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Tempus Fugit
Teil 1
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Informationen
- Story: Tempus Fugit
- Autor: Björn
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Fantasy und Mystery
Vorwort
Auf der Grundlage des Rollenspiels Theatrum Mundi,
nach den Ideen von Björn O. Fehr und Andrea Langengger-Brückl.
Hallo,
die folgende Geschichte basiert auf einem von Andrea und mir entwickeltem Hintergrund für ein Rollenspiel. Einige Ideen wurden den Rollenspiel-Systemen von White Wolf (Vampire, Werwolf, Mage und Changeling) entnommen. Andrea und ich haben jedoch die Welt komplett neu erschaffen. Wer also Vampire kennt, wird sehr überrascht sein.
Eigentlich ist es nicht notwendig etwas über Rollenspiele zu wissen, um diese Geschichte zu lesen. Wer Interesse an weiteren Informationen hat, kann sich gerne an mich wenden.
Viel Spass beim Lesen
Euer Björn
Greg erwachte und fühlte sich steif. Seine Muskeln waren verspannt, sein Arm war eingeschlafen. Naithan lag darauf. Vorsichtig versuchte Greg seinen Arm zu befreien. Abrupt schlug Naithan die Augen auf.
Greg versuchte ein Lächeln. Naithan rollte sich zur Seite um Gregs Arm freizugeben, dann schloss er wieder die Augen. Beinahe schuldbewusst verlies Greg das Zimmer. Nur mit Shorts und einem großen Basketballshirt bekleidet, tappte er in die Küche.
Am Tisch saß Travis, eine Tasse Kaffee in beiden Händen, starrte er ins Leere. Er sah auf als Greg herein kam, nickte ihm müde zu und deutete fahrig auf die Kaffeemaschine. Greg nahm einen großen Becher vom Haken des Regals und goss sich Kaffee ein. Aus dem Kühlschrank nahm er Milch, setzte sich dann zu Travis an den Tisch. Die beiden sprachen nicht, starrten nur vor sich hin, bis es klopfte.
Sie sahen auf. An der Küchentür, die hinaus auf die Veranda führte, standen Tyler und Leon. Leon schien noch etwas verschlafen, Tyler hingegen war wach und munter. Travis öffnete ihnen die Tür.
»Morgen«, brummte Leon und stürzte sich, ohne ein weiteres Wort, auf die Kaffeemaschine.
»Wie geht es euch?«, fragte Tyler und ließ sich auf einen Stuhl am Küchentisch sinken.
»Mäßig!«, erwiderte Greg.
»Schläft Naithan noch?«
Greg nickte. »Er ist zwar kurz aufgewacht, als ich aufgestanden bin, hat sich dann aber umgedreht und weiter geschlafen!«
Leon nahm einen großen Schluck aus seiner Tasse und seufzte. Er lehnte sich gegen die Spüle. »Seid ihr jetzt…« Er sah Greg fragend an.
Greg zuckte mit den Schultern.
Travis winkte ab. »Lass mal!«
»Schon gut«, brummte Leon. »Ich dachte, ich frag mal!«
»Joel?« Tyler sah Greg fragend an.
»Er ist irgendwann heute Nacht wieder nach Hause gekommen. Ich denke, er wird schlafen!«
Travis nickte. »Ich habe ihn heute morgen in seinem Zimmer verschwinden sehen!«
»Du bist schon so lange wach?« Greg sah den Freund überrascht an.
»Konnte nicht schlafen«, gestand Travis. Er rieb sich die brennenden Augen.
»Haben Celeste und die anderen herausgefunden, wer dafür verantwortlich war?«, fragte Greg Tyler.
»Das ist doch wohl klar«, meinte Leon heftig. »Diese verdammten Technofreaks!«
Greg ignorierte den Einwurf und sah Tyler fragend an.
Dieser schüttelte den Kopf. »Ich habe Celeste nicht sprechen können. Sie war nicht da und Joshua wollte nichts sagen!«
»Was wollen sie unternehmen?«
»Keine Ahnung«, Tyler zuckte ratlos mit den Schulten. »Joshua wollte mir auch darüber nichts sagen. Er meinte, wir sollten uns da raus halten!«
»Blödsinn!«, widersprach Leon aufgebracht.
