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Bund

Tack

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Tack... Pause. Tack... Pause. Tack...

Ich war hellwach. Eine schnelle, aber leise, Handbewegung und der Wecker war ausgeschaltet. Wie ich ihn liebte... ein Wunderwerk der Technik. Danke, Mutti. Nicht so ein elektrisches Teil, wie jeder es hatte, mit grässlichen Piepstönen, die einem den Tag verdarben, bevor er eigentlich angefangen hatte. Messing und Glas, oben drauf zwei glänzende Glocken mit einem Schwengel dazwischen, und jeden Abend musste man ihn geräuschvoll aufziehen. Stellen fast nie: er ging sehr genau. Aber das Beste: Die Glocken kamen fast nie zum Einsatz. Der Wecker fing erst mit einem leisen Tack an, eins pro Sekunde, wobei der Schwengel immer kurz vor der Glocke haltmachte. Wenn das nach 12 Mal nicht zum Erfolg geführt hatte, ging es im selben Takt weiter, nur halt bis an die Glocken ran: aus Tack wurde Klong. Ein schöner, tiefer Ton, aber dazu kam es selten. Wenn das denn auch nicht ausreichte, ging die Rasselei los. Aber soweit kam es nur im Urlaub, wenn ich mir diesen Klang anhören wollte. Irgendwie hatte diese sich täglich wiederholende Abfolge von Klängen mich rasch programmiert: beim ersten Tack war ich wach. Hat ja eh keinen Zweck, weiterzuschlafen, wenn gleich die Rasselei losgeht. Und es gibt keine sanftere Art geweckt zu werden, als mit einem leisen Tack. Außer einem Kuss, vielleicht. Aber wer hat das schon...

Eigentlich brauchte ich hier keinen Wecker. In einer Viertelstunde würde die Brüllerei losgehen, und das Gelaufe und das Klappern mit Spindtüren, und sowieso kann man nicht weiterschlafen, wenn der im Etagenbett oben sich schlaftrunken runterhangelt und dabei noch gar in mein Bett tritt. Aber ich bin gerne der Erste im Bad. Kein Gedränge, keine Eile und keine blöden Bemerkungen zu meinem Hängebauch. Ach ja, ich vergaß, mich vorzustellen: Helmut, 21 Jahre und beim Bund. 1 Meter 90, und imposante 105 Kilo. Und es würden immer mehr werden: Essen schmeckt mir, und leider wird es gut ausgewertet. Aber auch vor ein paar Jahren, als mein Gewicht noch nicht jeden Arzt zu wohlmeinenden Ratschlägen veranlasste, hatte ich schon einen ausgeprägten Hängebauch. Wie hieß das? „Pyknisch“? Na, eigentlich sind diese Körpertypen ja aus der Psychiatrie, aber wer seinen Körper „athletisch“ nennen darf, stört sich wohl nicht dran. Beängstigend war, dass in vorgebeugter Haltung (z. B. über dem Waschbecken) sich schon fast so etwas wie weibliche Brüste erahnen ließen. Bloß keinen sehen lassen. Aber irgendwie hatte ich wohl immer schon ein wenig mehr Speck als die anderen, auch als das Gewicht noch nicht alarmierend war. Wenn ich den Kopf senkte, hatte ich ein Doppelkinn, das hatten meine Klassenkameraden leider schon sehr bald raus. Und da soll man nicht den Kopf hängen lassen...

O. k., ich bin keine Schönheit. Und irgendwie hasse ich die Stories im Internet, wo hübsche Jungs auf hübsche Jungs treffen, ein mutiges Comingout hinlegen, verständnisvolle Eltern und Freunde haben, und alle essen Eierkuchen. (Ohne zuzunehmen!) O. k., dann zofft es mal kräftig, aber nachher ist reine Luft, und alle freuen sich. Aber andererseits: Das Internet hat mir viel geholfen, an mich selbst zu glauben. Es ist schon komisch: Die Menschen sind einerseits so grundverschieden, es gibt keine zwei gleichen, und man glaubt nicht, was es alles gibt. Und andererseits findet man raus, dass man mit seinen für abartig gehaltenen Interessen (Jungs, Bondage, Windeln, Kitzeln, und noch so ein paar mehr) nicht alleine steht. Da gibt es Foren, wo über alles offen geredet wird. Und zumindest manchmal so, dass man seine Freude daran haben kann: nicht verletzend, nicht angeberisch, nicht professionell. Es ist doch eigenartig, dass so ein paar Situationen für viele Menschen anregend sind. Und auch bei Klamotten: wer nicht alles Latzhosen geil findet. Aber Latzhose und Bauch, das geht nicht zusammen. Latzhosen sind was für die hübschen, schlanken Jungs aus dem Internet. Na, Gott sei Dank gibt es ja auch Kapuzen. Alles, was eine Kapuze hat, ist gleich doppelt so schön. Wenn es Unterhosen mit Kapuze gäbe...

