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Die Ruhe der Toten

Kapitel 5 und 6

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Die Ruhe vor dem Sturm

„Dennis, was ist denn los? Ist irgendwas passiert? Du siehst vollkommen...“

„Verängstigt aus?“, unterbrach ich sie, öffnete die Autotür und schwang mich auf den Beifahrersitz.

Diana starrte mich einen Moment verwirrt an, ließ das Fenster wieder aufwärts sausen, durch das sie mit mir gesprochen hatte, und fuhr los. „Das war nicht das Wort, das ich gesucht habe, aber du hast Recht. Wohin willst du? Und was ist passiert?“ Stirn runzelnd sah sie zwei Polizeiwagen an uns vorbei rasen. Sie hielten vor dem Eingang zum Park und die Mannschaft stieg aus. Dann bogen wir in die nächste Straße ein und konnten nichts mehr von ihnen sehen.

Plötzlich bremste Diana und parkte.

„Was ist?“ Verwirrt sah ich mich um. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren.

„Bevor ich irgendwohin fahre, sagst du mir, was passiert ist! Das war gerade eben das vierte Polizeiauto. Und sie wollen alle dahin, wo du hergekommen bist. Also??“

Ich zögerte einen Moment, dann antwortete ich: „Ich sag es dir, wenn du mich nach Hause fährst. Und wenn du Jonathan siehst, dann halt sofort an.“

Meine Schwester nickte nur und ich erzählte ihr alles, was ich in der letzten Stunde erlebt hatte.

Als ich geendet hatte, starrte sie mich fassungslos an. „Ein Nekromant? Ich wusste ja, dass es Geister gibt... Aber Nekromanten? Und sie sind alle hinter einem freien Geist her?“

„Ja, jedenfalls haben sie das gesagt. Ich muss Jonathan unbedingt warnen! Vielleicht ist er es ja gar nicht, vielleicht suchen sie einen anderen. Aber er muss trotzdem vorsichtig sein. Und jetzt gib ein bisschen Gas!“

„Wieso denkst du, dass er zu deiner Wohnung zurückkommen wird?“

„Der Knochensplitter ist noch da. Er wird ihn auf jeden Fall holen wollen. Schließlich... will er immer noch sterben“

„Hoffen wir es. Und was machst du dann?“

„Dann nehmen wir uns ein Taxi und machen Ferien. Irgendwo in einem kleinen Kaff weit weg von hier, wo sie ihn nicht finden.“

„Du machst dir wirklich Sorgen um ihn, nicht wahr?“

„Natürlich.“

„Ich weiß noch, wie du ihn am Anfang nicht ausstehen konntest.“ Sie kicherte völlig unangebracht, wurde aber schnell wieder ernst. „Aber er hat dir wirklich geholfen.“ Dann missachtete sie die Geschwindigkeitsbegrenzung und die rote Ampel vor uns und raste weiter.

„Mhm. Hat er.“ Nachdenklich starrte ich aus dem Fenster, immer auf der Suche nach einem schwarzen Haarschopf.

Rückblick

„Sag mal... Was machst du da eigentlich?“, fragte eine neugierige Stimme hinter mir.

Ich fuhr herum. Auf den Dachboden meines Hauses verirrte sich selten jemand. Außer mir eigentlich niemand. Es war der ideale Platz, um meine Ruhe zu haben.

Aber dieser Geist schien an mir zu hängen. Wenn er mich nicht gerade anstarrte, dann lief er hinter mir her oder hielt sich einfach in meiner Nähe auf. Sogar morgens wachte ich meistens davon auf, dass er mich ansah.

Und nun tat er es schon wieder.

„Verschwinde! Geht dich das was an?“, knurrte ich und versuchte ihn zu ignorieren.

Natürlich klappte es nicht. Wie sollte es auch? Aber war es normal, dass ich, ein 17-jähriger Junge dauernd einen anderen Jungen anstarrte? Nein. Eigentlich nicht. Aber was war an mir schon normal.

„Nein, eigentlich geht mich das nichts an. Aber es interessiert mich. Ich war nun mal nie ein Mensch. Jedenfalls nicht lange. Nicht lang genug, um zu verstehen, warum jemand ist, wie er ist. Verstehst du?“

„Ja. Und jetzt geh.“

Ich wartete einen Moment, bis ich sicher war, dass er verschwunden war, dann hob ich langsam den Arm. Die wenigen Tropfen, die bisher aus dem Schnitt ausgetreten waren, klebten an meinem Pullover, aber auf dem dunklen Stoff fielen sie nicht weiter auf.