»Sie haben uns doch hergeschickt, damit wir ihnen aus dem Weg sind!«, warf Travis ruhig ein.
Leon streckte ihm die Zunge raus.
Greg nickte seinem ältesten Freund zu. »Ich weiß, aber was sollen wir machen? Ich will nicht untätig herumsitzen!«
»Ich wüsste schon, was ich tun würde, wenn ich könnte!«, meinte Leon überschwänglich.
Tyler trat zu ihm und nahm ihm die Kaffeetasse aus der Hand. »Du solltest nicht soviel Kaffee trinken, wenn du jetzt schon einen Flash bekommst!«
»Hey«, Leon wurde plötzlich sehr beweglich und versuchte dem Älteren die Tasse aus der Hand zu nehmen. Doch Tyler war kräftig und ein Stück größer als er. Stoisch stand er da und hielt die Tasse fest.
»Du bist gemein!«, beschwerte sich Leon. »Gib mir meinen Kaffee!«
»Tyler, gib ihm den Kaffee, sonst hört er nie auf zu schreien«, bat Naithan. Er lehnt müde in seinem dunkelblauen Schlafanzug im Türrahmen und rieb sich die Augen.
Greg erhob sich, unbewusst, ließ sich dann aber wieder auf den Stuhl sinken.
Naithan sah in die Runde, sein Blick blieb kurz an Greg hängen, dann gähnte er und schlurfte in seinen Hausschuhen zum Wasserkocher.
In den nächsten zwei Minuten beobachteten die Freunde Naithan dabei, wie er den Tee zubereitete. Als er fertig war, nahm Naithan die Kanne und eine Tasse, sowie Milch und einen Löffel, stellte alles auf ein Tablett und tappte damit zur Tür die ins Wohnzimmer führte. Er schob die Tür auf und verschwand dahinter.
Als die Freunde ihm folgten, fanden sie Naithan in einem schweren, großen Sessel sitzen, die Knie angezogen, in eine Decke gehüllte und eine Tasse Tee in der Hand. Er starrte aus der großen, bodentiefen Fensterfront hinaus auf die Stadt San Francisco, die in morgendlichen Nebel gehüllt war. Die Magier trauerten, wie alle anderen mystischen Bewohner der Stadt.
Die Freunde ließen sich auf das große Sofa sinken. Greg setzte sich zu Naithan auf die Armlehne des Sessels. Er schien einen Moment zu zögern, dann legte er den Arm um Naithan und drückte ihn an sich. Naithan sah auf – überrascht – dann blickte er Greg dankbar mit seinen braunen Augen an, lehnte sich an ihn.
»Gibt es was neues?«, fragte Naithan plötzlich.
Die Freunde sahen überrascht auf.
Tyler schüttelte den Kopf. »Celeste war nicht da und Joshua wollte nichts sagen!«
Naithan nickte. Er starrte aus dem Fenster. Langsam stieg die Sonne empor und vertrieb die Nebel aus der Stadt. Wie ein Gürtel war der Nebel, ein Band, das sich um die Stadt gelegt hatte. Ein mächtiger Schutzwall und trotzdem hatte es dieses Unglück nicht abgehalten. Sein Vater war tot! Ermordet von Unbekannten!
Naithans Augen brannten heiß, er hatte schon lange keine Tränen mehr übrig. Sein Körper wurde geschüttelt, doch Naithan konnte nicht weinen. Ein trockenes Schluchzen war alles.
Feste, kräftige Arme legten sich um ihn, zogen ihn in eine Umarmung. Beinahe automatisch schlang Naithan seine Arme um Greg und verbarg das Gesicht an der Brust seines Freundes.
Müde sah Greg hinab auf Naithan, dann wanderte sein Blick zu seinen Freunden. Hilflos wie sie waren, saßen sie auf dem Sofa, etwas verlegen.
