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Schatten der Vergangenheit

Teil 1

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Informationen

 

Tom hatte keine gute Zeit gehabt. Vor etwa vier Wochen war er beim Überqueren eines Zebrastreifens von einem PKW erfasst worden. Der Wagen war daraufhin einfach weiter gefahren und hatte Tom seinem Schicksal überlassen. Passanten hatten einen Rettungswagen gerufen, so dass er in ein Krankenhaus gebracht wurde.

Es hatte Toms Schienbeinkopf getroffen, ebenso drei Mittelfußknochen. Nach wenigen Tagen Klinikaufenthalt wurde er mit einem großen Oberschenkelgips aus schwarzem Fiberglas nach Hause entlassen. Und hier sitzt er nun, auf der Couch, den Gips auf einem Kissen hochgelegt und langweilt sich fürchterlich. Da kommt die Nachricht seiner Freundin Merle gerade recht.

„Hey, schnapp dir deine Krücken, wir gehen etwas trinken.“

Merle und Tom hatten sich in der Ausbildung kennen gelernt und sie hatten sich direkt bestens verstanden. Rein platonisch, da Tom ausschließlich Männer mag.

„Ach Merle, mit diesem großen Gips gehe ich nirgendwo hin. Ich fühle mich so unattraktiv mit dem Teil.“

„Schnickschnack, ich bin in 15 Minuten bei dir, du weißt, dass du mir nicht entkommst. Du bist ohnehin nicht schnell genug gerade.“

„Haha, ok, du hast gewonnen“, erwidert Tom, hebt seinen Gips vom Kissen und begibt sich in sein Bad um sich etwas ausgehfein zu machen.

Nach den angekündigten 15 Minuten ist Merle bereits da und klingelt. In Windeseile erreicht sie die Wohnung im ersten Stock und nimmt Tom fest in den Arm.

„Hey, nicht so stürmisch, ich bin nicht so standfest im Moment, aber ich freu mich auch dich zu sehen.“

„Siehst du, es war natürlich eine gute Idee dich abzuholen. Können wir los? Ich hab uns einen Tisch bestellt im Bistro am See, damit du und dein Gipsbein es bequem haben“, sprudelt es aus Merle heraus, die wie immer vor Aktivität strahlt.

„Du hast jetzt die ehrenvolle Aufgabe, mir die Socke über die Gipszehen zu ziehen. Ich komme da sehr schwer ran. Also los.“

Mit einem Zwinkern wedelt er mit einer schwarzen Socke vor ihrer Nase.

„Das mache ich doch glatt für dich.“

Als hätte sie es schon zig Mal für Tom gemacht, zieht Merle ihm die Socke sehr gekonnt über seine Zehen.

„So, nun aber los, ich habe Hunger und Durst. Brauchst du noch etwas außer deine Krücken?“

„Nein, ich bin bereit“, entgegnet Tom und sie treten beide in den Hausflur. Tom schließt ab und reicht Merle eine Krücke. „Kannst du die bitte nehmen auf der Treppe? Es geht deutlich besser mit einer Hand am Geländer.“

Merle hat direkt vor der Tür geparkt, so dass Tom nicht weit laufen muss mit den Krücken. Nach kurzer Justierung des Beifahrersitzes, ist das Gipsbein im Auto und es geht los.

„Nicht wieder so rasen, ich bin schon lädiert genug“, mahnt Tom scherzhaft.

Merle quittiert das lediglich mit einem lauten Lachen und fügt hinzu, dass sie eben eine sportliche Fahrerin sei.

Kurze Zeit später treffen die beiden im Bistro am Ufer des Stausees ein, von dessen Terrasse man den halben See und bis hin zur Sperrmauer sehen kann. Tom war nicht weiter verwundert, dass Merle einen Tisch mit Seeblick reserviert hat. Er nimmt als erster Platz und Merle schiebt ihm einen Stuhl unter das Gipsbein. In der Position ist es am angenehmsten und er entspannt sich sofort wieder, von der kurzen Strecke auf Krücken.