Sicherheitshalber warf ich einen Blick über die Schulter. Natürlich war er noch da, nun saß er, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen. Mit schief gelegtem Kopf sah er mich an.

„GEH!“

„Du magst es nicht, wenn man dich dabei beobachtet, nicht wahr?“

„Nein.“

Durch eine unbedachte Bewegung riss der kleine Schritt etwas weiter auf und nun wurden die einzelnen Tröpfchen zu einem kleinen Rinnsal.

Etwas landete in meinem Schoß. Erstaunt bemerkte ich die ungeöffnete Packung Pflaster.

„Was...?“, fragte ich erstaunt.

„Du hast schon genug Narben. Fürs Erste sind es genug, meinst du nicht?“

„Auf die Narben kommt es mir nicht an. Sie sind mir vollkommen egal.“

„Warum machst du es dann?“, fragte er wieder verblüfft.

„Keine Ahnung. Es tut gut.“ Nachdenklich betrachtete ich die Wunde und plötzlich tat es weh. Natürlich schmerzte es immer, jeder einzelne Schnitt, aber nicht so. Nicht so verdammt intensiv. Ich fühlte mich, als ob alle Narben an meinem Körper wieder aufplatzten, jede einzelne.

Ich krümmte mich zusammen, vergrub meinen Kopf in meinen Händen und versuchte, den Schmerz auszublenden. Aber er verschwand nicht, er wollte mich einfach nicht in Ruhe lassen.

Vor einigen Minuten hatte ich mich noch danach gesehnt, wollte dahinter alles vergessen. Und jetzt? Jetzt fing ich an zu weinen.

Die ersten einsamen Tränen liefen mir über das Gesicht, bis meine Haut nass war und mein Pullover aussah, als hätte ihn jemand für einige Minuten in den Regen gehalten.

Ich erinnerte mich an so viel, an jeden einzelnen Schnitt, an jeden Tritt, jeden Hieb, den ich jemals bekommen habe.

Plötzlich spürte ich eine warme Hand auf meiner Schulter. Tröstend legte Jonathan seinen Arm um meine Schulter und ich lehnte meinen Kopf an seine schmale Brust. Obwohl er eigentlich tot war, verströmte er einen seltsamen, beruhigenden Geruch nach Erde und Wald. Nun, vielleicht auch, weil er tot war.

Immer noch weinend schlang ich beide Arme um ihn und ließ mir von dem Geist über die Haare streichen, als wäre ich ein kleines Kind.

Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich wieder sprechen konnte, aber es waren lange Minuten. Meine Tränen wurden weniger. Ich hatte schon viele Jahre nicht geweint. Und ich hatte auch keine Ahnung, warum ausgerechnet jetzt. Aber es hatte gut getan.

„Ver... Vergessen wir das Ganze, in Ordnung?“, fragte ich leise. Langsam wurde es mir doch peinlich, so an ihn gekuschelt zu sitzen.

„Ja, aber du musst mir etwas versprechen.“

„Was?“

„Hör auf damit.“

Ich wusste, was er meinte. Natürlich. Das Ritzen. Zaghaft nickte ich. Solange er mich daran erinnerte, würde ich mein Versprechen halten.

Rückblick Ende

„Herr, ich habe getan, was du verlangt hast. Er ist tot.“

„Sehr gut. Was ist mit dem freien Geist?“ Paul presste den Kühlakku fester gegen die stattliche Beule an seiner Schläfe und blätterte weiter durch das Nekromantenbuch.

„Keine Spur von ihm. Dafür habe ich noch nie so viele gebannte Geister gesehen und es kommen ständig neue. Die Polizei...“

„Sie werden wie immer niemanden bekommen. Wie viele sind bisher gestorben?“

„Ich habe 23 Leichen gesehen. Einer hat es geschafft den Nekromanten umzubringen und jetzt versucht er einen Weg zurück zu finden.“

„Hervorragend. Schnapp ihn dir und bring ihn her. Ich habe sicherlich eine Verwendung für ihn. Und hol mir zwei Hunde. Und zwei Vögel. Was ist mit dem Neuen, Manuel?“

„Ich habe ihm erklärt, worauf er achten muss. Wahrscheinlich hat er es verstanden.“

„Gut. Dann geh jetzt.“

Der Geist, der wie immer in einer formlosen Wolke herum geschwebt war, verschwand.

