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Auf der Tour
Teil 27
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Informationen
- Story: Auf der Tour
- Autor: cdwgrisu
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Lovestory
Inhaltsverzeichnis
- Chris: Es geht wieder los
- Fynn: Sind wir wirklich schon so gut?
- Chris: Das war zum Ende noch ein sehr anstrengender Tag für mich
- Marc: Ausflug zum Challenger nach Stralsund
- Chris: Ein heftiger Viertelfinaltag
- Justin: Unangenehmes Gefühl nach dem Sieg und schwieriges Halbfinale
- Chris: Halbfinaltag
- Marc: Eine Überraschung zum Finale
- Chris: Finaltag mit ungewöhnlichen Geschehnissen
Chris: Es geht wieder los
Der Morgen hatte bereits wieder die Turnierroutine. Gemeinsames Frühstück und anschließende Fahrt auf die Anlage in Stralsund. Jörg und ich hatten das gemeinsame Einschlagen beobachtet und mein Puls war bereits leicht erhöht. Dustin musste als erster beginnen und ich hatte jetzt doch ein größeres Problem. Eigentlich hatte ich das so geplant, dass ich Maxi noch vor dem Beginn des ersten Matches abholen konnte. Das klappte nun aber nicht, weil Dustin früher beginnen musste. Das Spiel vor ihm war wegen Krankheit eines Spielers ausgefallen.
Es gab eigentlich nur zwei Möglichkeiten für mich. Entweder würde ich Fynn bitten, seinen Freund zu coachen während ich Maxi abholte oder ich müsste Maxi bitten, mit dem Taxi zur Anlage zu kommen. Das war für mich beides eigentlich nicht akzeptabel und entsprechend unzufrieden war ich mit der Situation.
Fynn spürte meinen Unmut und interessanterweise traute er sich mich darauf anzusprechen:
„Was für ein Problem hast du gerade, Chris. Du bist genervt, ganz eindeutig. Warum? Was ist schiefgelaufen? Haben wir uns schlecht vorbereitet?“
Jörg saß neben mir und schaute mich interessiert an. Er hatte es wohl auch bemerkt.
„Oh man, Fynn. Ja, ich bin genervt, weil ich nicht auf diese Vorverlegung vorbereitet war. Dustin geht gleich auf den Platz und ich muss Maxi vom Bahnhof abholen. Ich müsste also Dustin allein beginnen lassen oder Maxi muss irgendwie allein herkommen. Das geht mir beides aber gegen den Strich.“
Fynn und auch Justin, der mittlerweile auch zu uns gekommen war, schauten sich an. Justin meinte:
„Schreib Maxi doch, dass der Zeitplan nicht mehr stimmt. Er könnte sich doch ein Taxi nehmen und herkommen.“
„Ja, natürlich könnte er das machen. Aber wie würdest du dich fühlen, wenn du zu einem Turnier nachkommen würdest und ich dich nicht abholte? Das ist kein guter Beginn für Maxi. Er wird auch aufgeregt sein.“
In diesem Augenblick grätschte Jörg dazwischen.
„Sag mal, Chris. Das ist jetzt nicht ernsthaft dein Problem? Warum sagst du nichts? Ich fahre sofort zum Bahnhof und hole Maxi ab. Das ist doch überhaupt kein Problem. Ich werde hier nicht gebraucht, zumal ich von Tennis nur sehr wenig verstehe.“
Dabei hatte er wieder sein typisches Lächeln im Gesicht. Er hatte mich wieder ausgebremst und mir gezeigt, wie sehr ich auf mich selbst fixiert war. Hilfe anfordern war immer noch nicht meine Stärke.
„Wann kommt er denn am Bahnhof an?“, schob Jörg direkt fragend hinterher.
Ich gab ihm nur die Ankunftszeit und schon wollte er aufbrechen, da meldete sich Justin:
„Kann ich mitkommen? Ich muss als letzter spielen und habe genug Zeit. Ich glaube, Maxi wird sich freuen, wenn ein bekanntes Gesicht am Bahnhof steht. Oder hast du etwas dagegen, Chris?“
„Coole Idee“, gab ich zur Antwort, „Danke. Darauf wäre ich jetzt nicht gekommen.“
„Dann üben wir noch ein wenig das um-Hilfe-bitten“, lachte Jörg und verschwand mit Justin zum Auto.
Die ersten zwei Spiele von Dustin beschäftigte mich das immer noch, aber dann tauchte ich komplett in das Match ein. Dustin war seinem Gegner in allen Belangen überlegen und eigentlich hätte ich mich in unserer Box am Center Court entspannen können. Aber ich war so tief im Match, dass ich bis zum Matchball angespannt blieb.
Die Erwartung, das Spiel könnte jederzeit noch kippen, saß tief. Eigentlich auch richtig, aber selbst Jan hatte mir schon gesagt, dass ich an dieser Anspannung arbeiten müsste, weil das extrem viel meiner Energie kosten würde. Ein Spiel könne auch einfach gut zu Ende gehen. Wachsam bleiben, ja, aber nicht immer mit dem 'worst case' rechnen. Das war für mich noch nicht so einfach möglich.
Aber heute war meine Freude über diesen glatten Sieg umso größer. Dustin hatte sein ganzes Potenzial gezeigt und zusätzlich eine enorme Spielfreude. Das hatte schon beim Zuschauen Freude bereitet. Entsprechend euphorisch erwartete er mich nach dem Spiel vor der Umkleide.
„Yes! Das war doch mal ein guter Start, oder nicht?“
Er strahlte über das ganze Gesicht und ich umarmte Dustin fest als ich erwiderte:
„Ja, ganz bestimmt. Das war großes Kino und so darfst du gerne weiterspielen. Da hast du sehr klar gezeigt was du kannst. Wobei ich überzeugt bin, dass du noch eine ganze Menge mehr kannst, wenn es nötig wird. Wirklich sehr konsequent zu Ende gespielt. Klasse!“
Fynn stand natürlich auch schon bereit, seinem Freund die entsprechende Belohnung zu geben. Dafür zog ich mich dann etwas zurück. Fynn musste sich aber auch langsam vorbereiten. Ich hatte mir jedoch ganz fest vorgenommen, ihm das nicht mehr extra zu sagen. Er sollte das mittlerweile eigenverantwortlich können. Und deshalb nahm ich mir jetzt auch die Freiheit, in den Spielerbereich zu gehen und dort einen Othello zu ordern. Jörg sollte auch bald zurück sein. Ich hatte ihm geschrieben wo er mich finden würde.
In der Tat dauerte es auch nicht lange und Dustin kam zu mir, um zu berichten, dass sich Fynn und Sergio einschlugen.
„Kommst du gleich an den Platz? Ich glaube, Fynn möchte dich gerne in der Nähe haben.“
Dustin wirkte angespannt.
„Natürlich komme ich gleich an den Platz. Aber jetzt warte ich auf Jörg und vor allem auf Maxi. Wenn ich ihn begrüßt habe, werden wir gemeinsam an den Platz kommen. Wir haben noch mehr als genug Zeit.“
Damit gab sich Dustin zufrieden und verschwand wieder zu seinem Freund.
Es dauerte auch nicht mehr lange und die drei betraten den Spielerbereich. Jetzt taucht sicher die Frage auf, wie konnte Jörg dorthin gelangen? Er war weder ein Spieler noch ein offizieller Coach. Da ich ja eh für Maxi noch einen weiteren Coaching-Pass bestellen musste, würde ich auch für Jörg eine Akkreditierung beantragen und damit konnte er sich genauso frei bewegen wie ich. Maxi kam als letzter an meinen Tisch. Er wirkte fast etwas schüchtern.
„Hallo Maxi, los komm ran hier. Herzlich willkommen in Stralsund. Ab heute auf der anderen Seite des Zaunes. Wie war deine Anfahrt?“
„Hallo Chris. Danke für die freundliche Begrüßung. Die Fahrt war gut. Und danke, dass du Jörg und Justin geschickt hast. Ich bin schon etwas nervös.“
„Na ja, ich habe sie eigentlich nicht geschickt, sondern...“
„Stopp, Chris“, grätschte Jörg jetzt energisch dazwischen, „Wir haben es gemeinsam bewältigt. Und jetzt ist deine Aufgabe Fynn zum Sieg zu bringen. Maxi wird sicher schnell mitbekommen, wie das hier abläuft.“
Ich wagte es jetzt nicht mehr, Jörg zu widersprechen. Also dann auf in den Kampf und zu Fynn und Sergio an den Platz.
„Wollt ihr mitkommen oder möchtest du mit Justin direkt in die Matchvorbereitung gehen?“, fragte ich Maxi noch.
„Mitkommen, ich werde sonst viel zu nervös sein. Vielleicht können wir uns gleich noch etwas abstimmen. Auf diesem Niveau habe ich als Trainer kaum Erfahrung.“
„Ach was. Das kennst du doch alles schon. Nur, dass du jetzt auf der anderen Seite des Zaunes sitzt. Aber, klar, kommt mit. Fynn wird sonst wieder unruhig, wenn ich nicht zeitig an seinem Platz stehe.“
„Geht das Match denn schon los? Justin meinte, Fynn und Sergio würden sich nur einschlagen.“
„Korrekt. Also alles ganz entspannt lassen. Fynn macht sich wieder Druck ohne Ende und ich möchte eigentlich mit meiner Abwesenheit demonstrieren, dass alles ruhig und entspannt ist.“
Maxi nickte schmunzelnd. Er kannte Fynn von früher noch sehr gut.
Am Platz hielt ich mich bewusst im Hintergrund. Fynn hatte mich gesehen und das musste für ihn eigentlich reichen. Das Einschlagen sah vollkommen normal aus. Sehr professionell, so wie ich es auch erwartet hatte.
Jörg war mittlerweile wieder verschwunden. Ich hatte keine Ahnung wo er hin war bis zu dem Moment, als er mit einem Rucksack zurückkam.
„Was bringst du uns denn wieder für schöne Sachen mit?“, fragte ich lachend.
Er griff hinein und holte zwei Flaschen Fassbrause mit meiner Lieblingssorte Himbeer-Minze hervor.
„Damit unser alter, grüner Drache auch weiterhin genug Treibstoff hat“, lachte Jörg.
Maxi und Justin feixten auch fleißig mit.
Ich freute mich über meine Nervennahrung und nahm gern eine Flasche und prostete Jörg zu. Ein tiefer Zug folgte und damit herrschte auch gleich wieder eine gelöste Stimmung.
Eine gute Stunde später saß ich mit Jörg bei Fynn am Platz und spürte wieder die starke Anspannung. Heute wurde mir richtig bewusst, dass sich unsere Position verändert hatte. Meine Jungs waren nicht mehr die „Geheimfavoriten“, sie waren alle drei „Top gesetzt“ und damit zum Favoritenkreis zu zählen.
In Stralsund wurde die höchste Kategorie der Challenger Turnierserie gespielt. Vor einem Jahr hätte ich das für unmöglich gehalten, aber es war jetzt einfach so. Und Fynn zeigte es seinem Gegner auf dem Platz auch sehr deutlich. Die erste Runde wurde souverän gewonnen. Ich brauchte mir nur ein paar Notizen in meinen Laptop zu schreiben und die Matchstatistik zu führen. Fynn gewann glatt in zwei Sätzen.
Während des zweiten Satzes hatte sich Maxi mit Justin zu seinem Match begeben. Sergio zu betreuen würde gleich meine Aufgabe werden, nachdem ich mit Fynn gesprochen hatte.
Und Fynn erwartete mich wie immer vor der Umkleide. Ein befreites Lachen im Gesicht zeigte mir allerdings auch, dass der Druck auf dem Platz doch groß gewesen war.
„Gratuliere, das war ein tolles Match. Keine Experimente und nichts anbrennen lassen. Einfach fertig gespielt und gewonnen. Klasse!“
Daraufhin machte Fynn einen Schritt auf mich zu und hatte das Bedürfnis, mich intensiv zu umarmen. Wortlos.
Ein starkes Gefühl machte sich in mir breit. Damit hatte ich nicht gerechnet. Erst als wir wieder nebeneinander standen, meinte Fynn:
„Das war wirklich gut auf dem Court. Ich fühlte mich sicher und wusste, sollte ich etwas falsch machen, würdest du mir einen Hinweis geben. Ich habe immer gespürt, dass du zufrieden gewesen bist. Das gab mir zusätzliche Kraft. Hoffentlich bleibt das so.“
„Danke für die Blumen“, erwiderte ich lachend, „ich habe hier nichts hinzuzufügen. Jetzt bitte das normale Programm und dann darfst du dich mit Dustin etwas entspannen. Ich bin bei Sergio, gehe aber vorher mit Jörg einen Kaffee trinken. Bis gleich. Wir werden hier zeitig aufbrechen. Also Essen machen wir in Rügen. Und du kannst Simon und Mattes für morgen mit seinen Freunden einladen. Ihr seid ja noch im Turnier. Das hatten wir ihnen versprochen. Ich brauche nur eine Anzahl der Personen. Bis zehn Personen ist kein Problem.“
Fynn nickte und ging auslaufen. Für mich war die Situation deutlich entspannter als sonst. Ich hatte allerdings noch nicht den Grund dafür gefunden. Daher rechnete ich mit Stress in der nächsten Runde.
Aber die Standards liefen mittlerweile von allein. Ich brauchte mich darum nicht mehr ständig zu kümmern. Meine Jungs hatten einiges verinnerlicht und erledigten das eigenverantwortlich. Das war angenehm.
Meine Unruhe beim Kaffee mit Jörg stieg deutlich. Es fiel mir schwer ruhig sitzen zu bleiben. Gerade bei Sergio, der ja nur Marcelo als Unterstützung dabei hatte.
Plötzlich tauchte Dustin bei uns am Tisch auf.
„Hey, was ist los? Ich dachte du bist mit Fynn beschäftigt?“, fragte ich mit einem Augenzwinkern.
„Ja, eigentlich schon. Aber wir haben bei Justin am Platz gesessen und wollten nur Bescheid sagen, dass Maxi gut mit Justin im Spiel ist. Justin führt 5:2 im ersten Satz. Du kannst also ruhig zu Sergio gehen. Wir kommen auch gleich dorthin wenn Justin fertig ist.“
„Danke dir, das hört sich gut an. Finde ich beruhigend.“
Jörg wartete noch bis Dustin wieder gegangen war. Dann fragte er:
„Du kannst immer noch schlecht abschalten, oder? Ich habe den Eindruck, dass du gedanklich bei Sergio am Platz bist.“
„Ja, das ist korrekt. Es fällt mir schwer. Ich fühle mich verantwortlich.“
„In Ordnung. Aber du spielst doch überhaupt nicht mit. Du kannst den Ball ja nicht rein spielen. Das muss der Spieler schon selbst machen.“
„Hahaha, sehr guter Spruch. Gott sei Dank muss ich den Ball nicht ins Feld spielen. Dafür bin ich viel zu schlecht und zu alt. Aber ich kann dem Spieler wichtige Hinweise geben und Unterstützung.“
„Dann lass uns doch einfach an den Platz gehen. Das wird für dich gut sein. Ich kann es nicht verantworten wenn du Gefahr läufst, einen Herzinfarkt zu bekommen, hihihi.“
Jörgs Frotzeleien taten mir gut. Auf dem Weg zum Platz musste ich tatsächlich zwei oder drei Autogramme schreiben. Das irritierte mich immer noch.
Am Platz suchte ich nach Marcelo. Er saß hinter der Grundlinie und schaute dem Spiel von dort zu. Auf der Anzeigetafel konnte ich den Spielstand erkennen. Sergio hatte gleich mit einem Break begonnen und führte mit 3:1 im ersten Satz.
Sergio war es eigentlich gewohnt, häufig ohne Coach unterwegs zu sein. Von daher dauerte es einige Minuten bis er mich neben seinem Freund registriert hatte. Aber von da an war die Kommunikation gut. Sergio spielte etwas zu passiv für mein Verständnis. Aber er hatte das Match bislang gut unter Kontrolle. Von daher gab ich nur dezente Hinweise.
Das wäre ein Thema bei der Nachbesprechung, aber jetzt ließ ich ihn in Ruhe zu Ende spielen, denn er kam nicht in ernsthafte Gefahr. Nach einer weiteren Stunde war das Spiel zu Ende.
Ich hatte mir Gedanken gemacht wie ich die Nachbesprechung gestalten wollte. Bislang hatte ich immer in Einzelgesprächen die jeweilige Manöverkritik gemacht. Vielleicht könnte ich auch einmal in einer großen Runde mit allen über alle Spiele sprechen. Damit würden auch alle von einzelnen Situationen profitieren.
Jetzt stand aber erst einmal die Gratulation für Sergio an. Eine schöne Situation ergab sich dadurch, dass Dustin und Fynn auch zum Gratulieren gekommen waren. Mir kam dadurch aber auch eine Frage in den Sinn.
„Wie sieht es bei Justin aus? Könnt ihr dort einfach weggehen?“
Fynn fing an zu grinsen bevor er antwortete. Da wusste ich, dass ich mir einen Spruch anhören müsste.
„Ja, können wir. Ich hatte doch gesagt, dass wir zu Sergio kommen, wenn Justin gewonnen hat. Wir sind hier, also hat Justin gewonnen.“
Das löste bei allen Anwesenden Gelächter aus. Okay, der Spruch ging auf meine Kosten. Selbst schuld. Aber Justin hatte auch gewonnen und ich konnte damit den nächsten Schritt bekannt geben.
„Sehr schön, dass Justin auch gewonnen hat. Dann sage ich jetzt an, in einer halben Stunde treffen wir uns auf dem Parkplatz und fahren zurück. Nachbesprechung findet bei uns auf der Terrasse statt. Jörg hat sich bereiterklärt für die Nahrungsaufnahme zu sorgen. Mehr verrate ich nicht.“
Wir waren zeitig fertig und dafür bot sich ein gemütlicher Grillabend an. Jörg kannte eine gute Fleischerei in der Nähe und einen großen Grill gab es am Haus.
Mein Weg ging zu Justin. Er war aber noch beim Auslaufen, daher machte ich mich auf, um den Zeitplan für den nächsten Tag zu bekommen. Im Turnierbüro erbat ich den Spielplan. Allerdings war der „schedule of play“ noch nicht fertig. Es waren heute noch etliche Spiele zu spielen. Daher versprach man mir, ihn umgehend per Mail zu schicken, sobald er fertig war.
Ich stand vor dem Clubhaus auf dem Rasen als mich jemand ansprach.
„Entschuldigung, Sie sind doch der Coach vom „Break-Point-Team“? Könnte ich ein Autogramm von Ihnen auf mein Sweatshirt bekommen?“
Vor mir stand ein etwa dreizehnjähriger Junge mit einem nagelneuen Sweatshirt in der Hand. Es war eins der Teile, die die Ballkinder trugen.
„Hallo, wenn du mir verrätst wie du heißt und warum du von mir ein Autogramm möchtest und nicht von meinen Spielern, dann gern.“
„Ich heiße Drees und ich würde auch sehr gern von Ihren Spielern ein Autogramm nehmen, aber ich habe noch keine Gelegenheit bekommen sie zu fragen. Und das soll ein Geschenk für meinen Bruder sein. Er kann leider nicht hier sein und als Balljunge mitmachen. Er ist krank.“
„Das tut mir leid für deinen Bruder. Ich hoffe, er ist nicht ernsthaft erkrankt und finde es toll, dass du an ihn denkst. Aber warum findet er ausgerechnet uns so besonders?“, fragte ich vorsichtig nach.
Drees schaute sich einmal um. Es schien ihm doch etwas unangenehm zu sein, als er leise antwortete:
„Leon ist auch schwul. Er ist fünfzehn und hat vor acht Wochen die Diagnose Hodenkrebs bekommen. Jetzt liegt er im Krankenhaus und erholt sich von der Chemotherapie. Aber er wird wieder gesund, da es wohl rechtzeitig erkannt wurde.“
Das traf mich schon. Ein Junge, der sich um seinen Bruder sorgte und ihm mit meiner Unterschrift eine Freude machen wollte. Das konnte ich nicht so stehen lassen.