Ach so, um das klarzustellen... ich lebe das alles nicht aus. Mit 15 habe ich mich oft in die Bettdecke gewickelt und den Gurt vom Bademantel drumgebunden. Das war mein Bondage. Zweimal hatte ich bisher Gelegenheit, eine Windel zu benutzen, und Kitzeln: wer sollte mich schon kitzeln? Oder wen sollte ich kitzeln? Von Jungs ganz zu schweigen. Ach ja, das habe ich noch gar nicht gesagt, falls ihr’s noch nicht gemerkt habt: ich bin... bin ich ja gar nicht. Also so einfach rutscht mir das nicht über die Zunge. Andere finden das sogar ein schönes Wort, aber ich? Also gut, um ehrlich zu sein: Jungs interessieren mich mehr als Mädels. Aber nicht allein. Ab und zu läuft mir auch ein hübsches Mädel über den Weg. Aber komischerweise finde ich immer die Mädels hübsch, die für andere nun nicht der Traum sind. Kleine, zarte Wesen, die etwas von einem vorpubertären Jungen an sich haben. Eine Andeutung von Brust, muss aber nicht sein, Knappenhaarschnitt, Jungenkleidung, also kurz: Mädels, die vielleicht lieber Jungen geworden wären. Ja bin ich nun... bin ich nicht. Erst, wenn man’s gemacht hat. Hab ich nicht. Werd ich nicht.

Fertig. Das war schön: lange duschen, keiner drängt einen, keiner schaut zu. Gegen Ende war dann zwar noch einer da, aber der hatte mit seinen Bartstoppeln zu kämpfen, was ihn ganz in Anspruch nahm. Brauch ich Gott sei Dank nur jeden zweiten Tag. Zurück in die Stube. Gegenverkehr. Ha, die Stube war fast leer. Zweiter Vorteil eines guten, leisen Weckers. Nur Den lag auf dem Bett und las. Las, beim Bund, morgens im Bett. „Verrückt, der Kerl.“ Sehe ich nicht so. Habe ich auch schon ein paar Mal gemacht. Beim Grundwehrdienst reichte das, um die lieben Stubenkameraden zu bewegen, einmal meinen Spind auf den Hof zu leeren. Ich sage nur: Wellensittich und Spatzen. (Für die, die Gerhard Schöne kennen; sonst nach „Fünf Soldaten auf der Bude“ suchen, mit Google. Geiles Lied.) Nun, ich bin kein Krawallmacher, habe mich nicht beschwert, bin andererseits groß, schwer, und auch wohl eher stark, da hat sich das wieder eingerenkt. Und Den hatte hier nichts zu befürchten: ich war groß, schwer,... Und das hatten die anderen schon mitgekriegt: hier waren gleich zwei auf der Bude, die ab und zu mal im Bett lasen. Zwei sind mehr als einer. Außerdem waren die hier nicht so blöd wie die beim Grundwehrdienst.

Den hieß eigentlich Dennis. Aber alle nannten ihn Den. Ich schreib das hier mal mit Kapitälchen, denn sonst kann man den Text kaum lesen. Den las immer nur fünf Minuten. Heute hatte er wohl noch etwas getrödelt, bevor er angefangen hatte. Ich wusste auch, was er las: die Bibel. Jeden Morgen einen Psalm. Na, jetzt wird’s ja noch verrückter. Nicht nur morgens beim Bund im Bett lesen, sondern dann auch noch gleich die Bibel. Aber wieder Einspruch: die habe ich auch schon gelesen. Ja, echt, und zwar von vorne bis hinten. In der Schule war ich mal in so einem Bibelkreis, von tief religiösen, etwas fundamentalistisch angehauchten Christen. Na ja, ist schon klar, warum: das waren nette und hübsche Jungs. Ein paar Mädel waren auch dabei, aber besonders in einen Jungen war ich verknallt. Und wenn der Bungeespringen gemacht hätte, dann wäre ich Bungeespringer geworden. Aber da sieht man wieder: schöne Menschen machen schöne Sachen. Es war kein Fehler, dem Kreis beizutreten. Ich bin nicht tief religiös geworden (zumindest gehe ich nicht jeden Sonntag in die Kirche), aber ich habe ein tolles Buch kennengelernt. Das Lieblingsbuch von Bertolt Brecht. Echt. (Ich werd‘ zum Dichter...) Allerdings habe ich es ja nun einmal gelesen, also warum sollte ich es noch mal lesen? Den hingegen las jeden Morgen einen Psalm. O.k., wenn ihm das was sagte.

Und da war er auch schon raus, zum Duschen. Musste sich ja jetzt ein wenig beeilen. Aber im Grunde hatte er den selben Vorteil wie ich, leere Duschen, nur nicht als Erster, sondern als Letzter. Dabei brauchte er keine Blicke zu scheuen. Den war hübsch. Vielleicht 1 Meter 75, schlank bis fast schon dürr, sportlich, wenn auch nicht kräftig, aschblond, Stupsnase, drei, vier Sommersprossen. Grau-blaue Augen, mit einem total lieben Blick, und so ein sympathisches Lächeln. Na hoffentlich war das kein Bungeespringer, denn davor hatte ich doch etwas Bammel. Vielleicht scheute er doch die Blicke der anderen: nach ein paar Monaten ohne ihre Mädels verirrten sich auch die Blicke von manchen Heteros zunehmend auf hübsche Jungs. Auch wenn das keiner zugegeben hätte. Aber ich weiß, was ich sehe.

