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Nur ein kleiner Schritt bis zum Wahnsinn

Teil 1

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Mittwoch

Gedämpfte Pauken, ein Marsch-Rhythmus. Das klingt verdächtig nach Trauermarsch. Irgendetwas daran ist falsch. Das scheint ein Trauerzug zu sein. Und er kommt näher, ich höre jetzt, daß da noch mehr ist. Instrumente, ein Chor singt. Bedrohlich. Nein, das ist kein auf mich zukommender Trauerzug, viel mehr bin ich Teil eines Zuges, der sich in Richtung der Musik bewegt. Die Musik wird drängender, gleichzeitig auch bedrohlich. Ein Frösteln überzieht meinen Körper. Können Tote frieren? Tote? Ja, ich bin tot und, so tot ich auch bin, in meinem Körper auf dem Weg zum Jüngsten Gericht. Das Jüngste Gericht kündigt sich in f-Moll an, das läßt nicht eben viel Hoffnung zu. Mir ist jetzt auch klar, was mich vorhin gestört hat. Es ist zwar ein Marsch, aber im Dreiertakt. Warum sollte sich der Allmächtige auch an einen 4/4-Takt halten?

Ich muß dem Ort des Geschehens jetzt sehr nahe sein, die Musik schwillt an, Posaunen schmettern, Hörner gesellen sich dazu, schichten drohende, scharf-dissonante Akkorde übereinander. Pauken wirbeln. Dieser musikalischen Drohgebärde hat der Chor offenbar nichts entgegenzusetzen; er schweigt, wenn auch nicht für lange. Das Crescendo erreicht seinen kritischen Punkt, muß sich jetzt auflösen. Mit der Gewalt eines einschlagenden Blitzes melden sich die unsichtbaren Sänger zu Wort.

„Denn alles Fleisch, es ist wie Gras und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blumen. Das Gras ist verdorret und die Blumen abgefallen.“

Der erste Teil wird mir mit aller Macht entgegen geschleudert, der zweite deutlich leiser. In leidenschaftslosem Tonfall. Eine schiere Feststellung, die keine Zweifel zuläßt. Ich brauche mir wohl auf Erlösung nicht allzu viel Hoffnung zu machen. Oder doch? Der Tonfall ändert sich, wird freundlich. Seliges Dur.

„So seid nun geduldig, liebe Brüder, bis auf die Zukunft des Herrn. Siehe, ein Ackermann wartet auf die köstliche Frucht der Erde und ist geduldig darüber, bis er empfange den Morgenregen und Abendregen.“

Doch noch Hoffnung? Besser, ich freue mich nicht zu früh. Ich fröstele nach wie vor, eher sogar mehr jetzt. Diese Kälte kann mich auslöschen. Kälte? Sollte nicht eigentlich ein Höllensturz die endgültige Auslöschung einleiten? Und da friert man?

Der düstere Trauermarsch setzt wieder ein. Diesmal erlebe ich den Zug als Zuschauer mit. Ein Zug gesichtsloser Gestalten, dessen Ende ich nicht erkennen kann, kommt in meine Richtung. Aus der Masse schält sich ein einzelnes Gesicht. Roland. Ich weiß, daß er das gleich fühlte wie ich.

Erneuter Stimmungswechsel. Aus der Drohung wird harte, unumstößliche Gewißheit, absolute Entschlossenheit spricht nun aus dem Gesang des Chores.

„Aber des Herrn Wort bleibet in Ewigkeit.

Die Erlöseten des Herrn werden wiederkommen und gen Zion kommen mit Jauchzen, Freude, ewige Freude wird über ihrem Haupte sein. Freude und Wonne werden sie ergreifen und Schmerz und Seufzen wird weg müssen.“

Ich bezweifle, zu diesen Erlösten zu gehören, beschließe trotzdem, wach zu sein. Eine schlechte, eine ganz schlechte Idee, mich ausgerechnet von Brahms wecken zu lassen. Diese Musik ängstigte mich schon, wenn ich wach war.