„Das ist erst einmal das Wichtigste. Es tut mir leid für euch. So eine Krankheit so jung zu bekommen ist bitter. Umso schöner, dass er wieder gesund wird und ihr bald gemeinsam wieder Sport machen könnt. Ich schlage dir etwas vor: Du kommst bitte mit mir mit und ich sorge dafür, dass du alle Unterschriften auf dieses Sweatshirt bekommst.“
Damit hatte Drees nicht gerechnet. Nach einer Schrecksekunde strahlte sein Gesicht. Er nickte nur und ich nahm ihn mit zu meinen Jungs. Die saßen bereits abfahrbereit auf der Spielerterrasse. Drees war irritiert, denn eigentlich war dieser Bereich für ihn nicht zugänglich und auch am Eingang wollte die Security ihn nicht hineinlassen. Erst als ich mit Nachdruck erklärt hatte, dass ich ihn eingeladen hatte durfte er mich begleiten.
Ich erklärte meiner Truppe das Anliegen und natürlich gab es von allen die gewünschte Unterschrift. Ich ließ mir zum Schluss noch einmal den Stift geben und schrieb eine kleine Widmung an den Bruder auf das Shirt.
„Vielen Dank für die Autogramme. Damit macht ihr meinem Bruder eine große Freude. Ich wünsche euch noch viel Erfolg hier in Stralsund.“
„Wenn es tatsächlich möglich wird, dass dein Bruder herkommen kann, dann melde dich bitte bei uns. Wir möchten ihn kennenlernen. Und das meine ich ernst. Es ist mir ein Bedürfnis, deinem Bruder Mut zu machen.“
„Ja“, meldete sich Fynn zu Wort, „Chris hat es auf den Punkt gebracht. Melde dich, wenn er kommen kann. Wir möchten ihn persönlich kennenlernen. Und wenn er einen Freund hat, dann soll er den auch mitbringen. Richte ihm von uns alles Gute aus.“
Drees gab jedem dankbar die Hand als er sich verabschiedete. Auch meine Jungs dachten noch einige Momente über das gerade Erlebte nach. Aber erst nachdem wir auf dem Weg zum Auto waren, meinte Dustin:
„Es ist schon bitter, was andere Jungs für Schicksale haben. Obwohl wir es auch nicht einfach hatten, eine Krebserkrankung ist eine ganz andere Hausnummer. Ich glaube, du kannst am ehesten erahnen, was Leon momentan durchmacht. Oder, Chris?“
Ich wusste sofort worauf Dustin hier anspielte, aber wollte ich darauf reagieren? Jörg nahm mir diese Entscheidung ab.
„Ja, Chris wird wissen, wie es sich anfühlt nicht mehr so leben zu können wie man das gerne möchte. Aber er kann auch zeigen, dass es sich immer lohnt nicht aufzugeben und es einen Weg aus der Not gibt.“
Ich konnte es nicht mehr verhindern. Meine Erinnerungen an diese Zeit im Rollstuhl und die vielen Operationen und Wochen in Kliniken holten mich ein. Auch Maxi kannte ja meine Geschichte. Er war es, der jetzt demonstrativ neben mir ging und mit Jörg auf der anderen Seite mich wie ein Bodyguard schützen wollte.
Bis zum Auto sprach niemand mehr über diese Situation. Auch Jörg hatte bemerkt wie sehr es mich aufgewühlt hatte.
Im Auto musste ich diese Situation auflösen. Es wäre zu negativ geworden.
„Leute, ich möchte mich bedanken für eure schöne Geste gegenüber Drees. Was mich betrifft, ich möchte nur ungern zurück blicken. Ich habe diese Zeit überwunden und genieße heute mein Leben. Lasst uns in die Zukunft schauen und das Ziel wird sein, gemeinsam auf der großen ATP Tour Erfolg zu haben. Und wenn wir weiter so zusammenhalten, wird uns das auch gelingen.“
„Chris hat wie immer recht“, meldete sich Maxi, „ihr habt alle Voraussetzungen dafür und mit ihm einen genialen Coach, der genau weiß wie ihr dieses Ziel erreichen könnt. Also lasst uns gemeinsam vorwärts schauen. Auch mir wird es helfen, besser über den Verlust von meinem Papa hinwegzukommen. Wir sind gemeinsam stark.“
Es folgte eine Sekunde der Stille, aber dann klatschten alle begeistert und freuten sich über meine und Maxis Worte. Entsprechend gelöst stiegen wir an unserer Unterkunft aus. Jörg bog nahezu zeitgleich mit uns auf den Hof. Er bat einen der Jungs ihm beim Tragen der eingekauften Sachen zu helfen.
Ich hatte schnell in der Küche ein paar Brettchen auf den Tisch gelegt und wollte schon mit dem Schneiden und Vorbereiten der Salatsachen beginnen, als Jörg meinte:
„Du hast doch noch mit den Jungs die Nachbesprechung. Also geht ihr auf die Terrasse und ich werde schon einmal hier in der Küche beginnen.“
Also gut, dachte ich. Aber ich schickte denjenigen direkt in die Küche mit dem ich die Nachbesprechung beendet hatte. So waren wir zügig mit allem durch und als ich auch in die Küche kam, meinte Jörg:
„Kannst du vielleicht schon einmal den Grill anfeuern? Wir sind hier gleich fertig. Die Jungs decken schon den großen Tisch und dann treffen wir uns alle am Grill und genießen den Abend.“
Er kam so etwas wie Urlaubsstimmung auf als wir alle um den Grill standen und jeder eine Fassbrause in der Hand hielt. Und das mitten in einem Turnier. Das war ungewohnt, gefiel mir aber richtig gut.
Fynn: Sind wir wirklich schon so gut?
Der erste Turniertag hatte einen tollen Verlauf genommen und selbst Chris wirkte am Abend in der Unterkunft sehr gelöst. Ungewöhnlich während eines Turniers. Jetzt lag ich mit meinem Schatz zusammen im Bett und meine Gedanken drehten sich bereits um den nächsten Gegner. Chris hatte uns eine gute Manöverkritik gegeben und selbst bei der Vorbereitung auf den nächsten Gegner blieb er positiv. Das irritierte mich. Sonst hatte Chris immer sehr vorsichtige Prognosen gegeben. Aber heute hatte er gesagt, dass ich morgen einfach genau so spielen sollte wie heute und ich mir dann keine Sorgen machen sollte.
Von Dustin wünschte er sich mehr Aggressivität für den kommenden Gegner. Damit würde er weniger Zeit bekommen sich auf dem Platz zu positionieren. Aber Chris blieb genauso zuversichtlich im Ergebnis. Für meinen Schatz war das eher verwirrend.
„Denkst du auch so positiv wie Chris? Sonst ist er immer sehr skeptisch vor den Matches was unseren Erfolg betrifft. Ich fühle mich etwas unter Druck. Oder sehe ich das falsch?“
„Ja und nein. Chris traut uns mehr zu, aber er baut ganz sicher nicht mehr Druck auf. Seine Erwartung an uns ist die gleiche wie zuvor. Einfach das spielen was wir können. Und da ist die Veränderung für mich. Er glaubt, dass unser Können mittlerweile für mehr Erfolg reicht. Und genau das sagt und zeigt er uns.“
Ich wusste, dass mein Schatz immer noch mehr Selbstzweifel hegte. Ich nahm ihn einfach in den Arm, legte meine zweite Hand auf seine Männlichkeit und schon hatte ich den erwünschten Themenwechsel.
Es dauerte nicht lange und wir waren beide nur noch mit uns selbst beschäftigt und ein wunderbar erfüllender Höhepunkt ließ uns entspannt einschlafen.
Schon unter der Dusche am Morgen spürte ich wieder diese Anspannung in mir. Ich wollte unbedingt ein gutes Match spielen und die nächste Runde erreichen. Vor allem heute wollte ich eine gute Performance zeigen, denn Simon und Mattes wollten uns mit einigen Freunden unterstützen.
Einerseits freute ich mich auf ihren Besuch in Stralsund, aber andererseits erhöhte das auch meine Erwartungshaltung. Ich wollte sie auf gar keinen Fall enttäuschen.
Mein Schatz hatte das aber wohl schon geahnt, denn als ich aus der Dusche kam, stand er bereits fertig in unserem Zimmer und meinte:
„Jetzt mach mal hinne. Das Frühstück wartet auf uns und du solltest nur an den nächsten Schritt denken. Nicht, dass du gleich noch vor den Schrank läufst. Hahaha.“
„Jaja, alter Antreiber. Hab ich so lange gebraucht? Kann gar nicht sein.“
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Justin fragte ob wir fertig seien. Der Tisch wäre gedeckt. Mist, das bedeutete wir waren wirklich sehr spät dran. Also beeilte ich mich beim Anziehen.
„Mach langsam, du tust dir noch weh. Auf die zwei Minuten später kommt es jetzt auch nicht mehr an.“
Dann kam er ganz nah an mich heran. Ich bekam sofort eine Gänsehaut und als er mir einen Kuss gab, fühlte ich mich wie im siebten Himmel. Das tat so gut.
Am liebsten hätte ich einfach weitergemacht, aber jetzt war das nicht möglich. Leider. Natürlich waren wir die Letzten zum Frühstück. Alle Augen waren auf uns gerichtet als wir uns an den Tisch setzten.
„Ist was?“, fragte Dustin leicht gereizt.
Maxi und Justin schauten zu Chris und hatten Mühe, nicht lachen zu müssen. Auch Chris verdrehte nur kurz die Augen.
Sergio und Marcelo wurden sogar leicht rot als Chris trocken meinte:
„Manchmal denke ich, warum können schwule Jungs nicht einfach pünktlich aus dem Bett kommen? Ihr seid echt schlimmer als eine Horde Mädchen. Früher waren es Maxis Haare, die mich an den Rand des Wahnsinns trieben und heute ist es die Geilheit von Dustin und Fynn. Wobei Sergio und Marcelo ja auch nicht ohne sind, aber sie sind wenigstens pünktlich.“
Schon bei den letzten Worten konnte sich Chris kaum noch beherrschen. Danach brach er in ein richtig befreites Lachen aus. Maxi wollte erst noch protestieren, aber er musste auch nur noch lachen.
Peinliche Situation. Aber wir waren auch selber schuld. Wären wir pünktlich gewesen, hätte Chris nichts gesagt. Und der wichtigste Unterschied zu früher, Dustin geriet nicht mehr in Panik sondern zuckte nur schuldbewusst mit den Schultern und gab mir noch einen Kuss, bevor er mir Kaffee einschenkte.
„Ich finde das gerade so klasse von euch beiden“, lachte Chris immer noch, „ihr lasst euch nicht mehr in eurer Beziehung einschüchtern.“ Aber dann wurde er ernst: „Dennoch möchte ich euch bitten im Turnierablauf auf die Zeiten zu achten. Ich mache den Zeitplan nicht, um euch zu ärgern, sondern damit wir einen optimalen Turnierverlauf haben. Also, alles kein Problem heute, aber bitte in Zukunft besser auf die Zeit achten.“
„Ja“, erwiderte ich, „du hast natürlich recht, Chris. Ich war übrigens derjenige, der zu lange im Bad gebraucht hat. Und ja, wir haben miteinander etwas die Zeit verloren. Es tut mir leid, aber danke, dass du für uns Verständnis hast. Das wird auch so nicht wieder passieren.“
Chris nickte mir zu und verlor danach kein Wort mehr darüber. Im Gegenteil, das Frühstück verlief sehr harmonisch und Marcelo erzählte ein wenig aus der Nadal Akademie und wie sich die Situation dort entwickelt hatte. Sergio bestätigte die positive Entwicklung und ergänzte noch:
„Aus meiner Sicht hat euer Besuch und euer Engagement damals sehr viel bewegt. Etliche unserer Coaches haben Schritt für Schritt ihre Unsicherheit aufgegeben und ich kann frei mit meiner Situation umgehen. Auch haben sich mittlerweile noch weitere Spieler offen geoutet. Jetzt müsste es noch innerhalb der ATP eine größere Unterstützung geben. In der Öffentlichkeit wissen wir zumindest noch von keinem geouteten Profispieler.“
„Ich glaube“, meinte Chris, „es bewegt sich bereits bei der ATP etwas. Wir haben mit Andrea Gaudenzi ein Gespräch zu dem Thema gehabt und es wird nur eine Frage der Zeit sein, wann sich der erste Spieler auf der ATP Tour offen outet. Der Weg dorthin ist eröffnet.“
Maxi fing plötzlich an zu schmunzeln.
„Ich bin mir sicher, dass es sehr bald die ersten schwulen Profispieler auf der ATP Tour geben wird. Und was noch besser ist, ich kenne diese Spieler gut. Sie sitzen mit mir an diesem Tisch. Ihr werdet in diesem Jahr noch auf der ATP Tour spielen. Spätestens bei den Gerry Weber Open bei uns in Halle.“
Und entgegen meiner Erwartung, dass Chris sofort bremsend einschreiten würde, klatsche er spontan Beifall.
„Sehr guter Plan, Maxi. Da bin ich sofort mit dabei. Also lasst uns, bis es soweit ist, noch viele Challenger-Erfolge sammeln.“
Diese Reaktion von Chris irritierte mich. Sonst war er sehr zurückhaltend mit der Prognose auf die ATP Tour. Aber andererseits freute es mich, dass wir unserem Ziel nähergekommen waren. Umso motivierter ging ich in den heutigen Tag.
Wie mir Chris später noch mitteilte, musste ich als erster auf den Platz gehen. Das kam mir heute gelegen, denn mein Schatz spielte als Letzter. So war relativ gesichert, dass ich sein Match komplett beobachten konnte und er auch meinem Spiel beiwohnen konnte.
Justin und Sergio tuschelten die ganze Fahrt nach Stralsund miteinander. Das machte mich unruhig. Ich mochte das überhaupt nicht. Aber Chris hatte es schon im Auge, denn kurz vor Stralsund gab es eine Ansage:
„Bevor mich Fynn gleich lyncht, hört bitte mit dem Flüstern auf. Wer etwas zu sagen hat, möge dies offen geschehen. Oder wenn es etwas ist, was nur euch beide betrifft, dann macht das, wenn ihr allein seid. Ich möchte übrigens, dass sich Dustin gleich um Simon, Mattes und deren Freunde kümmert. Fynn geht sich mit Justin richtig aufwärmen und direkt einschlagen. Ich werde das Coaching von Fynn übernehmen und Maxi wird erneut mit Justin zusammen arbeiten. Wer bei Sergio sitzen wird, sehen wir dann. Fragen eurerseits?“
Das war nicht der Fall. Chris hatte wie immer schon zuvor alles deutlich erklärt. Allerdings überkam mich ein komisches Gefühl. Irgendwie wirkte der für Dustin und mich zeitlich angenehme Ablauf zu perfekt. Chris dürfte da seine Finger im Spiel gehabt haben und ein wenig bei der Turnierleitung um diesen Verlauf gebeten haben. Aber das würde Chris vor Ende des Tages niemals zugeben. Er wusste genau, dass Dustin eine Sonderbehandlung nur ungern akzeptierte.
Vor einigen Monaten hätte es auch niemals so einfach ein Entgegenkommen der Turnierleitung gegeben, aber mittlerweile waren wir Spieler des Break-Point-Teams die top gesetzten Spieler des Turniers. Da der Veranstalter ein Interesse hatte, diese Spieler lange im Turnier zu haben, bekamen wir schon eher einen Wunsch erfüllt.
Das hatte aber für mich auch einen unangenehmen Nebeneffekt. Ich spürte den Druck gewinnen zu müssen deutlicher. Das für mich erstaunliche dabei, Chris schien das vorhergesehen zu haben und formulierte immer weniger konkrete Vorgaben. Er ließ uns einfach machen, ohne dabei unaufmerksam zu sein.
Heute war ich also der erste auf dem Platz und als ich dann vor der großen Tafel stand wo alle Spiele angezeigt wurden, machte es bei mir „Klick“. Wir spielten alle auf dem Center Court. Nacheinander, daher war dieser Ablauf so. Für Chris war das sehr anstrengend. Ich war gespannt was heute passieren würde.
Mein Gegner war ein junger Niederländer, zweiundzwanzig Jahre alt und spielte in Deutschland auch Bundesliga. Schon beim Einschlagen waren die Zuschauer klar auf meiner Seite. Ich hatte überhaupt nicht mehr im Kopf, dass wir ja Besuch aus Rügen hatten. Ich konnte sie vor dem Match nicht einmal mehr begrüßen. Chris hatte mich mit Justin losgeschickt und seitdem war ich auch nicht mehr mit Dustin direkt in Kontakt gekommen. Aber jetzt schaute ich auf die Tribüne und meine Freunde saßen dort, mit einer Break-Point Fahne. Unglaublich! Dustin hatte ich erkannt und er saß neben Simon und Mattes. Und nicht bei Chris. Das erstaunte mich noch mehr.
Erst nach dem Spiel hatte ich begriffen warum er das getan hatte.
Die ersten Spiele waren schwierig für mich. Ich war extrem nervös und wollte es nicht „verkacken“. Das ging richtig nach hinten los und schnell stand es 0:3 mit einem Doppelbreak.
Eigentlich war damit der erste Satz bereits weg, bevor es richtig losging. Als ich auf meiner Bank saß, hatte ich großen Frust. Am liebsten wäre ich im Boden versunken, so peinlich war das. Ich war hier an Position eins gesetzt und lag mit einem Doppelbreak zurück. Ich war nicht in der Lage dreimal den Ball ins Feld zu spielen. Zumindest fühlte es sich so an.
Ich benötigte Hilfe!
Und im Gegensatz zu früher konnte ich jetzt zu Chris schauen. Der saß ganz ruhig mit Jörg in seiner Box und nickte mir zu. Mit dem Zeigefinger tippte er sich an die Stirn. Keine Kritik oder gar ein Kopfschütteln. Nichts. Nur diese beiden Signale und ich wusste was zu tun war. Als ob mir jemand das Gehirn sortiert hatte, stand ich von der Bank auf und spielte wieder einfaches Tennis. Und siehe da, von Punkt zu Punkt und Spiel zu Spiel wurde ich sicherer und mein Gegner hatte nicht mehr den Hauch einer Chance.
Erst als ich im zweiten Satz 3:0 führte und erneut auf meiner Bank saß, nahm ich wieder die Zuschauer wahr. Als ich einen Zuruf wahrnahm, zuckte ich zusammen. Das konnte nur Dustin gewesen sein und als ich hoch blickte, grinste er mich offen an und zeigte mir den Daumen hoch.
Es dauerte nicht mehr allzu lange und ich hatte den ersten Matchball verwandelt.
Sehr erleichtert kam ich ans Netz um meinem Gegner die Hand zu schütteln. Als ich meinen Schläger in die Tasche gelegt hatte, nahm ich noch einmal auf der Bank Platz und schloss meine Augen. Erst jetzt konnte ich mich über diesen Sieg freuen. Was für eine Befreiung. Aber ich wusste ganz genau, ohne Chris Unterstützung wäre das heute schiefgegangen.
Ich nahm meine Sachen und verließ den Platz. Das hieß, ich wollte zur Umkleide gehen, aber kaum hatte ich den Center Court verlassen, wurde ich von einer Traube Menschen erwartet. Ich sollte Autogramme geben. Mit einem Blick sah ich etwa zwanzig Personen. Das würde dauern und ich sorgte mich, dass ich auskühlen könnte.
Als ich einige Autogramme gegeben hatte, hörte ich plötzlich Chris Stimme. Er sorgte dafür, dass ich auslaufen gehen konnte und erst nach der Physio weitere Autogrammwünsche erfüllen würde. Das hätte ich mich nicht getraut so bestimmt aufzutreten.