Frühstück. Ich kam als Erster. Toller Wecker. Na ja, die Speisenauswahl war schon nicht so, dass es sich wirklich lohnte, früh da zu sein. Aber ich konnte mir den Tisch aussuchen und das ist wichtig: Schließlich wollte ich ja was sehen, ohne selbst viel gesehen zu werden. Und da gab es schon einen guten Platz. Ansonsten eine wortlose und langweilige Sache, auch vom Essen her. Aber mit einem guten Platz hatte man wenigstens schöne Aussichten. Denn ein paar hübsche Jungs gab’s schon, wenn auch nicht viele. Den übrigens war nicht dabei, ich meine, da er doch als Letzter duschte, kam er auch als Letzter zum Frühstück, gerade, wenn ich ging. Nee, länger rumsitzen nur um zuzuschauen, also ich wollte ja nicht gleich Verdacht erregen.

Fertigmachen für den Dienstantritt. Blaue Uniform: Schreibtisch. Da hatten wir Glück gehabt: nicht zu den Panzerfahrern, sondern hinter den Schreibtisch. Den hatte ich zwar noch nicht gesehen, denn in der ersten Woche waren wir nur herumgescheucht worden, Einweisung hier, Einweisung da, Kursräume, Kleiderkammer, und oft sinnlose Zeit verwarten, angenehmerweise in Formation angetreten. Das halten die dann für Disziplin. Das ist hirnlose Schikane. Heute würden wir unseren Dienststellen zugeführt. Das mit dem Schlips hatte ich schnell raus. Ich kann gar nicht verstehen, wie manche damit minutenlang kämpfen. Das lernt man einmal, macht es dreimal, und dann kann man es, oder? Ich ging schon mal raus, vor die Baracke, wo wir würden antreten müssen. Ich liebe frische Luft. Schade, dass Den noch nicht da war. Der würde wieder bei den Letzten sein. Aber nie zu spät, das hatte er raus.

Antreten, irgendeine Rede, Einteilung. Ich hatte nicht sonderlich aufgepasst, nur wo ich hin sollte, das bekam ich schon mit. Baracke F, ich wusste, wo die war, und da sollte ich nun selbständig hingehen. Dass die mir das zutrauten... Es war noch etwas Zeit, ich hätte also noch mal auf die Bude gekonnt, aber ihr kennt mich ja: besser zu früh als zu spät. Also war ich wieder einmal der Erste an der Baracke, und wurde ... von einem netten Oberst mit Handschlag begrüßt. Ob der das absichtlich macht, und dabei heimlich Videoaufnahmen von herunterklappenden Kinnladen anfertigt? Na, bei mir hatte er etwas Pech: mein Selbstbewusstsein ist nicht gering, und so war ich zwar etwas erstaunt, aber für eine Maulsperre reichte es nicht. Freundlich stellte er sich vor, und verwies mich dann an einen Leutnant, der mich genauso freundlich begrüßte, und mich an meinen zukünftigen Arbeitsplatz brachte.

Ein trostloses Zimmer mit vertrockneten Blumen (aber immerhin!), drei Schreibtischen, und jeder Menge Unordnung. Der Leutnant erklärte mir, dass einer der Schreibtische sein eigener sei, aber er sei oft nicht da, dann müssten wir alles selbständig machen. Die ersten zwei Wochen werde er sich aber bemühen (wow, man bemüht sich unseretwegen), meistens da zu sein, bis wir wüssten, worum es geht. Er wies mir meinen Schreibtisch zu und weg war er. Nun, meine erste Aufgabe war klar, auch wenn er nichts gesagt hatte: Der Schreibtisch war dreckig, und das bisschen Zeug, was darauf herumlag, war so optimal verteilt, um ihn für weiteres Arbeiten unbrauchbar zu machen. Also räumte ich erst mal auf, ohne mir irgendetwas näher anzuschauen. Nichts in die Aktenregale, wer weiß warum das hier draußen rumlag, aber ein wenig Stapeln konnte nichts schaden, und dann einen feuchten Lappen (ein Waschbecken war auch im Zimmer), und den Schreibtisch mal so richtig abgeputzt.

Da brachte der freundliche Leutnant meinen Arbeitskollegen für die nächsten sechs Monate. Yippie... Den. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Gott sei Dank war diesmal sicher keine Videokamera auf mich gerichtet, denn damit rechneten die sicher nicht, dass mir dabei die Kinnlade runterfiel. Aber keiner hat’s gesehen, außer Den vielleicht, und der hat sich auch gefreut, das hab ich gesehen. Der Leutnant schenkte meinem in neuem Glanz erstrahlten Schreibtisch ein anerkennendes Lächeln, und dann zog er Den noch mal raus. Wer weiß, wozu er den brauchte.