*
Der Tag verlief ereignislos. Sie hingen herum. Hin und wieder fielen einem der Freunde vor Erschöpfung die Augen zu. Gegen drei Uhr stellte sich Tyler in die Küche, um etwas zu essen zu machen. Leon half ihm und hin und wieder konnte man leises Streiten hören, dass jedoch immer wieder rasch verstummte. Denn nichts war wie sonst.
Als die Sonne unterging, saßen die Freunde wieder im Wohnzimmer und sahen hinaus durch die großen Fenster, beobachteten die Sonne, wie sie immer tiefer wanderte und schließlich in der Bay versank. Sie saßen im Dunkeln, schweigend. Die Lichter gingen im Garten an, wie in ganz San Francisco.
Das Licht wurde angeschaltet, als Joel das Wohnzimmer betrat. Er sah aus wie immer, doch die Jungen erkannten, dass auch er trauerte. Seine Augen lagen noch tiefer als sonst. Seine Haare waren ungekämmt und sein sonst so federnder, leichter Gang war zögerlich.
Er sah schweigend in die Runde, trat dann zu Naithan.
Die beiden sahen sich an, umarmten einander.
Joel strich Naithan eine Strähne aus dem Gesicht, er versuchte zu lächeln. »Ich…«, er brach ab.
Naithan reichte ihm ein Taschentuch. Joel wischte sich die Tränen aus den Augen.
»Ich denke, wir sollten heute Nacht ein wenig rausgehen!«, meinte Joel. »Wir sollten nicht die ganze Zeit hier verbringen!« Er gab Naithan das Taschentuch zurück.
Dieser schluckte. »Okay, Dad!« Er betrachtete die roten Tränenspuren, wünschte sich ebenfalls weinen zu können.
Joel erhob sich. »Kommt Jungs, gehen wir! Fragen wir Celeste, was es neues gibt!«
Die Freunde erhoben sich, folgten dem hageren, blassen Mann in den Hausflur.
Einen Moment lang wog Joel die Schlüssel schwer in der Hand, dann reichte er sie Greg. »Du fährst!«
Greg nickte zustimmend.
Sie gingen in die Garage. Greg fuhr den großen, schwarzen Jeep heraus. Joel stieg auf den Beifahrersitz, wie immer – er hatte nie fahren gelernt, gschweige denn einen Führerschein gemacht. Die anderen setzten sich nach hinten, Naithan zwischen Leon und Taylor. Durch das schwere Tor fuhren sie, das sich hinter ihnen automatisch schloss.
Greg fuhr hinab in die Innenstadt. Den Weg zum Haus seiner Familie hätte er im Schlaf gefunden.
Die Fahrt dauerte keine zwanzig Minuten.
Seit dem großen Beben hatte die Familie Thunderbird ihren Sitz in einem Hochhaus, an der 3rd Street, nahe Market, im Herzen von San Fransisco. Drei Wohnungen gab es pro Stockwerk, nicht jedoch in der obersten Etage, in welcher die Familie lebte. Die Architekten hatten den Wünschen der Thunderbirds Rechnung getragen und eine einzige große Wohnung mit vielen Zimmern entworfen, auch wenn die offiziellen Pläne anders aussahen.
Greg fand einen Parkplatz, ein Stück vom Haus entfernt. Sie stiegen aus. Das Licht der Strassenlaternen erhellte die Nacht, wie dutzende leuchtende Reklameschilder. San Francisco schlief nie.
Der Hauseingang war im Jugendstil gehalten, wie auch das ganze Haus. Celestes Einfluss machte sich hier bemerkbar.
Joel klingelte. Es dauerte nur einen Moment, dann öffnete sich die Tür mit einem Summen. Hintereinander traten sie ein. Der Aufzug brachte sie in den dreizehnten Stock.
Die Tür zur Wohnung öffnete sich, als sie den Aufzug verließen. Im Türrahmen stand Celeste. Man sah sofort, dass sie spanischer Abstammung war. Ihre Haare waren schwarz, die Augen braun und scharf. Sie trug einen schweren, schwarzen Rock und eine schwarze Bluse. Um ihren Hals hing eine dünne, goldene Kette mit einem Anhänger, ein schwerer, dunkelroter, geschliffener Stein.