Nach dem Auslaufen erwartete Chris mich bereits am Treffpunkt.
„Na, wie ist dein Befinden jetzt?“, fragte er.
„Besser als zu Beginn des Matches. Ich habe es noch nicht richtig verstanden, was mir da passiert ist. Jedenfalls fühlte sich das scheiße an. So unsicher habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.“
„Ja, das glaube ich dir sogar sofort. Aber es zeigt doch einfach nur, jedes Match ist anders und muss erst gespielt werden. Wenn du deine Leistung nicht abrufen kannst, wirst du nicht gewinnen. Dafür sind hier alle Spieler zu gut. Ich finde es aber stark, dass du offen meine Hilfe gesucht und dich freigespielt hast. Ein klarer Schritt vorwärts. Letztlich zeichnet es einen wirklich guten Spieler aus. In einer schwierigen Situation trotzdem fokussiert und zielorientiert zu bleiben. Es hat schon viele Spieler gegeben, die gegen Top Leute geführt haben, aber nie gewannen. Weil eben die Topleute sich auf ihre Stärken besannen und dann nicht mehr zu schlagen waren. So ähnlich sehe ich heute dein Match. Von daher bin ich überhaupt nicht unzufrieden. Es beruhigt mich sogar, da ich jetzt sicher bin, dass du dir helfen lässt und nicht mehr den Kopf in den Sand steckst.“
Danach machte er einen Schritt auf mich zu, umarmte mich fest und meinte:
„Geh in Ruhe duschen und zur Physio. Danach kannst du dich mal bei deinen Freunden sehen lassen. Ich gehe jetzt zu Justin und unterstütze Maxi. Sergio hat heute kein Spiel mehr. Sein Gegner musste wegen einer Verletzung zurückziehen.“
Das habe ich natürlich auch gemacht und kam gerade aus der Physio als ich an der großen Tafel mir einen Überblick verschaffte welches Match gerade auf welchem Platz gespielt wurde. Da fiel mir ein, Justin spielte auf dem Center Court. Also auf zu meinem Schatz und Justin unterstützen.
Plötzlich hörte ich meinen Namen.
„Fynn? Kannst du einen Moment warten?“
Ich drehte mich um und da kam von rechts eines der Ballkinder auf mich zu. Da erkannte ich ihn. Es war Drees.
„Hi, Drees. Was kann ich für dich tun?“
Er blieb schüchtern vor mir stehen.
„Glückwunsch. Das war ein gutes Match. Zumindest ab dem 0:3 im ersten Satz.“
Danach gab er mir doch noch die Faust und ich musste lachen.
„Hahaha, ja, okay. Ab dem 0:3 war es in Ordnung.“
„Ich habe eine Frage, wenn Leon morgen mit meinen Eltern herkommen darf, hättest du vielleicht mal Zeit und Lust dich mit ihm zu unterhalten? Er braucht momentan etwas Aufmunterung. Ich weiß, ihr seid mitten im Turnier und müsst…“
„Stopp, Drees“, unterbrach ich ihn, „natürlich nehmen wir uns für deinen Bruder Zeit. Aber hab Verständnis, wenn das erst nach meinem Match ist. Ich kenne den Zeitplan für morgen noch nicht, aber wir werden uns Zeit nehmen. Wie hat er denn auf dein Sweatshirt reagiert? Hat er sich gefreut?“
„Das war echt klasse. Er wusste erst gar nicht, wie er reagieren sollte. Denn meine Eltern wissen ja auch erst seit einigen Wochen, dass er schwul ist. Und Leon traute sich noch nicht zu erklären, von wem die Autogramme waren. Aber als ich es erklärt hatte, musste Mama auch lachen. Und danach hat Leon vor Freude Tränen in den Augen gehabt. Das war einfach eine mega Aktion von euch. Nochmals vielen Dank dafür.“
„Das ist doch schön. Pass auf, für morgen machen wir das so, du kennst ja auch Chris unseren Coach. Wenn ihr morgen auf die Anlage kommt, sprecht mit ihm, wann wir uns treffen können. Ich werde das vorbereiten, dass wir das machen wollen. Aber Chris wird das auf jeden Fall auch unterstützen. Ist das soweit in Ordnung für dich?“
„Danke! Ja natürlich, Leon wird ausflippen morgen. Er weiß davon noch nichts. Er hat schon gesagt, dass er auf jeden Fall bei euch zuschauen möchte.“
Ich gab Drees noch zum Abschied die Faust und dann ging ich zur Einlasskontrolle am Center Court. Um in den Coachingbereich zu kommen, brauchte ich meinen Spielerausweis. Den zeigte ich vor und konnte dann zu Chris, Maxi und Jörg gehen. Sie saßen in der gleichen Box wie bei meinem Spiel. Aber Dustin war nicht dort. Das fand ich schade. Sergio war auch nicht da. Dann fiel es mir wieder ein. Dustin musste sich auch auf sein Spiel vorbereiten.
Leise fragte Chris: „Hi, hast du dich etwas erholt? Dein Freund ist auf Platz dreizehn und macht sich mit Sergio warm.“
Ich nickte, wollte mir aber zumindest doch einige Spiele von Justin anschauen.
Für mich verwunderlich, Chris saß recht entspannt auf seinem Stuhl und redete immer wieder mit Jörg. Das hat er sonst nie gemacht. Dann fiel aber bei mir der Groschen: Maxi hatte das Coaching von Justin übernommen.
Mit Chris reflektierte Maxi nur immer wieder den Spielverlauf. Aber das aktive Coaching überließ Chris Maxi. Und es lief gut für Justin. So konnte ich nach einigen Spielen dann zu meinem Schatz gehen. Justin hatte den ersten Satz gewonnen.
Die letzten Minuten konnte ich noch bei Dustin sehen, bevor er sich auf sein Spiel vorbereiten musste. Aber auch hier warteten vor dem Ausgang aus dem Trainingsbereich einige Zuschauer auf Autogramme. Dustin wurde sichtlich unruhig als er das realisierte.
„Hey, das ist doch auch cool, wenn man uns mag und akzeptiert“, flüsterte ich meinem Schatz ins Ohr, „dafür haben wir uns doch angestrengt. Akzeptanz und Erfolg.“
Er schaute mich an, fing an zu lächeln und gab mir einen Kuss.
„Danke, aber ich möchte mich jetzt auf mein Spiel vorbereiten. Das ist gerade total blöd. Wenn Chris das mitbekommt, gibt das richtig Stress. Er hat immer gesagt,…“
„Komm, geh du in die Umkleide und bereite dich vor. Ich werde mit Fynn hier die Stellung halten“, sprang Sergio spontan in die Bresche.
Ich fand das total klasse von ihm und so verschafften wir meinem Freund genug Freiraum, ohne die Fans zu enttäuschen. Und die Leute waren richtig happy, als Sergio und ich etliche Autogramme gaben. Für mich war das immer noch strange. Warum wurden wir so gehyped?
Aber es machte auch Spaß und wenn ich Zeit hatte, machte ich das gern. Chris hatte uns immer wieder darauf vorbereitet und wie so oft, hatte er eine richtige Vorahnung.
Einige Minuten später hatten wir die Gruppe der Fans „abgearbeitet“. Unser Weg führte zurück zu Chris und Maxi. Justin hatte auch recht deutlich den zweiten Satz gewonnen. Damit fehlte nur noch Dustin in der zweiten Runde. Chris erwartete uns anscheinend gar nicht mehr, denn als er uns kommen sah, schaute er verwundert.
„Nanu? Du bist nicht bei Dustin geblieben? Ist etwas vorgefallen?“, fragte er.
„Nein, aber wir haben Autogramme schreiben müssen, damit er sich vorbereiten konnte. Aber jetzt würde ich schon noch einmal zu ihm gehen. Er war schon recht angespannt.“
„Das habe ich auch erwartet. Daher wundere ich mich etwas, dass du noch zu uns gekommen bist. Also, zisch ab. Dustin wird auf dich warten. Wir werden direkt auf den Center Court gehen. Bis gleich.“
Cool, dass mich Chris wieder zu meinem Schatz geschickt hatte. Und wieder hatte er den richtigen Weitblick. Als ich in die Umkleide kam, wartete Dustin bereits total angespannt und aufgeregt auf mich.
„Endlich kommst du. Wo warst du so lange?“
Dass er sich so aufregen würde, hatte ich nicht mehr erwartet. „Hey, ich habe mit Sergio noch Autogramme gegeben und dann musste ich zumindest bei Chris mal vorbei. Warum bist du so aufgeregt? Es ist doch alles wie immer?“
„Nein, ist es nicht. Simon und Mattes sind mit ihren Freunden da. Ich will da jetzt nicht versagen. Ihr habt es schon so gut hinbekommen.“
Ich ging auf meinen Freund zu und jetzt war mir die Situation völlig egal. Wir waren mitten in der Umkleide als ich Dustin in den Arm nahm, ihm einen Kuss gab und sagte:
„Ja, das kann ich verstehen. Aber es ist doch Unsinn. Chris erwartet auch nicht mehr von uns als sonst. Beruhige dich wieder etwas. Sonst gehst du nicht gut vorbereitet in dein Spiel.“
Und es gab überhaupt keine negative Reaktion der anderen Spieler. Im Gegenteil, Dustins Gegner fing sogar an zu lachen und äußerte: „Das ist schon etwas unfair. Meine Freundin darf nicht mit in die Umkleide. So wie du würde ich auch gerne in mein Match geschickt werden. Es ist übrigens toll, dass ihr euch nicht mehr versteckt. Innerhalb der Spieler seid ihr absolut anerkannt und respektiert. Und eure Ergebnisse sprechen eh für sich.“
Dann ging er auf uns zu, hielt Dustin seine Hand hin und meinte: „Auf ein gutes Match.“
War das cool. So etwas hatten wir auf einem Challenger noch nicht erlebt. Mit einem richtigen Kribbeln im Bauch ging ich zu Chris auf die Tribüne als der Aufruf der Turnierleitung kam.
Chris: Das war zum Ende noch ein sehr anstrengender Tag für mich
Sofort war die Anspannung bei Dustin für mich sichtbar als er mit seinem Gegner den Platz betrat. Dustin legte seine Sachen auf der Bank ab und nahm sich seinen Schläger. Dann blickte er in unsere Richtung. Ich nickte ihm beruhigend zu. So wie ich das immer unmittelbar vor dem Match gemacht hatte. Heute bekam ich zum ersten Mal ein klares Feedback von Dustin. Ich musste schmunzeln, denn er zeigte mit einer zitternden Hand, dass er nervös war. Aber allein dieser Kontakt zu mir reichte wohl aus, um seine Spielfreude zu wecken. Denn schon beim Einschlagen fing Dustin an, mit den überwiegend jungen Zuschauern Kontakt aufzunehmen. Das hatte ich bei ihm so noch nicht erlebt. Umso erstaunter schaute ich zu Maxi. Der grinste mich nur frech an.
„Hey, ich habe das auch immer wieder mal gern getan, damit mein Gegner nicht sofort bemerkt, dass ich tierisch nervös war. Und du hast meine Marotten auch immer ausgehalten. Das war wichtig für mich, gerade kurz vor dem Spiel.“
Oh, das war ein wichtiger Hinweis für mich, denn bislang hatte ich das für nicht so wichtig gehalten, weder damals für Maxi noch für Dustin heute. Daher ließ ich es laufen und wartete den Spielbeginn ab. Bis dahin sollte sich Dustin vollkommen frei bewegen können. Sollte es negativ ausgehen, würde ich immer noch genug Möglichkeiten haben zu helfen.
Aber Dustin konnte direkt im ersten Aufschlagspiel seines Gegners ein Break erreichen und führte mit 2:1 bei eigenem Aufschlag. Dustin saß auf seiner Bank und jetzt wirkte er wieder voll fokussiert und auch die Kommunikation mit mir lief normal.
Von diesem Moment an hatte ich ein gutes Gefühl in diesem Match. Mittlerweile hatte Dustin den ersten Satz gewonnen und führte auch im zweiten Satz 3:0. Allerdings musste irgendetwas passiert sein, denn Dustin begann nur noch den Ball ins Feld zu schubsen und es wirkte ängstlich. Das konnte eigentlich nicht sein. Eine Verletzung wäre natürlich auch möglich, allerdings war mir nichts aufgefallen.
Fynn, vor mir sitzend, wirkte auch immer angespannter. Ich fragte Maxi:
„Ist dir irgendetwas aufgefallen? Hat sich Dustin vielleicht bei einer Bewegung wehgetan? Was er gerade spielt ist unterirdisch und ich verstehe es nicht.“
Maxi erwiderte sofort: „Nein, aber es sieht schon komisch aus. Wenn er Schmerzen hätte, warum gibt er dir keine Zeichen, dass er Hilfe braucht?“
Das war genau der Punkt, der mich auch ratlos machte. Als es dann 3:4 im zweiten Satz stand, die Seiten gewechselt wurden, nahm Dustin zum ersten Mal Kontakt mit mir auf. Es war eindeutig, er hatte körperliche Probleme. Ich versuchte ihm zu signalisieren, dass er eine „medical time out“ nehmen sollte. Aus der Distanz wirkte es jedenfalls so, dass Dustin auch Schmerzen haben musste.
Natürlich war Fynn nun auch sehr aufgeregt und besorgt. Dustin ging zum Schiedsrichter und signalisierte, dass er den Physio brauchen würde. Der Stuhlschiedsrichter machte dann die Ansage einer „medical time out“. Für mich der Zeitpunkt nach unten an den Platz zu gehen.
„Fynn, du bleibst hier sitzen. Wenn ich dich unten brauche, gebe ich dir ein Zeichen. Aber während das Spiel noch läuft, bleibst du hier sitzen.“
Fynn schloss genervt für einige Sekunden die Augen, atmete tief aus und erwiderte:
„Na gut. Aber nur weil die Regeln es so vorschreiben. Gut finde ich das nicht.“
„Kann ich verstehen, aber es ist nun einmal so. Sobald klar ist, was los ist, sehen wir weiter. Ich gehe jetzt mal zur Bank und erkundige mich.“
Mit schnellen Schritten ging ich zur Bank von Dustin. Der Physio behandelte Dustin bereits am Oberschenkel und Knie. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, was da passiert sein könnte. Es war nichts zu erkennen gewesen. Ich durfte natürlich den Platz nicht betreten, aber ich konnte hören wie sich der Physio mit Dustin unterhielt. Das hörte sich nicht gut an. Die Schmerzen schienen ziemlich stark zu sein.
Die Behandlungszeit war limitiert und als der Physio begann einen Tapeverband um den rechten Oberschenkel anzulegen, machte ich mir Gedanken ob ich Dustin überhaupt weiterspielen lassen sollte. Die Entscheidung wollte ich treffen, wenn der Physio den Platz verlassen würde und ich mit ihm sprechen konnte.
Kurze Zeit später hatte ich von ihm die Information bekommen, dass es ein Problem mit dem linken Knie gäbe. Der rechte Oberschenkel schmerze nur, weil er das Bein nicht richtig belasten würde. Damit war für mich eigentlich die Entscheidung gefallen. Dustin machte noch einen Versuch weiterzuspielen, aber schon nach einem weiteren Ball schaute er verzweifelt und traurig zu mir. Das war das Signal für mich, zum Schiedsrichter zu gehen und das Match zu beenden. Ich gab Fynn das Signal, dass er ich ihn jetzt hier brauchen würde und sofort schoss er aus der Box. Hoffentlich würde er sich nicht auch noch verletzen.
Dustin war tief enttäuscht als er auf der Bank saß. Ich konnte nun den Platz betreten und mit Dustin sprechen.
„Was ist passiert? Ich habe nichts mitbekommen.“
„Das ist so was von bescheuert. Ich habe mir bei einem Ball den Schlägergriff ans Knie geschlagen und erst ging es noch, aber es tut immer mehr weh und jetzt wird es auch noch dick. Es geht echt nicht mehr. Fuck!“
Eigentlich war das schon wieder fast lustig. Denn das passierte eigentlich nur Amateurspielern noch. Aber klar, das konnte auch den Profis passieren. Eine schlechte Position zum Ball und schon war es passiert. Jetzt wusste ich aber, was los war und konnte auch entsprechend reagieren.
„Mach dir keinen Stress, Dustin. Das ist auch schon anderen Leuten passiert. Vermutlich hast du eine ganz blöde Stelle getroffen und das tut richtig weh. Ich habe das auch schon geschafft.“
Mittlerweile war Fynn angekommen. Er wartete aber hinter der Absperrung. Ich winkte ihn zu mir.
„Pass auf, Fynn. Du nimmst bitte Dustins Tasche und gehst mit ihm direkt zum Turnierarzt. Der soll ihn untersuchen. Ich gehe zur Turnierleitung und komme dann auch zu euch in die Umkleide. Und bleib ruhig. Ich glaube, das ist glimpflich ausgegangen. Aber er soll untersucht werden.“
Fynn nickte und packte die Tasche seines Freundes ein. Und was jetzt passierte fand ich richtig klasse. Plötzlich standen Simon und Mattes neben Fynn und unterstützten ihn bei der Begleitung von Dustin zum Turnierarzt. Starkes Zeichen!
Als ich das Turnierbüro betrat, fragte mich der Supervisor zuerst:
„Was ist mit Dustin? Hat er sich schwer verletzt?“
„Ich hoffe nicht. Er hat sich mit seinem Schläger das Knie angeschlagen. Dabei ist vermutlich eine Ader kaputtgegangen und es ist dick angeschwollen. Aber er kann noch gehen und von daher glaube ich nicht, dass eine Bänderverletzung vorliegt.“
„Oh, das ist schade. Aber manchmal passieren solche Dinge. Er kann also nicht weiterspielen?“
„Nein, ich habe Dustin geraten aufzuhören. Das hat er auch gemacht. Daher kann es auch so eingetragen werden.“
Der Supervisor bestätigte meine Angabe und ließ Dustin beste Wünsche ausrichten. Den Zeitplan für den nächsten Tag sollte ich per Mail erhalten.
In diesem Trubel hatte ich Jörg und auch unsere Gäste aus Rügen nicht mehr im Blick. Erst jetzt als sich die Lage sortiert hatte, bekam ich wieder den Blick für das Ganze. Mit einem Blick auf mein Handy realisierte ich, dass ich von Maxi und Jörg Nachrichten erhalten hatte. Maxi hatte gefragt ob ich Hilfe bräuchte, ansonsten würde er sich um Justin und die Gäste aus Rügen kümmern. Jörg gab mir die Info, dass sie jetzt auf der großen Spielerterrasse sitzen würden und dort auf mich warten. Also machte ich mich dorthin auf den Weg.
Jörg musste lachen, als er mich kommen sah. Maxi wirkte angespannt und Justin auch eher besorgt.
„Da kommt ja unser Drache, komm setz dich zu uns und nimm erst einmal einen großen Schluck von der kalten Fassbrause.“
Typisch Jörg, immer gute Laune und nichts konnte ihn aus der Ruhe bringen. Wo er jetzt die Fassbrause herbekommen hatte, sollte sein Geheimnis bleiben. Mir war es recht, denn es tat gut wieder mit meinem Team vereint zu sein.
„Ahh, das tut gut. Danke. Sorry, aber ich musste mich jetzt um Dustin kümmern. Sein Knie ist verletzt und er kann nicht weiterspielen.“
„Natürlich hast du dich um Dustin gekümmert. Wir sind doch alle schon groß und können selbst auf uns aufpassen“, lachte Jörg.
Da war es auch bei Maxi und Justin um ihre Angst geschehen. Sie mussten lachen.
Ich berichtete vom aktuellen Sachstand und dann machte Maxi einen interessanten Vorschlag.
