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Bund
Teil 2 - Traum
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Informationen
- Story: Bund
- Autor: Carsten
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out
Tack... Pause. Tack... Pause. Tack...
Brrrr... Was war das für ein seltsamer Traum gewesen. Immer, wenn ich aus einem Traum gerissen wurde, egal ob gut oder schlecht, war ich irgendwie daneben. Ich brauchte länger als sonst, um mich „im wirklichen Leben“ einzufinden. Diesmal stellte ich nicht nur den Wecker aus (knapp vor Klong, na, das hätten meine Stubenkameraden mir wohl übelgenommen), sondern griff auch nach Stift und Papier. Habe ich immer griffbereit neben dem Bett liegen. Klar, dass das schon mal einen blöden Kommentar auslöste, aber wenn mir nachts was einfiel, wollte ich es aufschreiben können. Der Stift war echt geil: man konnte nachts eine LED einschalten, die direkt auf das Papier strahlte, genau dort, wo man schreiben wollte. Aber jetzt war es ja schon hell. Ich notierte mir zwei, drei Stichworte zu meinem Traum. Das hatte mir ein Klassenkamerad beigebracht: wenn man sofort etwas aufschreibt, hat man gute Chancen, sich nachher noch an den kompletten Traum zu erinnern. Wenn man das nicht tut, ist nach zwei Minuten alles weg.
Insgesamt war noch nicht mal eine Minute vergangen, und so hatte ich wieder den Vorteil, als erster im Bad zu sein. Heute war Rasieren dran, aber das machte ich immer als Letztes, da hatte ich dann schon ein T-Shirt an, so fühlte ich mich wohler, wenn sich die Duschen füllten. Auch das Rasieren ist keine lange Geschichte, und so war ich wieder auf dem Rückweg, als mir Den begegnete. „Guten Morgen.“ „Guten Morgen.“ Das war er hiermit auch schon geworden. War eigentlich total untypisch, dass man sich beim Bund morgens begrüßte, aber keine Angst: wenn einer der Kameraden das mitgehört hätte, hätte er sich an die Stirn getippt, wäre aber niemals darauf gekommen, dass hier ein frisch Verliebter seinem Schwarm begegnete. Na, und wer schon im Bett liest, und Stift und Papier neben das Bett legt, der braucht sich sowieso nicht darum zu sorgen, dass sich die lieben Kameraden an die Stirn tippen. Da kommt es dann auf einmal mehr oder weniger auch nicht an.
Erster beim Frühstück, erster beim Appell, erster im Büro... ich hatte einen Ruf zu verteidigen. Quatsch, aber es war einfach meine Art, den lieben Kameraden möglichst weit auszuweichen. Nun, einem hätte ich wirklich nicht ausweichen wollen, aber der kam nun immer fast als Letzter, und so weit wollte ich meine Gewohnheiten doch nicht ändern. Außerdem würde ich ihn den ganzen Tag um mich haben. Halleluja.
Von wegen den ganzen Tag. Ich stand fast nur am Kopierer, Akten kopieren, die einer Beschaffungsstelle ohne Vorankündigung für zwei Tage entzogen worden waren, und die wir also nicht im Original behalten durften. Den hingegen war damit beschäftigt, Formulare auszufüllen, die dokumentierten, welche Akten wir wann zugeführt bekommen hatten, und wann wir sie wieder zurückführen würden, und die von mir kopierten Akten in Ordner einzuheften und ins Regal zu stellen. Der Kopierer war auf dem Gang, und ich kam nur ins Zimmer, um einen Stoß Kopien abzuliefern, und die kopierten Akten gegen andere, noch nicht kopierte auszutauschen. Der Leutnant war meistens da, so dass wir auch da nicht ins Plaudern kommen konnten. War ich unglücklich? Nein. Die wenigen Augenblicke genoss ich um so mehr. Stets war ein Lächeln drin, und manchmal ein nettes Wort. Mittags schmiedeten wir Pläne zur Verschönerung des Arbeitszimmers. Ob wir durchsetzen konnten, dass man uns mal das Zimmer frisch streichen ließ? Das Material würden die schon stellen, und sicher hätte keiner was dagegen, wenn das Zimmer besser aussähe, aber vielleicht würde das den Betrieb zu lange aufhalten. Poster an die Wand war sicher kein Problem. Nachmittags war Den zu einem Kurs, und ich brachte zu Ende, was wir am Vormittag noch nicht geschafft hatten. Am Ende hatte ich noch etwas Zeit, und so räumte ich ein paar private Sachen ein, die ich mir mitgebracht hatte, unter anderem zwei, drei Bücher, eine Schreibkladde (Schreiben ist mir echt wichtig), Briefpapier und Umschläge, und ein Ständerbild von meinen Eltern, das ich so ins Regal stellte, dass ich es sehen konnte. Ich hatte die Sachen gleich morgens abgelegt, und der Leutnant hatte sie gesehen: wenn er nicht gewollt hätte, dass ich ein paar private Sachen mitbringe, hätte er es bestimmt gleich gesagt.