Paul runzelte die Stirn und übersetzte die Worte, so schnell er konnte. Er ahnte, dass er irgendwo etwas hatte, das ihm helfen würde, den freien Geist aufzuspüren. Jetzt musste er nur die richtige Seite in dem Buch finden. Dass Mike tot war, kümmerte ihn nicht weiter. Er hatte seinem Geist erlaubt zu tun, was er wollte, und jeder Geist wurde mit der Zeit mörderisch. Irgendwann brachten sie selbst gerne Leute um, einfach, weil sie selbst nicht sterben konnten. Nein, um Mike war es nicht schade.

Verärgert klappte er die Buchdeckel zusammen und strich sich über die kurzen grauen Haare. Dann stellte er das Buch zurück ins Regal und sah sich die alten Buchrücken an. Sie waren seine Einnahmequelle. Viele Leute zahlten viel Geld dafür, alte, zerstörte Bücher wieder lesbar zu machen. Oder sie überhaupt zu finden.

Paul verband so das Angenehme mit dem Nützlichen. Er vergrub sich manchmal tagelang in einem Antiquariat und kassierte dann für ein Buch, das er dort neben unzähligen anderen Interessanten fand, sehr viel Geld.

Aber nun ließ ihn sein ausgezeichnetes Gedächtnis im Stich. Verärgert schob er das Buch, in dem er gesucht hatte, zurück ins Regal und zog ein anderes heraus. Auch dieses blätterte er schnell durch und überflog oberflächlich die fremden Worte.

Es war keine Sprache, die normale Menschen kannten. Sie wurde in keinem Land der Erde gesprochen, aber irgendein altes Volk hatte einmal seine nekromantischen Sprüche darin formuliert und jeder Nekromant musste sie sprechen können.

„Herr! Ich habe ihn vielleicht gefunden! Ich habe jemanden gesehen, der nicht normal war. Es war kein Mensch, aber auch nicht so wie dein anderer Diener. Und er ist durch eine Wand gegangen.“

„Sehr gut. Bring mich zu ihm!“, befahl Paul. Er öffnete erst das Fenster, schulterte einen Rucksack und stellte sich dann ruhig auf die Fensterbank.

Der Geist brummte unwillig, schubste Paul dann aber doch aus dem Fenster. Bevor der Nekromant auf dem Boden aufprallen konnte, schwebte die Wolke schon unter ihm und fing ihn auf. Vor Anstrengung ächzend hob er den Mensch in die Luft und schwebte wieder zurück dorthin, wo er den freien Geist gesehen hatte.


Sobald Diana im Parkverbot vor meiner Wohnung stoppte, sprang ich aus dem Wagen und rannte hoch. Ich öffnete die Wohnungstür und rief: „Jonathan?“

Niemand antwortete.

Das wäre auch zu schön gewesen.

Leise seufzend machte ich mich auf die Suche nach dem Knochen. Er lag immer noch auf dem Küchentisch. Also hatte der Geist niemanden gefunden, der ihn zurück brachte.

Ich holte mir ein Glas und eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und setzte mich auf einen Stuhl. Während ich ein paar Schlucke trank, versuchte ich mich zu beruhigen. Ich war sicher, ich wusste, wo Jonathan war. Immerhin kannte ich ihn schon sehr lange und wir hatten mehr als einmal Streit gehabt. Nachdenklich holte ich mir einen Stift und ein Blatt Papier und schrieb alle Orte darauf, an denen er sich normalerweise oder öfter als sonst aufhielt.

Nach einigen Minuten stand da immer noch ein einziges Wort: Friedhof!

Es war einen Versuch wert. Ich streifte mir die Kette mit dem Splitter über den Kopf und stürmte wieder zurück zu Diana, die geduldig im Auto wartete.

Nachdem ich ihr unser neues Ziel mitgeteilt hatte, gab sie wieder Gas und wir schlitterten über die Fahrbahn.

„Sicher, dass er da ist?“

„Nein. Aber ich weiß nicht, wo wir es sonst noch probieren könnten.“

„Mhm. Ruf bitte Kim an und sag, dass es länger dauern könnte.“ Sie warf mir ihr Handy zu. „Frag sie, ob die Babysitterin kommen soll.“

Ich führte ihren Befehl und bekam kurz darauf von meiner Nichte zu hören, dass sie kein kleines Kind mehr sei. Also fühlte sie sich nicht einsam. Nein, sie saß wahrscheinlich vor dem Fernseher und mampfte Pralinen aus dem Versteck ihrer Mutter. Jedenfalls hörte sich ihre Aussprache sehr klebrig an.