Sie ließ ihre Gäste schweigend ein. Sie sah Joel voller Mitgefühl an, umarmte ihn fest, auch Naithan schloss sie in ihre Arme. Die anderen begrüßte sie mit einem freundlich, festen Händedruck.
Im Wohnzimmer, in welches sie ihre Gäste führte, saß auf dem Sofa, vor einem offenen Kaminfeuer, ein schlanker, sehniger Mann. Seine Haut war schwarzbraun, die Haare pechschwarz, gelockt, die Augen braun, fast schwarz. Er erhob sich mit einer katzenhaften Geschmeidigkeit.
»Joel, Naithan«, seine Stimme war weich und sanft, wie das Schnurren einer großen Katze.
Er bedeutete ihnen sich zu setzen. »Bitte!«
Celeste schloss die Tür.
Joel setzte sich in einen Sessel, der am weitesten vom Feuer entfernt war. Beinah unbewusst suchte Naithan die Nähe von Greg und ließ sich neben dem Freund auf dem Sofa nieder. Travis, Tyler und Leon fanden neben ihnen Platz.
»Es waren die Technokraten«, begann Celeste. »Wie wir es vermutet hatten!«
Joel nickte bedächtig.
»Dafür werden sie bezahlen, Joel!« Celeste stapfte unruhig vor dem Feuer auf und ab. »Sie werden den Tag verfluchen!« Sie sah von einem zum anderen. »Die Magier sind ebenso empört wie die anderen Familien! Selbst die freien Werwölfe haben Rache geschworen! Schon heute Nacht wird eine Gruppe zuschlagen!«
»Zuschlagen?«, fragte Travis die Anführerin seiner Familie.
Celeste nickte, die Lippen aufeinander gepresst. »Sie werden bezahlen!«
Joshua seufzte, sagte aber nichts.
»Wer war dafür verantwortlich?«, fragte Joel.
Celeste zuckte mit den Schultern, ratlos. »Das wissen wir noch nicht, aber auch das werden wir herausfinden!«
»Die Beerdigung ist morgen Abend?«, wechselte Joshua abrupt das Thema.
Joel nickte, eine rasche Folge von Emotionen huschte über sein Gesicht. Er sah Joshua schließlich ernst an.
»Wirst du…?«
»Natürlich!«, stimmte Joshua zu.
Joel nickte.
Naithan saß die ganze Zeit wie erstarrt. Er hielt sich eng an Greg, der den Arm um ihn gelegt hatte.
Eine ganze Weile saßen sie herum, ohne wirklich etwas zu sagen. Spät in der Nacht erhielt Celeste eine Nachricht. Die gemeinsame Aktion der Kinder des Feuers, mit den Magiern und den Werwölfen vom Golden Gate Caern war erfolgreich gewesen! Die Technokratie hatte ihre erste Niederlassungen in San José verloren.
*
Die Beerdigung von Zackery Torben Maguire war ein Ereignis, wie es die mystische Bevölkerung von San Francisco noch nicht erlebt hatte. Die sechs übrigen Mitglieder des Magierrates der Sieben waren mit ihren Familien, Freunden und Gefährten gekommen, ebenso wie die meisten der Werwölfe des Golden Gate Caern. Und selbstverständlich waren sämtliche Kinder des Feuers von San Franciscos erschienen, deren Bischof Zack gewesen war.
Doch von den ehemals vier Familien waren nur noch zwei intakt. Denn Tempus Fugit, Zacks alte Familie, hatte die meisten seiner Mitglieder verloren. Von der Familie Kinslayer hatte nur Kathrin Mason überlebt und Leon, der zur Zeit der Attacke bei seinen Freunden gewesen war.
Paul Abercromie und Thomas Crain standen mit Joel und Naithan in der ersten Reihe. Paul, der Anführer von Tempus Fugit, humpelte den Weg entlang, den linken Arm in einer Schlinge, über und über in Verbände gewickelt. Er hatte bei dem Versuch Zacks Leichnam zu retten schwere Verwundungen erlitten. Der ansonsten lebensfrohe und lustige Werwolf war seit dem Tod Zacks einsilbig und wortkarg. Finster stand er an Zackerys Grab, die rechte Hand zur Faust geballt.