Beim Abendessen war Den nicht da. Als ich nachher zu meinem schon fast Routine gewordenen Spaziergang um die Sandgrube gehen wollte, kam er mir von der Baracke entgegen.
„Wo willst du hin?“
„Ich gehe spazieren, um die Sandgrube. Mache ich fast jeden Tag.“
„Ich komme mit.“
„Willst du nicht essen?“
„Es gab beim Kurs was. Belegte Brote. Nicht super gut, aber mal was anderes.“
Also machten wir los. Das Wetter war nicht so schön wie gestern, ein ganz leichter Nieselregen hatte eingesetzt, aber nicht so doll, dass man eine Kapuze gebraucht hätte. Den war diesen Weg noch nicht gegangen, und ich machte ihn auf alle Dinge aufmerksam, die mir gefielen. Klar, auch auf den Apfelbaum.
„Cox. Eigentlich ein guter Apfel. Aber der Baum steht hier schlecht.“
Seine Eltern hatten Apfelbäume. Aber überhaupt war er mit Pflanzen auf du und du. Er war an einem naturwissenschaftlichen Gymnasium gewesen, und hatte Leistungskurs Bio gehabt. Ginster ist ein Schmetterlingsblütler. Die Samen, die wir jetzt sammeln konnten, waren in kleinen Schoten, und so hübsch sie aussahen: sie waren hochgiftig. Das wusste ich schon, aber dass man daraus auch Herzmedikamente herstellen konnte, hatten wir nicht gelernt.
„Nur die Dosis macht das Gift.“
Das galt wohl für alles. Brennesseln hatte er mal mikroskopiert. Er beschrieb mir lebhaft, wie die glasartigen Brennhaare bei leichtester Berührung abbrechen und ihren Giftstoff wie eine Injektionsnadel unter die Haut bringen. Das konnte man unter dem Mikroskop nachvollziehen, wenn man mit einer feinen Nadel (die im Vergleich dazu richtig plump war) an die Brennhaare kam.
„Und daraus macht man dann ein Mittel gegen Rheuma?“
„Keine Ahnung, nicht dass ich wüsste, aber eine gute Suppe. Aber nicht mit so alten Pflanzen. Im Mai oder Juni, das schmeckt ganz toll.“
„Und wie erntet man die Dinger, ohne sich zu verbrennen?“
Er machte es mir vor: einfach von unten nach oben greifen, also aufwärts streifend zupacken. Er brach ein paar ab, und zog sie sogar so durch seine Hand, und es tat offensichtlich nicht weh.
„Probier es doch auch mal.“
Freiwillig Brennesseln anpacken? Ich zuckte bei dem Gedanken unwillkürlich zusammen, und Den lachte. Freundlich, er lachte mich nicht aus. Zögerlich streckte ich die Hand aus. Ich musste verrückt sein. Aber wahrscheinlich hätte ich aus seiner Hand auch ein Stück glühender Holzkohle genommen. Quatsch, es konnte ja gar nicht weh tun: er hatte es ja vorgemacht. Ich war allerdings vorsichtig genug, seinen Anweisungen genau zu folgen, und in der Tat: es tat nicht weh.
Das klingt jetzt so, als sei dieser Spaziergang eine ziemlich einseitige Sache gewesen. Aber offensichtlich war Den daran gelegen, genau diesen Eindruck zu vermeiden. Ein starker Ast des Apfelbaums war abgebrochen, und er schaute sich das Holz an der Bruchstelle an.
„Kann man aus Apfelbaumholz was Sinnvolles machen?“
„Schachfiguren.“
Ich erklärte ihm, dass man es außer für Furniere (selten) und Drechslerarbeiten (gelegentlich) eigentlich kaum einsetzt. Dann kamen wir auf Schwalbenschwanzverbindungen zu sprechen. Er hatte sich immer gefragt, wie man diese verkeilten Teile überhaupt zusammenfügt. Aha, er hatte nicht gesehen, dass es nur von einer Seite aus so verkeilt ist: von der anderen Seite aus gesehen ist die Verbindung rechtwinklig, wie ein einfacher Zinken, und von dieser Seite aus kann man die Teile zusammenschieben. Eine freie Sandfläche und ein Zweig halfen mir, die Sache zu erläutern. Ich erklärte, warum es nicht egal ist, wie herum man ein Brett einbaut (die dem ehemaligen Baumkern zugewandte Seite würde sich nach außen werfen), und wie man einen verdeckten Schwalbenschwanz von Hand ausschneidet.