Für einen Moment musste ich grinsen, dann hielt Diana. Ich warf einen Blick aus dem Fenster und wieder einmal sah ich die brusthohe Friedhofsmauer, vor der ich schon so oft gestanden hatte, hin und her gerissen zwischen Weitergehen und Verschwinden.

„Wartest du hier?“

„Natürlich. Ich wollte schon immer mal das Fluchtauto fahren“, scherzte sie.

„Was mach ich dann? Eine Bank überfallen?“ Ich stieg aus und hörte gerade noch ihre Antwort: „Du versaust den Nekromanten ihren Spaß.“

Hoffentlich begegnete ich nicht noch einem von den Typen, die beiden in dem Park hatten mir gereicht.

Schnell lief ich zwischen den Gräbern entlang, den Weg kannte ich inzwischen im Schlaf.

Tatsächlich sah ich eine schmale Gestalt, die vor einem schwarzen Grabstein stand.

Jonathan!?

Friedhofsbegegnungen

„Jonathan...“

„Was willst du hier?“

Er drehte sich nicht um, starrte weiter auf sein Grab, als hätte er mich nicht bemerkt.

„Ich...“ Ich wusste nicht mehr, was ich sagen wollte. Die Nekromanten wichen in den Hintergrund, die Eile war vergessen, der freie Geist war unwichtig.

Langsam ging ich weiter, aber immer noch rührte er sich nicht, starrte nur auf die Marmorplatte. Wenn man sie lange genug betrachtete, dann stellte man fest, dass sie nicht schwarz war, sondern grün. Sehr, sehr dunkel grün, fast schwarz. Wenn man Jonathan lange genug in die Augen sah, dann konnte man dasselbe Phänomen erkennen.

„Du?“

„Die Nekromanten sind hinter einem freien Geist her.“

„Ich weiß. Warum denkst du, bin ich hier? Sie haben mich gefunden und gejagt. Und sie sind immer noch hinter mir her.“

Jetzt drehte er sich zu mir um. Sein T-Shirt war von der rechten Schulter bis zur linken Hüfte aufgeschlitzt und die Ränder angesengt. Er trug zwar längst nicht mehr die weißen Klamotten, in denen er die ersten Jahre seines Nichtlebens hier verbracht hatte, aber trotzdem schaffte er es eigentlich immer irgendwie, dass seine Kleidungsstücke nicht verschmutzt waren.

„Vier Geister haben mich angegriffen, zwei Nekromanten haben versucht mich zu kontrollieren. Ich habe die Geister ebenso wie die Nekromanten getötet. Dabei wurde eine gesamte Straße in Schutt und Asche gelegt, sechs Menschen sind tot. In wenigen Minuten allerdings müssen sie sich auch an der Jagd nach mir beteiligen, weil die Nekromanten sie sicher wieder auferstehen lassen.“ Seine Stimme war immer lauter geworden und zuletzt schrie er mich fast an.

Irgendetwas stimmte nicht mit ihm, seine Augen waren weit aufgerissen und starrten durch mich hindurch, als würde er mich gar nicht sehen. Über seine Haut lief ein sehr heller Schimmer und er schauderte abwesend, als hätte er das gar nicht richtig wahrgenommen. Er warf den Kopf nach hinten, schnappte nach Luft und sah mich dann wieder an. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Jetzt sah er wütend aus, geradezu hasserfüllt. Und er sah nur mich an.

Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück. Ich hatte immer gewusst, dass es viele Dinge gab, die Jonathan mir nicht erzählte. Und das war wohl eines dieser Dinge. Es war, als würde jemand anderes in ihm stecken, jemand sehr, sehr wütendes.

Er hob die Hände ein wenig und spreizte die Finger. Sie flimmerten kurz auf und er grinste mich hämisch an.

Dann kratzte Stein auf Stein und ich sah verwirrt hinunter. Das Grab öffnete sich wie von Geisterhand. Ich wollte zurückweichen, doch ich konnte es nicht. Es war, als hätte sich hinter mir eine unsichtbare Wand aufgebaut, die mich auf das sich öffnende Loch zu schob. Wie eine Spielfigur schubste mich die Mauer voran. Ich stemmte die Füße in den Boden und wehrte mich so gut ich konnte.

Das einzige, was geschah, war, dass sich die Mauer auch seitlich von mir aufbaute und so verhinderte, dass ich zur Seite fliehen konnte.