„Perfekt positioniert. Dankeschön.“

Das Wetter ist herrlich und durch die kurze Hose fällt sein riesiges Gipsbein allen anderen Gästen im Lokal natürlich sofort auf. Er wackelt etwas mit seinen Zehen im Gips, um es sich auch in seinem Kokon etwas gemütlicher zu machen.

Nach einem kurzem Blick in die Speisekarte ist die Wahl schnell getroffen und Essen und Getränke sind bestellt. Beide haben ordentlich Appetit und da Tom nicht fahren muss, gönnt er sich einen Cocktail.

Beim Espresso nach dem Essen fällt Toms Blick auf einen jungen Mann ein paar Tische weiter, der sein Interesse weckt. Immer wieder schaut er hin, bis sich schließlich die Blicke der beiden treffen. Ein Lächeln entsteht auf beiden Gesichtern. Merle entgeht dies natürlich nicht.

„Hast du eine Eroberung gemacht?“

„Ja genau!“, erwidert Tom und rollt die Augen.

Ein ums andere Mal kreuzen sich ihre Blicke, bis schließlich der Begleiter des Unbekannten seinerseits in Richtung Merle schaut.

„Du scheinst auch eine Eroberung zu tätigen meine Liebe“, kontert Tom grinsend.

Als der attraktive Unbekannte schließlich aufsteht, bleibt Tom das Herz stehen. Sollte er zu viel geflirtet haben? Wird er herüber kommen und ihn ansprechen? Sein Mund wird plötzlich trocken und seine Hände feucht. Jedoch biegt der junge Mann zu seiner Enttäuschung ab und geht auf die Toilette.

Auf dem Rückweg jedoch entdeckt der Unbekannte Toms großen Gips auf dem Stuhl und nähert sich tatsächlich. Anscheinend hatte er den Gips zuvor noch gar nicht gesehen, so erstaunt wie er gerade schaut.

„Na das durchkreuzt jetzt ziemlich meinen Plan“, sagt der Unbekannte zu Tom während er auf das Gipsbein zeigt.

Tom schaut etwas verwirrt. „Welchen Plan hattest du denn?“

„Erstmal wollte ich mich vorstellen. Ich bin Chris. Und mein Freund Marco und ich wollten euch gern an unseren Tisch bitten, da unser Blickkontakt ja schon eine ganze Zeit andauert. Aber wie ich nun feststelle, bist du gar nicht gut zu Fuß.“

Merle schaut etwas irritiert.

„Seid ihr ein Paar?“

„Merle!!“, unterbricht Tom. „Du bist wieder so indiskret! Ich muss mich für meine Freundin entschuldigen.“

„Da gibt es nichts zu entschuldigen. Es ist ja eine berechtigte Frage. Und meine Begleitung hat definitiv kein Interesse an mir. Wenn das weiterhilft?“

Obwohl er eigentlich mit Merle gesprochen hatte, zwinkert Chris eindeutig zu Tom hinüber, der seinerseits mit einem schüchternen Lächeln und leicht geröteten Wangen nicht ganz freiwillig reagiert.

„Siehst du Tom, sei nicht so spießig.“

„Chris, ich bin tatsächlich nicht so mobil, aber an unserem Tisch ist auch Platz genug. Warum kommt ihr nicht zu uns?“

„Danke für die Einladung, die nehmen wir gern an. Ich gehe kurz zu Marco. Bis gleich dann.“

„Merle sag nicht nochmal vor anderen, dass ich spießig bin, das ist ja oberpeinlich!“

„Ohhhh, da ist jemand interessiert. So reagierst du nur wenn dir ein Mann gefällt.“

„Du redest immer einen Blödsinn Merle, ehrlich.“

Kurz darauf erscheinen die beiden schon wieder.

„Da sind wir, ich hab uns ja schon vorgestellt, jetzt auch noch mal live, mein Freund Marco.“

„Marco, hier ist noch ein freier Stuhl für dich“, klärt Merle direkt die Sitzordnung, denn sie hatte ihrerseits ein Auge auf den anderen Unbekannten geworfen.