Mein Schreibtisch war aufgeräumt, also war nichts mehr zu tun. Oder was könnte ich Sinnvolles anstellen? Telefon ausprobieren: Wow, sogar eine Amtsleitung (mit Null). Die hatten ja Vertrauen. Oder Einzelgesprächsabrechnung. Fensterbank putzen? Nee, keinen Bock, nicht gleich heute. Die Blumen würde man auch aufmöbeln müssen, aber das man kann ja nicht gleich alles am ersten Tag machen. Regale? Erst mal einweisen lassen, was für ein Ordnungssystem (ha ha) die hier hatten. Ah... Dennis‘ Schreibtisch war genauso unordentlich wie meiner. Ob der was dagegen hätte? Bestimmt nicht. Oder ob er merkte, dass ich ihn mag? Soll er. Ob der Leutnant sich Gedanken macht? Der soll denken, dass ich mich gelangweilt habe. Habe ich ja auch. Also schnell handeln, bevor die zurückkommen. Und ich kann effektiv sein beim Aufräumen. Außerdem machte ich mir jetzt keine Skrupel mehr, die Akten zu stapeln: Wenn das verkehrt gewesen wäre, hätte der Leutnant was gesagt. Und im Handumdrehen (na ja, dreimal Handumdrehen) war Dens Schreibtisch genauso sauber wie meiner. Mal rasch auf seinen Stuhl gesetzt. Oh je, das war ja eine Wackelkiste. Meiner war viel besser. Austauschen? Ungefährlich: Den hatte ja noch nicht auf seinem Stuhl gesessen, und der Leutnant wusste sicher auch nicht genau, welcher Stuhl wackelt, und welcher nicht. Gesagt, getan. (Hatte ich nicht eben gesagt, Den soll ruhig merken, dass ich ihn mag? Ja, aber so dolle soll er’s nun nicht merken. Erschrecken soll er ja nicht.)

Unauffällig pfeifen und an die Decke schauen... Nee, das geht nicht. Sicher ist hier Pfeifen verboten. Und außerdem ist das auffällig unauffällig. Also doch die Fensterbank. Schön langsam machen, dann kehrst du denen den Rücken zu, wenn sie wieder reinkommen. Und in der Tat, Schritte auf dem Gang, nur nicht hinschauen, die Tür geht auf, und ... Pladeradatsch. Erschrocken drehte ich mich um. Da lag Den auf dem Boden, auf einem Berg Akten, die er wohl getragen hatte, und hinter ihm stand ein verdutzter Leutnant, der aber herzlich zu lachen anfing, und dann mussten Den und ich auch lachen. Diese doofe Schwelle an der Tür, klar, wenn man einen Berg Akten trägt, dann sieht man die nicht. Den war sanft gefallen (es waren viele Akten), und dann halfen wir alle beim Aufheben. Die Akten wurden erst mal wahllos auf die beiden freien Schreibtische gelegt, und in Kürze sahen die schlimmer aus als vorher. Soll ich noch extra sagen, dass die Akten fürchterlich verstaubt waren und auch das Wischen umsonst gewesen war?

Am Ende des Vormittags sah dann aber alles wieder besser aus. Die Akten waren abgestaubt und in die Regale sortiert, der Leutnant hatte uns erklärt, nach welchem System (das gab es in der Tat), und die Schreibtische waren wieder frei und sauber. Am Nachmittag würden wir erklärt bekommen, worum es in diesem Job ging. Na ja, soviel hatte ich schon mitbekommen: irgendwie hatte das was mit Beschaffung zu tun. Zum Mittagessen gingen wir alle gemeinsam (der Oberst, ein paar Leutnants, und acht Gefreite), na ja, zumindest bis zur Kantine. Dann gingen der Oberst und die Leutnants zu den Offizieren, und wir zur Speisung des niederen Volkes. Das Mittagessen war nicht so schlecht. Ich habe oft den Verdacht, dass die, die sich am meisten über das Essen aufregten, zu Hause am schlechtesten zu essen bekamen. Klar, wenn man ein und dasselbe für alle kocht, dann schmeckt es mal besser und mal schlechter. Ich mag zum Beispiel keine Erbsen. Fürchterlich. Fast eine Manie. Aber andere mögen sie halt, eigentlich die meisten, und danach müssen die sich richten. Es ist schon eigenartig, wie verschieden Menschen sein können... ach so, dass hatten wir schon.

Beim Essen war unsere Truppe aufgedreht. Keiner beklagte sich über das Essen. Alle waren froh über diese netten Chefs. Na, und das ging mir ja auch so. Bei angeregter Unterhaltung über unsere neuen Jobs verging die Zeit wie im Flug, und schon saßen wir wieder im Zimmer. Der Leutnant erklärte uns, was es mit den Akten auf sich hatte. Beschaffung, ja, aber nicht direkt. Wir würden die Beschaffung kontrollieren, und zwar nicht nur von unserer Kaserne, sondern vom ganzen Regiment. Er zeigte uns, wie die Formulare aussahen, und wie man sie lesen musste. Und dann wurde man etwas zum Detektiv: Klingt das plausibel? Oder riecht da was faul? Zu viel für diese Einheit? Ja wieviel hatten die denn letztes Jahr? Und wieviel hatte eine vergleichbare andere Einheit bestellt? Zu teuer? Preisrecherche im Internet. Ach ja, das hatte ich vergessen: einen Computerarbeitsplatz gab es im Zimmer. Der war aber mehr für den Leutnant, und überhaupt: das klang eben ganz nett mit dem Detektiv, aber der Detektiv war er. Wir waren Aktensortierer, Aktenschlepper, Aktenabstauber... Na ja, ab und zu würden wir ihm bei einer Recherche etwas helfen. (Kam sicher drauf an, wie wir uns anstellten: Wenn der erst mal merkte, dass wir nicht auf den Kopf gefallen waren, würde das sicher mehr werden.)

