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Totenstille

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Die Straßen waren dunkel, kein Mensch war zu sehen und kein Auto fuhr mehr. Es war totenstill. Nur meine Schritte hallten monoton auf dem Asphalt zwischen den Wänden der Häuserreihen wider und erschütterten die nächtliche Stille. Ich konnte einfach nicht aufhören an dich zu denken. Deine tiefblauen Augen, deine blonden Haare und deine wundervollen Lippen. Dein Gesichtsausdruck, wenn du nachdachtest, dein Blick, wenn du mich anschautest und dein Lächeln, wenn du mich aufmuntern wolltest. Alles war noch wie eingebrannt in meine Seele, auf meiner Haut. Und plötzlich warst du fort. Als ob alles nur ein Traum gewesen ist, einer der schönsten, die ich je geträumt habe.

Es klimperte, als ich den Schlüssel in das Schloss der Haustür steckte und aufschloss. Mühsam schlurfte ich die Treppen nach oben in den dritten Stock und öffnete erneut eine Tür. Diesmal war es jedoch die Wohnungstür. Bis hierhin hast du mich immer getragen. Noch bevor wir in die Straße eingebogen sind, hast du mich am Arm genommen, mich geküsst und gesagt, dass ich dein ein und alles bin. Dann habe ich meine Arme um deinen Hals gelegt und mich innerlich auf einen wunderschönen Abend mit dir gefreut. Ich weiß nicht, was du immer gedacht hast, während du mich nach oben geschleppt hast, aber deine Blicke haben viel gesagt. Das Klopfen deines Herzens versetzte mich jedes Mal in eine eigenartige Stimmung. Angenehm, wohlig warm und doch aufregend. Ich habe diese Momente geliebt. Und du auch, das hast du mich unmissverständlich spüren lassen.

Wie würdest du dich fühlen, wenn ich so plötzlich gegangen wäre wie du? Was würdest du tun? Wie würdet du dich ändern? Auf welche Weise würde solch ein Ereignis dein Verhalten beeinflussen?

Diese und viele andere Fragen schießen mir Tag und Nacht durch den Kopf. Und ich finde keine Antwort, egal wie intensiv ich nachdenke.

Schon als ich über die Schwelle trat, beschlich mich ein ungutes Gefühl. Kein „Schatz, endlich!“, keine Spur vom Duft einer frisch gekochten, heißen Schokolade mit ganz viel Sahne und Moccabohnen obendrauf. Dafür aber dein Geruch. Nicht wie sonst, sondern viel zu scharf und intensiv. Was war los? „Manuel? Bist du da? Manu?“ Nichts. Ich ging langsam durch den dunklen Flur, stellte meine Schuhe auf den Teppich und schlurfte ängstlich in die Küche. Zuerst empfing mich auch dort nur Dunkelheit, doch dann bemerkte in der Nähe des Tisches Kerzenschein. Meine Laune besserte sich schlagartig. Mitten auf dem Tisch standen unzählige Teelichter, zu einem leuchtenden Herz aufgestellt. In der Mitte dieses Herzes stand eine heiße Schokolade mit ganz viel Sahne und Moccabohnen obendrauf. Daneben ein weinroter Briefumschlag, auf dem in goldener Schrift mein Name stand. Es war deine Schrift, unverkennbar. Ich trat näher heran, mit einem Lächeln auf den Lippen. Ich war gespannt darauf, was du dir wieder ausgedacht hattest, um mir deine grenzenlose Liebe zu beweisen. Du warst schon immer für eine Überraschung gut.

Erst, als ich nach dem Briefumschlag griff, merkte ich, dass der Tisch mit einer riesigen Pfütze bedeckt war. Das war es also. Dein Duft. Dein Aftershave. So langsam bekam ich es doch mit der Angst zu tun. Dass du dir manchmal wirklich seltsame und verrückte Sachen hast einfallen lassen wusste ich, aber das ging zu weit. Und es passte nicht zu dir. Außerdem: Wo warst du? Ich lauschte noch einmal angestrengt, blickte mich um. Nichts. Das konnte einfach nicht sein. So gut konntest du dich nicht versteckt haben. Warst du überhaupt in der Wohnung? Ich wurde nervös, konnte das, was du dieses Mal vorhattest, wirklich nicht verfolgen und nicht begreifen.

Deine Schokolade hatte mich immer beruhigt. Wenn es mir schlecht ging, ich geweint hatte und aufgeregt war, hattest du mich immer zuerst ins Bett gesteckt, und mir dann ein riesengroßes Glas mit dem herrlich duftenden Kakao gebracht. Wenn du dich dann zu mir gelegt hattest, wusste ich, dass ich nicht allein war, dass es jemanden gab, der mich vollkommen verstand, und schlief ein.