Langsam bekam ich Angst. Mein Herzschlag beschleunigte sich immer mehr und auch mein Atem ging hektisch. „Jonathan...“

„Und wieder willst du davonrennen, aber jetzt lasse ich das nicht zu! Nein, jetzt zwinge ich dich, mich sterben zu lassen!“, schrie Jonathan.

Ein seltsamer Sturm erhob sich um ihn und ließ seine Haare fliegen, aber ich spürte nicht den kleinsten Wind. Er hob die Hände ein wenig und spreizte die Finger.

Dafür stand ich nun schon am Rand des offenen Grabes und eine unsichtbare Kraft zog meinen Hals nach unten. Ich versuchte mich dagegen zu wehren, spannte alle Muskeln an, die ich hatte, aber es half nichts. Meine Jacke öffnete sich ein wenig und schon hing der Knochen frei.

Etwas trat mir in die Kniekehlen und ich stürzte. Panisch versuchte ich zurückzuweichen. Wie ein Schraubstock legte sich die Kraft um mich und ich gab auf. Wenigstens für diesen Moment. Der Splitter schwebte nur noch wenige Zentimeter über den restlichen Knochen, die Kraft drückte mir so fest in den Nacken, dass ich fast ins Grab fiel. Dann zog etwas an der Kette, bis sie zum Zerreißen gespannt war.

Ich schloss die Augen und ahnte, dass es nicht mehr lange dauern würde. Gleich würde Jonathan verschwinden. Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf und biss mir auf die Lippe. Der alte, vergessene Schmerz flammte wieder auf.

Plötzlich war die Kraft verschwunden und ich richtete mich keuchend auf. Jonathan hatte sich von mir abgewandt. Ich musste einfach lächeln, aber das Lachen blieb mir im Hals stecken. Nach einigen Augenblicken erkannte ich, was er anstarrte und meine Erleichterung war vollkommen verschwunden. Es konnte immer noch schlimmer kommen, und dieses Mal ahnte ich, nein, ich wusste, was da auf uns zu kam.

Mein Herz klopfte schneller und meine Hände zitterten, als ich mir den Schweiß von der Stirn wischte.

Unheimliche Gestalten in langen schwarzen Mänteln, die Gesichter unter Tüchern verborgen, gingen auf uns zu. Einige bewegten unablässig die Hände, die meist in schwarzen Handschuhen steckten und der aufkommende Wind trug seltsame Worte zu uns, die sich wie eine Beschwörung anhörten. Es waren viele und es wurden mehr. Bald schätzte ich die Menge auf mindestens vierzig Totenbeschwörer.

Mein Magen verwandelte sich in einen kalten Klumpen. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und weggerannt, aber irgendetwas hielt mich an meinem Platz, ließ mich weiter zitternd an dem Grab knien.

Doch das Unheimlichste waren die Wolken, die sie umgaben wie feiner Nebel. Aus ihnen formten sich wankende Männer, Kinder, Hunde, Katzen, Vögel und Pferde. Es waren zweifellos Geister. Anscheinend ließen sie nicht nur Menschen wieder auferstehen. Ich musste wieder an den Geist denken, der den Nekromanten umgebracht hatte. Obwohl er ebenfalls in Form einer Wolke erschienen war, hätte er vielleicht irgendein Gefühl zeigen müssen, irgendetwas, das sagte, dass er ein Mensch war. Oder gewesen war.

Und jeden Moment schienen weitere dazu zu stoßen, der Nebel verdichtete sich immer mehr. Und sie kamen näher. Näher und näher.

Erst jetzt merkte ich, dass ich zurückgewichen war, denn nun stand der nächste Grabstein direkt hinter mir und ich fuhr herum. Auch aus der anderen Richtung näherte sich eine Gestalt. Er unterschied sich nicht von all den anderen Nekromanten, doch er hatte eine seltsame Ausstrahlung, dass ich einfach nicht weg sehen konnte. Wie erstarrt betrachtete ich den einzelnen Mann, der gemütlich auf uns zu schlenderte. In einer Hand hielt er ein Buch, in dem er zu lesen schien. Aber trotzdem stolperte er nicht, kam mit langsamen Schritten auf uns zu. Instinktiv wusste ich, dass er nicht wie die anderen war. Er war gefährlicher.

Ich wollte weglaufen, so schnell ich konnte, aber ich konnte mich nicht bewegen. Erstarrt blieb ich stehen und trotzdem war ich nur von einem Gedanken beherrscht: Renn!