Ab und zu musste er zum Oberst, aber wir hatten schon ein bisschen den Überblick, und so konnten wir weiter aufräumen. Der Tag war nicht langweilig, nicht stressig, freundlich, und (dank der ständigen Anwesenheit von Den) auch anregend... Irgendwann war Dienstschluss. Also traurig war ich nicht direkt, soweit geht die Liebe nun nicht, aber ich hatte ihn auch nicht herbeigesehnt. Ich würde den Dienst beim Bund nicht direkt lieben, aber wenn es so weiter geht, wäre ich nicht undankbar. Wir gingen zurück zur Unterkunft. Da Den und ich auf einem Zimmer arbeiteten, und in einem Zimmer schliefen, war es nur natürlich, dass wir zusammen gingen. Die anderen waren entweder schon weg, mussten zu einer anderen Baracke, oder was auch immer, jedenfalls waren wir bald allein.

„Übrigens, danke fürs Schreibtischaufräumen...“ Ups.

„..na ja, war ja leider umsonst, durch meine Blödheit, aber nett war’s doch. Danke.“

Hatte der denn, auf dem Boden liegend, die Schönheit seines Schreibtisches bewundert? Ach so, bestimmt als wir die Akten drauf lagerten. Und vorher muss er bei den 10 Sekunden im Zimmer auch abgespeichert haben, wie dreckig da sein Schreibtisch noch war. Guter Beobachter. Klasse zum Detektiv geeignet.

„Gerne. Hab mich doch nur gelangweilt.“

Ein verschmitztes Lächeln huschte über sein Gesicht, das sah ich aus dem Augenwinkel. Aber er ging nicht weiter drauf ein.

„Gehst du nach dem Essen noch auf ein Bier in die Kantine?“

Den war in der ersten Woche nicht oft in der Kantine gewesen. Ich hingegen jeden Abend. Nicht mit anderen, meistens allein, und das war gut so, denn da konnte man angeblich vor seinem Bier vergrübeln, und hatte doch Gelegenheit, Menschen zu beobachten. Das ist besser als Fernsehen, das ist echt. Wenn Den mich jetzt fragte, war das sicher, weil wir den ersten gemeinsamen Arbeitstag hinter uns hatten.

„Klar. Gerne. Bin ja fast immer da.“

„Gut, dann bis nachher, ich muss noch mal weg.“ Und verschwand in der Kantinenbaracke, die auf unserem Weg lag. Bis zum Abendessen hatten wir noch eine halbe Stunde, es war also noch zu früh zum Essen, aber in der Baracke war auch ein kleiner Laden, eine Postfiliale, und Telefonzellen.

In der Unterkunft hingen doch tatsächlich ein paar vor der Glotze. Für ‘ne halbe Stunde. Kann ich nicht nachvollziehen. Ich schrieb eine Postkarte, das wollte ich sowieso schon machen, an eine Tante, die Geburtstag hatte. Dann ging ich zum Essen. Den war noch nicht da, und kam auch erst, als ich fast fertig war. Da an meinem Tisch kein Platz war, setzte er sich woanders hin. Als ich fertig war, rief ich ihm zu: „Bis nachher“ und ging erst mal was an die frische Luft. Es war ein ruhiges Herbstwetter, mild, nicht sonnig, aber angenehm. Es war etwas windig, aber das mag ich gerne. Ich ging eine kleine Runde spazieren: es gab eine Sandgrube auf dem Kasernengelände, die wohl nicht mehr in Betrieb war, und die wir sicher für gelegentliche Schikanen noch genauer kennen lernen würden (wenn meine Erfahrungen aus dem Grundwehrdienst mich nicht täuschten). Da war ich letzte Woche schon mal rumgelaufen, bei Regen. Frischluftfanatiker. Jetzt war’s viel schöner. Ein paar Kiefern kamen mit dem sandigen Boden gut zurecht, ab und zu traute sich ein Kaninchen so nah an bewaffnete Menschen. Ha, ein Apfelbaum, den hatte ich letztens gar nicht gesehen. Kleine, schrumpelige Äpfel, aber essbar (Beweis: ich lebe). Das war wohl eine Wildaussaat. Sonst eher langweilig, das meiste plattgemacht, aber doch etwas grün, denn das setzt sich durch.

So, und da war ich schon wieder zwischen den Baracken, und ging zur Kantine. Da war schon viel los, aber es war auch viel Platz, und da Den noch nicht da war, konnte ich mir den Tisch aussuchen. Ihr kennt ja meine Kriterien. Hinzu kommt abends in der Kantine allerdings noch: weit weg vom Lautsprecher. Der ist zwar nicht discomäßig aufgedreht (was einige wohl bedauern), aber für mich war’s immer noch eher zu laut. Leiser ist besser.

„Schön, dich zu sehen. Hast du schon was bestellt?“

„Nee, bestell mir ein Weizen.“

Den war noch mal kurz am Tresen, und kam dann zurück an unseren Tisch. In ein paar Minuten würde der Keeper uns rufen, dann konnten wir’s holen. Den war ein sehr höflicher Mensch. „Schön, dich zu sehen.“ Das konnte eine reine Höflichkeitsformel sein. Aber er hatte richtig nett dabei gelächelt. Gut, das tat er immer. Aber irgendwie nahm ich es ihm ab. Er hatte sich gefreut, mich zu sehen. Freut mich.

