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Doorway to Auroria

Kapitel Fünf - Der Abend der Geschichten

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Inhaltsverzeichnis

 

Razon saß in seinem "Haus" zusammengekauert neben seinem Bett und dachte nach. Hatte er zu übertrieben reagiert? Er entschied sich dagegen. Wie sollte man als Mann bitte schön reagieren, wenn einem ständig andere Männer wie ein Stück Fleisch behandelten, das man begutachtete? Auf der anderen Seite konnte er jetzt das Gerede vieler hübscher Frauen verstehen, die sich "begrabscht" oder "angestarrt" fühlten. Nie hatte er ernsthaft darüber nachgedacht, wie man sich dabei wohl fühlen würde. Er war ja auch noch nie verliebt, oder hatte eine Liebschaft - selbstverständlich mit einem weiblichen Wesen!

Er biss sich auf die Unterlippe und fluchte leise. "Warum denke ich solch einen Blödsinn?", sagte er laut und spürte wieder dieses Herzklopfen, als vor seinem inneren Auge Lateos Gesicht erschien. Diese hellen, wachen und klaren Augen, dieses freundliche Lächeln, diese Haare …

Hey, sollen wir heute Nacht wieder schwimmen gehen? Was meinst du?

Razon schluckte den Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hatte, wieder herunter und vertrieb auch jene junge Stimme, die wieder zu ihm sprach. Aber es war mehr, als nur eine Stimme in seinem Kopf … es war eine Erinnerung. Erinnerungen gehörten in die Vergangenheit. Was geschehen ist, ist geschehen. Er konnte nichts mehr daran ändern, also warum Erinnerungen wieder wachrufen? Erinnerungen waren nicht wichtig.


Es dauerte mehr als zwei Stunden, bis Razon beschloss, sich wieder unter andere Leute zu

mischen. Es waren zwar lauter Ebura, aber er wollte jetzt auch nicht alleine sein. Außerdem war er

hungrig und durstig. Wenigstens musste er für sein Brot nicht arbeiten oder Geld bezahlen. Das

Leben in Auroria schien auch seine Vorteile zu haben.

Als Razon durch die Gassen schlenderte und tunlichst die vielen Pärchen versuchte zu ignorieren, die ihm begegneten, kam ihm in den Sinn, sich bei Lateo und Amatoris zu entschuldigen. Er war zwar nicht gerade davon angetan, von Männern umgarnt zu werden, aber auf der anderen Seite hatten sie ihm auch kein Leid angetan. Im Gegenteil: Amatoris hatte damit recht gehabt, als er sagte, sie hätten ihm, Razon, sogar das Leben gerettet. Ja, er verdankte diesen Leuten sein Leben. Das hatte Razon noch nicht wirklich an sich herangelassen und dafür schämte er sich ein wenig.

Doch Amatoris war nicht anzutreffen. Razon war zuerst im "Tempel der Träume", wo jedoch

weder Amatoris noch Lateo zu finden waren. Ihm fiel ebenfalls auf, dass er Amatoris‘ Wohnhaus gar nicht kannte. War es da, wo er zum zweiten Mal nach dem Sturz vom Rathausdach aufgewacht war? Oder war das Dulcis' Haus gewesen? Und wo lebte Lateo? Wieder fiel Razon seine Aufregung und Nervosität auf, wenn er an Lateo dachte, aber auch der Gedanke an Amatoris machte ihn nervös. Nicht, dass er jetzt selbst doch noch eburisch werden würde, aber Razon wurde nach und nach klar, dass diese Eiselfen mit ihrem "weibischen Getue" die einzigen Kontaktpersonen waren. Andere nähere Bekannte oder gar Freunde (geschweige denn eine Liebschaft) hatte Razon in der Außenwelt nie wirklich gehabt.

Im Tempel der Träume in der Nähe des Bäderraumes traf Razon auf einen Goblin, dessen hellblaue Haut nass glänzte und dessen schwarze, struppige Haare in alle Himmelsrichtungen abstanden.

"Du suchst Lateo? Der ist mit Amatoris schon vor einer ganzen Weile weggegangen. Vielleicht

bereiten sie den Geschichtenabend vor", sagte ihm der Goblin, nachdem Razon sich bei ihm nach


Lateo erkundigt hatte.

"Geschichtenabend?", fragte Razon und legte die Stirn in Falten.

"Ja, einmal alle sieben Tage versammeln wir uns in der Großen Halle von Auroria und erzählen uns gegenseitig Geschichten. Meistens sind es die Neuankömmlinge, die ihre Geschichte mit den anderen teilen", erklärte der Goblin.

Und Razon erfuhr weiterhin, dass diese Geschichten meist von der ersten eburischen Liebschaft

handelten, was jedoch keine Pflicht war. Als der Goblin immer redseliger wurde und damit anfing, gleich hier und jetzt "seine Geschichte" zu erzählen, winkte Razon verlegen lächelnd ab.

"Ähm, ich würde ja gerne noch mit Euch plaudern, aber ich habe es eilig."

Dann ging er und fragte sich, ob der Geschichtenabend die passende Gelegenheit sein würde,

sich bei Amatoris und Lateo zu entschuldigen. Von Minute zu Minute, mit jedem Herzschlag, wurde

Razon das Bedürfnis, sich vor allem bei Lateo zu entschuldigen, immer größer.


Nachdem Razon gegessen hatte - was in eine Nebenstraße, die er selbst "Gewürzgasse" getauft hatte, keine große Kunst war - steuerte er Laxus' Haus an. Der alte Knabe war der einzige in Auroria, von dem Razon das Gefühl hatte, verstanden zu werden.

Laxus war wie immer sehr gastfreundlich, reichte ihm einen Becher des "geistreichen Getränkes" und kaute wie üblich auf einem Zahnstocher herum, während er mit rauer Stimme sprach.

Razon trank einen Schluck und seufzte.

"Ja, ich weiß schon. Brauchst nichts zu sagen", sagte Laxus, und Razon blickte ihn fragend an.

"Es ist nicht leicht, oder?"

Laxus lachte leise. "Wem sagst du das? Deinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hast du

Bekanntschaft mit dem eburischen Lebensstil gemacht, nicht wahr? Amatoris hat dich ein bisschen herumgeführt?"

Razon schnaubte. "Herumgeführt ist gut. Er hat mir den 'Tempel der Träume' gezeigt und mich mit

…"

"… Lateo bekannt gemacht", beendete Laxus den Satz und nickte, als wäre ein Ereignis eingetroffen, das er vorausgesehen hatte.

"Ach ja, du kennst ihn. Er hat dich damals in Auroria begrüßt." "Allerdings."

"Was hältst du von Lateo?", wollte Razon wissen.

Laxus' Mundwinkel zuckten. Er sah so aus, als könne er sich nicht zwischen Lächeln oder

Schnauben entscheiden.

"Oh, so viel?", fragte Razon mit einem Unterton von Sarkasmus, als Laxus seine Frage nicht mit

Worten beantwortet hatte.

"Ich gebe dir einen guten Rat, mein Junge", begann Laxus mit gedämpfter, verschwörerischer

Stimme. "Lass' dich ja nicht von diesem Bubi mit Engelsgesicht täuschen. Lateo ist ein …" Er grinste breit, jedoch ohne eine Spur von Humor. "Er ist ein Schweinchen, wenn du verstehst, was ich meine."

Razon rutschte das Herz in die Hosentasche und er musste schnell einen Schluck von Laxus'

Gebräu nehmen.