„Jetzt ist ja geklärt, dass es bei Dustin keine schlimme Verletzung ist, da kann ich meine Idee einbringen. Morgen wird ja der kranke Bruder von Drees mit seinen Eltern kommen und wir haben ihn ja praktisch eingeladen. Was hältst du davon, ein Foto von uns allen zu machen und das auf einen Teamanzug drucken zu lassen. Jeder von uns unterschreibt auf seinem Konterfei und dann schenken wir Leon den Anzug.“
Eine tolle Idee. Warum war ich nicht darauf gekommen? Aber woher sollten wir so schnell noch einen Teamanzug herbekommen?
Ich schaute in meine Runde und als ich Jörg anschaute, wusste ich sofort dass das seine Idee war. Er grinste nämlich verdächtig.
„Coole Idee. Finde ich gut, aber es gibt ein, nein zwei Probleme. Woher bekommen wir jetzt so schnell noch einen Teamanzug her und wo können wir das drucken lassen?“
Maxi drehte sich um, griff in seine Tasche und holte einen noch frisch verpackten Teamanzug hervor.
„Alles kein Problem. Ich habe gelernt, immer einen Anzug in Reserve mitzunehmen, den können wir also nehmen. Das Drucken hat Jörg schon geklärt. Wir müssen nur schnell ein Foto machen, dann kann Jörg sich darum kümmern. Sollte bis morgen zu schaffen sein.“
„Ihr macht mir langsam Angst. Um solche Dinge konnte ich mich nicht kümmern. Ich werde wohl alt. Werde ich jetzt von Maxi ersetzt?“
Sonst hatte ich solche Dinge immer selbst angeschoben. Hier wäre das nicht mehr möglich gewesen, neben dem Turniergeschehen.
„Hast du ne Meise?“, schoss Maxi zurück, „deswegen hat mich Torsten doch gebeten dich zu unterstützen. Du kannst nicht immer alles allein regeln. Jan ist auf der ATP Tour auch nur mit einem Spieler unterwegs, du hast hier vier Spieler mit Sergio. Komm mal runter.“
„Ist ja in Ordnung. Vielleicht hast du recht. Jedenfalls Danke für diese super Idee und Unterstützung. Das machen wir so. Hat einer schon eine Idee wo wir das Foto machen? Ich finde wir sollten das an einem Ort machen, dass Leon immer sofort weiß, dass es hier gewesen ist.“
„Gute Idee“, meinte Maxi und fing schon wieder an zu lachen, „Jörg hat vielleicht recht mit dem Gedanken, dass ich von Chris schon einiges gelernt habe. Ich war beim Turnierdirektor und habe um Erlaubnis gefragt, das Bild auf dem Center Court zu machen. Dustin hatte das letzte Match und daher wird dort nicht mehr gespielt.“
Und wie bestellt, tauchten jetzt noch Dustin und Fynn auf. Dustin humpelte auch nicht mehr stark. Aber er hatte ein Kühlpack in der Hand, welches er immer wieder auf das Knie drückte.
Ich musste zugeben, Maxi hatte mich gut entlastet und er hatte viele Dinge von mir verinnerlicht. Die Zeit als Spieler bei uns hatte positiv abgefärbt.
Das Foto war schnell gemacht und ich fand es auch sehr gelungen. Natürlich hatten wir Sergio und Marcelo auch mit auf das Bild genommen. Jörg war direkt mit den Bildern in die Stadt gefahren. Jetzt warteten wir auf seine Rückkehr. Aber Fynn hatte dafür gesorgt, dass uns nicht langweilig wurde, denn er hatte seine Freunde aus Rügen im Schlepptau und die stellten doch ein paar Fragen. Aber es war eine nette Runde und zum Ende, als Jörg wieder zurück war, bat Simon um Gehör:
„Jetzt ist Jörg auch wieder zurück und ich bin von meinen Freunden gebeten worden ein paar Worte zu sagen. Wir bedanken uns für diesen tollen Tag mit euch hier bei diesem Turnier. Hoffentlich wird Dustin schnell wieder fit und die anderen haben jetzt die Aufgabe den Titel zu holen. Dafür wünschen wir euch ganz viel Glück und Erfolg. Vielen Dank für diesen wunderschönen Tag.“
Die Freunde klatschten alle Beifall und es gab eine herzliche Verabschiedung.
Ich hatte eine spontane Idee.
„Vielen Dank für die Unterstützung möchte ich sagen. Auch dass wir bei euch im Club trainieren dürfen ist klasse. Daher habe ich jetzt eine spontane Idee. Sollte einer von uns tatsächlich das Finale erreichen, laden wir euch alle dazu ein dem beizuwohnen und uns zu unterstützen.“
Das führte regelrecht zu einem Jubelsturm bei den Rügener Jungs. Dass meine Truppe das auch nicht verkehrt fand, spürte ich an der Reaktion von Dustin. Er umarmte mich spontan und sagte:
„Das ist eine krasse klasse Idee. Ich glaube, damit hast du uns herausgefordert dafür zu sorgen, dass wir den Sonntag erneut gemeinsam verbringen werden.“
Sportlich war der Tag gut gelaufen. Auch Dustins Verletzung stellte sich als nicht so gravierend dar. Es sollte keine längere Pause erforderlich werden. Aber der Tag hatte mich einiges an Energie gekostet. Maxis Unterstützung stellte sich als einen großen Gewinn für mich dar.
Ich hatte mich nach der Analyse der Gegner mit den Jungs dafür entschieden, ihnen einen freien Abend zu geben. Ehrlicherweise nicht ganz uneigennützig, denn Jörg wollte mit mir einen Ausflug vorbereiten. Mehr hatte er noch nicht verraten. Er hatte jedenfalls angemahnt, dass ich mir mehr Freiräume für Regeneration nehmen sollte.
Nach der Dusche in unserer Unterkunft hatte ich den Jungs meinen Plan vorgestellt und lediglich Justin hatte gefragt ob er uns begleiten dürfe. Dustin und Fynn hatten keinerlei Ambitionen noch einmal das Haus zu verlassen. Warum wohl?
Den Abend mit Jörg zu verbringen hatte mir gut getan und am nächsten Morgen fühlte ich mich erholt.
Mit neuer Energie ging es in einen neuen Turniertag. In diesem Challenger gab es sogar ein 64er Feld. Das war selten und entsprechend standen heute mit der dritten Runde die Achtelfinalspiele an.
Aber es gab auch fast die gleichen Preisgelder wie bei einem ATP 250er Turnier.
Marc: Ausflug zum Challenger nach Stralsund
„Hausnummer eins oder wie war das? Ja, alles klar. Und du sagst Chris aber nichts davon. Es soll eine Überraschung werden. Ich möchte endlich einmal bei einem Turniererfolg auf der großen Ebene anwesend sein.“
Thorsten lachte am anderen Ende der Leitung und ich beendete das Gespräch.
„Schaatz, kannst du bitte einmal kommen?“, rief ich aus dem Büro.
Es dauerte nur wenige Augenblicke bis Sabine hereinkam.
„Na, was gibt es denn? Wo brennt es denn?“, lachte sie.
„Haben wir bis zu diesem Sonntag eigentlich etwas geplant? Oder können wir kurzfristig an die See fahren?“
„An die See? Was hast du dir denn jetzt wieder ausgedacht?“
„Komm, setz dich einmal zu mir. Ich zeige es dir.“
Sabine setzte sich neben mir und wir blickten auf den Monitor. Dort zeigte ich ihr das Turniertableau von dem Turnier in Stralsund.
„Oh, jetzt verstehe ich worum es geht. Unsere Freunde spielen dort ein größeres Turnier und sind erneut erfolgreich. Stralsund liegt doch an der Ostsee. Das meinst du mit an die See fahren?“
„Genau, Chris ist dort mit seinen Jungs und sie scheinen wieder gut dabei zu sein. Wir wären ja eh ab der nächsten Woche in Halle zu Gast. Ich würde gern einmal bei einem richtigen Turniererfolg vor Ort dabei sein. Luc und Stef können nicht früher kommen und ich glaube, dass das auch für Chris besser wäre, wenn sie nicht auch noch nach Stralsund kämen. Thorsten hat mir gerade die Adresse auf Rügen gegeben. Dort befindet sich das Quartier und mein Plan wäre, direkt dorthin zu fahren und sie zu überraschen.“
„Das ist wieder typisch für dich. Du kannst es aber auch nicht lassen. Aber ein paar Tage an der See könnten mir auch gefallen. Hast du schon eine Idee wie wir dorthin kommen? Mit dem Auto dürfte das zu weit sein.“
„Ja, richtig. Ich habe den Plan bis Hamburg zu fliegen und dann mit dem Auto bis Rügen fahren. Chris ist ja auch mit dem Auto dort. Wir könnten dann gemeinsam nach Halle fahren.“
„Du wirst dir das gut überlegt haben und wie ich dich kenne, sind deine Vorbereitungen schon so gut wie fertig. Ich sollte also schon einmal unsere Taschen packen. Ich freue mich auf die See und vor allem auf unsere Freunde aus Halle.“
Das eigentliche Problem war, es gab keine direkte Flugverbindung von Genf nach Rostock. Wir könnten nur bis Hamburg fliegen. Von dort ginge es mit dem Auto nach Rügen bzw. Stralsund. Hierzu konnte ich aber meine immer noch guten Kontakte nach Maranello nutzen und uns darüber das passende Fahrzeug bereitstellen lassen. Das war eindeutig ein Vorteil meiner Bekanntheit.
Die örtliche Ferrari Vertretung in Hamburg würde mir ein Fahrzeug zur Abholung bereitstellen. Das Werk in Maranello hatte das für mich organisiert und ich konnte das Fahrzeug später vor der Rückkehr in die Schweiz in Hannover am Flughafen abgeben. Das war eine Belohnung für meine erfolgreichen Jahre mit der Scuderia.
Mir war immer wichtig alle Sachen vor Reisebeginn fertig vorbereitet zu haben. Das war jetzt der Fall und wir konnten am nächsten Tag starten. Meinen Nachbarn hatte ich informiert, dass wir jetzt zwei Wochen unterwegs sein würden. Auch darum brauchte ich mich nicht weiter zu kümmern. Er würde uns informieren, sollte es Probleme geben.
Heute war Reisetag und es gab nur ein kleines Problem für Sabine und mich. Luc und Stef waren deutlich neidisch auf uns, da sie halt erst in der nächsten Woche dann nach Halle kommen konnten. Vor allem hatte ich sie zur Verschwiegenheit verdonnert. Sie hatten natürlich Kontakt zu ihren Freunden, gerade während des Turniers. Aber Luc hatte mir versprochen, nichts zu verraten.
Der Hinflug nach Hamburg verlief ohne Vorkommnisse und jetzt standen wir in der Ankunftshalle. Heute waren wir tatsächlich vom Zoll zur Kontrolle gebeten worden. Das war mir schon ganz lange nicht mehr passiert.
Besonders lustig wurde es dann als wir in einen Zollkontrollraum gebeten wurden. Der junge Zöllner, der uns ausgewählt hatte bekam direkt einen Spruch von dem Kollegen, der unser Gepäck kontrollieren wollte. Er hatte uns erkannt und es war ihm sichtlich unangenehm, aber ich empfand das überhaupt nicht als Problem. Wir sollten genauso behandelt werden wie jeder andere Reisende auch. Natürlich gab es nichts zu beanstanden und nachdem wir dem Beamten noch schmunzelnd ein höflich erbetenes Autogramm gegeben hatten, konnten wir uns per Taxi zur Übergabe des Leihwagens in die Ferrari-Niederlassung bringen lassen. Der Weg zum Händler war mit dem Gepäck zu Fuß zu weit.
Sabine und ich betraten die Ausstellungshalle des Hamburger Autohauses der Scuderia. Überall standen dort exklusive Fahrzeuge. Nicht nur der Marke Ferrari, auch Maserati, Bentley und McLaren waren dort ausgestellt. Ein toller Anblick für mich als Autoverrücktem.
Sabine hatte mich zum Empfang vorgeschickt und passte dafür auf unser Gepäck auf. Das war sicherlich nicht erforderlich, aber sie mochte diese Dinge nicht. Mir war schon bewusst, dass ich hier als besonderer Gast gesehen wurde, leider. Aber egal, wir benötigten ein Reisefahrzeug und von daher gab es kein Zurück.
Am Empfang herrschte reges Treiben und vor mir waren noch einige Kunden an der Reihe, die ihr Fahrzeug abgeben oder ihr Auto abholen wollten. Und das waren alles wohlhabende Kunden. Und mit teilweise komischen Anliegen. Ein älterer Herr war mit dem Leihwagen nicht zufrieden, weil er nicht exakt die Ausstattung hatte wie sein eigenes Fahrzeug.
Ich bewunderte die Ruhe des Personals. Immer freundlich und hilfsbereit. Ob ich das bei solchen Kunden sein würde, wagte ich zu bezweifeln.
Dann war ich an der Reihe.
„Guten Tag, die Damen. Ich möchte ein Fahrzeug abholen, welches für mich bereitstehen sollte.“
„Guten Tag Herr Steevens. Ja, es ist alles vorbereitet. Möchten Sie eine kurze Einweisung oder ist das nicht notwendig?“
„Da ich noch nicht weiß, um welches Fahrzeug es sich handelt, wäre eine kurze Einweisung gut.“
„Natürlich, sehr gern. Sie können bitte dort auf der Couch Platz Platz nehmen. Ich werde ihnen jemand schicken. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?“
„Sehr gern“, erwiderte ich und holte Sabine mit unserem Gepäck in die Sitzecke.
Als wir uns niedergelassen hatten, bekam ich von Luc aus München eine Nachricht. Er schickte mir ein Foto vom „schedule of play“ aus Stralsund. Und einen „live score“ direkt hinterher.
„Schau mal, Schatz. Das läuft wieder richtig gut für unsere Jungs.“
Fynn hatte bereits sein Einzel gewonnen und Justin hatte den ersten Satz gewonnen.
Sabine lächelte als sie meinte:
„Sieht doch gut aus. Dann haben sie heute recht früh Feierabend und sie werden wahrscheinlich schon in der Unterkunft sein, wenn wir dort ankommen. Oder willst du noch auf der Turnieranlage vorbeifahren? Und was mir noch einfällt, du hast mir noch gar nicht verraten wo wir denn unser Quartier haben werden.“
Bevor ich antworten konnte, kam ein junger Mann zu uns und stellte sich vor:
„Guten Tag, Herr und Frau Steevens. Mein Name ist Stefan Fiedler und ich darf Ihnen das Fahrzeug vorstellen.“
Ich begrüßte ihn und nachdem wir den Kaffee geleert hatten, begleiteten wir ihn in den Bereich der Fahrzeugübergabe. Dort standen vier Fahrzeuge. Ein McLaren 720S spider in einer sehr krassen Farbe. Neongrün, ein Ferrari Roma in rosso corse, ein Maserati Quattroporte und ein Ferrari F12 in schwarz. Alles tolle Autos, aber der McLaren in der Farbe wäre echt furchtbar. Nun gut, wir konnten es uns nicht aussuchen, also hieß es abwarten. Sabine wurde richtig unruhig und sie flüsterte mir zu:
„Hoffentlich nicht das Limetten Auto, das ist ja eine furchtbare Farbe.“
Unglücklicherweise hatte Herr Fiedler das dennoch gehört. Er drehte sich um und lachte.
„Keine Sorge Frau Steevens. Solch eine Farbe würde es bei einem Firmenwagen bei uns nicht geben. Aber manche Kunden möchten gern auffallen.“
Ja, da hatte er etwas Wahres gesagt, denn viele der reichen Kundschaft wollten genau das, nämlich auffallen.
Er blieb aber vor dem F12 stehen. Ein Kunstwerk von Auto aus meiner Sicht. Ein Gran Tourismo mit einem betörenden Zwölfzylinder. Das hatte den Vorteil, dass die Einweisung recht kurz ausfallen konnte und auch Sabine ohne große Probleme das Fahrzeug bedienen konnte.
Unser Gepäck war schnell im üppigen Kofferraum verstaut und nachdem wir alle Formalitäten besprochen hatten, konnten wir aufbrechen. Diese Fahrt würde zumindest Freude bereiten. Fast so als ob ich mit einem der eigenen Autos unterwegs sein würde.
Unterwegs hatte ich Sabine noch erklärt, dass wir bei den Jungs in der Unterkunft wohnen würden. Das Haus war groß genug und außerdem würden wir dort unsere Ruhe haben. Ich wollte auch die Abende nutzen, um mit den Jungs und vor allem mit Chris Zeit zu verbringen. Ohne den Turnierstress auf der Anlage.
Nach gut zweieinhalb Stunden Fahrt verließen wir die Autobahn A20 an der Ausfahrt „Stralsund“ und wechselten auf die B96. Diese führte über die große Rügenbrücke und unser Ziel kam näher.
Luc hatte uns geschrieben, dass auch Justin das Viertelfinale erreicht hatte. Sergio hatte leider im Achtelfinale verloren. Damit würden wir am nächsten Tag aber noch zwei Matches zu sehen bekommen. Es lief wieder richtig gut für unsere Jungs und ich freute mich auf das Wiedersehen.
Mittlerweile hatten wir den Ortseingang von Bergen erreicht und unser Navi führte uns zielsicher in eine kleine Straße im Zentrum von Rügen. Dort standen auch einige sehr alte Gebäude neben modernen Wohnhäusern. Eine interessante Mischung.
Allerdings war die Gadmundstraße sehr schmal und mit dem breiten Ferrari musste ich aufpassen nirgendwo anzustoßen.
„Stopp, Schatz. Wir sind schon zu weit. Ich glaube, es ist das Eckhaus. Fahr bitte zurück.“
Ich hielt an und legte den Rückwärtsgang ein. Hier gab es aber ein Problem. Die Einfahrt zum hauseigenen Parkplatz war sehr eng. Ich musste rückwärts hinein rangieren und der Zwölfzylinder war nicht wirklich ein leises Aggregat. Aber das Auto von Chris mit dem Break-Point Schriftzug stand bereits auf dem Hof. Und ein VW Touran aus Leipzig. Das sollte Jörgs Auto sein. Also waren sie bereits zurück vom Turnier.
Eine schöne Terrasse aus Holz lag direkt an dem Innenhof wo die Autos parkten. Mich überraschte ein Schild an der Hauswand. Dort stand „Gebäudedenkmal“.
Die Terrassentür stand offen und der Grill glühte bereits.
„Ich glaube, wir kommen genau richtig. Das Essen ist schon in Vorbereitung.“
Sabine musste lachen. Dann klingelte ich an der Tür obwohl sie offen stand und es dauerte nur wenige Augenblicke bis ich die Stimme von Dustin hörte.
Dann bog er um die Ecke und stand direkt vor mir in der Tür. Dieses Gesicht war es allein schon Wert gewesen, diese Reise zu machen.
„Marc? Sabine? Wie kommt ihr denn hierher? Das glaube ich ja nicht.“
„Na mit dem Auto“, antwortete ich ihm und zeigte auf den schwarzen F12.
„Ja wie geil ist das denn bitte? Chris hat uns gar nichts von eurem Besuch erzählt. Aber herzlich willkommen in unserem Quartier.“
Dann begrüßte er uns mit einer liebevollen, festen Umarmung, während die anderen noch gar nicht bemerkt hatten, dass Besuch angekommen war. Erst als Dustin rief:
„Chris, kannst du bitte mal kommen. Hier ist jemand, der nach dir gefragt hat.“
Chris kam ebenfalls aus der gleichen Tür wie Dustin und blieb abrupt noch im Flur stehen.
„Marc? Das ist aber eine riesige Überraschung. Herzlich willkommen. Kommt herein. Damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet.“
Auch er begrüßte Sabine und mich mit einer innigen Umarmung. Seine Freude war sofort spürbar. Dann die Gesichter der anderen zu sehen war auch sehr lustig als wir gemeinsam die Küche betraten. Dort wurde fleißig am Abendessen gearbeitet. Jörg stand an der Arbeitsplatte und hatte das Gemüse für den Salat am Wickel. Fynn bereitete das Dressing vor und Justin wollte gerade mit dem großen Teller Fleisch nach draußen gehen. Selbst Maxi hatte ein großes Messer in der Hand und half bei der Zubereitung.