„Glück gehabt.“

„Echt.“

Klar, wir waren wieder bei unserem Thema des Tages: akzeptabler Job, tolle Chefs. Hatten wir schon beim Mittagessen, aber jetzt gab es ja noch mehr Stoff zum Aufarbeiten. Wir hatten auch die anderen Leutnants etwas kennengelernt. Wir waren uns bald einig, dass wir mit unserem Glück hatten: Vielleicht nicht der Beste, aber einer der Besten. Mit viel Humor.

„Wie der loslachte, als du da am Boden lagst... also ich hatte mich schon ganz schön erschreckt.“

„Na, vielleicht macht er das ja auch absichtlich. Er kennt ja die Schwelle, und jeder Neue muss einmal da durch.“

„Das meinst du nicht ernst. Komm, der ist so nett. Das täte der nicht.“

„Nee, war nur’n Spaß. Aber er ist eben helle. Der hat gleich gesehen, dass mir die Kinnlade nicht runterfiel, weil sie ab war, sondern nur vor Schreck.“

Und so ging das weiter. Ein lockerer, freundlicher Ton. Den wusste ja gar nicht, wie gut mir das tat. Dicke Schüler haben’s schwer. Dicke Azubis auch. Einen richtig guten Freund hatte ich noch nie gehabt. Und in einer Clique war ich auch nie. O.k., da war der Bibelkreis, aber die waren alle etwas sehr ernst. Ich hatte bestimmt zwei Jahre lang kein so nettes, lockeres Gespräch geführt, und schon gar nicht mit einem richtig hübschen Jungen.

„Schreiner, schöner Beruf. Aber studieren willst du nicht?“

Doch, das wollte ich schon. Aber meine Eltern waren arm, und hatten Wert darauf gelegt, dass ich erst mal „was Ordentliches lerne“, bevor ich... Philosophie studieren würde. Sicher hatten sie recht. Und auf die zwei Jahre kam es mir nicht an. Nun war ich allerdings etwas älter als der Rest meiner Kameraden beim Bund, aber irgendwie sah ich schon immer etwas jünger aus, und so passte das ganz gut. Wie gesagt: alle zwei Tage rasieren reicht noch.

„Und du? Was machst du nach dem Bund?“

„Theologie...“

Wow. Und wie er das sagte. Gerade so wie BWL. Und schaute noch nicht mal auf, ob ich denn überrascht sei. War ich. Na ja, ich versuchte, so gut wie möglich, mir nichts anmerken zu lassen.

„...auf Diplom. Ich möchte Priester werden.“

Aber... da musste er doch gar nicht zum Bund. Das sagte ich ihm auch. (Blöd. Das würde er doch schon wissen. Aber ich war halt so überrascht.)

„Schon, aber ich will keinen Vorteil. Und außerdem habe ich so noch etwas Zeit. Ich bin mir ja gar nicht sooo sicher.“

O. k., das konnte ich verstehen. Ist ja nicht irgendein Studium. Zölibat und so. Aber ich hatte mich gefasst, und platzte also nicht mehr so damit heraus.

„Ist keine leichte Entscheidung. Verantwortung ... jede Menge. Kann schon ganz schön heftig sein. Weiß nicht, ob mich das nicht abschrecken würde.“

„Zölibat ist kein Problem...“

Konnte der Gedanken lesen?

„... ich stehe nicht auf Mädels.“

....

(noch nicht mal „Wow“, auch nicht in Gedanken... einfach Stille... und Leere)

... langsam fing mein Gehirn wieder an zu arbeiten. Warum hatte er das so locker gesagt? Hatte er soviel Vertrauen? Weil ich Bücher im Bett las? Weil ich Philosophie studieren wollte? Er klang definitiv nicht danach, als ob er irgendeinen Hintergedanken dabei hätte. Ich sagte erst mal nichts, versuchte nur, so freundlich und unbefangen wie möglich auszusehen. Der good guy eben, dem man so was erzählen darf.

„Auf Jungs schon eher, aber ich tu‘s nicht.“

Klar, das wäre auch nicht so vereinbar mit dem Zölibat.

„Ich weiß schon, das bedient ein klassisches Klischee: Schwule Priester. Aber ich bin nicht schwul. Ich tu’s nicht.“

So sah ich das auch. Ich bin auch nicht... also mir macht das Wort immer noch Schwierigkeiten. Würde ich mir abgewöhnen müssen. Wenn er das so locker rausbrachte, und auch noch quasi einem Fremden gegenüber...

„Und... wenn einer sagt: Trotzdem Scheiße, Priester sollten lieber keusche Heteros sein...“, und jetzt schaute er mich voll an, und man sah, dass seine Augen funkelten (wenn’s das gibt), „... da werde ich fuchsteufelswild. Ja kann ich denn was dafür, was mir gefällt? So hat Gott mich geschaffen, und so will er mich haben. Homos sind wertvolle Menschen, und ein keuscher Homo kann ein verdammt guter Priester werden.“

Ich wusste nicht, ob seine Vorgesetzten das auch einmal so sehen würden. Ich war schon wieder viel lockerer. Der Überraschungseffekt war vorbei. (Na ja, ich bin eben von schneller Auffassungsgabe ;) Aber das heißt noch lange nicht, dass ich wusste, was ich ihm sagen sollte. Es dauerte etwas, bis ich rausbrachte:

„Danke...“

Jetzt war er an der Reihe, überrascht zu sein.