„Wusstest du, dass es hier in der Kaserne eine Holzwerkstatt gibt? Vielleicht kannst du neue Fensterbretter fürs Büro machen.“
Das stimmte: die Fensterbretter im Büro waren ziemlich hinüber. Von der Werkstatt hatte ich noch nichts gehört, aber ob ich da rein durfte? Es hatte aufgehört, zu regnen, und so machte es uns nichts aus, noch etwas länger draußen zu bleiben. Kurz vor dem Untergang brach die Sonne zwischen den Wolken hindurch, nicht kräftig, und nicht immer, aber so, dass es einen prächtig roten Abendhimmel gab. Die Vögel meldeten sich auch noch mal, wohl weil der Regen aufgehört hatte, und so war es fast romantisch, als wir uns an ein altes Geländer lehnten, das einigermaßen sinnlos da rumstand (es war nicht mehr klar zu erkennen, zu was es einmal gedient hatte und welche Seite von welcher anderen Seite durch dieses Geländer getrennt werden sollte), und dem Sonnenuntergang zusahen.
„Ich hab heut Nacht von dir geträumt...“
Ich erzählte ihm den Traum. Er war aber eigentlich nur in einer Nebenrolle da, einfach nur als Beobachter, eben auch dabei. Das Komische war, dass ich meinen alten Deutschlehrer wiedertraf. Wir waren im Schulgebäude, und alles sah so aus wie früher. Vor meinem Deutschlehrer hatte ich einen riesigen Respekt. Der wusste so viel. Nicht nur Grammatik und Wortkunde. Er war lebensklug und hat uns viel Stoff zum Nachdenken gegeben. Wenn ich Philosophie studieren wollte, dann sicher auch, weil er uns so viel über Philosophie erzählt hat.
Es war so gewesen, als ob Den und ich wieder seine Schüler wären. Keine anderen Schüler waren in der Klasse, er sprach nur für uns. Ich schrieb mit, mit meinem tollen LED-Stift. Aber während er sprach, veränderte sich das Gebäude. Die Wände bewegten sich, nicht bedrohlich, aber die Räume wurden größer, anders, und zuletzt lag ich im Bett. Es war dunkel, und ich sah ihn nicht mehr, aber seine Stimme hallte aus der Ferne zu uns (denn auch wenn es dunkel war: wir waren immer noch zu zweit). Dann hörte er auf, mitten im Satz. Und ich war gerade so gespannt gewesen, wie er seine Ausführungen beenden würde, wie er die Kurve kriegt, und uns seine Schlussfolgerungen aufzeigt. Aber nichts da: Totenstille. Statt dessen nach einiger Zeit: Tack ... Pause ... Tack ...
„Ich war total verwirrt. Mitten im Satz. Ich wusste nicht, ob er mich hängen lassen wollte, ob ihm die Worte ausgegangen waren, oder ob ihm was zugestoßen ist.“
„Im Grunde willst du sowas werden wie dieser Lehrer, stimmt's?“
„Genau. Vielleicht nicht an einer Schule, aber vielleicht doch. Keine Ahnung. Aber eben den Durchblick.“
„Ich hab mal gelesen, dass wir in unseren Träumen Personen begegnen, die irgendwie einen Teil von uns selbst verkörpern.“
Mal eben gelesen? Ich kannte Den inzwischen etwas. Das war sicher keine zufällige Lektüre.
„... in einem klugen Buch?“
„Ja, ja, natürlich. Na ja, nicht zufällig: Traumdeutung gehört auch zur Seelsorge. Und ich will das ja schließlich mal machen.“
„Und was schließt der Herr Psychologe?“
„Du bist schon ein wenig dieser Philosoph, der du erst werden möchtest.“
„Und das Wandern der Mauern?“
„Du, ich kann dir deinen Traum nicht eins-zu-eins übersetzen. Traumarbeit geschieht immer zu zweit. Was meinst du denn, was das Wandern der Mauern zu bedeuten hat?“
„Vielleicht der Wechsel in meinem Leben. Nach dem Abi die Lehre, jetzt der Bund. Nachher lag ich ja im Bett, und das passt zu dem Stift, den ich hier immer neben dem Bett liegen habe.“
„Und immer sprach dein Lehrer zu dir.“
„Zu uns. Ja, auch als ich schon im Bett lag, hörte ich ihn noch.“
„Vielleicht profitierst du immer noch von dem, was du von ihm gelernt hast?“
„Das stimmt. Fast immer komme ich bei Problemen darauf zurück, was würde Schwarz dazu sagen. Aber was soll das dann, dass er auf einmal aufhört? Mitten im Satz?“
„Keine Ahnung. Kann sein, dass es doch dein Wecker war, auch wenn du den erst später gehört hast. Da kann man sich täuschen. Oder...“
„Oder was?“
„Hat Schwarz auf alle Fragen eine Antwort?“
„Ja... Nein. Also: meistens. Aber in letzter Zeit kommen doch Fragen, da weiß ich nicht, wen ich fragen würde. Da kann ich eigentlich gar keinen fragen. Zum Beispiel: Bin ich schwul, oder nicht? Und wenn ja: Soll ich mich outen, oder nicht? Schwarz ist ja ein weltoffener Mann, aber Homosexualität war an der Schule kein Thema. Ich habe keine Ahnung, wie er darauf reagieren würde. Er ist ziemlich alt. Eigentlich hätte er schon damals im Ruhestand sein müssen, aber die Schule brauchte ihn, und er hatte Spaß daran. Ob er damit klar käme... keine Ahnung.“
„Kein Mensch kann einem in allem raten.“
„Nee, letztlich muss man selbst entscheiden... Und du meinst, dass das Schweigen am Ende ...“