„Wir haben Besuch“, lachte Chris und machte einen Schritt an die Seite, um den Blick auf uns frei zu geben.
Stille. Großes Erstaunen war für wenige Sekunden in den Gesichtern zu erkennen, doch dann brachen Jubel und pure Freude aus.
Chris stellte uns Jörg vor und ein sehr lustiger und spannender Abend folgte. Dustin und Fynn berichteten von den Geschehnissen des Tages und Jörg versorgte uns mit Getränken. Chris wirkte gelöst. Das hatte ich während eines Turniers so noch nicht erlebt. Lediglich Maxi wirkte etwas zurückhaltender als früher.
„Sag mal, Marc, wie bist du auf diese Idee gekommen einfach herzukommen? Das ist doch richtig weit aus der Schweiz?“, fragte mich Fynn als es bereits dunkel war.
„Na ja, ich wollte endlich mal dabei sein, wenn ihr bei einem Challenger Turnier einen Titel mit nach Hause bringt. Und in der nächsten Woche sind wir ja eh in Halle zu Gast. Da war das keine große Sache mehr. Leider haben Luc und Stef erst in der nächsten Woche frei bekommen. Daher können sie euch nicht vor Ort unterstützen.“
„Und wie kommst du an dieses deutsche Auto? Das ist doch nicht dein Ferrari?“, fragte Maxi.
„Haha, richtig. Es ist ein Firmenwagen des Vertragshändlers in Hamburg. Die Scuderia hat das für mich organisiert. Ein schönes Auto. Ein wenig schwer und sehr komfortabel. Jedenfalls für einen Ferrari. Wie sieht eigentlich eure Zeitplanung für das morgige Viertelfinale aus?“
Chris hatte meine Aussage mit dem Turniererfolg überhaupt nicht gefallen. Er beantwortete meine Frage daher typisch.
„Also, zuerst möchte ich deine Erwartungen etwas bremsen. Es ist überhaupt nicht selbstverständlich, dass einer von uns hier gewinnt. Es ist möglich, ja, aber mehr auch nicht. Das möchte ich klarstellen. Und der Plan für morgen sieht so aus, dass wir um neun frühstücken, den Vormittag hier in Ruhe verbringen können und erst nach dem Mittagessen uns hier im Club richtig einschlagen. Spielbeginn für Fynn und Justin ist erst um fünf am Nachmittag. Daher haben wir also morgen keinen Stress.“
„Warum sind die Spiele so spät angesetzt?“, fragte ich.
„Ich denke“, erklärte Chris, „damit möglichst viele Zuschauer kommen können. Es ist ja ein normaler Freitag und die Leute müssen arbeiten.“
Etwas war mir später aufgefallen. Sowohl Sergio, Justin als auch Fynn hatten sich bereits gegen elf ohne Hinweis von Chris zurückgezogen. Dass Dustin seinen Freund begleitete, genau wie Marcelo, war natürlich zu erwarten gewesen. Mittlerweile saßen wir zu fünft noch auf der wunderschönen Holzterrasse. Jeder hatte ein Getränk vor sich stehen und ich beobachtete Chris bereits seit einigen Minuten, der sich immer wieder den Sternenhimmel anschaute.
Sabine hatte das auch bemerkt. Daher überließ ich es ihr, bei Bedarf zu reagieren. Ich saß mit Maxi zusammen und hatte ihn gerade gefragt wie er sich in seiner neuen Rolle zurechtfinden würde.
„Eigentlich ganz gut. Dass ich Chris so schnell bei einer Turnierreise unterstützen würde, hatte ich nicht erwartet. Allerdings läuft es erstaunlich gut. Meine Freunde machen es mir recht einfach, jetzt auf der anderen Seite des Zaunes zu stehen. Dass ich von Chris unheimlich viel lernen kann, ist ein ganz großes Geschenk. Da fühle ich mich bei Chris wohl. Er lässt mich zwar machen, aber er hat dennoch immer ein Auge auf mich. Und sollte ich mal etwas übersehen haben oder gar falsch gemacht haben, dann macht er mich nicht fertig. Er gibt mir Hinweise, aber immer konstruktiv und mit Erklärungen, damit ich auch das 'Warum' verstehe.“
„Das hört sich gut an. Ich finde es klasse, dass du dich entschieden hattest, das Team weiter zu unterstützen. Das ist bestimmt nicht einfach, nach so kurzer Zeit mit den Freunden wieder auf einem Turnier zu sein. Nur jetzt als Coach. Hast du dir das so vorgestellt?“
„Hahaha, nein. Ganz bestimmt nicht. Entsprechend überrascht war ich, als mich Thorsten hierher geschickt hat. Chris braucht eine Unterstützung, klar, aber ob ich da der Richtige bin? Ich war mir überhaupt nicht sicher.“
Das hatte Chris mitbekommen. Er schaute zu uns herüber, schwieg aber. Noch. Denn ich war mir sicher, dass eine Reaktion kommen würde.
„Aber ich habe das Gefühl, dass du erwachsen geworden bist und begriffen hast, was jetzt wichtig ist. Chris erwartet ganz sicher kein perfektes Coaching von dir. Er bietet dir an, zu lernen und einen eigenen Weg zu finden. Und du entlastest ihn im Turnierablauf. Genau das ist so wichtig für Chris. Und diese Entlastung ist auch mit ein Grund, warum ich hierherkommen wollte. Chris versucht immer alles zu regeln. Auch wenn es gar nichts zu regeln gibt, weil seine Jungs es bereits selbstständig können. Aus dieser Rolle zu gehen ist nicht so einfach. Ich habe es zu Hause bei meinen Kindern gemerkt wie schwierig es ist loszulassen.“
„Das ist das Privileg der Eltern“, mischte sich Chris nun ein, „Du hast auch Sabine oft versucht zu erklären, dass sie Luc mehr Freiräume geben muss als er noch jünger war. Heute versucht sich Luc von euch abzugrenzen, aber er ist gedanklich immer bei euch in der Schweiz. Er ist euch sehr dankbar für alles, was ihr gemeinsam erleben durftet und bewältigt habt. Darauf könnt ihr als Eltern mächtig stolz sein.“
Das war der Chris wie ich ihn erwartet hatte. Immer präsent und genau auf den Punkt präzise in seinen Äußerungen und Kommentaren.
Chris war mittlerweile in einen dunkleren Bereich des Gartens gegangen, um die Sterne besser beobachten zu können, kam aber jetzt mit Jörg wieder zu uns an den Tisch.
„Aber Chris ist sich weiterhin treu geblieben“, fuhr Maxi fort, „Das war heute wieder so deutlich spürbar. Wir hatten Anfang der Woche in Stralsund einen Balljungen kennengelernt. Der hatte uns um ein Autogramm für seinen schwulen Bruder gebeten. Jetzt fragt ihr euch sicher warum der Bruder nicht selbst gefragt hatte, aber er ist krank. Er hat Krebs und ist noch sehr schwach. So ähnlich wie Luc es damals erlebt hatte. Er wird wieder gesund, aber der Weg ist weit. Was macht Chris, als er davon erfuhr? Er hat einen Teamanzug genommen und ein Foto von uns gemacht. Jörg hat den Anzug mit dem Bild bedrucken lassen und wir haben es Leon heute mit unseren Unterschriften überreicht. Obwohl das für Chris wieder mehr Stress bedeutet hat. Keine Sekunde hat er darüber nachgedacht, das finde ich so geil. Auch als ich mit dem Tod meines Vaters so zu kämpfen hatte, Chris war immer für mich ansprechbar. Egal wie weit wir getrennt waren.“
Jetzt spürte ich Maxis Betroffenheit. Von seinem Vater zu sprechen war immer noch schwierig. Chris legte einfach seinen Arm um seine Schulter und stützte Maxi.
Kein Wort fiel. Erst als Chris spürte, dass sich Maxi gefangen hatte, stieg er in unser Gespräch wieder ein.
„Ja, ich muss Maxi zustimmen. Die Aktion heute mit Leon und Drees war für mich vollkommen stimmig. Das mussten wir machen. Und es war toll zu sehen, wie wir Leon damit eine große Freude machen konnten. Wenn alles gut läuft, sehen wir ihn morgen auch wieder auf der Anlage. Ich würde mich freuen. Solche Dinge sind mir total wichtig. Ähnlich wie euch in der Familie Steevens. Und genau das macht euch so sympathisch. Keine Stars, die sich für etwas Besseres halten. Das beeindruckt mich heute immer noch.“
Chris verlor keine Silbe mehr über Maxi. Er wusste genau, dass er ihm damit am besten über diese Hürde helfen würde. Da konnte ich den therapeutischen Experten wieder erkennen. Sehr beeindruckend mit welcher Souveränität Chris das geregelt hatte.
Chris: Ein heftiger Viertelfinaltag
Nachdem ich den ersten Schreck von Marcs Überraschungsbesuch überwunden hatte, begann ich, mich auf die nächsten Tage richtig zu freuen. Mittlerweile wusste ich, dass ich mich auf Marc verlassen konnte. Er würde mir außerhalb des Platzes mehr Freiräume verschaffen, um mit den Jungs gute Ergebnisse während des Turniers zu erzielen.
Heute gab es einen ungewöhnlichen Tagesablauf. Die Spiele waren sehr spät angesetzt und somit wollte ich vorher noch in dem kleinen Club eine Aufwärmeinheit auf dem Platz machen.
Fynn hatte die vermutlich härteste Aufgabe zu knacken, einen Defensivkünstler. Ich konnte bereits vor dem Frühstück die Anspannung bei ihm fühlen. Innerlich regte er sich schon über den Gegner auf. Er zeigte deutlich nach außen, dass er keine große Lust auf dieses Spiel verspürte. Jörg mochte dieses Negativdenken überhaupt nicht. Allerdings machte er den Fehler, bereits beim Frühstück mit seiner besten Laune Fynn anstecken zu wollen. Selbst Sabine und Marc staunten über so viel gute Laune am Morgen. Das war bei den Jungs schlicht zum Scheitern verurteilt und ich war klug beraten, Fynn rechtzeitig aus dem Spiel zu nehmen.
Dustin und Fynn kamen als erste zu Jörg und mir in die Küche. Jörg hatte wie immer gute Laune und machte zwei oder drei flapsige Bemerkungen, bis von Dustin ein trockenes:
„Du musst ja auch nicht auf dem Platz stehen und gewinnen. Da sind lockere Sprüche immer schnell gemacht.“, kam.
Da wusste ich, jetzt war ich gefordert.
Fynn schaute entsetzt zu seinem Freund, denn es war ihm sofort klar, dass sich Dustin da im Ton vergriffen hatte.
„Jörg, kannst du mir bitte einen Gefallen tun und schnell zum Bäcker gehen. Wir brauchen Nachschub an Brötchen. Ich habe gedacht, dass wir noch mehr übrig gehabt hätten.“
Gott sei Dank hatte Jörg begriffen, was meine Strategie war und erwiderte:
„Reichen zehn oder soll ich mehr mitbringen? Ach, ich bring einfach mal von den schönen Sachen etwas mit. Bis gleich.“ Und schon war er aus der Terrassentür verschwunden.
Ich atmete tief aus. Das Schlimmste war verhindert.
Marc und Sabine wirkten gelassen und blieben am Tisch sitzen, aber als ich sah, dass Sabine Marc die Hand drückte, war mir klar, Marc hätte am liebsten sofort zurückgeschossen.
„Ihr beide setzt euch bitte an den Tisch. Ich glaube wir haben da etwas zu klären.“
Das taten Dustin und Fynn auch umgehend. Mein Puls war gefühlt bei zweihundert. Und ärgerlich war ich obendrein. Die beiden Jungs saßen mir gegenüber und Fynn ahnte bereits, dass heute der Tag gekommen war wo ich richtig sauer sein würde.
„Hast du eigentlich eine Meise so mit Jörg umzugehen? Er hat morgens gute Laune und möchte sie an uns weitergeben. Wir haben einen tollen Tag vor uns und ihr geht mit unserem Gastgeber hier total respektlos um. Wenn du mit seiner Art nicht zurechtkommst, Dustin, dann geh raus oder für einen Augenblick nach oben. Aber so eine Reaktion möchte ich nicht noch einmal erleben. Wenn du ein Problem hast oder etwas zu meckern, dann bitte an mich. Aber Jörg ist für euch tabu. Habe ich mich da klar geäußert? Was sollte das bitte?“
In diesem Moment tauchte auch Justin mit Maxi bei uns auf. Sofort hatte Justin begriffen, dass ziemlich dicke Luft herrschte. Er wollte Maxi mit in den Garten nehmen, aber Maxi wollte bleiben. Justin versuchte es noch ein weiteres Mal, aber Sabine ergriff die Gelegenheit mit Marc und Justin nach draußen zu gehen. Maxi setzte sich zu mir an den Tisch.
„Kann ich etwas dazu sagen?“, fragte Fynn nervös.
„Nein, jetzt nicht“, schoss ich zurück, „dein Freund kann selber für sich sprechen.“
Mein Blick wich Dustins Augen nicht einen Millimeter aus. Dustin wurde unruhiger und nervöser. Fast panisch. Jetzt drohte er in sein altes Fluchtverhalten zu fallen. Das hatte ich allerdings erwartet und bremste ihn aus.
„Es wäre jetzt klug, nicht wegzurennen“, meinte ich jetzt mit deutlich sanfterer Stimme, „dafür gibt es nämlich keinen Grund. Warum bist du so aggressiv gegenüber Jörg? Ich möchte einfach nur eine Erklärung. Und sei es, dass du mit deiner Anspannung nicht umgehen konntest.“
Fynn musste sich jetzt zwingen, nicht für seinen Freund zu sprechen. Dass er Dustin in den Arm nahm und damit deutlich zeigte, dass er seinen Schatz unterstützte, ließ ich natürlich zu.
Nach einigen weiteren Sekunden des Schweigens holte Dustin tief Luft.
„Es tut mir leid. Ich habe mich nicht mehr unter Kontrolle gehabt. Du bist nie so übermäßig gut drauf am frühen Morgen. Ich kann damit nicht gut umgehen. Es ist überhaupt nicht so einfach, wie Jörg sich das vorstellt und ich mache mir Sorgen, dass es nicht so klappt wie ihr das wünscht.“
Ich nickte, aber gab eine trockene Antwort.
„Jörg ist für dich überhaupt nicht relevant. Er ist unser Gastgeber und möchte euch, bzw. mich entlasten. Stress nehmen. Du hast heute mal wieder gar nichts geschnallt. Wenn es für dich irgendein Problem gibt, wer ist für dich zuständig? Jörg oder ich?“
„Du“, kam mit einem Stoßseufzer als Antwort.
„Gute Antwort. Also warum dann diese Art und Weise?“
Schulterzucken - und Dustin sackte immer mehr in sich zusammen. Er spürte genau, dass er wieder in sein altes Verhalten geraten war.
„Also gut, es tut mir leid, Chris. Ich habe wieder einmal überreagiert und du hast es auch noch genauso erwartet. Sonst hättest du doch früher eingreifen können. Du hast Jörg doch bewusst so locker sein lassen.“
„Ja, natürlich habe ich Jörg freien Lauf gelassen. Weil, ich kenne Jörg so gut, dass ich gelernt habe, seine positive Ausstrahlung für mich zu nutzen. Das hast du noch nicht geschafft und dir eine neue Baustelle geschaffen. Und zwar eine große, neue Baustelle. Nämlich dich mit mir anzulegen. Das wolltest du nämlich auf gar keinen Fall. Das weiß ich auch. Du musst aber lernen, nicht immer wieder in das alte System zu gehen, nur weil es gerade für dich schwierig wird. Du hast gelernt, dass ich dich niemals allein lassen würde, sollte ich bemerken, dass du Hilfe benötigst. Aber um Hilfe fragen, das ist deine Aufgabe. Und das üben wir so lange bis du das kannst.“
Danach musste ich schmunzeln und hielt ihm meine Hand hin.
Seinen Blick dabei zu erleben, war ein kleines Fest. Jetzt hatte er begriffen, dass es eine vollkommen unsinnige Reaktion war und ich ihn auch ein Stück weit provoziert hatte.
Dustin schlug natürlich ein und auch Fynn entspannte sich schnell wieder. Maxi wirkte noch einige Minuten stiller als sonst. Erst als Jörg mit den Tüten vom Bäcker zurückkam, taute er wieder mehr auf.
Jörg legte die Brötchen auf die Arbeitsplatte, nahm sich die Brotkörbe aus dem Schrank und verteilte sie. Dabei pfiff er ein fröhliches Lied und reichte Dustin den ersten Korb zum auf den Tisch stellen. Dustin nahm ihn und innerhalb weniger Minuten saßen wir alle recht entspannt beim Frühstück.
Marc und Sabine beobachteten die Szenerie genau. Für Sabine nur eine Bestätigung Marc nicht erlaubt zu haben einzugreifen.
Für mich war das Thema erledigt, für Jörg sowieso, dafür kannten wir uns schon zu gut. Aber ich wusste ganz genau, Dustin würde das nicht so stehen lassen können. Er brauchte den Abschluss einer solchen Situation, um wieder entspannt nach vorn schauen zu können. Mal abwarten wie lange es heute dauern würde.
Es sollte keine fünf Minuten mehr dauern. Dustin legte sein Brötchen aus der Hand:
„Ich möchte mich entschuldigen, Jörg. Du hast morgens schon gute Laune und ich konnte damit nicht gut umgehen. Ich möchte, dass wir eine gute Leistung abliefern und Fynn gegen diesen fiesen Gegner nicht untergeht. Dennoch sollte ich mich nicht mit dir anlegen, sondern wenn überhaupt mit Chris. Es tut mir leid.“
Jörg schaute mich an und ich zwinkerte ihm zu.
„Schon gut. So wie ich Chris eben erlebt habe, dürften die vergangen Minuten für dich weitaus unangenehmer gewesen sein als für mich. Ich verstehe dich aber auch nicht. Du musst doch gar nicht selbst auf dem Platz stehen. Dein Freund spielt doch gegen die „Ballwand“, wie Chris das immer genannt hat.“
Als der Begriff „Ballwand“ gefallen war, fingen Justin und Maxi sofort an zu lachen und es dauerte nur noch Sekunden bis wir alle laut lachen mussten. Danach war dieses kleine Intermezzo abgehakt und es wurde noch ein richtig gutes, entspanntes Frühstück.
Erst, als alle mit Essen fertig waren und Jörg noch eine Runde Othellos gezaubert hatte, fragte Marc:
„Wann genau müsst ihr euch auf dem Platz einschlagen?“
Alle Augen waren natürlich nun auf mich gerichtet.
„Wir fahren nach dem Mittagessen in den örtlichen Tennisclub und dort werden sich Justin und Fynn richtig einschlagen. Erst danach machen wir uns auf den Weg nach Stralsund. Ich möchte so viel Ruhe wie möglich nutzen.“
„Sehr guter Plan. Was hält der Chef der Mission davon, den Vormittag für eine gemeinsame Aktion Entspannung zu nutzen? Inklusive gemeinsamem Mittagessen?“
„Essen ist immer gut“, kam von Justin mit einem breiten Grinsen.
Ich verdrehte meine Augen, aber grundsätzlich war ich für Entspannung immer zu haben. Aber heute vor den Spielen musste ich mir das überlegen. Marc hatte den gleichen Gedanken und gab mir mit einem Zeichen zu verstehen, ihm nach draußen zu folgen.
Jetzt hatte ich das Problem, dass ich zuerst für das Aufräumen der Küche verantwortlich war. Aber Sabine ließ mich gar nicht erst zu Wort kommen.
„Chris geht mit Marc in den Garten und ich übernehme mit der restlichen Mannschaft das Aufräumen der Küche.“
Ich blickte zu Sabine und hatte eigentlich schon nichts mehr zu sagen. Da hatte sie jetzt das Zepter in die Hand genommen und mir Freiraum geschaffen.