„...für so viel Vertrauen.“

Ah so. Er war richtig in Fahrt gekommen, und eben erst wieder zum Halten, und noch nicht reif für eine Fortsetzung, aber mit den Augen sagte er: „Klaro.“ Nee, klar war das nicht. Für ihn vielleicht, aber nicht für mich. Ich meine, dass er auf Jungs stand, o.k., und auch dass er es doch nicht tat, irgendwie kam mir das ja bekannt vor. Aber dass er das mir erzählte, das hatte ich noch nicht verdaut. Hatte er das schon vielen anderen so locker erzählt? Nein, er sah nicht aus wie ein offensiver Schwuler. Er trug keinen Sticker und nichts.

Ich sagte ihm meine Bedenken, wegen seiner künftigen Vorgesetzten. Darüber hatte er schon nachgedacht:

„Das fängt ja schon vorher an, schon im Studium. Die wollen schon wissen, woran sie sind. Aber ich habe keine Pflicht, über meine Neigungen Auskunft zu geben. Wo ich mir doch selbst nicht sicher bin, was ich will. Ab und zu gefällt mir ja auch mal ein Mädel. Über meine Taten, ja, aber was mir gefällt, ist mein Bier.“

Mensch, waren wir auf einer Wellenlänge. Auch ihm gefiel mal dann und wann ein Mädel, und sein Vorsatz, es nicht zu tun... na, so fest hatte ich mir das nicht vorgenommen, aber zumindest konnte ich gut mit der Vorstellung leben, es nie zu tun. Nur sein Berufswunsch war halt anders...

Mutig sein beim Comingout? Ich weiß nicht. Klar, sich vor die Klasse zu stellen und rauszubrüllen: „Ich bin schwul“ (Ha, jetzt hab ich’s gesagt), oder beim Bund einen eindeutigen Sticker zu tragen, das wäre mutig. Aber unter vier Augen hab ich’s schon öfters mal erzählt. Es gibt Leute, da weiß ich, die erzählen es nicht weiter. Nicht direkt „der gute Freund, dem man alles anvertraut“, den hatte ich noch nie, aber ab und zu schon in vertrauter Atmosphäre bei einem vertrauenswürdigen Menschen... Meinen Eltern, nee, denen würde ich es nie sagen. Mein Vater sagte mal was, dass das erblich sei. Wollte er mir damit was sagen? Hatte er was gemerkt? Ansonsten war er recht negativ eingestellt, also nehme ich mal eher an, dass er gar nichts gemerkt hat, und dieser Satz nichts zu bedeuten hatte. Und dass er falsch sein musste, zumindest auf unsere Familie bezogen. Also dem Den zu erzählen, „Du, ich auch...“, das wäre jetzt echt kein Problem gewesen... Aber so direkt nach seinem Geständnis?

„Du, ich auch... ich meine, alles genau dasselbe. Eher Jungs, aber ich tu’s nicht.“

Da war’s raus. Aber so ging es mir meistens. Manchmal hatte ich den Verdacht, dass es mir gar zu leicht fiel, und dass ich aufpassen müsste, wem ich’s sag. Aber bisher hatte ich keine Pleite erlebt. Und bei Den würde ich sie ganz gewiss nicht erleben.

„Vielleicht, wenn ich mal eine find, und wenn ich ihr gefalle, wer weiß, vielleicht werde ich mal heiraten. Kinder haben... das wäre schön. Aber wer weiß....“

Das war kein lang gehegter Traum, das war gerade so gefühlt. Und recht illusorisch war’s auch. Wie gesagt, Hängebauch. “But not for me”... so geht eine Zeile in einem Gershwin Song. (Google: “They’re writing songs of love”).

Den schaute mich an. Prüfend, schien mir. Ich schaute nicht direkt zurück. Den nahm sein Glas und prostete mir zu. Ich stieß mit ihm an. Das hieß wohl, o.k., ich glaube dir, du machst dich nicht lustig über mich. Und er wird sich auch gefreut haben, dass wir so ähnliche Auffassungen hatten. So wie ich mich freute.

„Ich mag dich.“

Mich? Mit Hängebauch? Unsportlich, wie ich war? Oder hatte er gespürt, dass mir so was fehlt? War das Sympathie aus Mitleid? Ich bin halt ein ziemlicher Zweifler, und das nicht ohne Grund. Ich hab ja so meine Erfahrungen damit, wie oft ich so gemocht werde. So gut wie nie. Das kam mir alles so unwahrscheinlich vor... da rutschte mir raus:

„Warum?“

„Du hast kluge Augen. Und du kannst zuhören. Ich glaube, du bist ein ganz lieber Mensch.“

Ich wurde nicht rot. Das werde ich selten, und ich kann nicht mal sagen, wann es passiert und wann nicht. Meistens werde ich nicht rot, nur mein Herz pocht wie doll wenn ich im Mittelpunkt stehe oder so. So auch jetzt. Ob er das hörte? Das waren ja nette, liebe Neuigkeiten. Da hatte doch einer glatt Gutes an mir gefunden. Und ehrlich... so unrecht hatte er gar nicht. Wenn mir was im Spiegel gefiel, dann waren es meine Augen.