Chris blickt zu Tom. „Warte, ich nehme den Gips runter, dann ist Platz für dich.“ Tom hebt etwas mühevoll den Gips von dem Stuhl und stellt ihn am Boden ab. „So, jetzt kannst du dich hinsetzen.“

„Ist das wirklich okay für dich mit dem Bein? Sonst hole ich noch einen Stuhl.“

„Red keinen Blödsinn, alle Plätze sind belegt, auch euer Tisch ist schon wieder besetzt.“

„Du hast recht. Ok, dann gern direkt neben dir. Was ist denn eigentlich passiert, dass du so verpackt werden musstest?“

„Ich bin vor vier Wochen auf einem Zebrastreifen angefahren worden. Fahrerflucht. Und jetzt hab ich dieses Teil hier. Zertrümmerter Schienbeinkopf und drei Mittelfußknochen gebrochen.“

Vor Entsetzen hält sich Chris die Hand vor den Mund. Er kann es gar nicht fassen, dass so etwas passieren konnte.

„Sowas macht mich echt wütend Tom. Wie kann man da wegfahren? Und das man das nicht merkt ist wohl eher unrealistisch.“

„Chris lass uns bitte von etwas erfreulicherem reden. Was machst du beruflich?“

„Das glaubst du jetzt ohnehin nicht Tom. Ich habe einen Pflegedienst.“ Chris kann sich ein Lachen nicht verkneifen.

„Haha, das passt ja perfekt.“

Beide blicken sich verträumt in die Augen und es entsteht eine Pause, die ihnen gar nicht peinlich vorkommt, sondern irgendwie ganz vertraut und natürlich.

„Nicht das du denkst, ich bin hier auf Patientenakquise. Für das Protokoll: Ich hab dich gesehen bevor ich den Gips entdeckt habe.“

Mit gespielter Empörung stemmt er seine Handrücken in die Hüfte.

„Und womit verdienst du dein Geld Tom?“

„Mit Geld, ich bin Bankkaufmann.“

Tom verzieht kurz schmerzverzerrt das Gesicht und greift an den Gips, was Chris natürlich nicht entgeht.

„Ich sag ja, es ist nicht gut wenn der Gips so runter hängt. Du kannst ihn sehr gerne auf meinen Schoß legen.“

Tom wehrt das Angebot ab. Es ist im sichtlich unangenehm, dass er dem neuen Menschen in seinem Leben zur Last fallen könnte. Irgendwie scheint dieser Mann interessant zu sein und er möchte keinesfalls irgendetwas versauen bei diesem ersten Treffen, denn schon jetzt erhofft er sich ein kleines bisschen mehr.

„Chris, der ist echt schwer. Ich möchte dir nicht weh tun.“

„Ach quatsch, ich halte schon etwas aus. Komm, leg den Gips hoch.“

Widerwillig folgt er den Anweisungen und legt sein Gipsbein bei Chris auf dem Schoß ab.

„Besser so Tom?“

„Oh ja. deutlich! Danke schön.“

Merle und Marco bekommen gar nichts mehr mit, sind sie doch selbst in einem eigenen Gespräch vertieft. Ohne es wirklich zu realisieren, greift Chris nach den Zehen, die aus dem Gips heraus schauen und beginnt diese zu massieren.

„Das machst du richtig gut. Danke.“

Erst jetzt bemerkt Chris was er getan hat. Die Röte schießt ihm in den Kopf und er lässt die Zehen sofort los.

„Oh, sorry. Das war ein Reflex. Ich hoffe es tut dir nicht weh?“

„Das hätte ich dann schon gesagt. Mach gern weiter. Das tut echt gut.“

„Seit vier Wochen hast du jetzt schon diesen Gips?“

Tom kann die Frage nicht so ganz einschätzen. Ist sie professioneller Natur, weil Chris einen Pflegedienst hat? Oder ist es einfach nur Mitleid?