Thomas hatte den Arm um Kathrin Mason gelegt. Seit dem schrecklichen Attentat vor einer Woche hatte er sich sehr um die letzte Überlebende der Kinslayer gekümmert. Thomas fühlte sich sonst hilflos. Er war geflohen, war weggeflogen um Hilfe zu holen, wie Paul es ihm aufgetragen hatte, doch es war zu spät gewesen. Als er mit Joshua Colani und Celeste de Alvo sowie einer Menge anderer Helfer am Tatort angekommen war, hatten sie nur Paul und Joel gefunden. In Joels Armen hatte Zackerys Leichnam gelegen.
Über einhundert Personen hatten sich eingefunden, um Zackery Torben Maguire, dem Bischof von San Francisco und Mitglied des Rates der Sieben das letzte Geleit zu geben. Die Sonne war untergegangen. Fackeln erleuchteten den Platz um den Scheiterhaufen herum. Zacks Leichnam lag auf einem Bett aus grünen Tannenzweigen, in weiße Tücher gehüllt.
Joshua Colani trat aus dem Schatten in den Lichtkreis. Er trug eine schlichte, dunkle Robe auf deren Vorder- und Rückenseite der Thunderbird gestickt war, das Wappen seiner Familie. Der Donnervogel schimmerte regenbogenfarben im Fackelschein. Tiefe Stille breitete sich aus, als Joshua zu sprechen begann.
»Zackery Torben Maguire war mein Bruder, mein Freund und mein Vater!«, sprach Joshua und seine Stimme war weithin zu hören, auch wenn er ruhig sprach.
»Wir sind heute hier zusammengekommen, um Abschied von ihm zu nehmen und seine Seele dem unendlichen Licht der Sterne zu empfehlen. Aber auch, um ihm zu danken, für das, was er uns war und für das, was er uns gelehrt hat!« Joshua trat zu dem Scheiterhaufen.
»Zackery war mein Freund und Lehrer. Als ich auf dem Dach des Hochhauses stand und die Monster mir keinen Ausweg ließen, erschien er und rettete mich!« Er trat zurück und nahm aus einem Tonkrug, der auf dem Boden vor dem Scheiterhaufen stand, eine Handvoll Staub und warf sie über den Leichnam.
Joel trat vor. »Zackery war mein Freund, mein Partner, mein Gefährte und meine große Liebe…«, er stockte und im Fackelschein konnte man Tränen sehen, blutrot liefen sie seine Wangen hinunter. »Als ich ihm enthüllte, was ich bin, da blieb er. Als er um meine Hand anhielt, war mein Leben vollkommen. Er hielt mein Leben in seiner Hand… ich hätte meines gegeben, wenn ich ihn damit hätte retten können!« Er schluchzte, griff den Staub aus dem Tontopf und warf eine Handvoll weinend über den in Tüchern gewickelten Leichnam.
Langsam und schleppend trat Naithan an den Scheiterhaufen. Er konnte nicht hinsehen, doch er zwang sich den Kopf zu heben. »Als ich alleine war, kamen meine Eltern, um mich aufzunehmen. Sie gaben mir ein Zuhause. Zack war mein Vater…«, Naithan schüttelte es in seinem schwarzen Anzug. »Er war immer da, hörte mir zu… konnte ich Nachts nicht schlafen, Pa war da…«, Naithan schien noch etwas sagen zu wollen, doch er stand nur da, stumm. Plötzlich wand er sich um, griff in den Tontopf und warf eine Handvoll Staub über den Leichnam. Joel trat zu ihm und nahm ihn in die Arme.
Einer nach dem anderen trat heran, sprach ein paar Worte und warf eine Handvoll Staub über den Leichnam. Jeder Anwesende trat vor und so dauerte die Zeremonie über zwei Stunden. Paul Abercromie, Celeste de Alvo, Thomas Crain…
Am Ende trat Joshua Colani erneut vor. »Geliebter Bruder, wir danken dir. Möge das Feuer der Erkenntnis dir leuchten auf deinem Weg!«
Damit verneigte sich Joshua Colani tief vor dem Scheiterhaufen und sprach die alten Worte, die seit den ersten Begräbnisfeiern der Kinder des Feuers gesprochen werden.