Ob Razon verstanden hatte, was er mit "Schweinchen" meinte, wartete Laxus erst gar nicht ab,

und fuhr unbarmherzig fort:

"Lateo treibt es mit allen und jedem in Auroria. Sein Gehirn sitzt da, wo die meisten Lebewesen

ihre Weichteile haben. Er ist besessen, das sage ich dir."

Er wusste nicht warum, aber Razon weigerte sich irgendwie, das zu glauben. Auf der anderen

Seite … er kannte weder Lateo noch Laxus wirklich gut genug, um deren Glaubwürdigkeit beurteilen zu können. War es denn nicht meistens so, dass man zuerst dem Geschwätz einiger Lästermäuler Glauben schenkte über Leute, die man gar nicht richtig kannte, bevor man sich selbst ein Urteil bildete? Razon jedenfalls war der Meinung, dass er anders war. Er war intelligent genug, um andere Personen richtig einschätzen zu können und sich selbst ein Bild zu machen.

Andererseits vertraute er aber auch Laxus. Der alte Knabe war wie er: ein Techniker, Erfinder und Forscher. Laxus mochte zwar eburisch sein, was jedoch nicht heißen sollte, dass er genauso weibisch und triebgesteuert sein musste, wie fast der ganze Rest dieses seltsamen Ortes, der mitten in der Eiswüste von Titania verborgen lag.

"Besessen?"

Laxus nickte. "Jawohl. Ist dir nicht aufgefallen, wie er einen anschaut? Er zieht die Leute mit

seinen Blicken aus. Und während man ganz fasziniert von seinen großen, unschuldigen Augen ist, fängt er schon damit an, dich sabbernd zu begrabschen." Er schüttelte angewidert den Kopf. "Es gibt nichts, was Schweinchen Lateo noch nicht gemacht hat."

"Wie meinst du das?" Razon wurde übel, denn eigentlich wollte er das nicht hören, aber irgendetwas in seinem Inneren zwang ihn dazu, diese Fragen zu stellen.

"Na ja, alles eben. Du verstehst schon: Was der Hengst mit der Stute macht, aber auch, was die

Stute mit dem Hengst macht. Und das mit allen Körperöffnungen und …"

Razon trank in großen, hastigen Schlucken seinen Schnaps aus und hustete. Laxus nickte verständnisvoll. "Ja, das kann ich verstehen. Noch einen Schluck?"

Razon wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, schüttelte aber den Kopf. Er hatte keine

Lust, sich zu betrinken, obwohl es angebracht gewesen wäre.

"Du weißt doch, was damit gemeint ist, wenn sie hier alle von 'Honigtau' labern, oder?", fuhr

Laxus ohne Gnade fort.

Obwohl er es ahnte, schüttelte Razon den Kopf.

"Na ja, es ist das, was die Stute normalerweise empfängt, um ein Fohlen zustande zu bekommen, kapiert?"

Razons Ahnung wurde bestätigt und seine Übelkeit kehrte zurück. Jedoch war es keine Übelkeit im herkömmlichen Sinne; nicht sein Magen, sondern etwas in seinem Kopf schien sich zu verkrampfen.

"Wie auch immer", fuhr Laxus mit erhobener Stimme fort und goss sich Schnaps in seinen Becher.

"Lateo hatte den Honigtau schon etliche Male im Gesicht, und zwar von mehr als einem …" Razon schoss so hastig und abrupt von seinem Stuhl auf, dass er mit seinem Knie den kleinen Tisch umstieß, auf dem ihre Trinkbecher und die Schnapsflasche standen. Alles ging scheppernd und klirrend zu Boden.

Laxus starrte erschrocken zuerst auf die Scherben am Boden, dann zu Razon. "Was …"

Ohne ein weiteres Wort wirbelte Razon herum und rannte auf den Ausgang zu - wobei er beinahe über Papierstapel, Kisten und Werkzeuge gestolpert wäre, die in Laxus' "Streuordnung" überall in der Hütte verteilt herumlagen.

"Willst du schon gehen?", hörte Razon Laxus noch hinter sich rufen, rannte aber unvermindert

weiter, entfernte sich von Laxus‘ Hütte, rannte die Straße entlang in Richtung Palmenwald. Wieder einmal hatte er einen kleinen Schock verpasst bekommen, und wieder einmal ging es um die schreckliche Wahrheit, die Auroria ausmachte. Razon fühlte sich wie in einem Albtraum; nur war dies kein Traum, sonst wäre er kaum in der Lage gewesen, überhaupt daran zu denken, dass es ein Traum sein könnte. Das war ja das Schreckliche daran: Es war kein Traum, es war wirklich.

Razon blickte nicht zurück und sah somit auch nicht Laxus, der mit beiden Händen in den

Hosentaschen vor seinem Haus stand und genüsslich lachte. Der alte Elf sprach es nicht aus, aber sein Blick, das hämisch-zynische Grinsen sagte laut und deutlich: 'Ich habe es geschafft.'


Hätte Razon zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst, was Laxus mit seiner Schreckensgeschichte erreichen wollte, hätte er ihm nicht zustimmen können, etwas "geschafft" zu haben. Razon war erschreckt, vielleicht sogar schockiert, aber dass er die Ebura - insbesondere Amatoris und Lateo - mit Ekel und Abscheu betrachtete, war nicht der Fall. Jedenfalls nicht mehr, als er sich wieder beruhigt hatte.

Razon schlenderte ziellos durch eine der vielen schmalen Gassen von Auroria in der Nähe des

Palmenwaldes. In dieser Gegend schienen besonders viele ältere Ebura zu leben. Er sah alte Menschenmänner in Schaukelstühlen vor ihren Hütten sitzen, sich bei einem Schach- oder Kartenspiel rege unterhalten oder den Treppenabsatz vor ihrer Hütte fegen.

"Was für ein Lebensabend", murmelte Razon leise vor sich hin und seufzte. Wie hatte er sich

seinen Lebensabend vorgestellt? Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit dachte Razon darüber nach, was er mit seinem Leben wohl anfangen wollte. War das jetzt, in seiner Situation, überhaupt noch von Bedeutung? Er würde hier wohl kaum eine Frau finden und eine Familie gründen können. Aber hatte er das wirklich vorgehabt? Wie Pläne und Vorhaben für die Zukunft auszusehen hatten,

lernte man in der Schule, von seinen Eltern, von seinen Lehrern und von der Gesellschaft in der man lebte überhaupt. Alle und jeder hatte immer die gleiche Meinung, dass nur eine Partnerschaft und Nachkommen, Kinder, Stammhalter, der Schlüssel zum wahren Glück seien. Aber Razon erinnerte sich an andere Elfen, die genau das alles hatten und trotzdem unglücklich waren.

Hier in Auroria schienen alle Geschöpfe glücklich und zufrieden zu sein. Er sah niemanden streiten, keine Aggressionen oder Kämpfe.

"Vielleicht ist diese Welt zu perfekt", murmelte er wieder laut vor sich hin und setzte sich auf eine

Holzbank, die unter einem der vielen Bäume stand.

"Was ist so falsch daran?", fragte ihn eine raue, vertrocknet klingende Stimme.

Razon drehte seinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam und sah jenen kleinen, alten

Gnom, der ihn gleich an seinem ersten Tag in Auroria übel angemotzt hatte.

Er gehört mir, mir ganz alleine!