Draußen auf der Terrasse wartete Marc bereits.
„Ich würde gern mit euch ans Wasser fahren. Einen Strandspaziergang machen und dann in Binz im „Weltenbummler“ essen. Von da kannst du dann wieder übernehmen und euch optimal auf Tennis vorbereiten. Aber bis dahin hast du mal frei und Sabine, Jörg und ich übernehmen das Zepter.“
„Jörg?“, fragte ich, „du hast schon mit ihm gesprochen?“
„Ja, sicher doch. Er kennt sich hier am besten aus. Ich habe nur einen Strandspaziergang vorgeschlagen. Da wusste er sofort wo es hingehen soll. Auch das Lokal war sofort präsent bei ihm. Da werde ich nicht nein sagen. Jetzt musst du nur noch zustimmen und wir können starten.“
„Hahaha, ok. Ich habe es begriffen. Also, genehmigt. Macht mal. Ich soll ja freinehmen hast du gesagt. Also werde ich jetzt bis zum Dessert nur Teilnehmer sein.“
„Das ist eine kluge Entscheidung. Du hast etwas hinzugelernt“, kam aus Richtung der Terrassentür.
Sabine zwinkerte mir zu und von diesem Augenblick an hatte ich faktisch frei. Jörg übernahm die Funktion des Lotsen und meine Jungs standen unter der „Aufsicht“ von Sabine und Marc.
Mit Jörgs Van und meinem Dienstwagen brachen wir Richtung Nord-Osten auf. Der Strand in Binz war dafür bekannt besonders schön zu sein. Eigentlich traf sich dort eher der Geldadel, aber mitten in der Woche und am Vormittag war dort nicht viel Betrieb. Genau das Richtige für die Jungs, sich auf die kommenden Matches zu fokussieren.
„Hast du eigentlich keine Angst den Ferrari am Haus stehenzulassen?“, fragte ich Marc neben mir.
„Nein, das habe ich niemals. Denn dann dürfte ich mit dem Auto nicht hierher fahren. Außerdem ist es gut versichert. Es ist kein Sammlerobjekt das unwiederbringlich verloren wäre. Aber mach dir bitte darüber heute keinen Kopf mehr. Du hast dich nur auf den Verkehr zu konzentrieren und danach machen wir uns einen wundervollen Tag. Sabine hat einen Plan und du weißt auch, da sollten wir uns raus halten. Hahaha.“
„Oh ja, ja das stimmt. Es wäre für uns von Vorteil, wenn wir ihr da nicht reinreden.“
Und schon war ein Großteil meiner Anspannung in Neugier gewechselt.
Als ich den Wagen neben Jörg auf einem großen Parkplatz abgestellt und ausgestiegen war, konnte man das Rauschen der Ostsee bereits hören.
Es war nur ein kurzer Weg über die Dünen und schon betraten wir den breiten Sandstrand. Das Sonnenlicht reflektierte im Wasser und eine herrliche Ruhe breitete sich aus. Der Strand war noch nahezu menschenleer.
Meinen Jungs war scheinbar nach Bewegung zumute. Fynn holte aus seinem Rucksack eine Frisbeescheibe und schon war Action angesagt. Sergio, Marcelo und Justin konnten mit der kleinen Plastikscheibe richtig gut umgehen. Es wurden zwei Teams gebildet und schon gab es einen Wettstreit unter den Jungs. Jörg, Sabine, Marc und ich hatten uns etwas abseits in den Sand gesetzt. Die Sonne hatte den Strand angenehm aufgewärmt und so konnte ich mich für einen Moment sogar richtig hinlegen und die Augen schließen.
Dass Sabine neben mir lag hatte ich noch mitbekommen, aber danach habe ich nur noch das Rauschen des Wassers und den Wind wahrgenommen. Alles andere war plötzlich ganz weit weg.
Einige Minuten später hörte ich ihre Stimme.
„Woran denkst du jetzt?“
„An mein Bett zuhause und dass ich gern einmal ein paar Tage mit dem Motorrad wegfahren würde.“
„Warum machst du das nicht einfach? Du kannst doch einfach ein paar Tage wegfahren. Deine Jungs können mittlerweile auch mal allein zurechtkommen. Sie sind fast erwachsen und brauchen keine Rund um die Uhr „Bemutterung“. In der Base gibt es genug Trainer, die sie mal beschäftigen würden. Du hast in der letzten Zeit wieder zu viel Energie abgegeben als hereingenommen. Das ist nicht gesund.“
Jetzt öffnete ich ein Auge und schaute zu ihr herüber. Sie saß bereits im Sand und beobachtete mich. Ich erschrak, denn wir waren allein am weiten Strand.
Ich fuhr hoch und blickte mich um. Niemand in Sichtweite.
„Entspann dich. Deine Jungs sind gut umsorgt. Jörg und Marc sind mit Maxi und den anderen Jungs einfach weitergegangen. Ich habe das so angesagt, weil ich mit dir diese Zeit haben wollte.“
Für einen Moment schloss ich meine Augen und atmete tief aus.
„Chris, deine Jungs sind nicht mehr dreizehn oder vierzehn. Du kannst sie auch einfach mal machen lassen. Sie sollten mittlerweile wissen, wie sie sich vorbereiten sollten. Du hast die Besprechung für die Gegner bereits gemacht und jetzt sollten sie das allein hinbekommen. Marc hat es dir vorhin schon einmal gesagt, bis zu dem Moment wo du wieder auf dem Platz stehst, hast du frei.“
„Ja, das habt ihr mir so gesagt, ich weiß. Es ist aber nicht leicht für mich loszulassen und mich nicht mit den Jungs im Kopf zu beschäftigen.“
„Ich weiß, deshalb üben wir das ja auch jetzt. Hihihi. Und ich finde, du machst Fortschritte. Du bist nicht mehr in Panik verfallen, hast dich nicht mehr aufgeregt und bist einfach bei mir geblieben. Sehr schön.“
Sabine schaute mir dabei in die Augen und unsere Blicke trafen sich. Ich wusste, sie hatte vollkommen Recht. Dennoch fühlte ich mich für alles verantwortlich.
„Du meinst, ich habe die Freiheit, mit dir hier allein zu sein und einmal über mich zu sprechen?“
„Jap, das meine ich. Und ich finde, du solltest dir diese Freiheiten häufiger nehmen. Dein Job ist anstrengend und du brauchst diese Ruhephasen. Auch während einer Turnierreise. Marc spürte, dass du mehr Freiheiten benötigst. Lass deine Jungs laufen. Sie haben begriffen, dass sie jetzt immer mehr gefragt sind. Du hast ihnen alle Regeln und Abläufe vermittelt. Wenn sie das jetzt noch nicht begriffen haben, dann sind sie auf der großen ATP Tour fehl am Platze.“
Sie hatte mich ertappt. Ich wollte es wie immer perfekt haben. Eigentlich kein Problem, aber erneut nahm ich mir zu wenige Ruhezeiten.
„Es ist nicht einfach, während einer Reise mit den Jungs komplett abzuschalten. Aber ich muss das lernen, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich weiß das auch, aber ich stelle mich halt lieber hinten an, bevor ich für mich etwas in Anspruch nehme.“
„Genau deshalb üben wir das mit dir. Heute hast du frei bis zum Training im Club in Bergen. Ab da hast du wieder alle Fäden in der Hand. Aber bis dahin, spielen wir die Ansager. Hihi.“
„In Ordnung, also was machen wir jetzt?“, fragte ich schmunzelnd.
„Nichts, wir gehen noch etwas am Wasser entlang. Wir haben noch Zeit.“
Ich wusste ganz genau, dass Sabine einen Plan hatte und sie würde niemals ihren Plan einfach so erklären. Das gehörte zu meinem Lehrplan dazu. Also fügte ich mich und ging einfach weiter mit ihr über den Strand. Der Wind blies uns um die Nase und ein leicht salziger Geruch kam in meine Nase.
„Wie ist für dich die Zusammenarbeit mit Jan? Ich finde, ihr macht Fortschritte in eurer Zusammenarbeit.“
„Ja, das stimmt. Jan bemüht sich wirklich, dass ich gute Bedingungen habe. Er bezieht mich nahezu immer mit ein, wenn es um meine Jungs geht. Aber dennoch fühle ich mich manchmal nicht richtig ernst genommen. Jetzt zum Beispiel ist so eine Situation. Thorsten hatte mich informiert, dass Jan entschieden hatte, mir Maxi als Unterstützung zu schicken. Ich bin nicht gefragt worden. Er hat das einfach entschieden. Das empfinde ich als Bevormundung. Obwohl es eigentlich eine tolle Geste und eine richtige Entscheidung ist. Das macht mir zu schaffen.“
„Was macht dir zu schaffen? Dass er es ohne zu fragen entschieden hat oder dass du dich bevormundet fühlst, obwohl es eine richtige Entscheidung war.“
„Letzteres. Ich weiß auch, dass es für mich eine große Hilfe ist. Dennoch stört mich das, nicht gefragt worden zu sein.“
„Ja, kann ich verstehen, aber dein Bruder wusste ganz genau, dass du niemals um diese Hilfe gebeten hättest. Jedenfalls noch nicht. Daher musste er so entscheiden, wenn er verhindern will, dass du dich überforderst. Hast du das schon einmal aus diesem Blickwinkel gesehen?“
„Nein, du meinst also, er hat es bewusst genau so gemacht, weil ich sonst wieder alles allein geregelt hätte? Hmm, vermutlich wäre es so gewesen, weil ich während einer Reise schlecht um Unterstützung bitten kann. Die Trainer sind doch alle fest verplant.“
„Schau mal, Chris. Du bist schon auf dem richtigen Weg, aber du musst noch konsequenter dich im Blick haben. Wenn du spürst, das könnte eng werden, mache deinen Mund auf und frage einfach. Wenn es wirklich nicht geht, dann ist es so, aber wer nicht um Hilfe bittet, kann sie eigentlich auch nicht erhalten. Das sagst du doch deinen Jungs auch immer wieder. Also mach es selbst doch auch so.“
„Wenn es für mich so einfach wäre, dann würde ich es machen.“
Mein Blick ging auf die Ostsee hinaus. Sabine blieb stehen und schwieg. Sie wusste was gerade bei mir passierte.
Diese Baustelle musste ich unbedingt immer weiter abarbeiten. Das würde kein gutes Ende nehmen. Das wusste ich.
„Also gut. Ich werde weiter daran arbeiten. Vielleicht muss ich auch mehr Geduld mit mir haben, aber du musst zugeben, ich habe mich schon etwas verbessert.“
„Oh ja, das hast du. Aber du bist noch nicht am Ziel. Und Marc und ich werden weiterhin auf dich aufpassen und zur Not auch Jan mal in den Allerwertesten treten, sollte er nicht richtig hinschauen.“
Wir beendeten das Thema mit dem Verharren am Wasser und erst als ich meinte:
„Also, ich weiß was zu tun ist. Wo gehen wir jetzt hin?“
„Hahaha, sehr schön. Wir gehen jetzt da vorn über die Düne und kehren in den „Weltenbummler“ ein.“
Es war so ein typisches Gespräch mit Sabine. Immer für eine Überraschung gut und dennoch ihr Ziel verlor sie niemals aus den Augen.
Als wir auf den Dünenkamm traten, tauchte vor uns ein wunderschön hergerichteter Biergarten auf. Sabine ging voran und als wir den Gastraum betraten, staunte ich nicht schlecht. Der Innenraum war in den verschiedensten Stilen der Kontinente eingerichtet.
Meine Jungs hatten sich in einen Bereich mit beeindruckenden Holzschnitzarbeiten gesetzt. An der Wand gab es zugehörige Bildtafeln, die zeigten wie das entstanden war. Alle Kunstwerke waren mit einer Kettensäge erstellt worden. Damit war klar, die Jungs hatten sich Nordamerika/ Kanada ausgesucht. Sozusagen für Justin so etwas wie ein Heimspiel. Auch die Speisekarte versprach diese Vielfältigkeit. Von Fisch über Fleisch und Vegetarisches war alles vertreten.
Justin hatte die kanadische Spezialität entdeckt, die wir bereits einmal probieren durften. Die „Clam chowder Soup“. Justin freute sich wie ein kleines Kind, dass er dort so etwas wie Heimatgefühle bekam. Ich würde mich Justin anschließen und ebenfalls diese Suppe als Vorspeise wählen.
Jörg, Marc und Sabine probierten diese Suppe ebenfalls. Nur die Jungs entschieden sich für eine Tomatensuppte bzw. eine Zwiebelsuppe.
Interessant war für mich die Situation am Tisch. Marc und Jörg unterhielten sich über Jörgs Beruf und andere Finanzgeschichten. Insbesondere über die Absicherung für die Jungs wurde sich ausgetauscht. Dustin und Fynn hörten ihnen zu, während Justin und Maxi sich mit Sergio und Marcelo über die Entwicklungen in der Nadal Akademie unterhielten. Plötzlich fragte mich Fynn:
„Wirst du nachher bei uns am Platz sein können? Oder benötigst du mehr Erholung?“
„Wie kommst du auf diese Frage?“, erwiderte ich erstaunt.
Und hier war sie wieder, die tiefsitzende Angst alleingelassen zu werden. Mein Unverständnis stieg sofort stark an und ich wollte schon eine klare Ansage machen, aber wusste auch, Fynn brauchte jetzt etwas Anderes. Denn er zuckte nur mit den Schultern, aber seine Körperhaltung ließ tief blicken.
„Wie oft muss ich noch erklären, dass ich mich melde, wenn es Probleme geben sollte. Nur weil Sabine mich aus der Schusslinie genommen hat, ist nicht gleich Alarmstimmung angesagt. Es geht mir gut. Wirklich. Aber ich muss mehr auf meine Regeneration achten. Und das hat mir Sabine noch ein weiteres Mal erklärt. Also du musst nicht vor dem Super GAU Angst haben. Natürlich werde ich mit euch gleich ein normales Einschlagen und dann in Stralsund auch ein normales Coaching machen. Buisiness as usual also. Entspannt euch bitte. Marc und Sabine haben nur jetzt für diese Zeit die Regie übernommen. Damit ich auch einmal etwas entspannen kann. Und das gefällt mir mittlerweile richtig gut. Auch dass ich euch nicht mehr ständig beaufsichtigen muss, gefällt mir. Also lasst uns das exzellente Mittagessen genießen und erst danach geht es wieder Richtung Tennisplatz.“
„Das ist beruhigend zu hören“, freute sich Fynn, „wir möchten mit dir noch ganz lange unterwegs sein und Erfolg haben. Jörg meinte vorhin, wir sollten auf dich aufpassen, da du kaum zu ersetzen wärst. Und er hat Recht. Du bist nicht zu ersetzen und wir brauchen dich noch. Wir wollen gemeinsam die Ernte der harten Arbeit einfahren. Wir finden, es wird Zeit für einen richtigen Titel in der Base. Kann ja nicht sein, dass immer nur Jan die Titel einfährt. Jetzt bist du dran und wir werden alles versuchen, dass das auch klappt.“
Damit war dieses Thema lustig beendet worden und ich konnte Fynn nur den Daumen hoch zeigen. Anschließend widmeten wir unsere volle Aufmerksamkeit dem wirklich hervorragenden Essen.
Während des Desserts fragte Marc dann Dustin:
„Wie weit seid ihr jetzt mit dem Führerschein? Klappt das mit der Prüfung bis zu eurem Geburtstag?“
„Ja, wenn wir uns nicht zu blöd anstellen, sollte das hinhauen. Endlich. Wir haben ja auch lange genug dafür gebraucht. Aber es ist nicht so einfach, während der Trainingsphasen noch Fahrstunden zu nehmen. Ich bin oft einfach abends richtig platt. Aber jetzt ist es ja bald geschafft. Am Dienstag ist die praktische Prüfung angesetzt. Dann haben wir das auch erledigt und dürfen auch selbst fahren.“
„Also seid ihr nach dem Geburtstag auch auf der Straße unterwegs. Das hört sich gut an. Dann geht unsere Planung ja auf. Ich hatte schon etwas Sorge, dass meine Überraschung nicht funktioniert. Aber dann bin ich beruhigt. Und bevor ihr fragt, nein, ich verrate euch nicht worum es geht. Da müsst ihr bis zum Geburtstag noch warten.“
Marc war heute mal wieder fies zu den Jungs. Erst den Mund wässrig machen und dann verdursten lassen. Aber nun gut, mir war es sehr recht. So waren Justin und Fynn von dem bevorstehenden Match abgelenkt.
Dass die Ablenkung nicht zu lange andauerte war meine Aufgabe dann in Bergen auf dem Trainingsplatz. Und ganz demonstrativ hatten sich Marc und Sabine schon auf dem Parkplatz aus ihrer Rolle zurückgezogen.
„So, Jungs. Umziehen, aufwärmen und dann in zwanzig Minuten auf Platz drei treffen. Ab jetzt gilt der Fokus wieder nur dem Tennis.“
Und sofort entstand dieses Teamgefühl wieder. Auch Dustin und Sergio stellten sich selbstverständlich in den Dienst von Fynn und Justin. Sie bereiteten den Platz drei schon vor ohne dass ich etwas sagen musste. Maxi blieb bei mir und fragte:
„Wie hast du dir das Einschlagen gedacht? Soll ich wieder Justin übernehmen und du hast Fynn unter deiner Hand? Dann könnten wir unabhängig arbeiten. Vielleicht sogar so etwas wie eine Spielsimulation probieren?“
So etwas hatte ich während eines Turniers noch nie ausprobiert.
„Wenn die beiden gut drauf sind und es keine Probleme gibt, probieren wir das mal. Lass uns aber gemeinsam beginnen.“
Dustin, Sergio und Marcelo kamen schon zu uns an den Platz. Jörg stand mit Marc und Sabine auf der Clubhausterrasse und schaute uns aus der Distanz zu.
„Wie sieht dein Knie jetzt aus?“, fragte ich Dustin.
„Bunt“, kam spontan als Antwort.
Das erstaunte mich, denn so einen Humor hatte ich nicht erwartet.
„Und ist es noch geschwollen?“
„Nein, nicht mehr so stark wie gestern. Ich glaube, wir haben Glück gehabt und es ist wirklich nur eine Prellung. Ich kann schon wieder normal gehen.“
„Das hört sich gut an. Beruhigt mich ungemein“, lachte ich.
„Und mich erst. Schon wieder eine längere Pause muss ich nicht haben. Aber jetzt soll Fynn oder Justin auch gewinnen. Dann hat sich das hier auch trotzdem gelohnt.“
„Ach, das sehe ich noch etwas anders. Ich bin jetzt schon sehr zufrieden, da ihr euch wieder einen Schritt nach vorn entwickelt habt. Das Ziel ATP-Tour kommt deutlich näher. Egal ob es hier einen Titel gibt oder nicht.“
An dieser Stelle wurde es noch sichtbar, dass Dustin gerade mal knapp achtzehn war. Er benötigte diese Bestätigung, um beruhigt zu seinem Freund auf den Platz zu gehen und sich mit auf die Bank zu setzen.
Ich ließ Dustin frei laufen und beobachtete Justin beim Einschlagen. Das sah gut aus, aber nicht so locker wie sonst. Ich winkte mir Maxi heran.
„Was gibt es, Chris?“
„Wie ist dein Eindruck von Justin? Ist er verkrampfter als sonst oder täuscht das?“
„Doch, er ist angespannt. Sehr sogar. Er hat erfahren, dass sein Match im Live stream im Internet übertragen wird und sein Vater vermutlich zuschauen wird. Das hat er mir eben noch in der Umkleide erzählt.“
„Ah, alles klar. Gut, dann sollten wir jetzt folgendes machen. Justin muss im Kopf beschäftigt werden, damit er gar nicht mehr lange nachdenken kann. Er soll einfach spielen und gut ist.“
Ich hatte auch schon die passende Idee und holte mir beide Jungs zu mir an den Zaun.