Wachträume während dieses speziellen Zustands zwischen Wachen und Schlafen waren mir nicht unbekannt, aber in dieser Intensität hatte ich sie noch nie erlebt. Zwar konnte ich jetzt, aufgestanden und wieder ganz in der realen Welt angekommen, erklären, woher das Frösteln kam, nämlich schlicht vom geöffneten Fenster, dennoch wußte ich, daß es da einen tieferen Grund gab. Das wußte ich schon seit einem halben Jahr. Nur blieb mir verborgen, worum es sich dabei handelte.

Mein traditionelles Frühstück, Kaffee pur. Die erste Tasse dient dabei der ganz, ganz langsamen Annäherung an den Tag. Bei der zweiten Tasse beginnt für gewöhnlich allmählich eine Art Wachzustand, in dem ich ansprechbar bin.

Ich hatte gerade die dritte Tasse eingeschenkt, als meine Gedanken anfingen, zum gestrigen Tag abzudriften. Timon. Nach dem kurzen Zwischenfall im Dampfbad, wie ich später bemerkte, hatte die ganze Nummer keine 5 Minuten gedauert, war er verschwunden. Dem ersten Impuls, ihm nachzulaufen, hatte ich widerstanden. Wozu auch? Selbst wenn ich es geschafft hätte, ihn aufzuhalten, was hätte ich mit ihm dann anfangen wollen? Derartige „Bekanntschaften“ beschränkte ich gerne auf das rein Körperliche. Unvorstellbar, hinterher gemütlich im Warmwasser zu liegen oder etwas zu trinken und sich zu unterhalten. Das paßte einfach nicht.

Aber das waren ohnehin müßige Gedanken. Vielleicht 5 Minuten später hatte auch ich das Dampfbad verlassen und von Timon keine Spur mehr gesehen. Ich war noch eine Weile geblieben, ein weiterer Saunagang, eine weitere Runde Entspannung im Warmwasserbecken. Schlußendlich hatte die Langeweile gesiegt und ich war gegangen.

Den Abend hatte ich stumpfsinnig vor dem Fernseher verbracht, wie üblich nach solchen Begegnungen eher zerknirscht als entspannt. Grübelnd, ohne konkrete Gedanken zu fassen. Oder besser: Ohne diesen Gedanken fassen zu können. Da war etwas, ich spürte das seit ich im Krankenhaus wieder zu mir gekommen war.

Auch die vierte Tasse war vernichtet. Schade, jetzt mußte ich mich mit der Frage herumschlagen, was ich heute machen wollte. Verdächtig schnell fiel mein Blick auf die eigentlich für gestern gedachte vierte Flasche Bier. Ich schaffte es, mich zusammen zu reißen. Vorerst sträubte sich etwas in mir noch dagegen, zum Alkoholiker zu werden. Vermutlich war ich, laut Definition, längst einer. Ich machte mir eine halbherzige geistige Notiz, mich doch wieder ein klein wenig mehr meiner Disziplin zu bedienen.

Saufen schied also aus. Was dann? Über die Geschichte mit der Wohnung konnte ich mir jetzt keinen Kopf machen, wollte es auch nicht. Darüber würde ich mir zu gegebener Zeit Gedanken machen. Rea hatte mir das eingebrockt, sollte sie mir gefälligst auch erklären, was jetzt zu tun war. Vielleicht sollte ich ihr doch einfach erzählen, was mich beschäftigte. Immerhin, sie war Psychologin. Wer, wenn nicht sie sollte mit meinen vagen Ahnungen etwas anzufangen wissen? Was hinderte mich überhaupt daran?

„Ich könnte waschen“ schoß es mir durch den Kopf. Eine höchst angenehme Tätigkeit. Man tat nicht wirklich etwas, konnte sich aber immer darauf berufen, ja nur zu warten, bis die Maschine fertig ist. Mit Vorwäsche und Trocknen würde mir das an die 3 Stunden einbringen, die ich als sinnvoll genutzt abhaken konnte.

Erstmal duschen, das sind auch schon wieder 20 Minuten. Es wurden dann doch nur 15 Minuten, besser als gar nichts.