„Dennis, egal was passiert, bleib bei meinem Grab. Da bist du einigermaßen sicher“, hörte ich Jonathans Stimme. Er hörte sich wieder beherrscht an und ich wagte einen Blick zurück. Der Sturm hatte sich etwas gelegt und auch seine Augen sahen wieder normal aus. Selbst der Hass war verschwunden, als er mich kurz besorgt ansah. Dann streckte er die Hand in meine Richtung aus und wieder flimmerte sie.

Ich zuckte zusammen und spannte meine Muskeln an, weil ich wieder diese seltsame Kraft befürchtete, doch nun bewirkte seine Bewegung etwas anderes.

Aus seinem geöffneten Grab schoss eine helle Säule, die sich nach einem guten Meter auffächerte und die einzelnen Strahlen versanken wieder im Boden. Ich stand in einer durchscheinenden Kuppel, die Jonathans Grab umgab. Verwundert berührte ich das Licht. Es war nicht durchlässig, sondern hart wie eine Mauer. Ich war eingesperrt.

„Wenn ich sie nicht alle töten kann, dann wirf den Knochen rein. Noch schlimmer als zu leben ist, als Gefangener eines Nekromanten zu leben!“

Bevor ich antworten konnte, ging es schon los. Der einzelne Nekromant hielt sich zurück, er saß hinter einem Grabstein und kramte in seinem Rucksack. Ihn schienen die unzähligen Geister und ihre Herren nicht besonders zu kümmern. Vielleicht war es auch gar kein Nekromant.

Dann richtete ich meine Aufmerksamkeit auf Jonathan. Zwei Geisterhunde waren am schnellsten gewesen. Einer versenkte seine riesigen Zähne in seinem Bein, während der andere nach seiner Hand schnappte und sie auch zu fassen bekam. Ich biss die Zähne zusammen. Ich konnte nichts tun, so gern ich ihm auf geholfen hätte. Ich bemerkte gar nicht, wie ich gegen die Lichtwand schlug und laut den Namen des Geistes brüllte.

Jonathan schien das jedoch nicht sonderlich zu kümmern, er gab keinen Laut von sich, bewegte sich nicht. Der seltsame Sturm, der immer noch um ihn tobte, erfasste die beiden Geister und löste sie von ihm. Jonathan packte sie am Genick und plötzlich erschlafften sie in seinem Griff.

Für diesen Moment war ich erleichtert. Doch es waren noch so viel mehr Geister und auch seine Kraft war sicher nicht unerschöpflich.

Der Sturm wurde heftiger. Jonathan streckte wieder die Hände aus und spreizte die Finger. Die Grabsteine fingen mit einem leisen Knirschen an, sich zu bewegen und mit einem plötzlichen Ruck lösten sie sich aus der Erde. Jeder einzelne sauste auf die Nekromanten los und geschockt beobachtete ich, wie sie gegen die Menschen prallten und unaufhaltsam weiter rasten. Sie ließen eingedrückte Brustkörbe und unzählige gebrochene Knochen zurück. Erst einige Meter weiter stoppten sie alle gemeinsam und fielen auf den Boden, wobei sie Grabschmuck zerdrückten und andere Steine zerstörten.

Der friedliche, meist gut gelaunte Jonathan, der schien, als könnte er keiner Fliege etwas zu Leide tun, war gerade dabei, ein Blutbad anzurichten.

Die anderen Nekromanten schien es nicht groß zu kümmern. Einige von ihnen blieben bei den Leichen zurück und kurz darauf stieg aus den Mündern dichter weißer Rauch. Noch mehr Geister. Die anderen rückten weiter und murmelten ohne Unterlass ihren monotonen Singsang. Einige waren kurz aus dem Takt gekommen, hatten ihn aber schnell wieder gefunden. Auch einige Geister zuckten für einen Moment, als wüssten sie nicht, was sie tun sollten. Vielleicht waren das diejenigen, deren Herren gestorben waren. Kurz hatte ich Hoffnung. Wenn Jonathan einige Nekromanten tötete, dann wären es vielleicht zu wenige Geister, um ihn einer Gefahr auszusetzen.

Dann war der Moment vorbei und die unentschlossenen Geister reihten sich wieder ein. Wahrscheinlich dienten sie jetzt einfach einem anderen Nekromanten.

Währenddessen fächerten die Männer auseinander. Seltsamerweise konnte ich keine einzige Frau unter ihnen erkennen. Augenblicke später hatten sie uns vollkommen eingekreist, vor ihnen bildete sich ein zweiter Ring aus Nebel. Dann fassten sie sich an den Händen und rezitierten einen merkwürdigen Singsang. Unzählige Stimmen verbanden sich zu einer einzigen und die Luft knisterte. Ich konnte es in meinem Schutzwall hören, doch durch ihn kamen sie alle nicht.