Der Gnom trug noch immer lumpige Kleidung mit unzähligen Rissen, Fransen und Flicken. Er war barfuß, doch seine Füße sahen gepflegt und sauber aus. An seinen Händen trug er Handschuhe, wie sie auch die Flieger manchmal trugen: die Handflächen bedeckt, die Finger frei. Um seine Stirn trug der Gnom ein Stirnband. Sein Kopf war bis auf ein paar dünne, weiße Haare komplett kahl. "Oh, Ihr seid es", sagte Razon unsicher.

Der Gnom lachte gackernd. "Bitte keine Förmlichkeiten, ich heiße Nunk und du bist Razon, wenn

ich mich nicht irre."

"Tut mir leid, aber ich habe gelernt, ältere Leute mit Achtung und Respekt …"

"Papperlapappenpapp!" Nunk winkte verächtlich ab. "Wir sind alle Geschöpfe der gleichen Mutter Natur und alle Brüder, also, wozu Förmlichkeiten? Die haben doch nur die Reichen und Geizigen erfunden, um sich von den Armen abzuheben und sich wichtig zu machen. Aber auf dem Klo machen sie dasselbe wie wir auch, also was soll`s."

Razon musste lachen. Er hatte in seinem Leben nicht viele Gnome kennenlernen dürfen, aber diese Wesen hatten auch nicht gerade den Ruf, freundlich und gesellschaftlich zu sein. Nunk schien vor ein paar Tagen da keine Ausnahme zu machen, aber jetzt …

"Ihr … du bist sehr freundlich", merkte Razon an.

"Das liegt daran, dass du mir meinen Schatz nicht wegnehmen kannst. Meinen Mann meine ich", fügte Nunk schnell hinzu und begann, während er sprach, in einem Lederbeutel herumzukramen.

"Dein Mann …" Razon fiel der rothaarige Elf mit dem gepflegten Spitzbart ein. "Ach so, verstehe." Nunk holte aus seinem Lederbeutel zwei Äpfel hervor und reichte einen Razon, der ihn dankbar nickend annahm.

"Du bist nicht eburisch, also keine Gefahr für mich", sagte Nunk mit vollem Mund und laut schmatzend. "Araphel ist mehr als nur ein schöner Kerl mit Muskeln, verstehst du?!"

Razon, der noch keinen Bissen gegessen hatte, starrte fasziniert den Gnom an, wie dieser laut schmatzend und schlürfend seinen Apfel vertilgte.

"Er hat mich gerettet, als ich in der Gosse war."

"Wie kann man in Auroria in der Gosse landen …", begann Razon verwirrt, wurde aber jäh von

Nunk ungeduldig unterbrochen.

"Nee, nicht hier in Auroria! Drüben in Sakanis, der Fischerstadt im Süden." Nunk klang wie ein

entnervter Lehrer, der einem dummen Schüler schon tausendmal dasselbe erklärt hatte. "Aber …" Razon verharrte und dachte kurz nach. "Ihr seid …"

Nunk nickte heftig. "Jaaaa doch! Wir sind zusammen hier angekommen. Verrückt, oder nicht?!" "In der Tat. Und wie kam es dazu? Ich dachte, nur verzweifelte Leute, die einsam sind, kommen nach Auroria?"

Der Gnom musterte Razon mit zusammengekniffenen Augen und grinste. "Du bist ganz schön

gescheit und denkst nach über die Dinge, die du so hörst. Recht so. Vielleicht wirst du ja eines

Tages die Große Bibliothek wieder aufmachen."

"Hier gibt es eine …"

"Aber ja doch! Im Gewölbe unter der Großen Halle. Aber das ist jetzt nicht so wichtig." Nunk aß

die Reste seines Apfels - auch das Kerngehäuse samt Kerne und Stiel - und sprach weiter: "Heute

Abend werden Araphel und ich unsere Geschichte im Tempel erzählen."

Razon nickte. "Ja, jeder Neuankömmling erzählt seine Geschichte."

Nunk beäugte Razon neugierig von der Seite. "Du auch?", fragte er leise.

Der Elf seufzte. "Da gibt es nichts zu erzählen, was jemand von euch hören möchte."

"Was glaubst du, wollen 'wir' hören?"

"Ich … ich weiß nicht."

"Woher willst du dann wissen, dass die anderen es nicht hören möchten? Oder", fügte Nunk

herausfordernd hinzu, "glaubst du, hier will jeder nur Schweinkram hören?" "Schweinkram … ach so … nein, ich meine …"

"Hör mal, Kleiner. Wenn du glaubst, dass du nur Geschichten erzählen musst, die andere hören wollen, dann erzähle besser gar nichts."

Razon biss sich auf die Unterlippe. Sein Herz begann wieder schneller zu schlagen. All diese neuen Dinge, die auf ihn einströmten. Sie weckten Erinnerungen, aber weniger in Bildern als in Gefühlen. Es war wie ein Traum, an den man versuchte sich zu erinnern, aber je mehr Mühe man sich damit gab, desto verschwommener wurden die Traumbilder.

Nunk klopfte mit seiner dürren, alten Hand erstaunlich fest auf Razons Schulter und sagte: "Komm' einfach heute Abend zum Tempel und hör` dir meine und Araphels Geschichte an. Wenn du willst, kannst du uns dann deine Geschichte erzählen, und wenn nicht, dann nicht."


Wieder in seinem Haus angekommen, dachte Razon über das, was Nunk gesagt hatte, nach.

Glaubte er wirklich, jemand würde seine Geschichte nicht hören wollen? Immerhin waren alle sehr

freundlich zu ihm und jeder auf seine Art schien ihn in gewisser Weise zu verstehen: Amatoris nahm mit seiner lässigen und witzelnden Art Razon die Angst vor den Ebura und ihren Sitten, Laxus war ein Techniker und Erfinder wie er, und Lateo …

"Lass uns schwören, uns niemals zu trennen, niemals alleine sein zu müssen, für immer und ewig."

Er schnitt sich mit einer Glasscherbe in die Handfläche; Blut tropfte aus der Wunde hervor. Dann reichte er seinem Gegenüber die Hand und …

Razon wurde schwindelig, und er musste sich an dem noch leeren Bücherregal festhalten, um nicht umzukippen. Sein Herz schlug wieder schneller und seine Augen schienen sich mit Tränen zu füllen. Diese Stimme … diese Bilder … was geschah mit ihm?

In diesem Augenblick klopfte jemand an seine Tür.

Razon keuchte erschrocken auf und wirbelte herum. "Wer … wer ist da?", rief er benommen und

spürte, wie die Benommenheit langsam wieder von ihm wich als er Amatoris` Stimme hörte. "Ich bin es, Amatoris. Darf ich rein…"

"Komm schon rein", rief Razon und vertrieb das Schwindelgefühl und die Übelkeit aus seinem

Körper. Er wollte nicht, dass Amatoris etwas davon mitbekam.

Amatoris betrat das Haus und Razon zwang sich zu einem Lächeln. "Ähm … hallo. Was führt dich zum mir?"

Der Ebura lächelte und verschränkte die Arme. "Wie ich sehe, hast du dich wieder beruhigt. Und nach mir gesucht."

"Oh, ja, ich …" Razon ging auf sein Bett zu und setzte sich. "Ich, äh, ich wollte …" "Vielleicht zu Lateo?", fragte Amatoris mit einem Glänzen in den Augen.

"Nein!", rief Razon wütend, dann seufzte er und sagte: "Ich meine, ja. Ich wollte mich bei ihm entschuldigen."

Amatoris schritt auf ihn zu und strich dabei gespielt gelangweilt mit dem Zeigefinger über die

Möbel, als würde er prüfen, ob auch richtig Staub gewischt worden war.

"Ach, und sonst nichts?"

"Was sollte sonst noch …" Razon verharrte und nickte verstehend. "Ach so. Also, natürlich

entschuldige ich mich auch bei dir." Er erhob sich und streckte Amatoris die Hand entgegen. "Wird nicht mehr vorkommen", versprach er.

Amatoris blickte im ersten Augenblick noch beleidigt drein, dann ergriff er aber strahlend die

Hand, zog einen überraschten Razon zu sich und schlang seine Arme um ihn.

"Entschuldigung angenommen!", sagte der Ebura lachend und Razon war im ersten Augenblick wie gelähmt. Noch nie hatte ihn jemand umarmt, doch dann fiel ihm auf, dass es gar nicht so schlimm war, und erwiderte die Umarmung, wenn auch nicht so stürmisch wie es Amatoris tat. Als sie wieder voneinander ließen, setzten sie sich auf die bequemen Sitzkissen in der Mitte des runden Raumes und unterhielten sich.

"Lateo hat sehr anzügliche Bemerkungen gemacht", sagte Razon. "Ich bin solche Sachen nicht

gewohnt, schon gar nicht von anderen Männern. Du musst verstehen, dass ich da ein bisschen ausflippe …"

Amatoris verschränkte die Arme und seufzte. "Ich habe dir aber auch gesagt, dass dir hier niemand etwas tun wird, am wenigsten Lateo."

'Bei dem, was ich über diesen Kerl gehört habe, kann ich mir das gar nicht mehr so vorstellen', dachte Razon, aber er schwieg.

"Ich werde mich bei ihm heute Abend entschuldigen."

Amatoris strahlte überrascht. "Du kommst also in den Tempel?"

Razon nickte. "Ja, ich möchte mir gerne die Geschichten der anderen anhören."

"Ich freue mich. Du scheinst das Leben in Auroria anzunehmen, das ist gut, sehr gut …"

Der Elf erhob beschwichtigend die Hand. "Mich interessieren die Geschichten und ich habe vor, mich bei Lateo zu entschuldigen. Mehr nicht."

Der Ebura seufzte wieder und wechselte das Thema. "Wieso konntest du das nicht gleich tun? Lateo ist doch keine Bedrohung für dich? Und dass wir hier alle Ebura sind, ist dir doch auch kein Geheimnis mehr."

Razon schloss die Augen und atmete tief durch. Wieso sollte er es erzählen? Konnte er Amatoris

wirklich schon als eine Art Freund bezeichnen? Er hatte nie Freunde und wusste nicht, ab welchem

Zeitpunkt man einem anderen vertrauen konnte, wie man es einem Freund gegenüber tat.

"Ich spüre, dass du über etwas nachdenkst", sagte Amatoris leise und mit ernster Stimme.

"Sprich es einfach aus, Razon."

"Ich … ich wollte …" Razon schloss die Augen und krallte sich mit seinen Fingern tief in den Stoff

seiner Hose. "Lateo … ich sah ihn und wollte …" Er lachte auf und schüttelte den Kopf. "Das ist doch verrückt. Ich muss den Verstand verlieren."

Amatoris legte sanft seine Hand auf Razons Hand. "Sprich' es einfach aus." "Ich sah Lateo und wollte ihn umarmen."

Was folgte war Schweigen. Sowohl Amatoris als auch Razon selbst sprachen kein Wort, konnten nicht sprechen. Razon glaubte ja selbst nicht, was er da gerade ausgesprochen hatte.

"Und warum hast du es nicht einfach getan, wenn du es tun wolltest?", fragte Amatoris nach endlosen Minuten des Schweigens. Seine Frage klang ernst gemeint.

Razon blickte Amatoris stumm an und der Ebura nickte verstehend.

"Ach ja, ich kann es mir schon denken", sagte er und ließ Razons Hand wieder los. "Man umarmt

nicht einfach so andere Leute. Hat man dir bestimmt in deinem Heimatdorf beigebracht."

"Verstehe das nicht falsch. Ich weiß selbst nicht, wieso ich dir das erzähle, aber es ist die Wahrheit."

Amatoris erhob sich und nickte. "Das ist alles, was zählt, Razon. Ehrlichkeit. Sei ehrlich zu jenen,

die es gut mit dir meinen, denn nur so können sie dir auch helfen. Aber noch wichtiger ist, dass du ehrlich zu dir selber bist. Denn letztendlich bist du es, mit dem du zusammenleben musst. Bist du nicht ehrlich zu dir selbst, dann belügst du dich und dein Leben. Und du hast nur dieses eine Leben."

Er lächelte und bewegte sich auf den Ausgang zu. "Komm, lass uns jetzt zum Tempel gehen. Es ist bald Abend und das ist die Zeit, Geschichten zu erzählen oder sie sich anzuhören."

Razon folgte ihm. "Und bei dieser Gelegenheit", fügte Amatoris hinzu, "kannst du ja Lateo umarmen - als Entschuldigung getarnt!"


Es wird eine Geschichte erzählt (I)

Die Geschichte von Araphel und Nunk

"Wir - Nunk und ich, Araphel - möchten euch unsere Geschichte erzählen … "

Araphel Clanum Taradeh war dreißig Winter alt, als er das Anwesen seines Vaters übernahm, damit dieser zu seinen Reisen in den Norden aufbrechen konnte. Der junge Elf sah sich vor einer gewaltigen Aufgabe, denn Bashira Taradeh war ein wohlhabender und einflussreicher Mann gewesen, den jeder in der kleinen Stadt Grünburg kannte. Fast die gesamte Blutlinie der Taradeh hatte in Grünburg gelebt und die Gemeinde nach und nach aufgebaut. Grünburg war eine der wenigen Orte auf der Südhalbkugel Titanias, die ausschließlich von Elfen bewohnt war. Nur in Geschichten und Legenden wurde erklärt, warum der Saturnmond Titan - von seinen Bewohnern Titania genannt - von so vielen verschiedenen Völkern und Rassen bewohnt wurde.

Dies war ein weiterer Grund dafür, über Grünburg zu staunen und vor allem auch über die Tatsache, dass die Elfen, die dort lebten, immer nur von Elfen als Bewohner sprachen, obwohl das gar nicht stimmte. Offiziell wurden die anderen Bewohner der Gemeinde nicht gelistet. Sie tauchten in keinem Bericht, keiner Lohnabrechnung oder Geburtsurkunde auf. Auch keine Sterbeurkunden oder gar Gräber existierten von ihnen, aber sie waren da. Niemand sprach über sie und wenn man einen von ihnen ansprechen wollte, dann mit "Du da!" oder "He du, komm mal her!"

Die Rede ist von den Gnomen: bemitleidenswerte, armselige Geschöpfe, die in der Gemeinde Grünburg ein Dasein fristeten wie Ratten oder Kakerlaken andernorts in den Menschensiedlungen. Die Gnome besaßen auf ganz Titania kein eigenes, unabhängiges Land. Nicht einmal eine Gemeinde oder ein Dorf, noch nicht einmal einen Stamm. Gnome galten als jene Wesen, die vor allem von den Elfen als "nicht wichtig" oder "wertlose Geschöpfe" bezeichnet wurden. Nicht wenige glaubten sogar, dass Gnome gar keine Seelen hätten und vielmehr Tiere als intelligente Wesen seien - obwohl sie der Sprache der Elfen oder Menschen durchaus mächtig waren.