Slip oder Shorts? Ich griff nach einem Slip. Tchibo, blau-schwarz gestreift. Schwarze Socken, ein schwarzes T-Shirt, schwarze Trainingshose von adidas. Noch mein ebenfalls schwarzes Flanellhemd drüber und ich konnte mich daran machen, Wäsche zu sortieren. Auf dem Weg in den Waschraum begegnete mir Nachbarin Sabine. Krankheitsbedingt Frührentnerin war sie die, allerdings durch und durch sympathische, Informationsquelle Nummer Eins im Haus. Ein kurzer Plausch über unsere gemeinsamen Nachbarn und deren lautes Feiern am vergangenen Samstag. Ich hatte es natürlich auch gehört, stellte mich aber unwissend und genoß Sabines bildreiche, erstaunlich zutreffende Beschreibung der Party.

Zurück in meiner Wohnung. Was jetzt? Ich schaute mich um, ein bißchen aufräumen? Ja, das war eine Möglichkeit. Also machte ich mich ans Wohnzimmer. Viel zu tun war nicht. Ich staubte Bücherregale und den unvermeidlichen, sich in jeder Wohnung ansammelnden Nippes ab.

Nach einer halben Stunde war im Wohnzimmer beim besten Willen nichts mehr zu. So beschloß ich, den PC einzuschalten. Wenn schon nichts anders zu tun war, im Internet gab es immer etwas zu entdecken.

Die Mailbox gab nur Spam her. Einer Laune folgend, tippte ich www.gayromeo.com ein. Meine Lieblings-Haß-Seite. Auf kaum einer anderen Seite im Netz ließ sich so gut Zeit totschlagen, wie dort. Allerdings auch kaum woanders derart sinnlos. Die Seite besaß erhebliches Suchtpotential und ich hatte es vor etwa einem Dreivierteljahr geschafft, mein Profil dort zu löschen. Jetzt war mir aber wieder danach, also klickte ich auf „Jetzt kostenlos anmelden“.

Gewünschter Profilname: Astardis

Bitte wähle Dein Land: Deutschland

Bitte wähle Deine Stadt und Region: - Andere

Suchradius: Planet

Geburtstag: 16.02.1980 – Nein, ändern wir das in 1983

Größe: 181 cm

Gewicht: 76 kg

Body: Normal

Typ: Europäer

Augen: Grau

Köperbehaarung: Wenig behaart

Kopfhaare: Mittel

Haarfarbe: Schwarz

Bart: 3-Tage-Bart

Tattoos: Nein

Piercings: Nein

Raucher: Ja

Ich bin: Gay

Beziehung: Ich bin Single und suche im Alter von: Egal bis: Egal

Für: Sexdate, Freunde, Beziehung – Nein, streichen wir Beziehung, das zieht grundsätzlich die falschen Leute an.

Headline für die Suchmaschine: „Confutatis maledictis, flammis acribus addictis: Voca me cum benedictis“ Latein zieht immer und einfacher gestrickte Gemüter, die bei GR den Löwenanteil stellen, lassen sich davon beeindrucken.

Profiltext:

„1. Zutritt nur für Männer. Für Edelschwuppen gilt: Gehen Sie woanders hin! Begeben Sie sich direkt dort hin! Kommen Sie nicht in meinem Bett, trinken Sie keinen Prosecco!

2. Das Wort ‚Junx’ existiert nicht. So wenig wie das Wort ‚Greetz’, übrigens. Und wo ich schon dabei bin: Wer sich mit 40 noch als ‚Boy’ bezeichnet, ist gestört – er möge mir bitte fernbleiben! Und nebenbei: Es gibt einen essentiellen Unterschied zwischen ‚das’ und ‚daß’. Wer ihn nicht kennt, ist in einer Schule besser aufgehoben als in meinem Bett.