„Mein ich nicht. Musst du selber wissen. Aber es könnte das bedeuten.“
„Tja, es gibt eben Fragen, auf die muss man die Antwort selber finden. Da hilft einem keiner.“
Mein spitzbübischer Ton ließ ihn aufhorchen: „Zum Beispiel?“
„Ob ich dich jetzt durchkitzeln soll, oder nicht.“
„Na solltest du da nicht zuerst mal mich... halt, nein, ha ha ha“
Also, ich habe ihn nicht gefragt. Er hat sich null gewehrt. Seine Hände hielten weiter das Geländer fest, und er wand sich ein wenig, aber es war total leicht. Ich habe es aber nicht übertrieben, denn eigentlich hatten wir die Frage, wieviel wir uns berühren wollten, nicht wirklich geklärt. Außer wenn man seine Reaktion, sich nämlich nicht zu wehren, und seinen anschließenden freundschaftlichen Rippenknuff („Das nächste Mal fragst du mich aber“ „Ja, nachher“) als Einverständnis wertet. Ich war total gut drauf: Das hatte ich mir noch nie mit jemandem herausgenommen. Und jetzt hatte ich es zum ersten Mal gemacht, mit einem Menschen, bei dem es mir wirklich darauf ankam, dass wir uns gut verstanden, und es war gut angekommen.
Es war dunkel geworden, und wir gingen in die Kantine. Das war der Ort, wo es am wenigsten auffiel, wenn zwei immer zusammen waren. Jeden Abend zwei große Weizen... na, meiner Linie würde das ja nicht gerade gut tun. Aber was heißt hier Linie: was für eine Linie? Da war eh nichts von Linie mehr. Wir kamen vom Hölzchen (Apfelbaum) aufs Stöckchen (Schwalbenschwanz), und hatten so schnell kein Ende. Den hatte zwei jüngere Schwestern, ich war Einzelkind. Den hatte kurz vor dem Bund den Führerschein gemacht. Ich hatte noch keinen, denn ich sagte mir immer, was soll ich mit einem Führerschein ohne Auto. Und ich hatte zwar keine Geldsorgen; selbst von meinem Lehrlingsgehalt hatte ich noch gespart, da ich keine großen Ansprüche hatte, und auch der Bundeswehrsold reichte (trotz zwei Weizen am Abend, das hatte ich schon mal rasch durchgerechnet) immer noch fürs Ansparen. Aber für ein Auto und all die Nebenkosten, die daran hingen, hatte ich nicht genug, oder wollte jedenfalls so viel dafür nicht ausgeben. Den hatte auch kein Auto, aber seine Eltern hatten zwei, und er konnte oft eins haben, wenn er eins brauchte. Viel öfter aber war es einfach für die Familie nützlich, wenn er z. B. eine Schwester vom Ballett abholen oder mal eben einkaufen fahren konnte. Na ja, vielleicht sollte ich doch mal den Führerschein machen. Aber das war so ein Thema, vor dem ich auch einen ziemlichen Bammel hatte. Alle anderen machten das mit links, also würde es mir schwerfallen. Die theoretische Prüfung machte mir weniger Sorgen, aber ich würde bestimmt durch die praktische Prüfung fallen.
„Mr. Ich-bin-nix-wert? Haste dir das selbst beigebracht, oder haben es dir andere gezeigt, wie du dich selbst am besten fertig machst?“
Also gut, da war jetzt die Geschichte mit der Schulzeit dran. Darin kam ich aber nicht weit: ein Stubenkamerad setzte sich zu uns. Und da wollte ich dann nicht so was Tiefes bereden, und wir waren bald auf harmlose Anekdoten aus der Schulzeit ausgewichen. Lukas war ein netter Kerl, vielleicht der Netteste vom Rest der Stube. Nicht gerade unsere Wellenlänge, in seiner Freizeit fast immer mit Walkman auf Mithörlautstärke (den er aber ausschaltete, als er sich zu uns setzte), dazu als Hauptthema schnelle Autos. Aber nie ein abfälliges Wort über unsere wenig konformen Hobbys (Lesen im Bett, Bibel, Schreibzeug neben dem Bett), und noch nie was zu meiner wenig vorteilhaften Figur. Lukas war selbst keine Schönheit, aber auch nicht hässlich. Sein Kopf war einfach zu eckig, um wirklich zu gefallen. Und seine Frisur unterstützte diesen Eindruck noch. Dass er sich zu uns setzte, zeigte, dass er keine Vorurteile hatte. Das war nett, und so waren wir ihm auch nicht böse, dass er unsere Unterhaltung auf seichtere Wege lenkte. Und als wir dann noch herausfanden, dass Lukas sich sehr gut mit Computern auskannte, war der Abend doch wieder ganz nett. Denn davon verstanden wir alle was, und jeder hatte so seine Ansichten und konnte andererseits von den anderen das eine oder andere aufschnappen, was er noch nicht kannte. Wir gingen schließlich zu dritt auf die Stube, und bald war Nachtruhe angesagt. Sie wollte sich wieder nicht sofort einstellen. Die Gloriole war weg: Den war erfreulicherweise so etwas wie mein Alltag geworden, und ich musste nicht nachts davon träumen. Aber ich musste mehrmals leise kichern, als ich an das Durchkitzeln dachte. Ob er das mal mit mir machen würde? Ich würde mich nicht wehren. Und mit einem Lächeln auf den Lippen schlief ich ein. Kein schlechter Start für eine Nacht.