Gnome wurden nichtsdestotrotz wie Luft behandelt; Luft, die man sich jedoch als Sklaven halten konnte, denn manche von ihnen wurden von den Elfen als Bedienstete gehalten. Sie mussten Latrinen und Böden schrubben, im Winter Schnee schaufeln oder Abfälle vergraben oder verbrennen. Überhaupt mussten Gnome all jene "Drecksarbeit" verrichten, für die sich die meisten Elfen schon lange zu "schade" fühlten.

Die Familie aus dem Geschlecht der Taradeh gehörte zu jenen Gründern der Stadtgemeinde

Grünburg und war auch jene Familie, die die "Idee", Gnome als "nützliche Arbeitstiere" einzustellen, ins Leben rief und bis heute in alter Tradition in die Tat umsetzten.

Es war an einem regnerischen Herbsttag, als Araphel die Leiche des Gnoms in der Küche auf dem Boden liegen fand. Sein Vater und Hausherr war gerade einen Tag weg, als der alte Gnom, der ständig das ganze Haus putzen und von Ratten und anderem Ungeziefer hatte sauber halten müssen, einfach starb. Er lag in seinen zerlumpten Kleidern leblos am Boden. Araphel starrte ihn lange Zeit einfach nur an, bis er die Leiche schließlich behutsam auf seine Arme nahm, in den Garten trug und dort begrub.

Eine scheinbar endlos lange Zeit verging, bis der junge Elf schließlich aus seiner Erstarrung erwachte. Er befand sich im Wohnzimmer, einem herrschaftlichen Raum mit uralten Möbeln aus dunklem Holz, in das kunstvolle Verzierungen geschnitzt waren. Es war still. Sehr still und zum ersten Mal in seinem Leben sprach Araphel jene Worte laut aus, die er all die Jahre seit seiner Kindheit immer nur heimlich in seinen Gedanken versteckt gehalten hatte: "Es ist nicht richtig."

Seit diesem Tag - Araphel begriff auch, dass er nun der Herr des Anwesens seines Vaters und seiner Väter und Großväter zuvor war - packte ihn eine seltsame und doch wohltuende Gier. Ja, es war eine Gier, anders konnte man dies nicht umschreiben oder benennen. Sein Leben lang hatte er sie verstecken müssen, hatte sich so viele Tage und Nächte selbst immer wieder eingeredet, dass er krank oder besessen sein musste. Aber er war nicht krank und es war auch kein Dämon oder ein dunkler Zauber, der in ihm jene Gefühle wachrief, die er heute ohne jede Scheu auslebte. Der Tod des alten Gnoms, dessen Namen er nicht einmal gekannt hatte - man sprach die Sklaven und "Tiere" nicht mit Namen an, - hatte in Araphel etwas ausgelöst und zwar nicht nur die Feststellung: "Es ist nicht richtig." Sondern auch: "Was, wenn jemand stirbt, ohne dass er jemals geliebt worden war?" Niemand mochte die Gnome, niemand schenkte ihnen Aufmerksamkeit oder gab ihnen etwas Freundliches. Vielleicht waren sie nicht so schlau wie die Elfen, vielleicht waren sie auch weniger kultiviert, aber es waren Lebewesen und bewohnten dieselbe Welt. Auch sie hatten ein Recht darauf, geliebt und geachtet zu werden.

Es gab da nur ein Problem: Araphel war kein Kämpfer, kein geborener Revolutionär, der sich für die Rechte der Gnome einsetzen konnte. Und so seltsam es auch klingen mag: Araphel dachte weniger an die Gnome, als vielmehr an sich selbst.

Wie gesagt: Araphel begann seit diesem Tag seinem Leben einen ganz besonderen Inhalt, einen

Sinn, zu geben. Indem er anfing Gnome zu lieben. Damit wir uns richtig verstehen: Araphel mochte die Gnome schon immer. Anderen Elfen gegenüber - vor allem den Mädchen und Frauen - verhielt er sich respektvoll und freundlich, aber sinnliche Gelüste und Liebe konnte er für seine

Artgenossen nie aufbringen. Araphel begann in seiner Jugend, sich zu Geschöpfen hingezogen zu

fühlen, die schwach und unbeliebt waren. Es waren die Gnome, die unter Brücken, in verfallenen Hütten oder auf der Straße dahinvegetieren mussten, wenn sie nicht das "Glück" besaßen und für eine reiche, arrogante Elfenfamilie arbeiten "durften".

Araphel entwickelte einen Plan, eine regelrechte "Masche", wie er vorgehen wollte: Er kleidete sich in einen alten, braungrauen Mantel mit Kapuze und schlich sich in der Dämmerung in das Armenviertel der Stadt. Dort mischte er sich dann unter das "Volk" - bestehend aus vorwiegend alten, armen und auch kranken Gnomen. Bei seinem ersten "Ausflug" fand er einen Gnom mit riesigen Ohren, blutunterlaufenen Augen und graugrüner Haut. Er bot ihm an, ihn zum Essen einzuladen, und selbstverständlich willigte der Gnom ein und begleitete Araphel zu einer Schänke, die in Wirklichkeit ihm gehörte. Der Wirt sowie die Köchin hatten zu den Gnomen die gleiche Einstellung, wie alle Elfen in Grünburg, aber einen großen Beutel Goldtaler jeden Monat ließ die beiden über die Tatsache hinwegsehen, dass der reichste Mann in Grünburg regelmäßig einen Gnom zum Essen mitbrachte. Und es ließ sie auch über andere Dinge hinwegschauen, die Araphel noch so tat …

Es war genau ein halbes Jahr, seit sein Vater ihm die Geschäfte überlassen hatte, als Araphel zum ersten Mal angesprochen wurde.

"He, hasxte mal was Glänziges?!", fragte ihn eine raue, kratzige Stimme, als Araphel in seinem alten Mantel die engen Gassen des Armenviertels durchstreifte.

Er drehte sich um und sah einen Gnom vor sich stehen, der so armselig aussah, dass er sofort hätte weinen können. Graugrüne, fleckige Haut und abgesehen von ein paar einzelnen schwarzen Strähnen einen kahlen Kopf, um den der Gnom ein Stirnband gebunden hatte von undefinierbarer Farbe. Sie lag irgendwo zwischen violett und blau. Der Gnom hatte große, gelbe und blutunterlaufene Glubschaugen und einen stechenden Blick. Er trug nicht mehr als mit Flicken übersäte Lumpen und war barfuß.

Jeder andere Elf (und vermutlich auch Mensch) hätte sich angewidert abgewandt und hätte das armselige Wesen keines Blickes mehr gewürdigt, aber Araphel wusste es sofort: Diese Nacht wird es dieser sein!

Er lächelte freundlich, streckte seine Hand aus und sagte: "Komm mit, ich lade dich zum Essen

ein. Du musst doch schon ganz verhungert sein, oder nicht?"

Der Gnom glotzte ihn verwirrt an. Aus Verwirrung wurde schnell Misstrauen.

"Du bist ein Elf …", murmelte der Gnom.

"Ja, und du bist ein Gnom." Araphel nickte. "Damit hätten wir das geklärt. Und was ist jetzt?

Möchtest du etwas Warmes essen oder nicht?"

Der Gnom blieb misstrauisch. Für diese hochnäsigen Spitzohren waren er und seine Artgenossen

doch nicht mehr als Vieh. Weshalb war dieses Exemplar von einem Elf nur so freundlich zu ihm? Es musste einen Hinterhalt geben, aber zu welchem Zweck? Er besaß weder Geld noch Wertsachen, denen man ihn hätte berauben können. Obwohl der Gnom immer noch Bedenken hatte, willigte er in das Angebot ein, denn die Vorstellung, vielleicht tatsächlich seinen Magen mit etwas Warmen und Essbaren füllen zu können, war doch zu groß.

Während er dem Elf mit den langen, roten Haaren und dem gepflegten Spitzbart folgte, fragte

dieser ihn nach seinem Namen.

"Nunk. Nenn mich einfach Nunk", sagte der Gnom vorsichtig, als befürchte er, jemand oder

etwas würde auf ihn lauern.

"Und du nenne mich einfach Araphel", sagte der Elf lachend. Es war ein freundliches Lachen.

Nunk aß nicht, er stopfte sich gierig und mit Tränen in den Augen den Bauch voll, während

Araphel, der mysteriöse Elf, ihm dabei mit verträumten Augen zusah. "Das ist komisch", sagte Nunk mit vollem Mund. "Wieso tust du das?" "Ist das schlimm?"

"Nein, aber es ist ungewöhnlich."

"Kann denn nicht auch etwas Ungewöhnliches geschehen?"

"Es ist unheimlich, und Elfen, die Gnomen zu Essen geben, führen etwas im Schilde", sagte Nunk und musterte Araphel weiterhin misstrauisch.

Araphel fiel auf, dass der Gnom scheinbar bereit war, jeden Moment fliehen zu können; jedenfalls wirkte er keineswegs entspannt oder gelassen. Im Gegenteil. Doch dies war nichts

Ungewöhnliches: Der Elf hatte es seit seinem ersten Mal mit einem Gnom immer wieder beobachtet. Misstrauen, Angst … diese Wesen waren es schon lange nicht mehr gewohnt, dass jemand nett zu ihnen war. Umso schöner war dann das "Danach", wenn einem gemarterten und geschundenen Wesen bewusst wurde, dass da jemand ist, der es liebt, der es mit Respekt und Güte behandelt.

"Und was geschah dann?", fragte jemand aus der Menge mit glänzenden Augen. Araphel und Nunk sahen sich grinsend an.

"Möchtest du fortfahren?", fragte der Elf den Gnom, und Nunk schnitt eine Grimasse. "Wenn es sein muss." Er räusperte sich und sagte: "Nachdem ich mir den Bauch vollgeschlagen hatte …

… berührte Araphel plötzlich Nunks Hand und streichelte sie. Das Gefühl, einen Gnom anzufassen, ließ den Elfen jedes Mal aufs Neue erschaudern. Die Haut fühlte sich kühl und geschmeidig an. Nunk zog erschrocken seine Hand zurück und fauchte den Elf an. "Was soll das? Willst du dir Pest und Pocken holen, du Narr?"

"Sag' bloß, du hast die Pest und die Pocken?"

Nunk kniff misstrauisch die Augen zusammen. "Nein, aber das denkt ihr doch alle über uns, nicht

wahr?"

Araphel blickte den Gnom ernst an. "Glaubst du wirklich, dass ich genauso denke?"

"Ich weiß nicht … vielleicht."

"Weshalb hätte ich dir dann dieses Mahl schenken sollen?"

"Ja, stimmt … eine gute Frage. Was hättest du davon?!" "Vielleicht möchte ich einfach, dass du glücklich bist?"

"Du kennst mich nicht, wie kannst du dir dann mein Glück wünschen?"

Der Elf seufzte. Solch einen klugen und kritisch fragenden Gnom hatte er noch nie kennengelernt,

und dies machte ihn umso interessanter.

"Ich würde es dir gerne erklären, aber nicht hier." Araphel erhob sich und bedeutete Nunk, es ihm

gleichzutun und ihm zu folgen.

Misstrauisch, aber keineswegs von Angst erfüllt, folgte Nunk Araphel durch den leeren Gastraum

der Schänke eine Treppe hoch in eine kleine, aber gemütlich eingerichtete Kammer. Nunk sah ein großes Bett, eine Waschschüssel sowie einen kleinen Schrank mit kunstvollen Schnitzereien. Das Fenster über dem Bett hatte buntes Glas in allen erdenklichen Farben, durch das das Mondlicht schien und das Bett in einem Schimmer erscheinen ließ, als läge ein geheimnisvoller Zauber über ihm.

Aus Misstrauen wurde nun ahnungslose Verwirrung. Nunk konnte sich beim besten Willen nicht

mehr vorstellen, warum der geheimnisvolle, sehr gut aussehende Elf ihn hierher gebracht hatte. Araphel legte seinen Mantel ab und Nunk sah, dass der Elf eine schöne, sehr edle Tunika und Sandalen trug. Dieser Elf war reich, sehr reich. Was hatte er nur mit einem Gnom zu schaffen?

"Ich gab dir zu essen - habe deinen Hunger gestillt", sagte Araphel und schloss die Tür. "Auch die

Kälte machte dir zu schaffen - ich sorgte dafür, dass du dich aufwärmen konntest. Nun bist du an der Reihe, etwas für mich zu tun."

Nunk stand da, als hätte ihn jemand einfach hingestellt wie ein Möbelstück, das vergessen worden war. Noch immer begriff er nicht.

"Auch ich bin hungrig, aber alles Essen der Welt kann diesen Hunger nicht stillen." Araphel machte einen Schritt auf Nunk zu. "Und auch mich erfüllt eine furchtbare Kälte, aber keine

Kleidung und auch kein Feuer vermag sie zu vertreiben und mein Leiden zu lindern."

Er stand nun ganz dicht vor Nunk, nahm seine Hand und küsste sie - er gab dem Gnom einen

Handkuss!

Nunk war so erschrocken und verwirrt, dass er weder etwas sagen noch tun konnte. Ein Gefühl von Angst vermischte sich mit Neugier und auch aufkeimende Lust. Was geschah hier nur? "Bitte, lieber Nunk, lindere meine Schmerzen, stille meinen Hunger und erfülle mein Herz mit Wärme", sagte Araphel leise.

"Aber … aber du bist ein Elf …"

Araphel lächelte liebevoll. "Und du ein Gnom. Ja, damit hätten wir die Formalitäten geklärt."

"Aber …" Nunk spürte in sich ein Gefühl der Lust aufkeimen, das er nie hatte kennenlernen

dürfen. Niemals hatte ihm jemand etwas Nettes oder Liebes gesagt. Noch nicht einmal einer seiner

Artgenossen. "Ich weiß nicht, ob ich das möchte …"

Araphel umarmte Nunk, schlang seine starken Arme um den dürren, ausgehungerten Körper,

presste fest seine Wange in Nunks Nacken und flüsterte ihm ins Ohr: "Du wirst nichts tun müssen, was du nicht möchtest. Niemals würde ich einem Gnom ein Leid antun. Eher würde ich den Freitod wählen, als dich oder sonst jemanden zu verletzen."

Er ließ von dem Gnom ab, umfasste mit seinen Händen Nunks Gesicht und sah ihm in die Augen.

"Du bist wunderschön und ich möchte, dass du glücklich bist."

Nunk spürte, wie ihm eine Träne über die Wange rann. "Ich bin … schön …? Das glaube ich dir

nicht …"

Plötzlich presste der Elf dem Gnom seine Lippen auf den Mund, was Nunk noch mehr verwirrte,

aber auch betörte und mit noch mehr Lust und Neugier erfüllte.