3. Gekreische, egal aus welchem Grund, ist unmännlich und fällt unter Punkt 1.

4. Jammert mir nichts vor, ich habe CDU gewählt! Nur, weil sie das – vergleichsweise alberne – Thema der Homo-Ehe angestoßen haben, sind die Grünen längst noch nicht zwingend die Partei „unserer“ Wahl. Politik hat sich um mehr zu kümmern, als nur das schöne schwule Leben.

5. Wer hier landen möchte, sollte über wenigstens eine der folgenden Personen mehr als einen Satz sagen können: Charles Dickens, Carl Philipp Emanuel Bach, András Schiff, Peter Scholl-Latour, Jean-Jacques Rousseau, Patricia Cornwell, Thomas Hobbes, Leopold Mozart – Nein, der ist zu einfach. Ach, was soll’s...

6. Benedikt XIV. und Dr. Helmut Kohl sind weitsichtige, kluge Männer. Ohne derartige aufrecht-konservative „Bremser“ wären wir alle längst im Chaos versunken.“

Das war zwar, grob umrissen, tatsächlich meine Meinung, aber wirklich interessiert war ich an Usern, die sich meldeten, obwohl sie eines oder mehrere Ausschlußkriterien erfüllten. Oder aber an solchen, die sich auf den Schlips getreten fühlten. Der Unterhaltungswert solcher Kleingeister wird für gewöhnlich unterschätzt.

Allgemeine Rolle beim Sex: Top & Bottom

Safer Sex: Immer – ICH hatte gestern Safer Sex und wollte Timon ja sogar noch warnen. Wer dann trotzdem schluckt, ist selbst schuld.

Ficken: Aktiv und Passiv

SM: Nein

FF: Nein

Dirty: Nein

Schwanzgröße: M, uncut

Fetischvorlieben: Anzug, Jeans, Unterwäsche, Lycra, Handwerker

Zusätzlicher Pornotext: ---

Ausgehen: Eher häuslich

Ordnung: Eher Chaot

Planung: Exakte Mitte zwischen spontan und bedächtig

Unterhalten: Eher schüchtern

Beruf: Keine Angaben

Religion: Katholik

Lieblingsessen: Italienisch, selbst gekocht

Musik: Klassik, Pop, R&B, Rock, Schlager

Sport: Nein

Reisen: Städtereisen, Individual

Ausgehen: Kino, Theater, Konzerte, Ausstellungen, Bars und Kneipen

Interessen: Literatur, Kunst, Computerspiele, Gesellschaftsspiele, Politik, Kochen, Musik, Tiere und Natur

Ich erklärte mich noch mit den AGBs einverstanden und wollte das ganze schon abschicken, als ich kurzentschlossen doch wieder 1980 eintrug und ein Häkchen bei Beziehung machte. Man konnte ja nie wissen. Außerdem waren mir Lügen zuwider und ich hätte mir das falsche Jahr ohnehin nicht merken können. Als nächstes durfte ich Bilder hochladen.

Ich am See, eine gelungene Ganzkörperaufnahme. Ich auf dem Stuttgarter Fernsehturm. Mein Lieblingsbild, ich mit nacktem Oberkörper am Flügel sitzend, brennende Zigarette in der Hand, Blick in die Kamera. Meine Augen kommen hervorragend zur Geltung. Noch ein paar Bilder mehr, je mehr, desto besser. Ein paar freizügigere Bilder waren zwar vorhanden – Bechstein baut sehr stabil, man kann auf den Flügeln mehr als nur Musik machen – ich verzichtete aber darauf. Es war nicht auszuschließen, daß mich doch mal jemand erkannte. Und wenn gerade Saure-Gurken-Zeit war, mochten derartige Bilder von mir für gewisse Blätter durchaus von Interesse sein. „Das geheime Sexleben des unglücklichen Klassik-Stars – exklusiv bei BILD“ – Nein!

Die Bilder wurden hochgeladen und ich bekam auch schon die ersten Nachrichten. Das würde jetzt, so wußte ich aus Erfahrung, eine ganze Zeit so gehen. Frischfleisch war gekommen, öffentlichkeitswirksam mit Bild auf der GR-Startseite angezeigt. Nach ein paar Tagen schaute einen erfahrungsgemäß kaum noch einer mit dem Allerwertesten an, aber die Neuen waren immer einen Blick wert. Schöne schwule Welt. Ich änderte meinen Such-Status von „Chat“ auf „Sex“. Das entsprach zwar nicht der Wahrheit, zog aber zusätzliche Besucher an.