„So, ihr seid auf Temperatur?“, fragte ich und beide nickten.
„Sehr schön, dann jetzt einen richtigen Satz spielen. Es gibt nur ein Handicap. Jeder hat nur einen Aufschlag. Fragen? Nein, dann los.“
Maxi blickte verwundert zu mir.
„Warum nur einen Aufschlag? Was bewirkst du damit?“, fragte er mich.
„Ganz einfach, Justin muss sich extrem konzentrieren und kann sich nicht mehr mit anderen Dingen beschäftigen. Oder er bekommt richtig Haue von Fynn.“
Und was wir zu sehen bekamen war klasse Tennis. Ich brauchte nur hin und wieder ein paar Dinge zu korrigieren. Die Zeit lief nur so dahin und ich hatte überhaupt nicht auf das Umfeld geachtet. Mein Fokus lag nur auf dem Platz. Erst als nach einem richtig spektakulären Ballwechsel lauter Beifall zu hören war, schaute ich an den Zaun und konnte bestimmt fünfzehn Zuschauer erkennen. Darunter auch Simon und Mattes.
Erstaunlich für mich, Marc blieb dem Platz komplett fern. Er ließ uns in Ruhe arbeiten. Erst als die Zeit sich dem Ende zuneigte, tauchte er mit Jörg und Sabine bei uns auf. Sozusagen als Erinnerung für mich, dass es Zeit würde um nach Stralsund aufzubrechen.
Leider hatte das auch einen anderen Effekt. Die Bergener Zuschauer hatten Marc schnell erkannt und das hatte eine gewisse Unruhe zur Folge. Er musste nämlich jetzt Autogramme schreiben, während ich das Einschlagen beendete und meine Jungs zusammenholte.
„Ha, das hat Marc aber schlecht überlegt. Er hätte lieber dahinten bleiben sollen.“, meinte Justin als er seinen Schläger in die Tasche legte.
„Nein, das siehst du falsch. Er hat sich das ganz sicher gut überlegt. So habt ihr nämlich eure Ruhe und wir können schon zum Auto gehen ohne noch gestört zu werden. Und genau das macht ihr bitte jetzt auch. Direkt zum Auto und einsteigen. Hier ist der Schlüssel. Ich komme gleich hinterher. Ich frage Sabine nur gerade noch, ob wir schon losfahren sollen oder ob wir auf sie warten sollen.“
Mir war sofort klargeworden, dass uns Marc damit Luft verschaffen wollte. Und Sabine bestätigte das auch direkt. Ich sollte mit Fynn, Justin, Maxi und Dustin schon losfahren. Sie würden dann nachkommen.
Im Auto saß Justin vorn und seine Anspannung war deutlich sichtbar.
„Erzählst du mir bitte mal, was passiert ist. Warum bist du jetzt so angespannt? Es ist doch wie immer in einem Turnier.“
Justin hob die Schultern und erwiderte:
„Na ja, es ist für mich nicht ganz so wie immer. Aaron hat mir geschrieben, dass sie ab dem Viertelfinale die Spiele in einem „Live stream“ schauen können. Jetzt weiß ich also, dass mein Vater ganz sicher am Computer sitzen wird und beobachten wird wie ich mich verbessert habe. Das gefällt mir nicht.“
„Gut, kannst du überhaupt einen Einfluss nehmen auf Zuschauer? Oder ist es nicht so, dass du dich nur auf dich und deinen Gegner auf dem Platz fokussieren solltest. Weil das sind die Dinge, die du aktiv beeinflussen kannst.“
„Nein, das stimmt schon. Es ist leider nicht so einfach wie du sagst. Hätte Aaron mir nichts geschrieben, würde ich es nicht wissen. Er wollte mich ja auch nur unterstützen. Er weiß eigentlich gar nicht wie sehr mich Papa am Platz stört.“
„Das ist mir bewusst, daher solltest du lernen, dich überhaupt nicht mehr mit deinem Vater zu beschäftigen. Zumindest auf dem Platz. Jetzt musst du zeigen ob du in den letzten Wochen etwas gelernt hast. Alle Abläufe sind wie immer. Nur du kannst darauf Einfluss nehmen. Wenn du mit deinem Vater zum jetzigen Zeitpunkt keinen Kontakt möchtest, dann blende ihn aus. Konsequent. Nur dann wirst du nur mit der Situation auf dem Platz beschäftigt sein. Es liegt in deiner Hand und du bestimmst, welche Unterstützung du von uns brauchst.“
Jetzt schaute Justin mich mit großen Augen an. Es arbeitete in seinem Kopf.
Die anderen Jungs hinten hatten sich über Fynns Gegner unterhalten und das hörte sich für mich an wie es immer vor einem Match war. Ich konnte also meinen Fokus ein wenig mehr auf Justin legen.
Einige Minuten später hatte ich das Auto auf dem Spielerparkplatz abgestellt und Justin und Fynn hatten sich ihre Taschen genommen. Maxi hatte ich gebeten bei mir zu bleiben und Fynn und Justin hatte ich mit den anderen Jungs schon vorgeschickt.
„Pass auf Maxi, ich möchte, dass du Justin beschäftigst. Gib ihm eine Aufgabe. Er soll sich erst die letzten Minuten vor dem Match nur noch damit befassen. Vorher soll er sich auf der Anlage mit dir frei bewegen. Geht auf die Tribüne und vielleicht findet ihr ja auch Drees mit seiner Familie. Dann geht dorthin. Justin soll einfach den Kopf mit etwas anderem füllen. Bekommst du das hin?“
„Ja, klar. Denkst du, dass die Zeit dann reicht um sich auf das Spiel vorzubereiten?“
„Ja, alles andere wird jetzt eh nicht mehr funktionieren. Und wenn er Redebedarf hat zu der Situation mit seinem Vater, dann schick ihn sofort zu mir. Oder komm einfach mit ihm zu mir. Das ist dann meine Aufgabe.“
„Gut, dann weiß ich Bescheid. Mich erinnert das ein wenig an die Situationen früher mit meinem Papa. Da hast du mir ja auch immer wieder den Raum besorgt, den ich gebraucht habe.“
„Ach, du hast das doch bemerkt. Ich dachte schon, das wäre an dir vorbeigerauscht.“
„Nein, und ich habe es genossen wie du Papa immer ausgebremst hattest.“
„Sehr schön. Dann weißt du jetzt was bei Justin abgeht.“
Damit schickte ich ihn dann zu Justin. Ich blieb noch etwas am Auto, damit ich Marc, Sabine und Jörg am Eingang zum Spielerparkplatz empfangen konnte.
Und es dauerte auch nur wenige Minuten bis Jörg mit unseren Gästen eintraf.
„Na, wie ist das, in einem normalen Auto gefahren zu werden? War es sehr schlimm, keine vierhundert PS zur Verfügung zu haben?“
Ich konnte mir diese Spitze nicht verkneifen, denn es sah schon ein wenig kurios aus wie Marc aus dem gut gebrauchten Touran von Jörg ausstieg.
„Ganz ehrlich. Dafür, dass dieser Motor bereits fast 400 000 Kilometer auf dem Tacho stehen hat, fährt er ganz hervorragend. Jörg hat ihn technisch gut gepflegt. Aber als Beifahrer tauge ich nur sehr bedingt. Das ist unabhängig vom Auto. Ich habe das Lenkrad lieber in der Hand.“
„Da kann ich nur zustimmen. Seit meinem Unfall bin ich auch sehr angespannt als Beifahrer. Da gibt es nur wenige Menschen bei denen ich ohne Probleme mitfahren kann.“
Marc nickte verständnisvoll, aber er war gedanklich schon einen Schritt weiter.
„Wie geht es Justin und Fynn? Sind sie sehr nervös?“
„Fynn hat es gut im Griff. Aber er ist auch sehr motiviert. Er möchte euch nicht enttäuschen. Auch wenn er das nie aussprechen würde, es ist ihm bewusst, dass ihr es gern sehen würdet, dass einer der beiden den Titel gewinnt.“
„Das ist doch totaler Schwachsinn“, meldete sich Sabine zu Wort, „nur weil Marc das als kleinen Spaß gesagt hat, wissen wir ganz genau wie schwer es ist, auf der Profitour einen Titel zu gewinnen. Natürlich würden wir uns sehr freuen, aber wir erwarten das ganz bestimmt nicht.“
„Beruhige dich, Schatz“, versuchte Marc Sabine zu besänftigen, „Chris hat das nicht so wörtlich gemeint. Und es stimmt doch auch. Wir würden uns alle sehr über einen großen Titel freuen. Aber erwarten können wir das natürlich nicht.“
„Kommt einfach mit“, lachte ich jetzt, „die Jungs sind vermutlich auch etwas aufgeregt. So prominenten Besuch haben wir nicht alle Tage. Aber das könnte auch ein großer Vorteil sein. Beide kennen euch schon gut und wissen, welche Aufmerksamkeit ihr gleich auslösen werdet. Der Gegner kennt das vielleicht noch nicht.“
Und wie erwartet gab es zu Beginn nur ungläubiges Staunen als wir die Anlage betreten hatten. Es dauerte noch einige Minuten, aber dann hatte es sich herumgesprochen und die Leute belagerten Marc förmlich. Und er schrieb mit einer großen Geduld Autogramme. Somit konnte ich unbehelligt mit Justin und Fynn die letzten Dinge besprechen. Dann hörten wir den Aufruf für beide Spiele. Sie sollten doch parallel stattfinden und nicht nacheinander. Schuld war dafür die Wetterprognose. Es sollten schwere Gewitter am Abend kommen. Justins Match war auf dem Platz eins angesetzt und Fynn auf dem Center Court.
Ich hatte schnell entscheiden müssen wie wir uns aufstellen würden. Maxi sollte zu Justin an den Platz gehen und dort auch bis zum Ende bleiben.
Ich würde bei Fynn bleiben und das Coaching am Center Court übernehmen. Marc und Sabine blieben bei mir, genau wie Jörg.
„Chris“, fragte mich Sergio, „wäre es ok für dich wenn Marcelo und ich zu Justin gehen? Wir möchten nicht den Eindruck erwecken, dass Justins Match weniger wichtig ist.“
„Sehr guter Gedanke. Macht das bitte. Wenn es etwas Wichtiges geben sollte, könnt ihr ja zu mir herüberkommen.“
Die Tribünen füllten sich immer mehr. Als die Spieler den Platz betraten waren alle Sitzplätze besetzt. Damit hatte der Veranstalter die späte Spielansetzung gerechtfertigt. Für Fynn sollte ein volles Stadion von Vorteil sein. Gerade weil auch viele junge Zuschauer anwesend waren, hatte Fynn deutlich mehr Unterstützung als sein italienischer Gegner.
Der Beginn war vielversprechend mit einem Break für Fynn. Insbesondere die Art und Weise machte mir Freude.
Fynn zeigte sehr deutlich, dass er sich weiterentwickelt hatte. Für mich bedeutete das aber dennoch Stress, denn mir lief das Spiel zu glatt als Fynn den ersten Satz ohne große Probleme gewann. Ich erwartete noch mehr Gegenwehr von dem Italiener, aber Fynn blieb ruhig und bestimmend auf dem Platz.
Erst als es im zweiten Satz 5:2 für Fynn stand, breitete sich bei mir ein Gefühl von Sicherheit aus. Hier sollte wirklich nichts mehr anbrennen und wenige Minuten später stand Fynn im Halbfinale des Challengers in Stralsund.
Ich fühlte mich erleichtert, denn so einfach hatte ich mir das nicht vorgestellt. Aber was hatte sich auf dem anderen Platz bei Justin ereignet? Schnell wechselte ich mit meinen Freunden den Platz und schaute neugierig auf die Anzeigetafel.
Justin hatte den ersten Satz hoch verloren. Führte jetzt aber im zweiten Satz mit 3:0. Mein Puls stieg sofort wieder an als ich neben Maxi den freien Stuhl nahm. Maxi wirkte stark angespannt. Hier war definitiv etwas nicht so glatt gelaufen wie erwünscht. Damit war klar, die Gratulation für Fynn musste warten.
„Was ist los?“, fragte ich Maxi leise.
„Ah, Chris. Gut, dass du kommst. Ich kann es dir nicht erklären, aber Justin hat im ersten Satz so eine hohe Fehlerquote gehabt wie ich das schon ganz lange nicht mehr gesehen habe. Er war im Prinzip nicht in der Lage zweimal den Ball ins Feld zu spielen. Vollkommen verkrampft und fast ängstlich.“
„Aha, und wie hast du versucht ihm zu helfen?“
„Ich habe ständig versucht ihm zu erklären, dass er ruhiger werden soll und seine Sicherheit zurückbekommen muss. Aber irgendwie ist mir das nicht gelungen. Erst in der Satzpause bin ich dann in die Umkleide gegangen und habe mit ihm gesprochen.“
„Ja und? Was hat er gesagt? Irgendetwas muss ja passiert sein. Jedenfalls scheint es jetzt besser zu gehen.“
„Ich glaube, er war total verwirrt. Er hat irgendetwas von Gedanken an seinen Vater geredet. Vollkommen konfus und so hatte er auch gespielt.“
Genau das hatte ich befürchtet. Und Maxi war an dieser Stelle vermutlich noch nicht so souverän, um Justin auszubremsen und wachzurütteln.
„Wie hast du ihn beruhigen können? Jetzt spielt er zumindest dreimal den Ball ins Feld und macht auch wieder mehr Punkte.“
„Ganz ehrlich, so genau kann ich das gar nicht sagen. Ich habe nur davon gesprochen, dass du sicher nicht begeistert sein würdest wenn er so abschenkt. Da ist er wütend geworden und hat mich ganz ordentlich angemacht. Das war nicht so angenehm, aber seitdem spielt er viel besser.“
„Okay, was genau hat er dir an den Kopf gehauen? Ist er beleidigend gewesen?“
„Nein, das nicht. Aber er hat mir vorgeworfen, ihn nicht schon früher runter geholt zu haben. Wie hätte ich das denn machen sollen? Ohne eine Strafe zu riskieren.“
Maxi wirkte enttäuscht und verunsichert. Gut, nach dieser Situation auch kein Wunder. Jetzt war ich gefordert die Situation zu retten. Alles andere konnten wir später noch besprechen.
„Pass auf, wenn es dir recht ist übernehme ich jetzt das Coaching. Aber ich möchte, dass du hier sitzen bleibst. Du hast nicht viel falsch gemacht. Dir fehlt da die Erfahrung, aber die kannst du doch gar nicht haben. Also entspann dich bitte. Wenn hier jemand dafür verantwortlich ist außer Justin, dann bin ich das. Ich hatte gedacht, dass Thema hätten wir hinter uns gelassen. Gut, dem scheint also nicht so zu sein. Jetzt werden wir hier einen anderen Ton anschlagen.“
Bei dem Spielstand von 4:1 für Justin wurden erneut die Seiten gewechselt und ich hatte direkt mit ihm Kontakt aufgenommen und klargemacht, dass ich jetzt das Zepter in die Hand nehme und er mit mir kommuniziert.
Das klappte auch gut, wenn auch mit einem kleinen Schrecken in seinem Gesicht.
Der zweite Satz ging wenige Minuten später an Justin und eine Satzpause folgte. Ich gab Justin das Signal, dass ich in die Umkleide gehen würde und er sich ebenfalls dorthin begeben sollte.
„Maxi, du kommst bitte mit. Ich möchte, dass du mitbekommst, was ich mit Justin jetzt mache. Und erschrick dich bitte nicht.“
„Bist du dir sicher, dass ich….“
„Ja und komm jetzt. Wir haben nicht viel Zeit.“
Im Laufschritt ging es in die Umkleide. Justin saß bereits auf der Bank und hatte sich eine frische Hose und ein neues Hemd angezogen.
„Sag mal, was machst du hier eigentlich? Selbstzerstörung im Schnelldurchgang? Nur weil Maxi auf der Tribüne sitzt, heißt das für dich nicht, dass du ihm nicht zuhören musst. Er kennt die Strategie und weiß genau was mit dir besprochen ist. Das solltest du doch wissen. Und wenn du mit deinem Vater im Kopf beschäftigt bist, dann kann Maxi da überhaupt nichts für. Ich bin sauer. Nicht, dass du schlecht gespielt hast, sondern dass du Maxi auch noch dafür angemault hast. Jetzt mach deinen Kopf klar und spiel Tennis. Ganz einfach nur Tennis spielen. Das ist nicht zu viel verlangt für einen angehenden Profi.“
Stille!
Maxi schaute mich fast entsetzt an. Justin nickte nur und schloss für einen Moment die Augen.
„Ja“, flüsterte Justin, „ das habe ich richtig verbockt. Was kann ich jetzt tun, um das wieder gutzumachen?“
„Einfach Tennis spielen. Habe ich doch schon gesagt. Mach einfach. Alles andere besprechen wir später. Zeig uns und vor allem dir selbst, dass du dich befreien kannst. Ich glaube weiterhin an dich und deine Fähigkeiten.“
Dann hielt ich ihm meine Hand hin und sagte noch zum Abschluss: „Los, du verrücktes Huhn. Mach ihn fertig. Du kannst das.“
Justin schlug meine Hand ab und schaute Maxi an, aber dafür war jetzt keine Zeit.
„Los, ab auf den Platz. Maxi wird später geregelt. Deine Zeit läuft.“
Auf dem Weg zurück auf die Tribüne fragte mich Maxi:
„Denkst du nicht, dass du ihn jetzt zu hart angefasst hast? Er ist noch im Spiel.“
„Richtig, er ist noch im Spiel. Und ich möchte, dass er auch nach dem Match noch im Turnier ist. Manchmal muss eine klare Ansage sein. Ich mag das auch überhaupt nicht. Aber ich habe von Jan lernen müssen, dass im Profitennis die Fakten zählen. Und damit du keinen falschen Gedanken führst, ich glaube ganz fest an Justin. Auch weiterhin. Er muss nur hin und wieder mal die richtige Richtung gezeigt bekommen. Ich erwarte jetzt eine Durchzündung auf dem Platz. Der Gegner sollte sich jetzt am besten einen Helm aufsetzen.“
„Hahaha. Jetzt bist du wieder der Chris den ich kenne. Eben habe ich mich richtig erschreckt, als du Justin so zusammengefaltet hast. Ich glaube, er war auch erschrocken.“
„Ganz bestimmt. Das war auch mein Ziel. Er sollte aufwachen. Ich bin ziemlich sicher, dass der dritte Satz jetzt schnell gehen wird. Justin wird vor Ehrgeiz brennen.“
Als wir in unserer Box ankamen, schaute mich Sabine ziemlich besorgt an. Auch Marc wirkte nachdenklicher als sonst. Nur Jörg grinste mich frech an.
„Na, jetzt hat der Drache aber mal mit Feuer gespielt und Justin ein wenig den Hintern heiß gemacht, oder?“
Ich zuckte mit den Schultern. Aber eigentlich gefiel mir Jörgs Art damit umzugehen gut. Sabine atmete tief aus. Sie meinte:
„Ich bin jetzt wieder beruhigt, doch eben hatte ich schon etwas Sorge um Justin. So geladen habe ich dich schon lange nicht mehr erlebt. Darf ich fragen, auf wen oder was du so wütend gewesen bist? Ich vermute eher auf den Vater von Justin, der wieder so viel Einfluss hatte, obwohl er tausende von Kilometern entfernt ist.“
Justin und sein Gegner betraten in diesem Augenblick wieder den Platz. Das Spiel ging mit dem entscheidenden dritten Satz weiter. Deshalb wollte ich keine weitere Diskussion auf der Tribüne. Meine ganze Aufmerksamkeit war auf dem Platz gefragt.
Als Justin sich die Bälle geben ließ, um den Satz mit eigenem Aufschlag zu beginnen, ging sein Blick zu mir. Ich zeigte ihm die Faust und nickte ihm zu. Ein Kopfnicken seinerseits reichte mir. Er hatte es begriffen. Jetzt würde sich zeigen wie weit er wirklich schon entwickelt war.