Araphel trug Nunk auf seinen Armen zum Bett, streifte ihm sein mit Flicken übersätes, lumpiges

Gewand über den Kopf und begann den dürren, von Hunger und Armut geschundenen Körper zu berühren, zu streicheln und zu küssen. Und er liebte ihn - er liebte Nunk so zärtlich, innig und vertraut, als gäbe es kein Morgen mehr - keine Welt, in der Gnome von den Elfen wie Tiere und Ungeziefer behandelt wurden. Und Nunk spürte zum ersten Mal in seinem Leben, wie es war, geliebt zu werden. Wenn jemand …

"… zu dir sagt, dass er dich liebt, und dass er dich braucht. In den starken Armen eines Elfen die Erkenntnis der Liebe zu erfahren ist etwas, was mich verändert hat", schloss Nunk seinen Teil der Geschichte. "Denn eigentlich habe ich nicht mehr leben wollen."

"Oh, aber in unserer ersten Nacht warst du sehr lebendig", lachte Araphel und Nunk boxte ihm in

die Rippen.

"Ja, erzähl' auch ruhig davon, dass ich der letzte von sehr vielen Gnomen war, die du alle in dieser

Schänke gefüttert und dann verführt hast."

Jemand aus der Menge der Zuhörer rief aufgeregt: "Wie viele waren es denn und was geschah mit

ihnen?"

Araphel seuftzte. "Ich habe sie nicht gezählt. Die meisten waren sehr alt und auch krank. Ich habe

nicht mit allen Honigtau ausgetauscht, wenn es das ist, was Ihr alle hören wollt …" Die meisten Zuhörer lachten amüsiert auf.

"Einige wollten einfach nur in einem gemütlichen, warmen Bett schlafen. Drei sind in dieser Nacht gestorben. Sie waren alt und krank."

Die Stimmung war wieder etwas gedrückter, aber Nunk entspannte sie, indem er hinzufügte: "Araphel hat ihnen allen ein schönes Begräbnis geschenkt. Jenen, die noch lebten, besorgte er Arbeit in Herrenhäusern, die ihre Gnome nicht wie Dreck behandelten. Es war sehr schwer, in Grünburg als Gnom Gerechtigkeit zu erleben. Araphel hat seinen kleinen, aber wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass wir wenigstens etwas Würde und Anerkennung erfahren durften." Er blickte seinen Elf grinsend an und fügte hinzu: "Und das mit immer der selben Masche. Wisst ihr, dass unser Araphel auch seinen Liebschaften sehr gerne schlüpfrige, unanständige Sachen ins Ohr flüsterte - mich eingeschlossen?"

Wieder gab es entspanntes und amüsiertes Lachen.

"So, jetzt ist unsere Geschichte erzählt", rief Nunk gespielt bissig der Menge zu. "Jetzt holt endlich den Wein raus und lasst uns feiern!"

Das ließen sich die Ebura nicht zweimal sagen.


Für diesen Abend hatte sich Razon ursprünglich vorgenommen, Schauspieler zu sein. Er würde nach außen eine völlig neutrale, unberührte Person spielen, die weder von dem Gehörten und Gesehenen abgestoßen, aber auch nicht angetan sein würde. Die Ebura, die Bewohner von Auroria mit all ihren unterschiedlichen Rassen, Altersklassen und Persönlichkeiten, waren eben nun mal so, wie sie waren. Sie lebten ein Leben, das er nie hätte haben wollen, aber sie ließen ihn in Frieden. Oder zumindest wurde ihm nichts angetan: Er bekam Speis und Trank, musste weder arbeiten

noch Steuern bezahlen. Zwar befand sich Auroria inmitten einer Eiswüste auf der ewigen Nachtseite von Titania, dennoch herrschte eine gewisse Form der Freiheit, auch wenn Razon unter Freiheit etwas anderes verstand.

Einen ganzen Abend lang schauspielern; so tun, als würde ihn das, was er hörte und sah, nicht

berühren. Es kam anders als erwartet: Razon war berührt, auch wenn er es nicht zeigte. Zuvor hatte er Nunk bereits kennenlernen dürfen und auch wenn er wahrlich kein Freund von hässlichen Gnomen war, so war ihm dieses Exemplar doch so sympathisch, dass er sich auch ehrlich für sein Glück mit dem Elfen Araphel freuen konnte. Auch die Geschichte der beiden gefiel ihm ganz gut, was er ehrlich zu Amatoris sagte, als dieser ihn danach fragte.

Sie standen an einem langen Buffet und bedienten sich von den reichlichen Speisen aus Obst,

Gebäck und Käse, als Amatoris mit vollem Mund schmatzend und kauend fragte: "Dir hat die Geschichte also gefallen?!"

Razon nickte. "Ich bin kein sentimentaler Romantiker, aber Liebesgeschichten sind doch immer was Schönes. Besser als die Geschichten über Krieg und grausame Schlachten."

Amatoris nickte. "Ja, aber du weißt schon, dass die Liebe zwischen Wesen gleichen Geschlechts von den meisten nicht als echte Liebe anerkannt wird - auch von dir nicht, oder irre ich mich da?" Razon seufzte und goss sich einen Becher Wein ein. "Du kannst es nicht lassen, oder?"

Amatoris grinste und stopfe sich Trauben in den Mund. "Nein, dafür bist du viel zu interessant."

Razon blickte zu Nunk und Araphel, die gerade von dutzenden von Ebura umringt, wie berühmte Musiker oder Kriegshelden umarmt und beglückwünscht wurden. Mehrmals hörte er Worte wie "Willkommen!" oder "Gut gemacht!"

"Ich frage mich", begann er langsam und nachdenklich, "wie die beiden hier nach Auroria gelangt

sind, und vor allem, warum sie zusammen hier sind. Ich ging davon aus, dass jeder in der Außenwelt einsam und verlassen war, als er schließlich nach Auroria fand. Oder Auroria sie fand." "Der Weg nach Auroria kann vielseitig sein", sagte Amatoris und seufzte. "Keiner weiß, wie und warum Auroria bestimmte Leute zu sich holt."

Razon nahm einen Schluck Wein und sagte, ohne seinen Blick von Nunk und Araphel abzuwenden: "Meinst du, sie erzählen es noch?"

"Jeder erzählt nur so viel, wie er möchte."

Nun drehte sich Razon um und musterte den Ebura aufmerksam. "Was ist mit dir? Wie bist du

hierher gelangt? Wie sah dein Leben in der Außenwelt aus?"

Amatoris starrte ihn erschrocken an, als ob er mit dieser Frage zwar gerechnet, sich aber keine

Antwort überlegt hatte. Er schwieg, blickte an Razon schließlich vorbei und rief winkend: "He, hier sind wir! Dulcis mein Schatz!"

Razon drehte sich um und sah Dulcis sich durch die Menge hindurch schlängelnd auf sie zu eilen.

"Tut mir leid, dass ich mich verspäte", sagte der junge Ebura schnaufend, "aber es war ein

Notfall."

Amatoris schlang seine Arme um Dulcis, küsste ihn zuerst auf die Wange, dann den Mund und schob ihm dann eine Traube in den Mund. "Jetzt bist du ja da, auch wenn ich Verspätungen nicht vertragen kann." Er sprach einen gespielt ernsten Ton; Razon fiel das sofort auf. Amatoris' Stimme klang wie die eines Schauspielers, der so tat, als sei er verärgert. "Ein Notfall, also, so, so", sprach Amatoris weiter. "Ich hoffe doch ein richtiger, ernster Notfall, ansonsten muss ich den bösen Jungen wieder bestrafen."

Dulcis seufzte, lehnte seinen Kopf gegen Amatoris Brust und sagte leise: "Glaub' mir, er lag im

Sterben, mein Liebster."

Razon runzelte die Stirn und verstand rein gar nichts. Doch viel mehr als die Worte der beiden machte ihn ihr Verhalten nervös: Die Berührungen, die sie austauschten, der Kuss und die Art und Weise, wie sie sich ansahen … Er trank in schnellen und hastigen Zügen seinen Becher aus und suchte nach mehr Wein, als er Dulcis sagen hörte: "Ich konnte nicht mehr viel für Pandra tun. Sein Herz war schon sehr geschwächt."

"Hat es sein Partner mit Fassung getragen?"

"Was glaubst du denn? Die beiden waren achtzig Jahre ein Paar."

Amatoris strich liebevoll durch Dulcis‘ Haar und seufzte. "Tja, wir müssen alle irgendwann mal

gehen, so ist das Leben."

Razon suchte verzweifelt den Weinkrug, sah dann zu seiner Enttäuschung, dass er gerade in

gierigen Zügen von einem Ork ausgetrunken wurde. Er biss sich auf die Unterlippe und kam sich albern vor, dass ihn hier im Ebura-Paradies die Zärtlichkeiten zwischen zwei Männern immer noch nervös machte. Um die Situation aufzulockern fragte er mit betont lauter Stimme:

"Ähm, du bist Arzt, Dulcis?"

Der Elf nickte. "Ich habe fünf Jahre lang unter Professor Remmick an der Universität Neotopia studiert."

Jetzt war Razon noch aufgeregter. "Remmick, DER Remmick?" "Du kennst ihn?

"Jeder, der sich für Wissenschaft interessiert, kennt ihn", rief Razon und lachte. "Aber sagtest du wirklich fünf Jahre? Dann musst du ja als Knabe angefangen haben …"

"Ich bin neunundsiebzig Jahre alt", sagte Dulcis beleidigt. Im selben Augenblick erhellten sich aber wieder seine Züge. "Aber trotzdem danke. Ich sehe das als Kompliment."

Razon war sprachlos. Natürlich war es mehr als ein Gerücht, dass Elfen mehrere hundert Jahre alt werden konnten, trotzdem sah man einem Elf an, wie alt er war, wenn er die Fünfzig einmal überschritten hatte. Vor ihm stand jedoch ein zierlicher, gleichzeitig durchtrainiert und muskulös wirkender Elf mit dem Gesicht eines Knaben, der nicht mehr als zwanzig Winter erlebt haben musste. 79 Jahre würden zumindest graue Haare bedeuten, doch Dulcis hatte lange, pinke, wunderschöne Haare, helle, klare Augen …

Er zerriss gewaltsam jene Gedanken, die wieder in seinem Kopf entstanden und vertrieb sie. "Äh - bitte. Gerne geschehen", sagte er schnell und aß von dem Käse-Olivenbrot, während Amatoris sprach und dabei Dulcis allerhand Früchte und Häppchen in Dulcis' Mund schob, als füttere er ein zahmes Haustier.

"Unser Razon ist von Nunks Geschichte ganz angetan", begann er im Plauderton. "Ich glaube, noch eine Woche und er wird diese und jene Geschichten selbst einmal erleben wollen."

Razon lachte. "Ja, ja, versuche es nur immer weiter. Du wirst mich niemals dabei erwischen, wie ich mein Schlaflager mit einem Mann teile."

Als ob Razon nichts gesagt hätte, fuhr Amatoris fort: "Er wollte auch wissen, wie Nunk und Araphel hierher gelangt sind. Nach Auroria."

Dulcis drehte sich zu Razon um. "Würdest du gerne wissen, wie ICH hierher gelangt bin?"

Razon nickte. "Natürlich."

"Ich hätte noch eine Woche bis zu meinem Diplom gehabt, da fanden meine Studienkollegen in

meiner Kammer ein Buch über die eburische Liebeskunst." "Eine Art Ratgeber", warf Amatoris lachend ein.

Dulcis fuhr fort: "Sie rissen jede einzelne Seite - eintausend insgesamt - heraus, tauchten sie in heißes Pech und beklebten meinen nackten Körper damit. Dann warfen sie mich zum Fenster hinaus in den Burggraben, der die Universität umgab."

Razon starrte Dulcis erschrocken an; ihm war plötzlich so übel, dass er glaubte, all das gute Essen

wieder erbrechen zu müssen. Er spürte, wie sein Gesicht förmlich alle Farbe verlor. Und er wusste nicht so recht, was ihn mehr schockierte: was Dulcis da erzählte oder wie er es erzählte, denn während der Ebura diese Worte sprach, blickte er ihn mit genauso hellen, wachen und fröhlichen Augen an, wie zuvor.

"Mein ganzer Körper brannte wie Feuer und meine Lungen waren am implodieren, als ich im Wasser landete. Plötzlich sah ich buntes Licht, wie jenes, das der Regenbogen zeigt. Dann wachte ich in einem warmen Bett auf und war hier, in Auroria."

"Aber …" Razon stockte noch immer der Atem, aber die Übelkeit wich wieder von ihm. "Neotopia

ist doch etliche Meilen von der Eiswüste oder Circus Maximus entfernt. Du hättest doch in diesem

Burggraben …"

"… sterben müssen, ja. Aber ich tat es nicht", sagte Dulcis fröhlich. "Ich bin froh darüber und sehr glücklich und dankbar, hier sein zu dürfen."

Razon stellte seinen Trinkbecher ab und verschränkte die Arme. In seinem Kopf begannen sich wieder jene Zahnrädchen seiner Denker-Maschine zu drehen, wenn er dabei war, Rätsel und Probleme zu lösen. Meist waren sie aber rein technischer Natur. Dies war etwas Neues und es forderte ihn heraus, vor allem aber sein Drang, Probleme und Rätsel zu lösen und eine Logik in ihnen zu ergründen. Zwei völlig unterschiedliche Geschichten - jene von Laxus und jene von Dulcis - darüber, wie die Ebura hier nach Auroria gelangten. Und beide sind sich auf verwirrende Weise so ähnlich, dass sie trotzdem keine logische Erklärung zuließen.

"Einmal Schneesturm, einmal Burggraben …", murmelte er nachdenklich. "Ein Schneesturm in der

Wüste …"

Er zuckte erschrocken zusammen, als Amatoris ihm auf die Schulter klopfte und sah, dass er ihm

bedeutete, in eine bestimmte Richtung zu blicken: Lateo betrat den Raum und wurde von zahlreichen Leuten begrüßt. Der junge Ebura mit den honigfarbenen Haaren trug eine weiße, weite Hose aus dünnem Stoff und ein Stirnband mit einer roten Feder. Er sah aus wie jene Tänzer, die er auf der Promenade bereits gesehen hatte. Andere Elfen, die ähnlich gekleidet waren, folgten ihm auf eine kreisrunde Bühne, die in der Mitte des Saals aufgebaut war.

"Wenn er mit seiner Tanzvorführung fertig ist", flüsterte Amatoris Razon ins Ohr, "kannst du dich

ja bei ihm dann … entschuldigen."

Er kicherte und Razon spürte wieder, wie sein Herz schneller schlug. Rührte das Herzklopfen

daher, dass er schlichtweg nervös war, oder weil ihm Lateos Anblick - vor allem der nackte

Oberkörper - ganz einfach … gefiel?

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