Ich bekam Lust auf Kaffee. Als ich wieder am PC saß, hatte ich bereits 20 Nachrichten und über 50 Profilaufrufe. Dankenswerter Weise zeigte einem GR, wer ein Profil aufgerufen hat.

Der Großteil der Nachrichten bestand aus Dingen wie „Hi“, gar nicht selten auch zu „Hy“ vergewaltigt, „Geile Bilder“, „Woher?“ und dergleichen mehr. Solche Nachrichten hatte ich schon früher nicht beantwortet und ich tat es auch diesmal nicht. Trotzdem warf ich aus Neugier einen kurzen Blick auf die jeweiligen Profile. Nichts Aufregendes dabei. Na bitte, da kamen schon die ersten unverlangt mitgeschickten Bilder. Es war üblicherweise eine sichere Wette, hierbei von Schwanzbildern auszugehen. Ich wurde nicht enttäuscht. Ein gar nicht unansehnliches Exemplar von einem Schwanz war da zu sehen. Aus Neugier rief ich das Profil des Benutzers auf und durfte feststellen, daß es da zwar jede Menge Bilder seines besten Stücks gab, aber kein einziges von seinem Gesicht. Das rief nun doch nach eine Antwort meinerseits: „Wie ein Schwanz aussieht, weiß ich. Mich interessiert Dein Gesicht.“ Die Antwort kam postwendend: „Davon habe ich gerade kein Bild da. Das siehst Du ja dann live.“ – Der Nächste, bitte!

Da kamen sie, die ersten „Noch da?“ oder „Kein Interesse?“ oder „Meld Dich doch mal“ von denen, deren Nachrichten ich vorhin schon gelesen und nicht beantwortet hatte. Dieses Spiel würde jetzt eine ganze Zeit so weiter gehen, früher oder später – eher früher – würde einer von denen anfangen, unhöflich zu werden ob der ausbleibenden Antwort. Wie schön, es war alles noch wie früher. Warum hatte ich mich hier nur wieder angemeldet?

„Hai du siest geil aus ich glaube das wir gut Zusamenpasen lust mich zu Fiken“ Ein Profil mit Bild, immerhin. Eigentlich ein ganz nettes Gesicht, aber durch das Geschreibe hoffnungslos disqualifiziert.

Das Spiel ging munter weiter, ich langweilte mich bereits. Eine Unterhaltung kam nicht zustande, bestenfalls ein müdes Geplänkel, Zeitverschwendung in Perfektion. Einer Eingebung folgend, rief ich die Suchfunktion auf. Mal schauen, wer hier so alles aus der Stadt war. Beachtliche 48 User hatten sich hier eingetragen, es waren sicher noch mehr, der besseren Auffindbarkeit wegen mit Stuttgart als angegebenem Wohnort.

Ich klickte durch die Profile, einige kannte ich, andere schieden aus diesem oder jenem Grund aus. Diejenigen ohne Bild ignorierte ich weitgehend. Beim Überfliegen der Namen stieß ich auf einen User ‚Timon’, leider ohne Bild. Konnte das sein? Mein Interesse war geweckt. Die Profildaten mochten mit dem Kerlchen von gestern übereinstimmen, 28, 178 cm, 77 kg, braune Haare und grüne Augen! Bei gut 70000 Einwohnern war es zwar gut möglich, daß diese Beschreibung noch auf andere User zutraf, aber dennoch, die Chancen standen nicht schlecht. Ansonsten war das Profil wenig aussagekräftig, die meisten Angaben waren ja freiwillig und er schien keine große Lust gehabt zu haben, diese auszufüllen. Der Profiltext bestand aus der üblichen Floskel: „Ich weiß jetzt nicht, was ich hier schreiben soll. Wenn Ihr was wissen wollt, dann fragt einfach.“ – Gestern warst Du einfallsreicher!