»Liebe ist Stärke! Ehre ist Stärke! Treue ist Stärke! Freiheit ist Stärke! Das Feuer verbrennt, das Feuer reinigt! Finde deinen Weg und sei unser Licht an dunklen Orten. Zackery Torben Maguire, dem Feuer übergeben wir deine Sterblichkeit, gebe du uns das Licht!«
Da schimmerte der Staub, den die Trauernden geworfen hatten, er leuchtete auf, schimmerte wie eine Myriade von Glühwürmchen. Dann schienen kleine Flammen über den Leichnam zu tanzen, die rasch größer wurden. Aus der Mitte des Scheiterhaufens brach eine gewaltige Flamme hervor, loderte empor zu den Sternen. Heiß brannte das Feuer, verschlang den Scheiterhaufen. Respektvoll wichen die anwesenden Trauergäste zurück. Leise begann Musik zu spielen, getragen und voller Trauer.
Über eine Stunde loderte der Scheiterhaufen des ehemaligen Bischofs von San Francisco, bis unter dem Gewicht die letzten Balken brachen. Mit einem Knall fiel der Scheiterhaufen in sich zusammen, brach in die Grube darunter. Doch auch hier brannte das Feuer weiter.
Eine dröhnende Fanfare ertönte und Joshua Colani trat vor. In seinen Händen hielt er einen Hirtenstab, das Zeichen der Bischofswürde, seit Jahrhunderten. Mit lautem Krachen barst das Holz als Joshua den Stab über seinem Knie brach. Dann warf er die beiden Bruchstücke in die Flammen.
Da loderte das Feuer einmal empor. Eine blendend weiße Flamme fuhr in die Nacht, hinauf zu den Sternen und ließ die Gäste geblendet die Augen schließen.
»Fahr wohl, Zack…«, murmelte Joel leise. Naithan drückte die Hand seines Vaters, dieser sah seinem Sohn in die Augen.
»Ich liebe dich, Naithan!«, murmelte Joel.
Naithan umarmte seinen Vater schweigend.
*
Eine Woche später war die Technokratie bereit alles zu glauben. Die Angriffe auf ihre Einheiten hatten sich vervielfacht. Die Analysten waren nicht einmal ansatzweise in der Lage vorherzusagen, wo die Gegner erneut zuschlagen würden. Scheinbar bestand das Ziel der Kinder des Feuers und ihrer Verbündeten darin, soviel Schaden wie möglich anzurichten. Die Verluste auf beiden Seiten waren die höchsten der letzten zwei Jahrhunderte.
Werwölfe, Magier und Familien der Kinder des Feuers aus San Francisco arbeiteten gemeinsam an der Zerstörung. Wenig kümmerten sie sich darum, ob sie entdeckt wurden, solange sie nur möglichst großen Schaden anrichteten.
Die Magier kümmerten sich nicht um die Nachwirkungen ihrer Magie. Sie transportierten die Truppen mittels Zauberei in die Zentren der jeweiligen Einrichtungen, schossen Feuerbälle ab, fluteten ganze Keller und jagten Blitzschläge in elektronische Systeme. Werwölfe, in ihrer schrecklichen Zwischenform von Mensch und Wolf, rissen mit ihren gewaltigen Kräften Mauern ein und vernichteten jeden, der sich ihnen in den Weg stellte. Vampire wüteten mit ihren mystischen Fähigkeiten hemmungslos. Sogar die meist zurückhaltenden Feen stürzten sich in das Gefecht.
Daniela Scarfino, eine Trollin der Familie Wings of Thunderbird, erlitt schreckliche Verbrennungen, als sie ein vierarmige Monstrosität der Technokratie überwältigte, das einen Flammenwerfer verwendete.