Ich wusste nicht, ob ich erleichtert sein sollte, dass ich sicher war, oder ängstlich, weil es sicher anstrengend für Jonathan war, mich zu schützen.

Jonathan schien genau zu wissen, was sie vorhatten, denn er schrie leise auf. Kurz schloss er die Augen und runzelte angestrengt die Stirn. Ich ballte die Fäuste. Meine Nägel gruben sich in mein Fleisch. Er musste es überstehen! Einige der Männer kamen aus dem Rhythmus. Das nutzte der freie Geist.

Er schoss vor, schneller als jeder Mensch rennen konnte. So schnell, dass ich nur noch einen weiß-schwarzen Schemen sehen konnte, der einen Nekromanten packte. Mit etwas Druck zersplitterten die Handknochen und er hatte endgültig den Kontakt zu seinen Kollegen verloren. Das war sein Untergang.

Er starb auf dieselbe Weise, die ich schon einmal beobachtet hatte. Jonathan riss ihm die Kappe vom Kopf, versenkte eine Hand in den Haaren seines Feindes und drückte sich vom Boden ab. Er schwebte gut zehn Meter in die Höhe und warf den schreienden Nekromanten zurück auf den Boden. Er war sofort tot, doch auch das kümmerte die anderen nicht. Sie rückten näher zusammen und schienen sich auf ein anderes Ziel zu konzentrieren. Der Spruch veränderte sich und nun waren die Geister am Zug. Sie schwebten mit einem leisen Wispern auf mich zu und erschrocken wich ich zurück. Aber sie waren überall, prallten immer und immer wieder gegen die Kuppel und summten wie zornige Bienen. Als ob sie etwas sagen wollten, das ich nicht verstehen konnte.

Aber trotzdem rannten sie weiter gegen meinen Schutz und ich entdeckte viel zu schnell die ersten Risse.

„Jonathan!!!“, brüllte ich so laut ich konnte und versuchte ihn zu finden. Aber der Nebel der Geister war viel zu dicht, sie umgaben die Lichtmauer wie ein Vorhang, durch den ich nicht durchsehen konnte.

Doch plötzlich riss der Vorhang auf.

Der Geist hatte die Reihe der Nekromanten noch weiter gelichtet. Einige lagen mit verdrehten Gliedmaßen auf der Erde, andere starrten mit leerem Blick in die Luft und schienen nicht zu wissen, was sie taten, anderen strömte das Blut aus riesigen Wunden.

Ich hatte noch nie einen Toten oder einen Sterbenden gesehen, mit Ausnahme von Jonathans Skelett, und mir wurde von dem widerlichen Anblick schlecht.

Aber jetzt war keine Zeit dafür. Ich vergaß den Brechreiz, den die ekelerregenden Geräusche von brechenden Knochen und das Röcheln der Menschen bei mir verursachten, und schrie noch einmal nach dem freien Geist.

Jonathan drehte sich halb zu mir um und starrte mich mit aufgerissenen Augen an. Einen Moment lang schien er zu überlegen, was er tun sollte, dann schloss er wieder die Augen. Seine Hände begannen zu glühen wie eine Sonne. Ich musste die Augen schließen und trotzdem konnte ich sehen, wie er auf mich zu kam.

Das Wispern der Geister wurde lauter und höher.

Stunden später, so kam es mir vor, verschwand das Licht in einer unglaublich hellen Explosion. Ich konnte nichts mehr sehen, fühlte aber den Wind, der über mich strich. Die schützende Kuppel war verschwunden, aber ich lebte auch nach mehreren Sekunden noch.

Außer mir anscheinend niemand. Die Schmerzensschreie waren verstummt und vorsichtig öffnete ich ein Auge.

Der Anblick war schrecklich und faszinierend zugleich. Die Geister waren blasser geworden, nur noch schwache Schemen lagen im Gras und rührten sich nicht mehr. Sie schienen in den Boden einzusickern, denn schon einen Augenblick später konnte ich sie nicht mehr sehen. Die Nekromanten waren noch da. Sie hielten sich die Hände vor die Augen und schienen ebenso geblendet zu sein wie ich.