Es war Mittagszeit, ich hatte Hunger und war nüchtern. Eine Kombination, die ich dieser Tag nicht allzu häuft erlebte. Ein Blick in den Kühlschrank ergab nichts. Dann eben Pizza. Während die Pizza im Ofen war, hatte ich Zeit, mich um die Wäsche zu kümmern. Trockner hin oder her, ich entschied mich für die altmodische Wäscheleine. Die Arbeit war schnell getan und ich ging zurück an meinen Computer. Die Nachrichten waren in meiner Abwesenheit weiterhin munter eingetrudelt und ich überflog sie kurz in der Übersicht. Nichts interessantes, weiterhin nur dummes Geschwätz, ab und zu wenigstens aus ganzen Sätzen bestehend. Noch ein Blick auf meine Profilaufrufe, da hatten sich schon wieder 3 Seiten angesammelt. Und ganz oben auf Seite 1 stand, daß ‚Timon’ mein Profil aufgerufen hatte. Da er ganz oben stand, mußte der Aufruf gerade eben erst stattgefunden haben mußte. Ob er mich wohl erkannt hatte? Ich löschte die Liste meiner Profilbesucher und klickte anschließend sein Profil an. Jetzt würde er gegebenenfalls sehen, daß ich ihn erneut besucht hatte.

Die Pizza fiel mir ein. Ich holte sie, aß am PC und klickte im 3-Sekunden-Takt auf meine Besucherliste. Da war er, erneut hatte er mich „besucht“. Ich wiederholte die Prozedur. Und wirklich, nach zwei Minuten stand sein Name wieder in der Liste. Anscheinend hatte er angebissen. Diese Kinderei wiederholten wir gut und gerne 10-mal. Auch dies war mir aus früheren Zeiten nicht unbekannt. Entweder, einer von beiden kam aus seiner Deckung und schrieb etwas, oder das ganze verlief im Sande. An Letzterem hatte ich kein Interesse und ich überlegte mir bereits, was ich ihm schreiben konnte, als mir eine vermeintlich brillante Idee kam. Wozu gab es denn bei GR die reichlich alberne Erfindung der Fußtappsen? Das waren kindische Bildchen mit allerlei verschiedenen Bildunterschriften, von „geile Sau“ über „ganz meine Wellenlänge“ bis hin zu „Kein Interesse!“. Und unter anderem gab es da auch eine Fußtappse, die „Einladung zum Kaffee!“ hieß. Ich kannte mich gut genug, um zu wissen, daß ich diese Idee binnen Sekunden als viel zu offensiv verwerfen würde, daher beeilte ich mich.

Die Sekunden waren vergangen, meine Vernunft hatte mich eingeholt. Wie konnte ich nur so blöd sein? Wie käme er wohl dazu, die Einladung anzunehmen? Wieso wollte ich ihn überhaupt einladen?

Mehr aus Neugier überprüfte ich weiterhin meine Besucherliste. Besucher en masse, aber kein ‚Timon’ weit und breit. Nach 10 Minuten immer noch nichts. Auch bei den Nachrichten nicht. Das konnte ich wohl abschreiben. Da auch sonst keinerlei interessante Kommunikation in Sicht war, wandte ich mich anderen Seiten zu. Es war an der Zeit, ein paar Korrespondenz-Schachzüge auszuführen. Zwei Partien konnte ich getrost aufgeben, in einer weiteren war mir der Sieg nicht zu nehmen, ich hatte inzwischen 3 Damen gegen den nackten gegnerischen König. Keine besonders angenehme Situation für mich. In derartigen Situationen neige ich gerne zu Überheblichkeit und ich habe schon mehr als einen Gegner durch meine eigene Unüberlegtheit patt gesetzt.