Der nächste Tag war ein „grüner“ Tag: wir sollten in grüner Uniform antreten, da es im Keller der Baracke aufzuräumen galt und da das eher schmutzige Arbeit war. Nach der Aufräumaktion, die nur zwei Stunden dauerte, trugen wir dem Leutnant unsere gesammelten Verschönerungsvorschläge vor. Er war baff. Bisher hatten sich seine Rekruten nicht um die Schönheit der Stube gekümmert. Na ja, ein paar Poster, die man nachher wieder mitnahm, aber streichen (das letzte Mal vor seinem Dienstantritt) oder gar Fensterbretter erneuern?
„Da habe ich mir ein Traumpaar an Land gezogen. Euer Arbeitseinsatz an den ersten beiden Tagen war schon außergewöhnlich. Man hatte das Gefühl, dass euch das sogar Spaß macht. Und jetzt auch noch so ein Vorschlag.“
Er duzte uns nicht, aber er kam wohl aus dem Süddeutschen, wo zweite Person Plural nicht als Duzen gilt. Wir hatten nichts dagegen. Was unsere Vorschläge anging, so musste er das erst mal mit seinem Chef besprechen (wäre ja nicht das Militär gewesen, wenn es anders zugegangen wäre, oder?). Ein paar Probleme müssten vorher eindeutig abgeklärt werden. So sollte es zwar schon während der Dienstzeit sein, aber andererseits sollte es nicht so aussehen, als habe seine Abteilung nichts zu tun. Man würde einen Zeitpunkt finden, wo es „dienstlich zu rechtfertigen“ sei. Und man müsse klären, ob es nicht böses Blut geben könne, wenn die anderen Zimmer nicht gestrichen würden. Die kleinste Sorge sei das Material, und auch der Zugang zur Werkstatt ließe sich regeln. Nachdem er dann beim Oberst vorgesprochen hatte und dieser wohl auch noch diesen oder jenen der anderen Leutnants dazu gehört hatte, kam grünes Licht: Übernächste Woche würde er Montag und Dienstag auf einer Weiterbildung sein, da könnten wir uns austoben. Er hatte sowieso noch kein rechtes Programm für uns für diese Zeit. Wir sollten uns wohl Planen geben lassen, mit denen man die Schreibtische und den Boden abdecken kann. Was die anderen Zimmer anging, so lautete die Parole, wer sich ärgert, soll selbst zum Pinsel greifen.
Am spätem Vormittag bekam die Rekrutengruppe unserer Abteilung noch eine Sicherheitseinweisung, in der wir mit Grundbegriffen des Umgangs mit vertraulichem Material bekannt gemacht wurden. Nichts, was man nicht schon gewusst hätte, aber die Beispiele waren aus dem Leben gegriffen, und daher war diese Sitzung nicht langweilig. Danach gingen wir wieder Mittagessen, und der eine oder andere von unseren Kollegen sagte was zu der Idee mit der Renovierung. Der Tenor war, sie würden sich mal anschauen, wie das bei uns lief, und es dann vielleicht auch mal machen. Das bot schließlich etwas Abwechslung.
Am Nachmittag hatte ich dann denselben Kurs, den Den gestern gehabt hatte: Eine Einführung in Recherchen im Internet. Wir waren 4 Rekruten im Kurs, und alle 4 wussten mehr als der Kursleiter, so kam es mir jedenfalls vor. Aber jeder wusste doch hier und da mal was, was die anderen nicht wussten, und so waren wir am Ende des Arbeitstages doch etwas klüger geworden. Na ja, der Kursleiter hatte natürlich auch etwas beigetragen: Um Preise für Materialien aller Art hatte ich mich bisher bei meinen Surf-Sitzungen nicht gekümmert, und er zeigte uns Stichworte, die in solchen Preislisten immer wieder vorkommen, wie „MwSt“, „Brutto“, „lieferbar“, „Kalenderwoche“, und in der Tat fanden wir mit diesen Stichworten eher relevante Preisinformationen als vorher. Für uns gab's keine belegten Brote, war wohl gestern eine Ausnahme gewesen.
Der abendliche Spaziergang um die Sandgrube war bei uns anscheinend nun eine feststehende Tradition. Keiner sagte was, wir gingen nach dem Abendessen einfach los. Dabei achtete Den wohl darauf, dass ich nicht so leicht hinter ihn kam. Nichts Ernsthaftes, aber irgendwie wurde ich den Eindruck nicht los, dass er mich im Verdacht hatte, ich könnte sowas wie gestern noch mal probieren. Wie er bloß darauf kam? Ich kam nun endlich dazu, ihm zu erzählen, wie ich in der Schule immer eher ausgeschlossen war, wohl weil ich so dick und unsportlich war.
„Machst du gar keinen Sport?“
„Doch, Badminton. Ich liebe Sportarten, wo man vom Gegner durch ein Netz getrennt ist. Da gibt es keine Fouls.“
„Bei Badminton muss man sich aber doch auch ganz schön verausgaben?“
„Stimmt, aber irgendwie ohne allzu viel Rennerei. Und wenn irgendein Zielobjekt beteiligt ist, dann bewege ich mich gerne. Am schlimmsten wäre für mich Joggen: einfach nur Laufen, ohne Ziel, und im Grunde könnte man zu jedem Zeitpunkt mal einen niedrigeren Gang einlegen oder gleich ganz aufhören, und das tue ich dann auch. Bei Badminton macht viel die Technik, und da bin ich ganz gut geworden, denn ich spiele das nun schon ein paar Jahre im Verein.“
Und warum hatte ich gerade mit Badminton angefangen? Na warum wohl? Da war so ein hübscher netter Junge...
„Aber das hilft nichts. Ich meine: ich fühle mich besser, seit ich Sport mache, aber abgenommen habe ich nicht. Ganz im Gegenteil. Ab und zu hungere ich mir ein paar Kilo ab, aber die kommen auch genauso schnell wieder drauf. Jo-Jo-Effekt, heißt das. Aber egal: es macht Spaß. Und du?“
„Judo. Meine Mutter meinte, ich könnte einen Sport brauchen, der mir bei der Selbstverteidigung hilft. Weil ich ja nicht so kräftig bin. Judo ist da eigentlich nicht das Ideale, da gibt es Besseres, aber jetzt bin ich halt dabei. Soll ich's dir vormachen?“
Klaro. Ich meine, warum sollte er mir das nicht vorführen? Was ich bei meiner leichtfertigen Zustimmung nicht wusste, war, dass ich als Wurfobjekt herhalten sollte. Aber ich hatte nun mal Ja gesagt. Wir waren gerade an einer Stelle der Sandgrube, die sich für Dens Zwecke ideal eignete: hier hatte der Wind den Sand angeweht, so dass er tief und weich war. Den probierte sicherheitshalber mit Fallübungen aus, ob der Sand auch wirklich weich war. Dann musste ich ihm ein paar Fallübungen nachmachen. Nicht dass ich das beherrschen würde, aber so ungefähr sollte ich doch wissen, wie ich zu fallen habe. Aber eigentlich konnte mir im Sand nicht viel passieren. Und dann ging's los: Ich sollte ihn angreifen. Dabei ging ich natürlich nicht wie ein Judoka vor, aber das machte nichts: sie lernten auch, wie man mit normalen, realistischen Angriffen umgeht. Also zuerst wollte ich ihm an den Hals. Nicht fest, natürlich, aber so tun, als ob. Aber er wich zurück, und so musste ich nachsetzen. Mein Fehler, denn er zog meine Hand an sich vorbei, dazu ein kleiner Schlenker mit seinem Fuß, und schon lag ich der Länge nach im Sand. Na gut, ich war ja weich gefallen, aber es kam doch so überraschend... also ich würde lernen müssen, beim Angriff den Mund zuzumachen. So ging es weiter. Drei, vier Angriffe dieser Art endeten stets im Sand. Dann gab er mir einen Ast, und sagte, ich sollte versuchen, ihn damit auf den Kopf zu hauen. Das war das Schönste: es endete mit einem perfekten Schulterwurf, bei dem ich so richtig durch die Luft flog. Gleich noch mal, und noch mal....
Dann saßen wir beide ziemlich atemlos auf dem Sand. Ich, weil ich unsportlich war, und er, weil ich doch ein gutes Stück schwerer war als er. Besonders bei den Schulterwürfen hatte er doch ganz schön was zu bewegen. Er erklärte mir, dass es nicht gar so schlimm sei, wie es aussieht, da er tatsächlich mehr meinen Schwung ausnutzen würde als mich selbst hochhieven, aber ganz egal war das Gewicht des Gegners eben doch nicht. Es hatte mir riesigen Spaß gemacht. War vielleicht seine Art, auf das Durchkitzeln zu reagieren. Auch schön. Den stand schon mal auf, sein Schiffchen (na, diese komische Kopfbedeckung) zu holen. Es lag irgendwo hinter uns. Ich hörte ihn fragen:
„Hast du eigentlich viel Sand abbekommen?“
„Ich denke, schon.“
„Na, dann macht das hier ja jetzt auch nichts mehr aus.“
Und damit hatte ich so viel Sand, wie er mit zwei Händen fassen konnte, im Hemdkragen.
Diesen Abend war ich in Zivilkleidung in der Kantine. Das tat man ganz selten. So verhasst manchen die Uniform auch war, aber es war doch bequemer, sich nach dem Dienst keine Umstände zu machen und in den Klamotten zu bleiben. Ab und zu kam es aber doch vor. Etwa, wenn man schon mal außerhalb der Kaserne gewesen war und dort halt in Zivil auftreten wollte. Oder wenn man einen Zentner Sand im Hemd hatte...
Die nächsten beiden Tage waren für mich genauso schön, wie die ersten drei. Ich freute mich jeden Morgen darauf, Den im Büro zu sehen, und jeden Abend auf den Spaziergang (wir waren wohl beide vorsichtig damit), und den Ausklang in der Kantine. Am Freitag war natürlich nach Dienstschluss Aufbruch ins Wochenende. Also darauf freute ich mich auch. So öde war mein Leben außerhalb der Bundeswehr nicht gewesen, dass ich mich am Freitagnachmittag gleich wieder in die Kaserne zurücksehnte. Aber ich hatte nun etwas, was mir das Ende des Wochenendes versüßen würde: Ich konnte mich tatsächlich darauf freuen, am Montag wieder Dienst mit Den zu haben.
Meine Eltern sind ganz liebe Menschen. Natürlich waren sie besorgt, ob ich mich in der Kaserne vielleicht nur rumquäle, oder ob es doch erträglich ist. Also musste ich ihnen alles haarklein erzählen. Ich meine: meine Dienstpflichten, meine Vorgesetzten, und meine Arbeitskollegen. Ich hab ihnen schon erzählt, dass ich mich mit Den sehr gut verstehe, aber nicht, dass ich mich in ihn verknallt habe. Sie wissen nicht, dass ich überwiegend auf Jungs stehe. Sie werden es wohl auch nie erfahren. Bei aller Liebe haben sie doch eine respektable Distanz geschaffen: Mir käme es nie in den Sinn, ihnen ein böses Wort zu sagen, oder auch nur mal Dampf abzulassen. Wenn ich das als kleines Kind einmal tat, wurde mir sehr deutlich klar gemacht, dass sie nicht meinesgleichen sind, dass ich mit ihnen also nicht wie mit Spielkameraden umgehen konnte, sondern den Respekt zu wahren hatte. Ich würde das biblische Gebot erfüllen: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren. Das lag mir sozusagen im Blut. Aber gleichzeitig war eben diese Distanz da, die bei vielen anderen Eltern-Kind-Beziehungen glücklich überbrückt zu sein scheint. Und diese Distanz machte es mir unmöglich, ihnen etwas zu sagen, zumal mein Vater sich schon gelegentlich abfällig über Homosexuelle äußerte. Ich will es mal so sagen: Das war für mich genauso undenkbar, wie sie zu fragen, wie es denn bei ihnen um den Sex steht. Da hatte ich wirklich keine Ahnung, da schwamm ich total. Hatten sie? Hatten sie nicht? Es stand mir nicht an, das zu wissen oder auch nur darüber zu spekulieren. Aber bei all dieser Distanz habe ich sie ganz herzlich lieb, und sie mich auch, und so freute ich mich, ihnen etwas erzählen zu können, was sie glücklich machte. Und es machte sie glücklich, zu hören, dass ich einen Freund gefunden hatte. Den sollte ich bei Gelegenheit mal mitbringen.
Am Sonntag ging ich in die Messe. Das tat ich sonst eher selten. Irgendwie hatte mich diesmal meine Bekanntschaft mit Den, der ja Priester werden wollte, dazu gebracht. Ich hatte allerdings meine ganz eigene Art, in die Messe zu gehen: Ich kam (wie zu allem) sehr früh, und ging auf die Orgelempore. Eigentlich war der Zugang frei, aber irgendwie ging dort außer der Organistin niemand hin. Ich war noch vor ihr da und blätterte in den Notenheften. Ich hatte mal etwas Klavierunterricht gehabt und mir selbst etwas Jazz-Gitarre beigebracht, und daher waren das für mich keine Hieroglyphen. Als die Organistin kam, lachte sie mich freundlich an:
„Hallo Helmut. Bist du auch wieder mal da?“
Sie war nun wirklich keine Schönheit: kantig, dürr, mit vorstehenden Knochen im Gesicht, dazu einen Pigmentfehler an der Wange, eine Riesenbrille, und plump geschnittenes Haar. Aber wenn sie lachte, sah man das alles nicht: Man sah nur dieses herzliche und offene Lachen. Ich mochte sie. Sie kannte und duldete auch meine eigenwillige Art, der Messe beizuwohnen: Wenn die Orgel spielte, legte ich mich auf eine Sitzbank, die Teil des Orgelgehäuses war, und spürte so den Klang des Instruments mit meinem ganzen Körper. Ab und zu war ich vorne am Geländer, manchmal kniete ich auch, aber weniger wenn es von der Liturgie so gefordert war, als vielmehr, wenn ich was sehen wollte, oder wenn mir danach war. Wenn mir langweilig war, blätterte ich im Gotteslob und schaute nach, ob der Priester auch alles richtig macht (nee, denn das wäre erst recht langweilig: die machen fast immer alles richtig). Die Predigt bekam ich meist nicht so richtig mit, weil ich meinen eigenen Gedanken nachhing. Ab und zu drang ein Wort zu mir durch, und ich wusste meist nicht, war es Lesung, Evangelium, oder Predigt...