Den Umschlag legte ich nach diesen Gedanken vor mich auf den Tisch und berührte ihn mit meiner linken, flachen Hand. Diese Verbindung würde mir helfen, dein seltsames Rätsel zu lösen, bildete ich mir ein. Doch es war nicht so. Beruhige dich, trink die Schokolade, dachte ich. Es tat gut, als ich trank. Trotzdem erinnerte es mich nochmals an dich und daran, dass ich nicht wusste, wo du warst und was das alles sollte. Entschlossen setzte ich das Glas ab, und öffnete den weinroten Umschlag. Ich erwatete so etwas wie den 1.000 Liebesbrief von dir oder einen Gutschein, doch das, was ich sah, machte mich noch unsicherer. Eine Karte. Ohne Text. Auf der Vorderseite der Karte war das Bild einer Autobahn, auf der die Autos so schnell fuhren, dass sie nur noch verwischt abgebildet waren.

WEG!, schoss es mir durch den Kopf. Warum? Warum ohne mich? Warum ohne mir Bescheid zu sagen? Wohin? Was ist passiert? Was habe ich getan?

Mich packte die blanke Panik. Ohne weiter nachzudenken sprang ich auf und lief ins Schlafzimmer. Dein Koffer musste ja weg sein, und solche Sachen wie zum Beispiel deine Zahnbürste ebenfalls. Ich riss sämtliche Schranktüren auf und durchwühlte die Kleidungsfächer, sodass ein heilloses Chaos entstand. Doch das war mir momentan völlig egal. Deine Klamotten schienen noch da zu sein, der Schrank sah aus wie immer. Auch deine Koffer waren da, wo sie hingehörten. Seltsam. „Was geht hier vor?“, murmelte ich ununterbrochen vor mich hin, ohne es richtig wahrzunehmen, so aufgeregt war ich. Schließlich hetzte ich ins Badezimmer. Auf den ersten Blick wirkte dort ebenfalls alles unverändert. Deine Zahnbürste stand im Becher, dein Rasierer steckte in der Steckdose, dein Schaumfestiger stand auf der Ablage. Als ich genauer hinschaute, fiel mir jedoch ein beiger Zettel unterhalb der Heizung auf. Schon während ich ihn aufhob, begann ich zu lesen.

Jahrelang hab ich’s gesucht,

hab’s dann beschimpft und hab’s verflucht:

Mein wahres Ich, so anders und so widerlich.

Mein kleiner Stern, so such’ mich nicht,

ich will nicht, dass auch deins zerbricht.

Dein großes Herz, es soll nicht stecken voller Schmerz.

Mir geht es gut, wo ich jetzt bin,

der ganze Druck, er schwebt dahin.

Bald werden wir uns wieder seh’n, Hand in Hand nach Hause geh’n.

Warten werd’ ich auf dich dort,

an diesem völlig fremden Ort.

Noch ist er für dich weit und fern, doch bald sind wir der Glitzerstern.

© Cassino, 15.06.2006, „Glitzerstern“

Zeile für Zeile las ich mir das Gedicht wieder und wieder durch. Welches wahre Ich? Welcher fremde Ort? Welcher Druck? Schon wieder Fragen über Fragen, auf die ich keine Antwort hatte. Langsam wurde ich wirklich wahnsinnig. Kurz entschlossen steckte ich den Zettel und den Brief ein und ging nach draußen. Vielleicht half mir die kalte, klare Luft wieder einigermaßen normal zu denken.

Unten angekommen schlurfte ich bis zur nächsten Laterne und lehnte mich an den Mast. Ich blickte in den Himmel, schloss meine Augen und atmete so tief durch, wie ich konnte. Dann zog ich den Brief aus der Tasche. Nach wie vor war er nur mit meinem Namen beschrieben, und eine Postkarte ohne Text, aber mit dem verschwommenen Bild von vorbeifahrenden Autos, war darin. Meine Gedanken kreisten unaufhörlich, ich atmete hektisch und zitterte vor Aufregung. Mir wollte partout nicht einfallen, was du mit der Karte sagen wolltest.

Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Der Park!

Entschlossen lief ich los. Ich hatte nur noch den Gedanken an dich im Kopf, alles andere war vergessen.