Nach ein paar Minuten waren alle Partien abgearbeitet und ich warf wieder einen Blick in das andere Fenster, in dem nach wie vor GR lief. Eine Nachricht von ‚Timon’! Er wollte mir wohl doch persönlich sagen, was das für eine Schnapsidee gewesen war. Ich zögerte, sie aufzurufen, rang mich aber dann doch dazu durch. „Wann? Wo?“ Oh! Was sollte das denn jetzt? Erst spielte er 30 Minuten lang toter Mann und dann das? „Vergiß es!“ wollte ich schreiben. „16 Uhr, Schiller“ schrieb ich.

Schwarze Jeans, das war klar. Und sonst? Blaues Hemd? Nein, zu förmlich. Rotes Hemd? Zu aggressiv. T-Shirt mit Longsleeve? Gerne, aber natürlich keins da. Mein weißer Lieblingspulli? Zu warm. Schwarzes Seidenhemd? Warum eigentlich nicht? Immerhin war es ja ein schwules Date. Oder wenigstens eine Verabredung.

Das vereinbarte Café lag in bequem zu Fuß erreichbarer Nähe und ich machte mich auf den Weg. Unterwegs holten mich dann doch meine Zweifel ein und ich überlegte ernsthaft, umzukehren. Das war doch alles zu lächerlich. Ich wollte mit einer zufälligen Sex-Bekanntschaft vom Vortag einen Kaffee trinken. Ob er überhaupt kommen würde? Und würde er überhaupt „er“ sein? Ich hatte ja kein Bild gesehen. Wahrscheinlich war das ohnehin nur Verarschung, ich würde sicher alleine dasitzen. Mit solchen Gedanken beschäftigt kam ich am Café an. Ein prüfender Blick auf die Uhr, noch fast 10 Minuten bis zur vereinbarten Zeit.

Sollte ich draußen warten? Er würde wohl kaum schon da sein, falls er überhaupt vorhatte, zu erscheinen. Ich entschied mich für die Variante, wenigstens drin vergeblich zu warten, wenn es denn schon sein mußte. Im Café ließ ich meinen Blick schweifen. Es waren nur wenige Tische besetzt, das Café hatte wohl auch mit der sinkenden Konsumlust der Bürger zu kämpfen. Ich entdeckte einen freien Tisch in einer ruhigen Ecke. Nein, zu früh gefreut. Da saß jemand. Und dieser Jemand hieß Timon. Er war tatsächlich gekommen. Er hatte mich entdeckt und winkte mich zu sich. Nein, eigentlich winkte er mehr so wie jemand, der prüfen möchte, ob man noch lebt. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Zum zweiten Mal in weniger als 24 Stunden stand ich vor dem Kerl und war unfähig, mich zu bewegen. Meine Gedanken in dem Moment kann ich nur noch bruchstückhaft wiedergeben. Etwas in der Art von „er ist tatsächlich da“ und „scheiße, sieht der gut aus“ und „was soll ich denn jetzt machen?“ wird es gewesen sein. Vermutlich von allem etwas.

Als ich weiterhin keine Anstalten machte, mich zu bewegen, stand er schließlich auf und kam zu mir. „Sauna im Stehen ist ja meinetwegen noch in Ordnung, aber wenn wir zusammen Kaffee trinken wollen, würde ich das wirklich lieber im Sitzen tun. Kommst Du? Hi erstmal.“ Er ging zurück zum Tisch. Allmählich drangen seine Worte zu mir durch und ich war wieder bei mir. Allzu lange konnte die ganze Situation auch nicht gedauert haben, jedenfalls bemerkte ich noch keine konsternierten Blicke der anderen Cafébesucher. Ich beeilte mich, an den Tisch zu kommen. „Hi“ schaffte ich irgendwie, zu sagen. Sogar ein Lächeln gelang mir.

„Nochmals hi.“ Er strahlte schon wieder. „Schön, daß Du es doch noch geschafft hast. Für die letzten 20 Meter hatte ich Bedenken.“ Falls sich meine Gesichtsfarbe zwischenzeitlich in Richtung normal bewegt hatte, war sie jetzt wieder bei tiefrot angelangt. Diese Situation wurde langsam wirklich peinlich. „Reiß Dich zusammen!“, hämmerte es in meinem Kopf.