„Danke.“

Dazu ein schüchternes Lächeln, so kam es mir jedenfalls vor. Wenn man von innen beurteilen kann, wie ein Lächeln aussieht. So schüchtern kenne ich mich gar nicht. Aber so was wird einem ja auch nicht so oft gesagt. Und dann rutschte es mir raus: ich schaute ihn nicht an (dazu fehlte mir der Mut), sondern nur so halb in seine Richtung, und brabbelte drauf los.

„Ich bin in dich verknallt. Gleich vom ersten Tag. Du siehst gut aus und du bist klug. Du liest, und du bist freundlich. Ich bin so froh, dass du auf meiner Stube bist. Und jetzt auch noch im Büro...“ allmählich konnte ich ihn ansehen... „ich wünschte, wir könnten Freunde werden.“

„Sind wir schon. Hast du eigentlich die Stühle vertauscht?“

Was? Woher wollte der das denn wissen? Ich blickte schuldbewusst.

„Dachte ich mir. Der eine hat einen Riss in der Rückenlehne, und der stand am Morgen bei mir. Und nachher bei dir. Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, bis ich mal auf deinem Stuhl saß.“

Alle Achtung. Der Detektiv. Der Leutnant würde sehr zufrieden mit ihm sein. Ich fragte:

„Kennst du Chesterton?“

„... Ach, Father Brown? Genau mein Typ.“

Er lachte herzlich über meine Assoziation. Und wir waren wieder in ungefährlicherem Fahrwasser. Genial, wie er die Kurve gekriegt hatte. Seine Frage nach den Stühlen kam so unvermittelt nach allen gegenseitigen Geständnissen, irgendwie ein harmloses Sachthema, und doch mit Bezug, und von da an hatten wir uns alles gesagt, ohne danach in peinliches Abwarten der Reaktion zu verfallen. Wenn der immer so gut mit Menschen umgehen konnte, dann würde er sicher gut in seinem Beruf.

Wir hatten bald die Krimis durch, die wir so lasen (denn er las nicht nur die Bibel!), die Hobbys (nein, nicht die von oben; keine Ahnung, ob das je dran käme), Klamotten und Musik. Wir waren aufgedreht und klapperten alle leichten Gesprächsthemen ab, die uns so einfielen. Nur nichts Schweres mehr an diesem Abend, da war schon genug Masse gewesen. Wir hatten jeder zwei Bier, und wollten kein drittes. Wir zahlten, und machten uns auf den Weg zur Unterkunft. Kein Händchenhalten (das wäre ja auch ein wenig gefährlich gewesen, es konnte ja doch irgendwer was sehen), aber auch noch nicht mal „versehentliches Rempeln“ beim Zahlen oder so was, nichts außer vielleicht einem eher geringen Abstand beim gemeinsamen Fußweg, gerade so, dass man sich gelegentlich mal berührte. Und auch auf dem Fußweg nur leichte Muse, außer kurz vor Betreten der Baracke (und er hatte sich schon umgeschaut, dass keiner in Hörweite war):

„Also verknallt würde ich vielleicht nicht sagen. Aber ich bin schon saufroh, dass ich dich kenne.“

Diese Ausdrucksweise würde er sich noch abgewöhnen müssen, wenn er mal auf die Kanzel wollte. Aber es klang echt, und er sah auch so aus. Er strahlte übers ganze Gesicht. Dann drehte er sich zum Gebäude und hüpfte regelrecht die Treppe rauf, wie ein kleines Kind, das etwas geschenkt bekommen hat.

Ich blieb noch einen Augenblick stehen, und ging dann gemächlicheren Schrittes ihm nach. Auch mir war sauwohl ums Herz. Er war in die Bude, also ging ich in den Fernsehraum. Wenn zwei so Strahlemänner direkt nacheinander in die Bude einfallen, könnte das schon Verdacht erwecken. Es lief ein Spielfilm, aber ich habe keine Ahnung, worum es da ging. Ich schaute auf den Schirm, aber sah nur Den. Wenn der Bildschirm auch nur eine Spur von Anstand besessen hätte, hätte er zurückgelächelt, so wie ich den anstrahlte. Eine Viertelstunde später ging ich in die Bude. Normales Treiben, wenn man davon absieht, dass einer im Bett lag und las. Dann waren’s zwei: ich nahm mir meinen angefangen englischen Krimi (ich liebe englische Krimis in Originalsprache), und vertiefte mich. Na ja, was so vertiefen heißt, wenn auf jeder Seite tausendmal das Wort Den steht. Ich würde morgen noch mal da anfangen müssen, wo ich gestern aufgehört hatte. Ich hatte schon den Schlafanzug an, brauchte also nur das Buch wegzulegen, drehte mich auf den Rücken, und studierte die dezent mit Dens Gesicht dekorierte Unterseite der oberen Matratze. Allmählich waren auch die anderen im Bett. Den war mit dem Buch in der Hand eingeschlafen, es war nicht die Bibel, sondern ein Abenteuerroman, den er auch gestern schon gelesen hatte. Jemand machte das Licht aus, aber bei mir wurde es nicht dunkel. So eine Matratzenunterseite kann ganz schön strahlen. Aber irgendwann sind dann auch mir die Augen zugefallen, und ich habe fest und tief geschlafen.

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