Jonathan ging von einem zum anderen und gab ihnen den Gnadenstoß. Immer noch umspielte ihn ein sanfter Wind, der sich anscheinend von nichts beeindrucken ließ. Er ließ sich von den Schreien und Stöhnen nicht berühren, sondern drehte den Geblendeten fachmännisch und mit einem trockenen Knacken das Genick um.

Ich konnte nicht verstehen, was mit Jonathan los war. Er hatte unzählige Menschen und Geister umgebracht, ohne mit der Wimper zu zucken. Sicher, sie wollten ihn versklaven, aber hatten sie das verdient?

Langsam stellte ich mich aufrecht hin und stützte mich an dem Grabstein ab, an dem ich gelehnt hatte. Dann ging ich zu Jonathan. Konzentriert suchte ich mir einen Weg bei dem ich nicht auf Tote oder Teile von ihnen treten musste. Selbst der widerlichste Horrorfilm konnte einen nicht auf diesen Anblick vorbereiten und ich sah so gut ich konnte nach oben. Dann legte ich vorsichtig eine Hand auf seine Schulter.

Einen Augenblick später kniete ich auf dem Boden, Jonathan drückte mir ein Knie in den Nacken und klammerte beide Arme auf meinem Rücken fest. Eigentlich hatte ich gedacht, dass es vorbei wäre, aber immerhin konnte ich darauf vertrauen, dass er mir nichts tun würde. Nein, er hatte zwar gerade unzählige Menschen getötet, aber ich wusste, dass er mir nicht wehtun würde.

„Verdammt, was soll das? Lass mich los!“

„Du willst doch auch nur, dass ich dir diene. Und meine Knochen. Aber ihr Menschen seid so schwach, ihr könnt mir nichts tun, ihr könnt mich nicht aufhalten!“

Nein, das war nicht Jonathan. Er hörte sich an wie ein wahnsinniger Wissenschaftler, der die Welt erobern wollte. Und den kannte ich nicht so gut wie den Geist. Meine Sicherheit, dass er mir nichts tun würde, schwand.

„Jonathan! Hör auf damit, du willst mir doch gar nicht wehtun!“

„Kennen wir uns? Auch egal. Tot ist tot. Wirklich. Da macht das alles keinen Unterschied mehr, glaub mir, ich weiß wovon ich rede!“ Er lachte laut auf und sein Griff wurde fester. Dann erstarrte er und stöhnte. Er rutschte von mir herunter und ich richtete mich auf.

Jonathan lag mit geschlossenen Augen auf dem Boden. Er rührte sich nicht. Erst schob ich es auf meine Augen oder auf das Licht, dann sah ich es ein. Er wurde tatsächlich immer blasser. Die Farbe schien aus seinen Haaren zu weichen, seine Haut war ja schon blass. Dann stöhnte er leise und ich kniete mich neben ihn.

„Jonathan? Was ist los mit dir?“ Ich hatte keine Ahnung, was ich tun könnte. Immerhin war er ein Geist, er war schon tot. Aber trotzdem, wieso konnte er dann in Ohnmacht fallen? Und wieso rührte er sich nicht?

Ich wischte mir über die Augen und rüttelte an seiner Schulter. Er hatte doch schon die Nekromanten besiegt, wieso passierte das jetzt?

Plötzlich riss er die Augen wieder auf und starrte mich an. „Meine Knochen... halt sie auf!“ Dann schien er wieder bewusstlos zu werden.

Ich sah ihn noch einen Moment an, als ob ich mich vergewissern könnte, dass er nicht einfach so verschwinden würde, wenn ich mich umdrehte. Dann riss ich mich von seinem besorgniserregenden Anblick los und drehte mich um.

In Jonathans Grab stand tatsächlich ein Mann. Es war der Nekromant, der als einziges nicht angegriffen hatte. Er schaufelte irgendetwas in einen Sack und achtete nicht auf uns. Aber neben dem Loch lag ein winziger Hundegeist, der so klein war, dass ich ihn fast übersehen hätte. Aber er spürte mich, richtete sich auf und sah zu mir.

Ich legte den Finger auf die Lippen und hoffte einfach, dass der Geist seinen Herren nicht besonders mochte. Tatsächlich legte er sich einfach zurück und tat weiter so, als würde er schlafen. Immerhin einmal hatte ich Glück.

Vorsichtig schlich ich mich weiter an den Nekromanten heran und hoffte, dass er sich nicht umdrehen würde. Vielleicht würde ich ihm die Knochen noch abnehmen können.

Nein. Ich musste es tun.

Wahrscheinlich ging es Jonathan deswegen so schlecht. Und ihm sollte es nicht noch schlechter gehen.

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