„Äh, ja. Mir sind da gerade ein paar Dinge durch den Kopf gegangen, tut mir Leid. War es schlimm?“ – Für ihn bestimmt nicht.

„Nein, wieso denn? Was für Dinge?“ Er lächelte mich unentwegt an, was ihm verdammt gut stand. Vermutlich war es dieses verführerische Lächeln, das mich zu der nächsten Antwort verleitete.

„Daß Du tatsächlich gekommen bist. Wie geil Du aussiehst. Was ich hier mache. Ich weiß nicht so genau.“ Was genau ist die Steigerung von tiefrot? Vielleicht sollte man doch einfach mal ab und zu früher aufhören, zu reden.

„Danke.“ Intensiveres Lächeln. „Warum hätte ich nicht kommen sollen? Immerhin hast Du mich eingeladen. Machst Du das öfter, wildfremde Männer einladen?“

„Was heißt hier wildfremd? Du hast mein Sperma geschluckt.“ – Ich könnte mir auch einfach die Zunge abschneiden.

Stand er auf? Ging er? Nein, er lachte. Lauthals. „Ich muß mal aufs Klo, entschuldige.“ Mußte ich nicht, aber vielleicht gab es ja einen gnädigen Gott und er würde mich dort sterben lassen. Es gab ihn nicht, zumindest ließ er mich nicht sterben. Was sollte ich also tun? Es blieb mir wohl nichts anderes übrig, ich mußte wieder zurück.

Ein Blick in den Spiegel, zumindest war ich nicht mehr rot im Gesicht. „Kopf hoch, Brust raus!“

Er saß nach wie vor am Tisch, trank seelenruhig Milchkaffee. Für mich stand auch eine Tasse da, er hatte wohl für mich mitbestellt. Nicht unbedingt meine Lieblingsvariante von Kaffee. Er entdeckte mich und sofort fingen seine Mundwinkel an, zu zucken. Er schien sich prächtig zu amüsieren. Ich setzte mich wortlos und bemühte mich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Es beeindruckte ihn nicht wirklich, vielmehr hatte er augenscheinlich große Mühe, nicht wieder in Gelächter auszubrechen. Das mußte ich nun nicht wirklich haben, ein Gefühl von Trotz begann, meine Verlegenheit zu verdrängen.

„Vielleicht war dieses Treffen keine so tolle Idee, ich denke, wir sollten das besser abblasen. Du bist eingeladen, ciao.“ Ich hatte es tatsächlich geschafft, in ganzen Sätzen zu sprechen. Zusammenhängend, ohne mich dabei zu blamieren. Zumindest würde mein Abgang also halbwegs würdevoll verlaufen.

„Nein, bitte!“ Er hatte sichtlich immer noch Mühe, ernst zu bleiben. Seine Augen suchten meine. Es war deutlich zu erkennen, wie komisch er das alle fand, aber ich konnte auch sehen, daß da kein Spott war. Er fand es auf eine ganz harmlose Art lustig. „Ich möchte noch nicht gehen. Ich sag Dir was:“ Er stand auf. „Streichen wir einfach die letzten 5 Minuten und fangen noch mal von vorne an.“ Er streckte mir seine Hand entgegen. „Ich freu mich, Dich wieder zu sehen.“

So viel zu meinem Trotz. Die Hand, die Augen, der Blick. Ich stand auf, nahm die Hand. Meine Augen suchten seine, unsere Blicke fanden sich. „Gleichfalls. Und danke.“ Bis zum ‚Gleichfalls’ war es ein fast ernster Moment gewesen, das ‚und danke’ verwandelte ihn wiederum in pure Komik. An der wir allerdings nun beide Gefallen finden konnten, ich nicht weniger als er. Erst später an jenem Abend realisierte ich, wie gut mir das Lachen getan hatte. Beide bemerkten wir gleichzeitig, daß mittlerweile doch mehr als nur ein Gast beobachtete, wie wir da standen und lachten. Es war wohl besser, sich zu setzen.

„Sag mal, wie heißt Du eigentlich?“

„Gregor.“

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