„Denn wenn das Herz uns auch verurteilt - Gott ist größer als unser Herz.“
Das war genug für diesen Sonntag. Wozu brauchte man da noch eine Predigt. Ich war mir selbst nicht sicher, ob ich mit mir ins Gericht gehen sollte, ja noch nicht einmal, wie denn die Anklage zu lauten hätte: Vorsätzliches Vernachlässigen des weiblichen Geschlechts? Mensch, gib dir ein bisschen Mühe, und du wirst ein ganz normaler Hetero. Oder: Feiges Ausweichen vor den Tatsachen? (und dadurch indirekte Mitwirkung an der Diskriminierung von Homosexuellen?) Stell dich. Come out. ... Wenn Gott mich so geschaffen hatte, mit diesem Gefühlswirrwarr in meiner Brust, dann war ich ihm auch recht so.
Sonntags wurde bei uns schon immer gut gekocht. Seit ich beim Bund war, nahm das Ausmaße an. Meine Mutter meinte, mich für eine ganze Woche miserabler Ernährung entschädigen zu müssen. Ich hatte sie allmählich darauf eingestimmt, dass ich nicht pro Wochenende ein Pfund zunehmen wollte, und so hatte sie ihre Bemühungen bezüglich der Menge wieder etwas runtergefahren und steckte dafür etwas mehr in die Raffinesse. Es gab fünf Gänge: als kleine Appetitanreger gab es Minipastetchen, je eins mit Kräuter- und eins mit Hackfleischfüllung. Dann eine Kräutercremesuppe vom feinsten (nicht aus der Tüte oder Dose, sondern ausschließlich aus Kräutern der Saison aus dem eigenen Garten, die gestern noch am Stengel waren), als Hauptgang eine Forelle Müllerin (kleine Exemplare, damit man noch Hunger für den Rest hatte, kaum Kartoffeln, aber einen sehr leckeren Salat dazu) und nach einer minimalistischen Käseplatte (mit einem winzigen warmem Ziegenkäse) eine Dessertplatte, wo jeder einen winzigen Klecks Pudding, etwas süßen Quark, etwas Joghurt nature, dazu ein paar kandierte Früchte und etwas frisches Obst auf dem Teller hatte. Alles war generalstabsmäßig geplant (wo ich doch jetzt beim Militär war), und damit sie nicht ständig in der Küche war, packten wir gelegentlich alle an, und so lief alles wie am Schnürchen. Mein Vater hatte (wieder einmal) drei Flaschen Wein geöffnet: einen weißen trockenen für Suppe und Forelle, einen roten (der nicht mal ein Viertel leer wurde) für den Käse, und eine kleine Flasche eines süßen Weins für den Nachtisch. Er bedauerte kein bisschen, dass jedes Wochenende ein paar angebrochene Flaschen übrig blieben. Die würden vermutlich nicht den Montag erleben. Ich brach ja immer vor dem Abendessen auf, damit ich rechtzeitig in der Kaserne war.
Aber erst mal war die Zeit des gemütlichen Genießens des sorgfältig herbeigeführten Völlegefühls angesagt. Mein Vater zündete sich auf der Terrasse eine Zigarre an (im Haus rauchte er nie, Mutter zuliebe) und ich half meiner Mutter zunächst beim Bestücken der Spülmaschine und setzte mich dann auch auf die Terrasse. Jeder tat so seins: mein Vater las Zeitung, und ich las ... die Bibel. Ich suchte (und fand) die Stelle, die mir heute so aufgefallen war. Meine Mutter kam dann hinzu mit einem Kreuzworträtsel. Eine selige Ruhe verbreitete sich über diesen Nachmittag, nur ganz gelegentlich unterbrochen durch einen Ausruf meines Vaters „Diese Narren!“ (er ließ offen, wen er meinte), oder eine in den Raum geworfene Frage meiner Mutter „Festessen, mit sieben Buchstaben?“ (jeder richtet sich von seiner Tätigkeit kurz auf, einer (diesmal ich) sagt „Schmaus“, und alle Köpfe gehen wieder runter). Ein schöner Sonntag.
Kurz vor 10 durch das Kasernentor, mit einem dicken Seesack, den man noch schnell würde einräumen müssen, bevor pünktlich um 10 das Licht ausgeht. Der Horror. Bisher. Den. „Gute Nacht.“ „Gute Nacht.“ Garantiert.
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