Der Park war eine riesige Grünfläche mit einem idyllischen See und Picknickplätzen. Er wurde von der Stadt als „öffentliche Ruhe- und Erholungszone“ bezeichnet. Das war völliger Blödsinn, denn nicht weit von der Parkgrenze entfernt zog sich die Autobahn durch die Landschaft. Man hörte das donnernde Rauschen der vorbeifahrenden Autos nirgendwo besser als hier. Damals lachten wir uns bei jedem Parkbesuch pausenlos über diese Tatsache kaputt, bis uns auffiel, dass deshalb auch so gut wie niemand in den Park kam. Uns bot sich die perfekte Gelegenheit, ungestört zu sein. Und so kamen wir fast jeden Tag hierher, beobachteten die untergehende Sonne und genossen die ungestörte Zweisamkeit. Wir hatten von Anfang an unseren Stammplatz, die kleine Bank am See. Von dort aus sah man den Himmel wunderbar und dadurch, dass der See direkt vor einem lag, entstand eine geheimnisvolle Atmosphäre, die wir beide sehr schön fanden, und von der wir nie genug bekommen konnten.

Langsam öffnete ich das eiserne Eingangstor und trat ein. Mir lief ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter, als ich meinen Blick über das Gelände schweifen ließ. Ich war nachts noch nie allein hier gewesen. Alles wirkte trotz der Laternen kalt, gespenstisch und bedrohlich. Trotzdem ging ich weiter. Ich lief gemächlich den Weg entlang, jedoch schaute ich mich immer wachsam nach einem Anzeichen von dir um, schreckte bei jedem Rascheln auf. Nach einiger Zeit kam ich an unserer Bank an. Der See lag friedlich da, einige Grillen zirpten, und ab und zu hüpfte ein Frosch mit einem Quaken durchs Schilf. Es war alles wie immer und doch war es anders. Du fehltest. Schutzlos fühlte ich mich, allein, verlassen und verletzbar. Betrübt und ratlos ließ ich mich auf der Bank nieder und atmete tief ein und aus. Weiterhin starrte ich auf den See, und plötzlich schimmerte etwas am Ufer. Zögernd stand ich auf und lief dorthin. Ich erschrak. Wieder ein Umschlag. Wieder weinrot. Wieder mein Name in gold.

Jetzt reichte es. Das war zuviel und wirklich nicht mehr lustig. Meine Nerven lagen bereits jetzt schon blank und ich hatte die Nase gestrichen voll. Was sollte dieses dumme Spiel?

Wütend riss ich den Umschlag auf und holte den Inhalt heraus. Eine Karte ohne Text. Das Bild einer dunkelroten Rose in voller Blüte, ebenfalls verschwommen. Nur ein Dorn stach mir beim Betrachten des Fotos förmlich ins Auge. Es befand sich noch ein Zettel im Kuvert. Ich öffnete diesen und las.

Unglücklicher,

was tust du?

Unglücklicher,

was willst du?

Unglücklicher,

was denkst du?

Unglücklicher,

was fühlst du?

Unglücklicher,

du suchst mich.

Unglücklicher,

du willst mich.

Unglücklicher,

du denkst an mich.

Unglücklicher,

du fühlst mich nicht.

© Cassino, 22.07.2006, „Unglücklicher“

Manuel.

Ja, ich suche dich. Ja, ich will dich. Ja, ich denke an dich. Ja, ich fühle dich nicht.

Verdammt!

Was willst du mir mit dieser Karte sagen? Eine rote Rose. Sie erinnert an Liebe, vor allem die volle Blüte. Der Dorn zerstört diesen Gedanken allerdings schon, bevor er sich richtig entwickelt hat. Was könnte er bedeuten? Vielleicht, dass in unserer Beziehung irgendetwas nicht in Ordnung war, dass mir nicht aufgefallen ist. Und du hattest dich die ganze Zeit nicht getraut, es mir direkt zu sagen. Jetzt versuchst du es auf diese Art und Weise. Aber warum? Bisher dachte ich, es wäre alles gut. Außerdem hatten wir von Anfang an vereinbart, dass wir miteinander reden können, egal worum es geht. Und das hatten wir auch immer getan.

Ich ging in die Hocke und starrte ins Gras. Mein Kopf brummte, doch mir wollte einfach keine Antwort einfallen. Wenn ich wenigstens wüsste, was los ist, dachte ich wütend. Ob etwas passiert war oder ob ich an die ganze Sache mit freudiger Erwartung rangehen konnte.

Es war immer noch stockdunkel und nichts regte sich. War es schon immer so dunkel gewesen oder war diese Nacht besonders schwarz? So kam es mir jedenfalls vor.

So saß ich da, stundenlang ohne ein Zeitgefühl.

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