„Na die ersten Tage eine Schiene. Zur Entlassung aus der Klinik bekam ich dann diesen. Seitdem sitze ich so rum und warte auf Heilung.“

„Na heute Abend sitzt du ja schonmal genau richtig würde ich sagen.“

„Na an die Massage könnte ich mich jedenfalls gewöhnen. Gehört das in deinem Pflegedienst zum Standard, fremden Männern die Zehen zu massieren?“

Mit einem breiten Grinsen versucht er, ihn aus der Reserve zu locken.

„Nur wenn sie mir so positiv auffallen und sie dann ihren Gipsfuß vom Stuhl nehmen, um mir Platz zu machen. Also sehr unwahrscheinlich dass das passiert.“

„Oh, da hab ich ja ziemlich Glück gehabt.“

„Sag mal, ist das nicht ziemlich warm in dem Gips? Gerade bei dem Wetter?“

„Mein Fuß friert ganz sicher nicht, soviel ist klar.“

„Aber dann frage ich mich, warum du diese dicke Socke trägst. Darf ich mal?“

Chris wartet die Antwort gar nicht ab, sondern zieht geschickt die Socke von den Gipszehen, blickt neugierig in ein halb irritiertes und halb lächelndes Gesicht. Aber das Lächeln gewinnt bei Tom schnell die Oberhand, jetzt wo ein kühlender Luftzug seine Zehen umspielt.

„Also es ist schon angenehmer so, aber meine Zehen so in der Öffentlichkeit zu zeigen hab ich bislang nicht gemacht.“

„Das solltest du aber. Die sind schon sehenswert, wenn ich so direkt sein darf.“

„Darfst du, aber es ist schon ungewohnt. Du möchtest sicher jetzt auch weiter massieren?“

Natürlich fragt Tom nicht ohne Hintergedanken. Einerseits findet er das selbst ganz angenehm, andererseits ist ihm die Beule in Chris´ Hose nicht entgangen.

„Ich möchte schon. Aber ich denke dass nimmt dann kein gutes Ende.“

„Wenn ich die Beule in deiner Hose so sehe, dann fürchte ich das auch.“

„Als wenn es bei dir in der Hose entspannter wäre. Was machen wir denn nun mit dem Dilemma?“

„Ich wohne gar nicht weit entfernt. Ich bin allerdings mit Merle gekommen. Meine Fähigkeiten im Auto fahren sind gerade eingeschränkt wie du dir denken kannst.“

„Ich habe Marco abgeholt. Dann nehme ich dich mit. Und ich denke Marco hat auch eine Mitfahrgelegenheit. Die beiden bekommen ja gar nichts mehr mit.“

„Oh ja, da haben sich auch zwei gefunden.“

Etwas lauter und direkt an Merle gewandt, versucht er, die anderen beiden aus ihren Tagträumen zu holen.

„Hey ihr zwei, wir brechen auf. Ihr seid ja beschäftigt wie ich sehe.“

Merle schaut etwas erstaunt.

„Äh, ok. Das geht ja schnell bei euch. Aber dann habt noch einen schönen Abend, wir telefonieren.“

Chris lässt vorsichtig das Gipsbein auf den Boden und reicht Tom seine Krücken. Sie verlassen gemeinsam das Bistro und steuern auf Chris´ Auto zu. Auch hier wird der Beifahrersitz ganz nach hinten geschoben um Platz zu haben für den langen Beingips. Im Anschluss steigt Chris auf den Fahrersitz. Nachdem auch Chris eingestiegen war, schauen sich beide schweigend an. Tom spürt ein leichtes Kribbeln im Bauch und mustert genau die grünen Augen seines Sitznachbarn, wie sich die Sonne darin spiegelt. Er weiß nicht wie viel Zeit vergangen ist, aber irgendwann fällt ihm auf, dass Chris noch gar nicht losgefahren ist.

„Warum fährst du denn nicht los?“ Tom ist etwas irritiert und fährt sich verlegen mit der Hand durchs Haar.

„Na weil wir uns noch nicht so gut kennen, dass ich wüsste, wo du wohnst Tom. Ich bräuchte schon eine Adresse.“

„Oh, da hast du natürlich völlig recht.“

Chris öffnet das Verdeck seines Cabrios und sie fahren entlang der Uferstraße am Stausee entlang heim.

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