Auch die Zuschauer spürten die Wichtigkeit des nächsten Aufschlagspiels. Rhythmisches Klatschen sollte Justin anfeuern.
Beeindruckend war der Start in den Satz. Justin hämmerte seinem Gegner direkt drei Asse um die Ohren. 40:0 und der nächste Punkt war auch sicher gespielt. 1:0 nach nur wenigen gespielten Sekunden. Die Seiten wurden gewechselt und wieder blickte Justin zu mir nach oben. Er wirkte entschlossen und fokussiert. So wie ich es mir gewünscht hatte.
Der erste Return flog genauso schnell zurück wie der Aufschlag gekommen war. Die Zuschauer flippten aus. Damit hatten sie überhaupt nicht gerechnet und ich konnte die Gruppe der Jugendlichen beobachten, sie tobten förmlich auf der Tribüne. Justin brannte jetzt genau das Feuerwerk ab, was ich mir von Beginn an gewünscht hatte.
„Warum macht er das jetzt erst? Wenn es doch so einfach ist, dann kann es doch nicht sein, dass du erst richtig wütend werden musst“, fragte mich Jörg.
„Diese Frage darfst du Justin gern nach dem Spiel stellen. Ich gehe davon aus, dass er genauso wenig eine gute Antwort parat hat wie ich jetzt. Vielleicht hat es auch etwas mit dem Selbstvertrauen zu tun. Er hat jetzt gespürt, dass ich auch weiterhin voll hinter ihm stehe.“
„Genau das ist der Punkt, Chris“, meldete sich Sabine lachend, „du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Justin braucht diese Rückendeckung noch mehr als Fynn. Gerade wenn es um seinen Vater geht. Bislang war das kein großes Problem, hier ist es wieder aufgetaucht und du hast Justin da abgeholt wo er gerade stand. Du hast ihn an die Hand genommen und wieder auf den rechten Weg geführt. Jetzt kann er wieder allein gehen und seinen Gegner zerlegen wie er möchte. Großes Kino, Chris.“
Ich musste zugeben, Sabine hatte viel Wahrheit in ihren Worten. Mir war es jetzt nur wichtig, dass Justin es fertig spielen würde und wir dann darüber in entspannter Atmosphäre sprechen konnten.
Nach wenigen Minuten konnte ich mich wieder etwas entspannen. Justin blieb konsequent und fokussiert und fertigte seinen Gegner schmerzlos ab. Damit standen Fynn und jetzt auch Justin im Halbfinale in Stralsund.
Nach dem Matchball gab es viel Beifall von den Zuschauern. Justin bedankte sich für die Unterstützung und verließ winkend den Platz.
Gedanklich war ich mit diesem Spiel allerdings noch nicht fertig. Marc spürte das und auch Sabine beobachtete mich genau. Jörg hatte ich mit Dustin und den spanischen Freunden schon in den Spielerbereich geschickt. Ich brauchte jetzt etwas Nervennahrung.
„Können wir jetzt gehen?“, fragte Marc.
„Ja sicher. Ich komme. Lasst uns gehen. Das war jetzt nicht so prickelnd, bis auf das Ergebnis. Wie geht es dir jetzt, Maxi?“
„Ganz gut. Ich kann noch nicht ganz begreifen, warum du erst so heftig eingreifen musstest. Und was kann ich tun, um Justin in Zukunft besser zu unterstützen?“
„Zuerst mal hast du alles richtig gemacht. Du hast deine Möglichkeiten ausgenutzt. Das hätte heute vielleicht nicht für einen Sieg gereicht, aber mach dir bitte keine Vorwürfe. Justin ist für sich verantwortlich. Er steht auf dem Platz und muss die Entscheidungen treffen. Du, und auch ich, kannst nur Wege aufzeigen. Gehen muss er allein. Das kennst du ja sicher auch noch aus deiner Spielerzeit.“
Mittlerweile hatten wir uns auch auf den Weg zu den anderen gemacht. Natürlich musste Marc auch wieder etliche Autogramme schreiben. Aber als wir bei Jörg im Spielerbereich ankamen, saßen alle an einem langen Tisch und sie hatten für uns bereits Plätze freigehalten.
Besonders erfreut war ich, als ich Drees und Leon mit ihren Eltern bei uns am Tisch sah. Ich begrüßte sie herzlich und Leons Freude war groß, als er mich kommen sah. Er stand extra von seinem Platz auf um mich zu begrüßen.
„Das ist aber eine schöne Überraschung, dass du heute erneut dabei sein kannst. Hast du von den Spielen schon etwas gesehen?“, fragte ich.
„Hallo Chris, ja, ich habe von Fynn den zweiten Satz gesehen und den zweiten und dritten Satz von Justin. Das war ein komischer Spielverlauf.“
„Allerdings. Aber jetzt lass uns bitte nicht mehr von dem Spiel sprechen. Ich brauche jetzt etwas Nervennahrung.“
Bevor ich etwas bestellen konnte, meldete sich Jörg zu Wort.
„Komm her zu mir. Ich habe dir hier schon was Leckeres hingestellt“, lachte er und zeigte auf einen Latte Macchiato und ein Stück Kuchen.
„Hahaha, du weißt genau wie du mich wieder beruhigen kannst. Da sage ich nicht nein.“
Marc und Sabine hatten sich zu mir gesetzt. Jörg fragte, was sie trinken wollten und nachdem auch Maxi seinen Wunsch geäußert hatte, ging Jörg bestellen.
Es dauerte noch ein paar Minuten bis bei Drees und Leon etwas Unruhe aufkam. Sie hatten Marc doch noch erkannt und das sorgte etwas für Verwirrung.
Erst recht als Marc sich bei Leon erkundigt hatte wie es ihm gehen würde und ob es ihm gefallen hatte.
Aber dank Marcs Geschick entwickelte sich die Situation sehr positiv und ich wartete nun auf die Rückkehr von Justin zu uns. Das Tagesprogramm war erledigt und ich hatte das Bedürfnis, schnell zurück in unser Quartier zu kommen. Mein Akku leerte sich spürbar.
Justin: Unangenehmes Gefühl nach dem Sieg und schwieriges Halbfinale
Nach der Massage hatte ich jetzt meine Tasche geschultert und war auf dem Weg zu den anderen. Chris hatte mir eine Nachricht geschickt, dass sie noch im Spielerbereich zusammensitzen und ich dorthin kommen sollte.
Obwohl ich letztlich noch gewonnen hatte, machte sich Unzufriedenheit bei mir breit. Ich war zu Beginn überhaupt nicht in der Lage gewesen meinen Kopf nur auf mein Spiel zu fokussieren. Ständig schwirrte mir im Kopf herum, dass mein Vater das Spiel sehen würde. Und mit jedem weiteren Punkt den ich nicht machen konnte, stieg meine Unsicherheit. Ein furchtbares Gefühl. Aber noch schlimmer war dann mein Ausbruch Maxi gegenüber.
Entsprechend rechnete ich jetzt noch mit einem Gespräch mit Chris. Seine Reaktion am Platz und in der Umkleide ließ mich erahnen wie sauer er gewesen ist. Ich konnte es jetzt nicht mehr ändern, aber dieser Sieg fühlte sich überhaupt nicht gut an.
Aber als ich zu meinen Freunden kam, herrschte gelöste Stimmung. Insbesondere Marc hatte natürlich gerade bei Drees und Leon mächtig Eindruck hinterlassen. Chris saß entspannt mit Jörg und Sabine in einem Gespräch am Tisch. Aber als Chris mich kommen sah, winkte er mich sofort zu sich.
„Na, wie geht es dir jetzt? Hast du dich ordentlich massieren lassen? Komm, jetzt ist erst einmal entspannen angesagt. Was möchtest du trinken?“
Erstaunlich wie Chris schon wieder gelaunt war. Als ob die Ereignisse im Match schon vergessen waren. Ich wählte eine Apfelschorle und setzte mich zu Dustin und Fynn. Maxi saß mir gegenüber. Und das machte mir kein gutes Gefühl. Ich wusste genau wie beschissen ich mich ihm gegenüber benommen hatte.
„Wie ist dein Spiel gelaufen?“, fragte ich Fynn.
Ein leichtes Lächeln tauchte auf seinem Gesicht auf.
„Cool. Ich denke ich habe gut gespielt. Viel besser konnte es nicht laufen. Selbst Chris war zufrieden. Und es gab keine lange Nachbesprechung. Das will schon etwas heißen, hihi.“
„Das hört sich gut an, kennst du deinen nächsten Gegner schon?“, fragte ich.
„Ja, den kenne ich bereits. Gegen ihn habe ich bereits schon einmal gespielt und verloren. Aber das ist schon einige Monate her. Chris meinte, dass ich jetzt deutlich bessere Chancen habe. Aber was war denn bei dir los? Chris wirkte etwas angespannt, als er nach deinem Spiel zurückkam.“
„Ähm, naja. Ich glaube, ich habe zu Beginn das schlechteste Tennis seit langem gespielt. Ich konnte mich überhaupt nicht konzentrieren. Und das hat mich tierisch genervt und ich bin wieder ungeduldig geworden und habe vor allem meine Nerven nicht im Griff gehabt.“
Fynn schaute mich an und auch Dustin fing an zu grinsen, sagte aber nichts. Chris reagierte auch nicht auf meine Aussage, aber sein Blick verriet mir, dass er es mitbekommen hatte, gleichwohl er gerade mit Sabine, Marc und Jörg in einem Gespräch war. Maxi saß uns gegenüber und ich fühlte mich gerade wirklich unwohl. Da kam von Chris:
„Maxi und Justin, könnt ihr mir bitte einen Gefallen tun? Ich habe meine Tasche bereits ins Auto gelegt. Aber ich benötige die Tasche doch noch einmal hier. Marc hatte gerade eine gute Idee und daher haben wir den Plan kurzfristig geändert.“
Maxi war bereits aufgestanden und wartete auf mich. Jeder wird sich jetzt natürlich fragen, warum sollten wir zu zweit zum Auto gehen um seine Tasche zu holen. Allerdings war das mit Sicherheit nur ein Vorwand, damit ich die Gelegenheit bekam, mit Maxi einmal in Ruhe und allein zu sprechen. Das war so typisch für Chris. Obwohl ich mich richtig daneben benommen hatte, stellte er mich nicht bloß. Er gab mir eine Chance aus meinem Fehler zu lernen und mich zu entschuldigen. Also nahm ich diese Möglichkeit natürlich sofort wahr und ging mit Maxi zum Auto.
Dennoch fühlte ich mich nicht gut. Aber es half ja nichts und daher entschuldigte ich mich als wir an Chris Auto ankamen.
„Ich habe mich vorhin richtig schlecht benommen. Dafür möchte ich mich entschuldigen, Maxi. Es tut mir leid, dass ich mich nicht unter Kontrolle hatte. Du hast versucht mir zu helfen und ich mache dich so dumm an.“
Maxi schaute mich an, aber fing nicht an sich über mich lustig zu machen.
„Danke, ich nehme deine Entschuldigung an. Aber das war schon ein blödes Gefühl vorhin. Aber Chris hat mir schon gesagt, dass es wohl nicht so einfach für dich war.“
„Das stimmt, aber trotzdem ist das total blöd und unfair gewesen. Abgesehen davon, ich hätte das Match vermutlich nicht gewonnen wenn Chris nicht eingegriffen hätte. Und ich möchte nicht damit sagen, dass du schlecht gecoacht hast. Aber Chris hat mir so dermaßen den Kopf gewaschen, dass ich endlich wieder Tennis spielen konnte. War zwar auch unangenehm, hat aber geholfen.“
„Hahaha, ja, dieses Kopfwaschen kenne ich auch noch. Sehr unangenehm, aber hilft echt. Und dann den Gegner so zu zerlegen, das muss man auch erst einmal hinbekommen. Komm, lass uns das abhaken. Hast du mit Chris schon gesprochen?“
Dabei hielt er mir die Hand hin. Ich machte einen Schritt auf Maxi zu und umarmte ihn.
„Danke. Es tut gut zu wissen, dass wir Freunde sind. Und nein, ich habe noch nicht mit Chris gesprochen. Das wird wohl noch kommen.“
„Jaha, davon kannst du ausgehen. Solche Dinge mag er überhaupt nicht. Schlecht spielen ist eine Sache, aber schlecht benehmen mag er gar nicht. Da dürfte wohl noch ein klärendes Gespräch fällig sein. Aber Angst haben brauchst du nicht. Chris bleibt immer fair und ich habe danach immer noch etwas dazugelernt.“
Auch wenn Maxi mir das Unbehagen nehmen konnte, ich hatte mir ganz fest vorgenommen Chris um Rat und Hilfe zu bitten. So etwas durfte mir nicht erneut passieren.
Maxi hatte noch Chris Tasche aus dem Auto genommen und dann ging es zurück zu den anderen.
Am Tisch saßen noch alle, nur Chris und Marc fehlten. Dustin und Fynn hatten sich zu Drees und Leon gesetzt und es schien so zu sein, dass sie viel Spaß hatten. Fynn winkte uns direkt zu sich.
„Chris und Marc sind für morgen noch etwas organisieren. Wenn ich Chris richtig verstanden habe, möchte er nur noch mit dir“, dann zeigte er auf mich, „noch kurz sprechen. Ich habe meine Gegner Analyse schon bekommen. Ich glaube, wir fahren nicht direkt ins Quartier zurück. Aber ich weiß es nicht genau.“
Auch das war mir nicht ganz neu. Immer wenn Marc und Sabine im Spiel waren, mussten wir mit Überraschungen rechnen. Gerade für Chris versuchten sie Entlastung zu schaffen. Also sollte ich mich innerlich auf das Gespräch schon mal vorbereiten. Das würde noch hier stattfinden.
Ich brauchte mich auch gar nicht erst zu meinen Freunden an den Tisch zu setzen, denn Chris kam in diesem Moment mit Marc zurück.
„Justin“, sprach Chris bestimmt, „wir haben gleich noch etwas vor, daher würde ich gern noch hier mit dir über das Match von heute und morgen sprechen.“
„Ja, ich habe es befürchtet. Aber ich bin wohl selbst schuld“, antwortete ich.
Chris gab mir mit einem Kopfdrehen zu verstehen, dass ich ihm folgen sollte. Natürlich machte ich das. Als wir aus dem Raum waren, drehte er sich um.
„Hey, kein Stress. Alles gut. Lass uns einfach ein paar Meter laufen.“
Chris wartete bis ich neben ihm war und erst dann gingen wir weiter. Es wurde ein typisches Chris Gespräch. Er wartete auf meine Reaktion.
„Zuerst möchte ich dir sagen, dass ich mich bei Maxi bereits entschuldigt habe. Wir haben das geklärt. Und dann muss ich zugeben, dass du mir erneut den Hintern gerettet hast. Dieses Match hätte ich heute ohne dein Eingreifen sehr wahrscheinlich nicht gewonnen.“
Chris antwortete nicht, er nickte nur.
„Ja, ich weiß auch, dass ich diesen Fehler bereits vor einiger Zeit gemacht hatte und du vermutlich erwartet hast, dass ich daraus gelernt hätte. Weißt du, es ist einfach sehr schwierig für mich, an dieser Stelle meine Gedanken nur auf den Gegner zu fokussieren. Besonders wenn mein Vater im Spiel ist.“
„Dein Vater war doch gar nicht im Spiel. Du hast ihn erst ins Spiel gebracht. Dein Vater ist tausende Kilometer entfernt. Und du hast sogar die Hilfe von Maxi verweigert. Das ist doch doppelt bescheuert. Wie sollen wir dir helfen, wenn du dir nur mit Nachdruck etwas sagen lässt? Wenn du dir mir das plausibel erklären kannst, werde ich darüber nachdenken ob ich das in Zukunft erlaube.“
Da hatte er mir richtig einen eingeschenkt und dennoch blieb Chris dabei freundlich. Er machte sich einfach über mich ein wenig lustig. Okay, das konnte ich gut aushalten. Denn mir war klar, diese plausible Erklärung konnte ich natürlich nicht liefern.
„Ich denke, du weißt genau wie ich, dass es keine plausible Erklärung gibt. Ich habe es schlicht verkackt und ganz ehrlich, es fühlt sich beschissen an, obwohl ich gewonnen habe. Was muss ich anders machen? Ich möchte in Zukunft besser mit dem Problem umgehen können. Mein Vater wird mir immer wieder begegnen können.“
„Das ist doch schon einmal eine gute Basis. Alles andere hätte mich sehr erstaunt. Lass uns nach vorn schauen. Du brauchst einen Weg, auf dem du deinen Vater mit sicherer Distanz begegnen kannst. Hat er sich eigentlich nach deinem Sieg schon bei dir gemeldet?“
„Aaron hat mir geschrieben und gratuliert. Papa hat sich wohl sehr aufgeregt.“
„Wie geht es dir damit? Ich finde es bitter, dass dein Vater nicht gratuliert. Er muss wissen wie du dich fühlst. Aber egal. Wir werden es beim nächsten Mal besser machen. Ich denke, Maxi wird auch anders in das Spiel gehen. Ich möchte übrigens, dass er auch das Halbfinale von dir coacht. Beide Spiele finden direkt hintereinander statt. Fynn wird beginnen und dann kommt dein Spiel im Anschluss. Für Fynn sicher von Vorteil, dass er nicht warten muss. Dir macht das aber nicht so viel aus.“
So langsam entspannte ich mich wieder. Ich hatte viel mehr Unmut von Chris erwartet. Bislang war es wie immer konstruktiv und den Blick nach vorn gerichtet.
„Kann ich dich etwas fragen, Chris?“
„Na klar, was liegt dir auf dem Herzen?“
„Ich möchte wissen wie hast du das Problem mit deinem Vater damals gelöst? Du hast uns erzählt, dass er auch immer auf dich negativen Einfluss hatte.“
„Oha ja, eine gute Frage. Aber ich glaube, ich habe es gar nicht gelöst. Es hat sich einfach ergeben. Ich habe damals aufgehört mit dem Turniersport. Für mich als Mensch sicher eine richtige Entscheidung, als Sportler fatal. Meine Zukunft wurde dadurch auf einen anderen Weg gelenkt. So ähnlich wie bei Maxi. Auch er hat akzeptiert, dass er so nicht auf professioneller Ebene wird spielen können. Seine Lebenssituation hat ihn auf einen anderen Weg gelenkt. Weißt du, ich bin davon überzeugt, dass du sehr gut lernen wirst, wie du das besser machen kannst. Du bist schon so selbstständig, und du hast bislang aus allen Fehlern lernen können. Das wird auch jetzt wieder so sein. Geh morgen einfach mit dem Gefühl auf den Platz, wir stehen hinter dir und du wirst deinen Gegner wieder so bearbeiten wie wir es besprochen haben.“
In diesem Augenblick tauchte Maxi bei uns auf. Da wurde mir klar, Chris hatte alles auf den Punkt vorbereitet und geplant. Maxi sollte bei der Vorbesprechung dabei sein, damit alle Dinge für das Match geklärt waren.
„Hi Maxi, schön, dass du mich morgen wieder unterstützt. Und ich werde es morgen besser machen als heute, das verspreche ich dir. Auch wenn mein Vater vermutlich wieder zuschauen wird. Dieses Mal werde ich mich nicht mehr damit beschäftigen, zumindest nicht vor dem Ende des Matches.“
„Hahaha, sehr gute Ansage“, lachte Chris und auch Maxi musste grinsen.
Und die für mich überraschende Aktion folgte dann. Chris begann direkt mit der Vorbereitung auf das morgige Halbfinale. Kein Wort zu meinem schlechten Auftreten und der beinahe Niederlage.
Die Strategie war schnell besprochen. Es sollte ein Gegner sein, der mir entgegenkam. Er spielte ein recht hohes Grundtempo und nicht defensiv. