einem Bein aufs andere, bis Isabelle endlich zur Tür hinaus war und sicher nicht zurück kommen würde. Dann wandte sie sich wieder an mich.

"Also, was ich dir gerade sagen wollte", begann sie, nahm meine Hand, setzte sich wieder auf die Bettkante und beugte sich ganz tief über mein Gesicht, so dass sich unsere Nasen fast berührten.

"Ja?", hauchte ich. Alles in mir war verkrampft. Ich wusste genau, was sie mir sagen wollte, aber nicht, wie meine Antwort lauten sollte. Wenn ich bisher keine richtige Beziehung führen konnte, warum sollte das nun besser laufen? Und zudem war Vanessa auch eine gute Freundin, was bedeutete, dass es mir viel schwerer fallen würde, sie wieder fallen zu lassen, wenn es nicht klappen sollte.

"Ich hatte solche Angst um dich, weil ich dich liebe." Jetzt war es also heraus. Ich schluckte nur, gab ihr aber keine Antwort. Die schien sie auch gar nicht erwartet zu haben, denn sie fuhr augenblicklich fort: "Das ist mir erst richtig bewusst geworden, als ich dich beinahe verloren hätte. Es war, als wäre mein eigenes Leben in Gefahr gewesen." Sie kam noch ein Stückchen näher, offensichtlich um mich zu küssen, als wir beide – anscheinend gleichzeitig, weil sie zurückzuckte – eine Bewegung bei der Tür bemerkten.

"Hallo Ma- ...", begann Mario, hielt aber mitten im Satz inne und starrte uns an. Er musterte uns genau, und sowohl Vanessas über mich gebeugter Körper als auch unsrer ineinander verschränkten Hände mussten für ihn nur einen einzigen Schluss zulassen.

"Oh", murmelte er nur und der Blick, den er mir zuwarf, traf mich tief – auch wenn ich nicht einmal sagen konnte, warum. "Ich will euch nicht stören. Vielleicht komm' ich morgen noch mal." Dann verschwand er wieder. Vanessa sah mich kurz an, dann führte sie die unterbrochene Bewegung fort und küsste mich. Es war nicht mehr als eine flüchtige Berührung, dennoch reichte sie, um mich in ein riesiges Gefühlschaos zu stürzen.

Es war so ganz anders als Marios Kuss, auf sonderbare Weise keineswegs so schön, und doch elektrisierend. Nimm sie und alle Zweifel sind vergessen. War das wirklich so? Konnte ich das, was Neujahr geschehen war, mit Vanessas Hilfe vergessen? Ich entschloss mich, dass ich es wohl auf einen Versuch ankommen lassen sollte. Wenn es nicht funktionierte, war es so, wenn doch, dann war es umso besser.

Du belügst dich selbst, wisperte eine leise Stimme in meinem Hinterkopf. Doch ich beschloss, nicht auf sie zu hören.

Also erwiderte ich Vanessas Kuss.

6

"Hey, na wie geht's? Kommst du jetzt heut Abend?" Isabelles Begrüßung am Telefon war wie immer schnell und abgehackt, sie wollte immer sofort aufs Wesentliche hinaus.

"Ganz okay. Wobei, wenn ich bedenke, dass ich vor über einer Woche mehr tot als lebendig war, müsste ich eigentlich sagen: hervorragend!"

"Na das ist doch schön zu hören. Und was ist jetzt mit heute Abend?"

"Also Vanny ist eigentlich nicht so begeistert davon."

"Sieh an. Kaum ist er gebunden, vernachlässigt er seine Freunde. Das hast du uns doch immer vorgeworfen, oder?" Isabelle lachte. "War nur 'n Scherz. Kannst du sie nicht vielleicht überreden?"

"Hm, seit du und Mario diese Sache mit Lukas abgezogen habt, ist sie auch nicht mehr so gut auf dich zu sprechen. Jeder, der sich mit Mario abgibt, ist ihr zuallererst suspekt."

"Ja, Asche auf mein Haupt. Das mit Lukas war nicht wirklich okay von uns, zugegeben. Aber was hat das damit zu tun, dass du auf meine Party gehst? Ich hab' sie fast schon als Manu-lebt-Party angepriesen. Du musst einfach kommen."

Ich musste lachen. "Na, wenn das so ist, kann ich ja nicht nein sagen, oder?"

"Schön, dass du es einsiehst."

"Gut, ich versuche sie zu überreden mitzukommen. Wenn's nicht funktioniert, komm ich eben allein."

"Spitze."

"Kommt Mario auch?"

"Ähm, warum fragst du?"

"Nur so. Weil ... äh ... na ja ... halt wegen Vanessa, du weißt schon."

"Hm, ja, verstehe. Manu, da gibt es etwas, das ich dir noch sagen sollte, bevor du es dann heute siehst. Also ... hm ... Mario und ich sind jetzt zusammen. Also fest zusammen."

"Ach wirklich?" Richtig überrascht war ich nicht, wobei mir gar nicht klar war, warum ich diesen Satz irgendwann erwartet hatte.

"Ja, er hat mich vor ungefähr 'ner Woche angerufen und gemeint, dass wir reden müssten und so. Na ja, jetzt sind wir auf jeden Fall zusammen und es fühlt sich toll an. Ich glaube, ich bin richtig verknallt."

"So wie bei Lukas, wie?", fragte ich säuerlich.

"Das war etwas anderes." Sie klang ehrlich verletzt.

"Wenn du meinst. Lass uns nicht mehr darüber reden, okay? Bis heute Abend." Ich legte auf, ohne ihre Antwort abzuwarten. Jede Sekunde, die ich sie länger am Telefon gehabt hätte, hätte mir meinen Entschluss zu der Party zu gehen schwieriger gemacht. Sie und Mario waren also zusammen. Na und? Ich hatte ja schließlich auch jemanden gefunden. Dennoch fand ich es eine bodenlose Unverfrorenheit von den beiden. Nach allem, was passiert war, hatte ich wohl doch irgendwie geglaubt, dass ihr Gewissen sie an einer Beziehung hindern könnte.

Doch offensichtlich hatte ich mich geirrt. Mario hatte also die Initiative ergriffen; er wollte mit ihr zusammen sein. Das ergab für mich keinen Sinn. Wenn er tatsächlich mit Lukas geschlafen hatte, konnte er Isabelle doch gar nicht lieben. Und was war mit unser beider Kuss? Schließlich ...

"Dieser verdammte Mistkerl!", entfuhr es mir laut, auch wenn es ja keiner hören konnte. Aber in mir keimte ein furchtbarer Verdacht. Und gerade dieser Verdacht festigte meinen Entschluss auf Isabelles Party zu gehen. Ich musste Mario zur Rede stellen, koste es was es wolle.


Die Feier war eine typische Isabelle-Bissé-Party. Wenn man die Leute unserer Kollegstufe beziehungsweise unserer Stadt in Gesellschaftsklassen eingeteilt hätte, so wären ihre Feste die der Oberschicht gewesen, sprich der High Society. Alle hier waren entweder schön oder reich oder beides zusammen. Viele hielten sich zwar für attraktiv, doch nicht einmal ein Viertel der Anwesenden hätte ich überhaupt als ansehnlich bezeichnet. Dafür hatten sie Geld – oder besser gesagt: Ihr Eltern hatten Geld.

Mit weit weniger als einem Viertel der Gäste könnte man eine einigermaßen normale Unterhaltung führen, ohne andauernd über die neueste Designersonnenbrillenkollektion sprechen zu müssen. Mario musste sich auf dieser Party recht fehl am Platz fühlen, denn seine Eltern waren beide arbeitslos und hatten es nur mit Mühe geschafft, ihrem Sohn einen Besuch am Gymnasium zu ermöglichen. Fast tat er mir bei dem Gedanken Leid, dass er sich hier unter all den eitlen Gecken und Schickimicki-Tussis recht blöd vorkommen musste.

Aber ich war nicht hier, um ihn zu bemitleiden, sondern um ein Hühnchen mit ihm zu rupfen. Doch das stellte sich als schwieriger heraus, als ich es mir gedacht hatte. Denn als Freund der Gastgeberin war Mario vor allem zu Beginn der Feier voll eingespannt – hauptsächlich damit, sich komplizierte Adelstitel oder die fünf Vornamen von Bankdirektorsöhnen zu merken. Er lächelte zu all dem tapfer, doch ich kannte ihn zu gut, um zu wissen, dass er bald genug davon bekommen würde, und dann würde meine Stunde schlagen.

Dennoch musste ich gut drei Stunden auf diesen Moment warten, in denen ich mir sorgsam zurechtlegte, was ich sagen beziehungsweise fragen wollte. Meine Gelegenheit ergab sich, als Mario sich von Isabelle löste und sich mit den Worten entschuldigte, er müsse kurz auf ein stilles Örtchen. Isabelle sagte ihm, er solle ruhig das Badezimmer im ersten Stock benutzen, weil im WC des Erdgeschosses sicher die Hölle los wäre. Mario hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und verschwand. Ich folgte ihm möglichst unauffällig.

Er nahm zwar tatsächlich die Treppe nach oben, aber nicht um im ersten Stock die Toilette aufzusuchen, sondern noch eine Etage höher zu steigen, wo sich Isabelles Zimmer befand. Auch hier folgte ich ihm in gebührendem Abstand. Durch einen Spalt in der nicht ganz geschlossen Zimmertür sah ich, wie er unruhig im Zimmer auf und ab marschierte und dabei irgendetwas von "Gesocks" vor sich hinmurmelte. Ich entschloss mich für einen Frontalangriff.

"Ich dachte, du wolltest aufs Klo?" Ich tat so, als wäre ich gezielt ins Zimmer gekommen, hätte ihn aber zuvor nicht gesehen und wäre nun sehr überrascht.

"Manu?" Mario sah mich erschrocken an. "Was machst du hier?"

"Ich ... also Isabelle hat mich ... äh also ... das gleiche könnte ich dich fragen!", meinte ich trotzig, war aber insgeheim nur zornig auf mich selbst. Wo waren die schlagfertigen Antworten hin, die ich mir ausgedacht hatte, wo mein im Kopf geschriebenes Drehbuch für die kommenden Dialoge? Alles war verschwunden, als er mich angesehen hatte.

"Du kennst mich. Diese aufgeblasenen Idioten haben mich angekotzt. Ich brauchte mal 'ne Auszeit. Aber was machst du hier?"

"Wie? Ach so ... äh ... nun ja, also ... weil ich mit dir reden muss", begann ich, wehrte aber jedoch ab, als ich das Leuchten seiner Augen sah. "Nicht worüber du denkst. Da gibt es nichts zu besprechen."

"Wenn du meinst." Mario sah mich irgendwie ... enttäuscht an. "Was gibt's denn?"

"Warum bist du mit Bell zusammen?", fragte ich frei heraus.

"Blöde Frage, weil ich sie lieb- ..."

"Erzähl mir du nichts von Liebe, ja!", begehrte ich auf. "Du hast so viele Beziehungen auf dem Gewissen, dass du doch gar nicht weißt, was Liebe ist!"

"Hey, mal langsam, ja! Wenn du nur gekommen bist, um mich zu beschimpfen, kannst du gleich wieder gehen, klar?"

"Das hättest du wohl gern. Dann könntest du dich schön um die Wahrheit drücken, nicht wahr?"

"Worauf willst du bitte hinaus?"

"Findest du es nicht sehr komisch, dass du Isabelle genau zu dem Zeitpunkt eine Beziehung vorgeschlagen hast, als du mich und Vanessa im Krankenhaus gesehen hast?"

"Was genau willst du damit sagen?" Mario kniff argwöhnisch die Augen zusammen.

"Dass du nur mit Bell zusammen bist, um mit mir gleichzuziehen."

"Sag mal, wie eingebildet bist du eigentlich?", wetterte Mario. "Die Welt dreht sich nicht nur um dich, klar?"

"Das hab ich auch nie behauptet. Es ist aber schon sehr seltsam, wenn ..."

"Was geht dich eigentlich mein Leben an? Oder – halt ich weiß:" – Er grinste irgendwie unheimlich – "Du bist eifersüchtig."

"Pah, warum sollte ich auf dich eifersüchtig sein? Bell und ich sind nur gute Freunde, ich würde mit ihr gar ..."

"Doch nicht auf mich", meinte Mario und trat näher – eindeutig etwas zu nah, aber ich war zu aufgebracht, um es zu merken. Dafür bemerkte ich seinen Duft: Sein Parfum steig mir in die Nase und vernebelte mir für einen Moment die Sinne, so dass ich erst gar nicht mitbekam, wie er fortfuhr: "Sondern auf Bell." Er trat noch näher und mit einem Mal war die ganze Erinnerung wieder da, von der ich gehofft hatte, sie – wenn schon nicht durch den Alkohol dann doch wenigstens durch den Unfall – verloren zu haben. Aber diesmal war weder das Bild, das in meinem Kopf entstand, noch die dazugehörende Wirkung auf meinen Körper (vor allem die unteren Regionen) das Schlimmste an der Sache, sondern dass ich genau wusste, dass dies auch Mario nicht verborgen blieb. Ich wollte auf dem Absatz kehrtmachen und wieder zu den anderen Gästen zurückgehen, doch er ergriff mich schnell an der Hand und hielt mich fest.

"Warte Manu, ich muss mit dir reden."

"Lass mich los, klar?!"

"Erst, wenn du mit mir ..."

"Vergiss es!", brüllte ich und schlug ihm mit der Faust in den Bauch – zwar nicht sonderlich stark, aber immerhin fest genug, dass er meine Hand losließ und ich schnell verschwinden konnte. Ich verabschiedete mich nicht einmal mehr bei Isabelle, sondern rannte Hals über Kopf nach Hause.


"Na wie war die Party?" Vanessa klang keineswegs so, als ob sie die Antwort auch nur annähernd interessieren würde. Sie saß auf meinem Bett und hatte ihre Bluse einladend aufgeknöpft. Doch mir war absolut nicht danach, jetzt irgendetwas damit anzufangen. Selbst jetzt am nächsten Tag fuhren meine Gefühle immer noch Karussell, so dass mir ständig irgendwie schwindlig war.

"Ach du weißt schon, halt 'ne typische Bell-Party. Die eine Hälfte kannte ich nicht und von der anderen Hälfte wäre ich bei den meisten von ihnen froh gewesen, sie nicht zu kennen."

"Sie weiß eben, wie man ein rauschendes Fest feiert", meinte Vanessa nur – wobei man ihre Verachtung deutlich bemerkte. Wäre ich nicht so mit meinen Gedanken beschäftigt gewesen, hätte ich sie sicher zurechtgewiesen, dass sie nicht so giftig gegenüber Isabelle sein sollte. Aber ich beließ es bei einem einfachen Blick, den sie offensichtlich falsch deutet, da sie sich erhob, mir ihre Arme um den Hals schlang und mich küsste.

"Nicht jetzt, Vanny." Ich schob sie von mir weg. Sie zog eine beleidigte Schnute.

"Na komm schon. Wir sind erst eine Woche zusammen. Eigentlich dürften wir gar nicht aus dem Bett rauskommen."

"Du vergisst, dass ich vor etwas mehr als einer Woche beinahe mit niemandem mehr zusammen gewesen wäre."

"Ja, ich weiß." Sie verdrehte die Augen. "Aber dir geht's doch wieder gut. Und ... und ich ... ich liebe dich so." Wieder drückte sie ihre Lippen auf meine. Aus reinem Pflichtbewusstsein erwiderte ich den Kuss. Es fing schon wieder an. Mein Dilemma mit den Frauen. Ich wollte mit ihr zusammen sein, aber ich konnte es nicht. Aber sie zurückzuweisen fiel mir mit jedem Tag schwerer, zumal ich sie ja als Art Schutz vor diesen seltsamen Gefühlen ansah.

Natürlich schlief ich mit ihr. Sogar relativ oft. Doch es war ganz anders als früher. Vielleicht lag es daran, dass mein schlechtes Gewissen bei jedem Sex größer wurde. Vielleicht, weil es eine Freundin war, die ich da benutzte, um mich an den Rest Normalität zu klammern, der mir blieb. Der Verlust unserer Freundesrunden hatte ein tiefes Loch in meine Seele gerissen. Wie schon gesagt waren die vier so etwas wie Geschwister gewesen und zumindest einen von ihnen sah ich jetzt beinahe gar nicht mehr.

Lukas. Seit meinem Unfall war ich ihm nur einmal kurz beim Einkaufen begegnet und dort war er recht kurz angebunden gewesen. Vielleicht sollte ich...

"An was denkst du gerade?", unterbrach Vanessa meine Gedanken. Sie lag in meinen Armen und malte mit ihrem Finger Kreise auf meine nackte Brust.

"An ... Lukas."

"Lukas?" Sie sah mich argwöhnisch an. "Muss ich mir Sorgen um dich machen?" Sie kicherte.

"Was? Quatsch ... nein. Ich hab nur dran gedacht, wie schade es ist, dass unsere Freundschaft so zerbrochen ist."

"Na ja zwei bestimmte Menschen sind da nicht ganz unschuldig dran."

"Tja, kann man nicht ändern. Aber..."

"Kann man nicht ändern?!? Wie bist du denn drauf?", ereiferte sich Vanessa. "Mario und Bell haben Lukas nach Strich und Faden betrogen, und das ist alles was dir dazu einfällt. Also ich könnte ..."

"Darum geht es nicht. Außerdem hat Lukas ja auch Jenny mit Isabelle betrogen und dann mit ihr eine Bez- ..." Ich hätte mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Warum konnte ich nie meine Klappe halten? Zwar hatte ich Vanessa nur die geschönte Wahrheit verraten, aber das alleine reichte bereits um sie regelrecht an die Decke gehen zu lassen.

"Er hat WAS??"

"Ja, aber du musst mir versprechen es echt keinem zu sagen. Bitte, mir zuliebe."

"Hm, ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich meine, ja okay für dich, aber ... Isabelle ... ich hätte nie gedacht, dass sie so eine Schlampe ist!"

"He, he, he, so schlimm ist sie ja gar nicht." Wobei, wenn ich mir meine eigenen Worte überlegte, musste ich mir eingestehen, dass es sich durchaus so schlimm anhörte.

"Na ja, ich weiß nicht. So schnell wie sie dann von Lukas zu Mario gewechselt ist, könnte man ja fast meinen, das wäre geplant gewesen." Sie grinste. "Würde ich ihr zutrauen."

"Ach quatsch. Könnten wir das Thema bitte endlich sein lassen. Ich bin müde." Und damit drehte ich mich zur Seite und stoppte Vanessa, bevor sie noch mehr richtige Schlüsse ziehen würde.

"Du hast davon gewusst, nicht?", flüsterte sie prompt. "Das von Lukas und Isabelle." Ich zog es vor, mich schlafend zu stellen. Vanessa machte ein Geräusch, das sich sowohl so deuten ließ, dass sie sich bestätigt fühlte, als auch, dass sie verärgert war. Aber das war mir im Moment egal. Ich hatte ja gewusst, dass mich die ganze Sache noch in Verlegenheit bringen würde.

Wobei man ja – wenn man genau sein wollte – geradezu erkennen musste, dass die Sache mich längst in Verlegenheit gebracht hatte. Schließlich war die Geschichte am Neujahrsmorgen auch aus dieser ganzen Beziehungskiste entsprungen.

Mario. Warum brachte mich die Erinnerung an jene Nacht nur so verdammt durcheinander? Es war eigentlich eine Banalität sondergleichen gewesen, denn schließlich waren wir ja beide stark angetrunken gewesen; da konnte so etwas sicher leicht passieren. Dennoch fiel es mir schwer an etwas anderes zu denken. Ich sollte eigentlich versuchen – beziehungsweise mich völlig darauf konzentrieren –, mit Vanessa glücklich zu werden. Stattdessen geisterte mir Mario im Kopf herum, Marios Lippen, Marios Hände, Marios Duft.

Marios Kuss. Ja, das war es wohl, was mich am meisten fertig machte. Auf sonderbare Weise fordernd, dominant, aber dennoch sanft und einfühlsam. Aber was mir daran besonders zu schaffen machte, war die Tatsache, dass ich nicht wusste, wie ich darauf reagiert hätte, wenn ich nüchtern gewesen wäre. Wahrscheinlich wäre es nie zu dem Kuss gekommen, somit nie zu dem Unfall und dann läge jetzt auch nicht Vanessa neben mir, sondern – wenn überhaupt jemand – nur irgendeine Unbekannte, die zwei Wochen später eine sitzengelassene Unbekannte gewesen wäre.

Ah, diese verdammten Gedanken machen mich noch wahnsinnig! Mir war klar, dass es so nicht weiter gehen konnte. Ich musste mit irgendjemandem reden. Und es war sicher, dass es nicht Mario sein würde. Nein, es musste jemand sein, der das auch...

Und so fasste ich mitten in der Nacht einen Entschluss, mit dem sich zumindest für den Moment die Erinnerung zurückdrängen und die Aufregung beruhigen ließ.


"Wer stört?"

"Hey Luky, ich bin's, Manu."

"Manu? Hi, wie geht's dir altem Rennfahrer denn so?" Lukas kicherte. Obwohl ich sein Gesicht nicht sehen konnte, konnte ich mir den schalkhaften Ausdruck darin lebhaft vorstellen.

"Ganz gut. Äh ... sag mal, hättest du später Zeit?"

"Warum?"

"Ich muss mit dir reden."

"Worüber?" Der freundliche Ton in seiner Stimme war vollends verschwunden,

"Äh .. das sag ich dir besser später. Heute Abend vielleicht? Im Café?"

"Hm, ich weiß nicht ... Eigentlich ... ach, was soll's. Okay, ich werde da sein."

"Danke, bis dann."

Am Abend saß ich dann im Café und wartete. Von Lukas wäre ich sehr überrascht gewesen, wenn er nicht pünktlich erschienen wäre. Er hasste es selbst warten zu müssen und versuchte daher nach Kräften, anderen das Warten zu ersparen. Daher konnte ich damit rechnen, dass ich, nachdem ich etwas zu früh gekommen war, mich nicht allzu lange gedulden musste, bis er kam. So war es dann auch.

"Hey Manu, um was geht's?", meinte Lukas direkt und ohne Umschweife und warf seine Jacke über den Stuhl, der mir gegenüberstand.

"Um Mario", sagte ich frei heraus und Lukas, der gerade im Begriff war, sich zu setzen, führte die Bewegung nicht aus, sondern griff hinter sich, um die Jacke wieder aufzunehmen.

"Du bestellst mich her, um über diesen ... Blödmann zu reden?", grummelte er und mir war klar, dass er sich bei der Beschimpfung Marios nur wegen der anderen Gäste im Café zurückgehalten hatte.

"Na, es geht eher indirekt um Mario. Eigentlich brauch' ich nur jemanden zu quatschen."

"Dann schieß mal los." Lukas ließ sich jetzt doch auf den Stuhl fallen und sah mich erwartungsvoll an. Und dann begann ich ihm langsam die Geschichte zu erzählen. Ich ließ nicht einmal den Teil aus, der Isabelle in keinem sonderlich guten Licht dastehen ließ, doch Lukas registrierte es nur mit einem beinahe beiläufig wirkenden Nicken, fast so, als hätte er das schon gewusst. Dann kam ich zu der entscheidenden Stelle in jener Nacht – wobei ich allerdings unerwähnt ließ, dass mir Mario zuvor den wahren Grund für Lukas' Trennung von Jenny genannt hatte.

"Er hat sich an dich rangemacht?"

"Wenn du es so ausdrücken willst, ja." Ich nickte und senkte die Stimme. "Und ... na ja ... irgendwie geht's mir halt nicht mehr aus dem Kopf."

"Du denkst, du hast dich in ihn verknallt? Aber du bist doch mit Vanessa zusammen." Lukas Augen blitzten. Er sah mich sehr seltsam an. "Und warum genau erzählst du mir das alles ... ich meine: Warum erzählst du es mir?"

"Wem soll ich's denn sonst erzählen, hä? Wenn ich mit Isabelle darüber spreche, ist ihre Beziehung zu Mario futsch und mit ihm mag ich nicht reden."

"Was ist mit Vanessa?"

"Vanessa? Ich bitte dich! Du hast Jenny doch auch nicht ... ich ... äh ...meine ... äh." Ich schluckte, als ich Lukas Gesichtsausdruck sah.

"Was versuchst du mir da grade zu sagen?", hakte er nach und ich konnte seine Stimme zittern hören.

"Na ja, das war der andere Grund, aus dem ich gerade mit dir reden wollte. Ich dachte, du wüsstest vielleicht, was in mir vorgeht. Schließlich ... ich meine ... du weißt ja Bescheid."

Lukas sagte nichts. Er sah mich schweigend an, doch ich sah, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Dann verfinsterte sich sein Blick und er schlug mit der Faust so heftig auf den Tisch, dass eine unserer Tassen beinahe davon herabgefallen wäre.

"Diese verdammte Schwuchtel!", zischte er. "Ich wusste, dass er seine Klappe nicht halten kann."

"Er war halt betrunken. Und dann hab' ich ihm erzählt, dass du ja extra wegen Isabelle mit Jenny Schluss gemacht hattest und dann kommt er daher und ... na ja, dann hat er's mir halt gesagt."

"Ach das hat er dir gesagt?" Lukas grinste seltsam – irgendwie böse. "Was noch?"

"Nichts weiter. Nur dass du mit ihm ge- ..."

"Dieser miese kleine Feigling. Es war so klar, dass er sich selber aus der Sache mal wieder raushält."

"Was meinst du?"

"Na, dass er dir sein kleines Geheimnis nicht erzählt hat, wenn er schon dabei war, mich zu outen!" Lukas war inzwischen puterrot angelaufen und hatte beide Hände fest zu Fäusten geballt, dass seine Knöchel kalkweiß aus der Haut hervorstachen.

"Welches Geheimnis?" Ich war neugierig geworden. Was konnte Mario bloß verborgen haben? Was noch?

"Ist dir nie aufgefallen, dass er für ein Kind von Arbeitslosen recht gut gekleidet war? Dass er immer die neueste Mode getragen hat, dass er uns viele Runden ausgegeben hat, wenn wir zusammen unterwegs waren?"

"Doch schon, aber was willst du genau damit sagen?"

"Mario war ein Stricher!", platzte es schließlich aus Lukas heraus.

7

Ich klingelte Sturm an Marios Haustür und versuchte, meine Gedanken auf einigermaßen geordnete Bahnen zu lenken. Seit Lukas' Offenbarung waren etwa zehn Minuten vergangen, doch es hätten genauso gut zehn Stunden oder zehn Sekunden sein können. Ich erinnerte mich an keine einzige davon. Im Café war ich ohne weiter mit Lukas zu sprechen aufgesprungen, hatte ihm Geld zum Bezahlen da gelassen und war verschwunden. Ich musste einfach zu Mario gehen. Das konnte doch alles nicht wahr sein!

"Oh, hallo Manuel. Du willst bestimmt zu Mario.” Marios Mutter öffnete mir die Tür. Ich murmelte geistesabwesend so etwas wie "Ich weiß, wo's hingeht" und stürmte die Treppe hoch zu Marios Zimmer. Ohne anzuklopfen, platzte ich hinein, doch Mario war nicht da.

"Mario duscht noch", rief mir seine Mutter vom unteren Ende der Treppe zu, schüttelte den Kopf, als sie keine Antwort bekam und zog sich dann zurück. Ich wollte zuerst in Marios Zimmer warten, aber die Erinnerung an Neujahr schlugen wie sturmgepeitschte Wellen über mir zusammen, so dass ich meinte, keine Luft mehr zu bekommen. Ich machte gerade auf dem Absatz kehrt, um vor der Tür auf Mario zu warten, als der urplötzlich vor mir stand und ich mit ihm zusammenstieß. Er hatte sich lediglich ein Handtuch um die Hüften gewickelt und seine Haare klebten noch immer feucht auf seinem Nacken.

"Hoppla Manu, was willst du denn hier?" Er sah mich fragend an.

"Hast du ... ich meine ... bist du ...ich .. äh ..." Mir kamen fast die Tränen vor Verzweiflung. Ich wollte ihn nicht fragen – oder ich konnte es nicht, auf jeden Fall schien mir jedes Wort im Halse stecken zu bleiben.

"Hey, du bist ja ganz durch den Wind. Was ist denn los?"

"Warst du ein Stricher? Lukas hat mir es erzählt, weil ich ihm gesagt hab, dass ich das von euch weiß und ich wollte ... und ... wir ... Stimmt das?", sprudelten die Worte nur so aus mir heraus. Mario sah mich nur aus leeren Augen an. "STIMMT ES?!", brüllte ich. Er zog mich in sein Zimmer, schloss die Tür und bedeute mir, mich zu setzen. Eigentlich hatte ich dazu keine Lust, doch irgendwie hatte ich das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren und daher ließ ich mich auf seinem Bett nieder.

"Ja, das stimmt", sagte er dann leise und nach einer halben Ewigkeit. Er hatte seine Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst und seine Augen schimmerten feucht.

"Aber wieso?"

"Das fragst du noch?", wollte er verbittert wissen. "Immer diese Trends, dieser Markenzwang, ich brauchte Geld ... und da ...ich ..." Seine Stimme versagte. Er setzte sich neben mich und atmete tief durch. Dann begann er etwas gefasster zu erzählen, wobei ich deutlich spürte, wie gut es ihm tat, darüber zu reden.

"Eigentlich wollte ich bloß mal im Internet nach Jungs gucken, die sich genauso fühlen wie ich. Das war so mit fünfzehn, als ich gemerkt hab ... na ja ... dass ich nicht nur auf Mädels steh'. Kam halt in so 'n Chatforum. War am Anfang auch ganz normal, ohne irgendwelche Hintergedanken. Bis mich dann ein älterer mal gefragt hat, ob ich Lust hätte mal gegen Bezahlung mit ihm auszugehen. So als Begleitservice. Ich hab' mir gedacht, wieso nicht, schaden kann's ja nicht."

Mario schniefte. "Na ja es war auch ganz okay, wir war'n halt essen, er war ja auch nett, und dann hat er gemeint, ob ich nicht vielleicht noch mit zu ihm wollen würde. Ich hab mir gedacht, was soll's, war ja auch nett bis jetzt. Aber dann wurde er halt aufdringlich und hat gemeint, dass ich das Geld nur kriegen würde, wenn ich ihm einen blase. Und weil ich es ja unbedingt brauchte" – er lächelte säuerlich – "ließ ich mich darauf ein. Und dann hat er gemeint, falls wir uns noch mal treffen würden und ich für mehr bereit wäre, würde er auch mehr Geld springen lassen."

Er sah mir tief in die Augen. Mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinab, als ich die unendliche Traurigkeit darin erkannte. Wie hat er das bloß die ganze Zeit vor uns geheim halten können, fragte ich mich. Mit einem sachten Nicken forderte ich ihn auf, weiter zu erzählen.

"Zuerst konnte ich mir das ja überhaupt nicht vorstellen, aber dann ... na ja es kam halt ein neuer Trend, ich brauchte mal wieder Geld, also bin ich darauf eingegangen." In Marios Augen sammelten sich bereits neue Tränen. "Danach hat er gemeint, dass ich jederzeit wiederkommen könnte, wenn ich Geld brauchte. Und dann hat er mir noch die Nummern von ein paar seiner Freunde gegeben, die auch gern auf Frischfleisch standen. Na ja und so hab ich mit den ganzen notgeilen alten Säcken gevögelt, um bei eurem Lebensstandard mithalten zu können."

Marios Lippen bebten und auch sein Körper zitterte wie Espenlaub. Mein Zorn auf ihn war längst verraucht und hatte einem tiefempfundenen Mitgefühl Platz gemacht, das mich für einen Moment meine ganzen Zweifel vergessen und meinen Arm tröstend um seine Schulter legen ließ. Es war, als würde tief in Mario ein Damm brechen, der all die Selbstvorwürfe zurückgehalten hatte: Er schlang seine Arme um meinen Hals und begann, haltlos zu schluchzen. Zuerst erstarrte ich bei der Berührung, doch je länger das Weinen andauerte, um so mehr bröckelte mein Widerstand und ich ließ den Kontakt zu.

Ein wahrer Orkan von Gefühlen fegte über mich hinweg. Meine Hand fuhr sanft seinen Rücken hinab und zwischen meinen Fingerspitzen und seiner Haut schienen Funken zu sprühen. Ich spürte jede kleinste Unebenheit – und derer gab es auf seinem makellosen Körper wenig – ich sog seinen Duft tief in meine Lungen ein, als ob ich ihn für immer dort einschließen wollte. Ich hörte, wie das Weinen langsam in ein leises Wimmern überging und schließlich ganz versiegte. Er lag einfach nur da, halbnackt, in meinen Armen und allein dieses Gefühl machte mich fast wahnsinnig.

Ich widerstand der Versuchung, meine andere Hand in seinen Haaren zu vergraben, nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann fuhren meine Finger auch schon durch seine feuchten Strähnen. Mein ganzer Körper zitterte, als ich den Schlag seines Herzens sogar durch meinen Pullover spüren konnte, so wie die Stelle, welche sein Atem erwärmte. Ich wusste nicht, wie lange wir so eng umschlungen da saßen, doch es war egal, ob es nur wenige Sekunden sein mochten – die Zeit und die Welt stand still um uns herum und keine Macht des Universums hätte uns zu trennen vermocht.

Es dauerte eine ganze Weile, bis mir die Tragweite dieser Gedanken bewusst wurde, doch im Moment interessierte mich das nicht. Tief in mir hatte ich es seit Neujahr ohnehin gewusst und darum konnte ich jetzt jede Sekunde unserer Berührung genießen. Allerdings nur so lange, bis ich merkte, dass Mario eingeschlafen war. Langsam und vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, löste ich seine Arme von mir und schob Mario behutsam auf sein Bett. Ich deckte ihn zu und strich mit der Hand noch einmal zärtlich über seine Wange. Seine Augenränder waren noch gerötet vom Weinen, aber sein Gesicht hatte jetzt einen rundum zufriedenen Ausdruck – wie ein kleiner Engel. Dann erhob ich mich und schlich aus dem Zimmer, um nach Hause zu gehen.


Die nächsten zwei Wochen waren die schlimmsten meines bisherigen Lebens. Mario war mit seinem Spanisch-Leistungskurs nach Madrid geflogen, um dort auf Exkursion zu gehen. Warum ihnen eine solch lange Abstinenz vom Unterricht erlaubt worden war, wo doch in der Vor-Abiturzeit jede Fehlstunde fatal war, wollte sich mir nicht erschließen – vielleicht wollte ich aber auch einfach Marios Abwesenheit nicht ertragen.

Denn schließlich hatten wir uns nach seinem Ausbruch nicht aussprechen können, er war gleich am nächsten morgen abgeflogen und hatte zudem kein Handy dabei, weil Ferngespräche ja nur unnötig teuer waren. Und ich saß mit meinen völlig neuen Gefühlen zu Hause und wusste weder, wie ich damit umgehen sollte, noch, ob ich es wollte. Denn auch wenn ich offenbar zum ersten Mal richtig verliebt war, ließ mich die Frage nicht los, ob es denn richtig war. Wollte ich überhaupt in Mario verliebt sein? Konnte ich mich nicht einfach in Vanessa verlieben, alles vergessen und hinter mir lassen?

Also stürzte ich mich während Marios Abwesenheit verstärkt in Aktivitäten mit meiner Freundin, wobei ich allerdings die ganze Zeit über ein schlechtes Gewissen hatte. Du machst ihr etwas vor. Ich wusste es, aber ich nahm es in Kauf. An unserer Schule galten wir als Traumpaar – über Mario und Isabelle wurde wenn, dann nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen, schließlich war das, was sie Lukas angetan hatten, einfach unverzeihlich – und ich genoss es. Und das verstärkte meine Zweifel, ob das mit Mario nicht vielleicht nur eine Phase war, so schnell vorüber, wie sie gekommen war.

Einerseits vermisste ich ihn, anderseits genoss ich die Zeit mit Vanessa. Aber mir wurde bald klar, dass es lediglich eine Reminiszenz an die vergangene schöne Zeit als Fünf-Freunde-Bund war, die mir diesen Genuss bereitete und nicht Gefühle für Vanessa. Aber die Beziehung mit ihr beenden, das konnte ich auch nicht. Und so war ich hin- und hergerissen, konnte kaum eine Nacht ruhig durchschlafen. Innerlich war ich zweigeteilt: Auf der einen Seite stand ein normales Leben mit Vanessa; auf der anderen das Abenteuer, die Liebe mit Mario. Und obwohl mir die ganze Zeit über eigentlich klar war, was ich letzten Endes wählen würde, wog ich doch beides dauernd gegeneinander ab.

Vielleicht tat ich das Ganze auch nur, um nicht die ganze Zeit an ihn denken zu müssen. Die Erinnerung an jene Neujahrsnacht war durch meine Phantasie längst zu einer Offenbarung und Mario zur Lichtgestalt verklärt worden. Wann immer ich daran dachte, spürte ich den Kuss, roch ich seinen Duft, hörte seinen Atem und blickte in seine tiefen, grünen Augen. Ach verdammt, warum dauert das nur so lange, bis er wiederkommt?

Wie gesagt, diese beiden Wochen waren wirklich schlimm. Und als sie vorbei waren, konnte ich es kaum erwarten, ihn endlich wieder zu sehen. Ich musste mich sogar mit aller Gewalt beherrschen nicht an den Flughafen zu fahren, um ihn dort bereits in Empfang zu nehmen. Verdammt, ich benahm mich wie ein pubertärer Teenager. Als ich annahm, dass er inzwischen zu Hause sein müsste, machte ich mich fertig.

"Hi, mein Schatz." Vanessa! Verdammt!

"Heeeeey. Was machst du denn hier?"

"Dich überraschen." Sie sah mich etwas enttäuscht an. "Aber du scheinst dich gar nicht darüber zu freuen."

"Was? ... äh ... ich ..doch, doch, natürlich", murmelte ich und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

"War das schon alles?", meinte sie und spitze fordernd ihre Lippen.

"Sorry, Vanessa, aber ich muss noch ... äh ... zu ... hm ... Einkaufen." Bravo, Manu, was blöderes is dir jetzt nicht eingefallen?

"Jetzt noch?" Vanessa wirkte misstrauisch. Um ehrlich zu sein: Ich war sicher, dass sie mir kein Wort glaubte.

"Ja, ich ... äh ... hab' vorhin was vergessen und ... äh ... das muss ich jetzt noch besorgen."

"Und was?"

Gute Frage! "Äh ... meine Tante hat morgen Geburtstag und meine Mum hat mir gesagt, dass ich noch was für sie kaufen soll und das hab ich jetzt doch total vergessen. Also dann tschüss, vielleicht auf ein andermal."

"Bitte was?" Vanessa stemmte entrüstet ihre Fäuste in die Hüften. "Ich bin extra wegen dir ... ja, ja okay deinetwegen ... hergekommen und du schickst mich wieder weg, weil du einkaufen musst?"

"Genau." Warum konnte sie nicht einfach gehen?

Ich konnte regelrecht sehen, wie es in ihr kochte und brodelte, als sie mit einem geschnaubten "Pah!" verschwand. Ich würde einiges wiedergutmachen müssen. Aber das war mir mein Besuch bei Mario einfach wert. So schnell ich konnte, düste ich zu ihm.

"Manu, hey, das ist ja eine Überraschung, komm doch rein." Mario lächelte, als er die Tür aufmachte und mich hereinbat. Ich folgte ihm in sein Zimmer, wo sein Koffer mitten am Boden lag, die Klamotten wahllos im Zimmer verstreut.

"'Tschuldigung, dass es hier so furchtbar aussieht", meinte er verlegen und wollte sich daran machen, die Sachen einzusammeln.

"Ach, das stört mich nicht."

"Wirklich?" Er hielt inne und sah mich am Boden kniend von unten her an.

"Nein. Es ist bloß wichtig, dass du wieder da bist." Ein einfacher Satz von solch großer Bedeutung, dass Mario beinahe gestrauchelt und umgekippt wäre. Er sah mich fragend an.

"Was genau meinst du damit?" Sein Lächeln verriet mir, dass er es sich wohl denken konnte, aber ich tat ihm dennoch den Gefallen es auszusprechen.

"Ich glaube, du hattest Recht", begann ich. "Recht mit dem, was du Neujahr gesagt hast. Dass wir uns vielleicht doch ähnlicher wären. An dem Abend vor zwei Wochen, da ... na ja ... da ist mir das erst so richtig klar geworden, glaub ich."

"Was?" Mario war mittlerweile aufgestanden und so nah an mich herangetreten, dass mich sein Duft schon wieder fast wahnsinnig machte.

"Ich ... äh ... nun ja ... äh ... ich ...", stammelte ich, schüttelte wütend über mich selbst den Kopf und setzte neu an. "Ich liebe dich."

Mario erwiderte nichts. Er schlang seine Arme um meine Hüften, zog mich vollends zu sich heran und küsste mich. Und das war mir Antwort genug. Für eine gefühlte Ewigkeit standen wir einfach nur da und küssten uns. Nicht einmal fordernd, sogar ohne Zunge, aber es war dennoch ein wahres Hochgefühl. Alle in mir angesammelten Zweifel waren mit einem Mal wie weggefegt und es gab nur noch uns beide.

Nach einigen Augenblicken löste er seine Lippen von meinen und fuhr mit seiner Nasenspitze an meinem Hals entlang vom Ohrläppchen bis zum Schlüsselbein, wobei er immer wieder innehielt um meine Haut zu küssen. Bei jedem einzelnen dieser Küsse durchfuhr mich ein Schauer, der mich regelrecht erbeben ließ. Sein Atem strich warm über meine Haut, fing sich in meinen Nackenhärchen und ließ diese sanft erzittern. Ich musste mich beherrschen, nicht zu stöhnen.

Er zog mich noch enger an sich, so dass ich seinen Herzschlag spüren konnte, und sein Herz raste. Ganz langsam begann er die obersten Knöpfe meines Hemds zu öffnen, doch er verharrte etwa in der Mitte und ließ seinen Kopf nun bis zu meinem Bauchnabel wandern, den er sanft und zärtlich küsste. Ich wusste gar nicht mehr, wie viel Zeit seit meiner Ankunft vergangen war, doch in diesem Moment, in dem wir uns so nah waren, schien die Zeit still zu stehen.

Ich zog ihn wieder nach oben, um ihn zu küssen. Und diesmal war ich es, der die Initiative mit der Zunge ergriff. Es war ein berauschendes Gefühl. Ich wusste nicht, was daran so verflucht anders war als bei den Mädchen, mit denen ich das gleiche gemacht hatte, aber dazwischen bestand ein Unterschied von Welten. In meinem Kopf explodierte ein Feuerwerk des Glücks und zaghaft fuhr ich nun mit meinen Händen in Richtung seiner Hose.

"Willst du das wirklich?", hauchte er mir sanft ins Ohr.

"Ich weiß nicht", gab ich ehrlich zu. "Aber ich dachte, dass ... also dass ... na ja ... dass du es ..."

Er schüttelte nur den Kopf und lächelte zärtlich. "Nicht, wenn du nicht auch willst. Wir haben alle Zeit der Welt, okay?"

Ich nickte nur, öffnete aber trotzdem seine Hose. Er kicherte nur und fuhr seinerseits damit fort, mein Hemd zu öffnen. Dann schob er mich langsam Richtung Bett. Es dauerte nicht lange, bis wir beide nackt darin landeten und unsere Finger auf Entdeckungstour schickten. Ich konnte gar nicht genug von seinem Körper bekommen. Obwohl mir die Anatomie ja wohl nicht unbekannt war, kam ich mir vor wie ein Kleinkind, das eine neue Umgebung begutachtet.

Er war da schon etwas zielstrebiger, was die Richtung seiner Küsse, mit denen er meinen Körper übersäte, anging. Zuerst spannte ich mich an, doch ich hielt es nicht lange so aus. Es war so ganz anders als mit einem Mädchen – vielleicht auch nur anders als mit den Mädchen, die das bisher gemacht hatten. Ich meinte, die Engel für mich singen zu hören, mein ganzer Körper schien unter Strom zu stehen, schneller, pulsierender Strom, der jede Faser und jede Zelle zu durchdringen versuchte ...

Nachdem er mir also einen – ja ich muss es jetzt so ausdrücken – geblasen und danach die Spuren notdürftig beseitigt hatte, kuschelte er sich wieder an mich.

"Das hätten wir auch früher haben können", meinte er nur und sah mich zärtlich an.

"Ich weiß", hauchte ich erschöpft. "Aber ... ich ... äh also ... das ...ich."

"Schschsch", machte er und legte seinen Finger auf meine Lippen. "Ich weiß, was du meinst. Und ich bin froh, dass du es eingesehen hast. Ich liebe dich nämlich auch. Sehr sogar."

Ich lächelte glücklich. "Dann ist das jetzt so was wie unser Geheimnis?"

"Unser kleines Geheimnis", meinte er und lachte. Ich stimmte mit ein. Ja, die Zeit ohne ihn, die letzten beiden Wochen waren wirklich die Hölle gewesen.

Doch ich hatte keine Ahnung, dass mir die Hölle ja erst noch bevorstand...

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