Michael Mendel, der Vorsitzende des Rates der Sieben, ein Kabbalist, konnte nur durch das rasche Eingreifen von Rachel Star, der Vampir-Priesterin der Familie Wings of Thunderbird, vor dem sicheren Tod gerettet werden. Doch der Magier ließ sich nicht von seinem Tun abhalten und rannte wieder zurück, um die letzten Zeichen seines Zaubers anzubringen, wodurch einige Minuten später ein elektrischer Schock durch sämtliche Leitungen des Gebäudes fuhr. Geräte explodierten daraufhin und ein Großteil der Computer des Rechenzentrums verschmorten.
Sally She-walks-on-water, eine Werwölfin aus der Familie Thunderbird, musste von Tim Wu, einem Schüler des Ratsmitglieds Zhing Han Wang, mit schweren Verletzungen und mehreren Knochenbrüchen aus einem einstürzenden Haus teleportiert werden.
Eine Gruppe von drei Werwölfen des Golden Gate Caern geriet in einen Kugelhagel, als sie in ein genetisches Versuchslabor eindrangen. Alle drei starben noch vor Ort.
Marcel Alonso Perrez, Abt und Tylers Pate in der Familie Wings of Thunderbird, starb durch die Hand eines Robotermenschen, einem MARK 13. Marcel wurde von dem Roboter brutal von rasiermesserscharfen Klingen durchbohrt, nachdem der Werwolf den vorausgegangenen Kugelhagel überlebt hatte. William Ramakov, der Anführer von Marcels Familie, konnte seinen Gefährten nicht mehr retten. Auch die eilig herbeigerufene Sarah Ivyngton, eine Hexe und Heilerin vom Rat der Magier, vermochte nichts mehr für den einst so lebensfrohen Mann zu tun, als seine Schmerzen zu lindern.
In den Wochen nach Zackerys Beerdigung ließ Greg seinen Freund Naithan nie allein. Und auch die anderen Freunde blieben im Haus von Naithan und Joel. Ihre Familien waren froh darüber, denn keiner wollte die jüngsten Mitglieder der Kinder des Feuers aus San Francisco der Gefahr aussetzen. Doch vor allem Leon beschwerte sich bitter darüber, dass alle anderen sie immer noch wie Novizen behandeln würden – er selbst war vor einem halben Jahr Vollmitglied der Kinder des Feuers geworden.
Doch Naithan zuliebe blieb Leon zurück. Kathrin Mason, die einzige Überlebende seiner Familie, der Kinslayer, konnte sich nicht um ihn kümmern, zu sehr war sie mit sich selbst beschäftigt. Leon vermisste die anderen Mitglieder seiner Familie sehr und war deshalb froh, bei seinen Freunden zu sein.
Ähnlich erging es den anderen. Sie alle hatten Verluste zu ertragen.
Als Tyler eines Abends von der Priesterin seiner Familie, Rachel Star, über den Tod seines Paten Marcel informiert wurde, weinte er offen und geriet schließlich in Raserei. Nur Joels rascher Reaktion war es zu verdanken, dass das Wohnzimmer nicht größeren Schaden nahm und nur eine Stehlampe zu Bruch ging. Der Vampir hielt Tyler mit seinen übermenschlichen Kräften fest umschlungen, bis sich der Aufruhr in dem über zwei Meter großen Wesen beruhigt hatte. Joel stand der Blutschweiß auf der Stirn, als Tyler endlich in seine menschliche Gestalt zurück glitt und weinend seinen Kopf an der Schulter des Älteren barg.
Mit starrem Gesicht und ungerührt saß Naithan in seinem Sessel und hatte die Szene beobachtet. Greg, der, wie immer in letzter Zeit, neben Naithan saß und seinen Arm um den Freund gelegt hatte, spürte jedoch, wie sich Naithan versteifte. Naithans sonst so sanfte, braune Augen hatten einen harten Ausdruck angenommen. Naithan sah von einem zum anderen, sah in die Gesichter von Menschen, die er ein Leben lang bereits kannte und hatte das Gefühl, völlige Fremde zu sehen. Ruckartig erhob er sich und verließ das Wohnzimmer. Die anderen starrten ihm verwundert nach.
Greg fand Naithan in seinem Zimmer. Naithan lag auf seinem Bett, starrte an die Decke, die Zack und Joel vor vielen Jahren einem Sternenhimmel gleich gestrichen hatten. Manchmal, wenn Naithan früher nicht hatte einschlafen können, hatte Zack die Sterne tanzen lassen. Dann waren Sternschnuppen herabgeregnet und der Gesang der Sterne hatte Naithan in den Schlaf gewogen.
Naithan sah nicht auf, als Greg eintrat und sich schließlich neben ihm auf das Bett setzte. Er starrte weiterhin an die Decke.
»Warum bist du hier, Greg?«, fragte Naithan unvermittelt.
»Wo sollte ich deiner Meinung nach sein?«
Naithan zuckte mit den Schultern. »Kein Ahnung! – Irgendwo… anders?!«
»Bin ich aber nicht!« Greg warf einen Blick auf Naithans Gesicht.
Naithan sah weiterhin zur Decke. »Greg?«
»Mmh, ja?«
»Darf ich dich küssen?«
Mit allem hatte Greg gerechnet, aber damit nicht. Er brauchte einen Moment seine Gedanken zu ordnen.
»Äh…«, er brach ab. »Mmh!«, brummte er, zustimmend.
Naithan setzte sich auf. Sein Blick war alles andere als ruhig. Etwas hilflos sah er Greg an, hob die rechte Hand, ließ sie sinken. Ihre Blicke trafen sich, fast verlegen.
Langsam näherten sich ihre Münder. Greg schloss die Augen, wie auch Naithan. Sie konnten einander nicht ansehen, zu viele Gefühle lagen in ihrem Blick.
Ihre Lippen trafen sich, zaghaft. Sanft und weich berührten sie sich, lösten sich wieder voneinander.
Beide öffneten die Augen; ein verträumter Blick.
Sie sahen sich an. Dann versanken sie ineinander, umarmten sich heftig, pressten sich aneinander, in Angst einander zu verlieren, ließen sie den anderen je wieder los. Ihre Küsse wurden gierig.
Sie fielen übereinander her wie zwei Tiere, hungrig nach Liebe, begierig, die Leere in ihren Herzen zu füllen. Heiß ging ihr Atem.
Hemmungslos rissen sie sich die Kleider vom Leib, drängten sich aneinander. Ihr Stöhnen gepresst, keiner Worte fähig. Wie eine Woge der Lust schlug es über ihnen zusammen. Sie nahmen nichts wahr, verloren sich ineinander, verloren Zeit und Raum, um endlich erschöpft in tiefen Schlaf zu fallen, ihre Körper ineinander verschlungen.
So fanden sie Travis, Leon und Tyler, die gekommen waren sie zu suchen. Die Decke von Naithans Bett verhüllte das meiste der beiden Körper, eindeutig war jedoch ihre Haltung. Ineinander verschlungen, die Arme um den jeweils anderen gelegt, die Körper aneinander gedrückt.
Leon musste unwillkürlich lächeln.
Travis war es ein wenig peinlich, seine beiden Freunde so zu sehen. Er versuchte Tyler und Leon aus dem Zimmer zu schieben, doch Gregs Hellhörigkeit kam ihnen zuvor und der junge Mann öffnete die Augen.
Sprachlos sahen sich die Freunde einen Moment lang an. Das Schweigen war so eindrücklich, dass Naithan erwachte. Er hob den Kopf von Gregs Oberkörper, sah sich in seinem Zimmer fragend um und entdeckte Tyler, Leon und Travis. Verlegen schloss er die Augen und vergrub den Kopf an Gregs Brust.
Plötzlich hörten die Freunde ein leises Kichern. Zum ersten Mal seit Zacks Tod lachte Naithan.
Gregs Herz machte vor Freude einen Sprung und er umarmte Naithan, begann ebenfalls zu lachen.
Sie lachten alle, kurz aber herzlich.
Naithan setzte sich auf, sorgsam bedacht die Decke festzuhalten. Er lächelte, auch wenn immer noch ein tiefer Schatten auf seinem Gesicht lag.
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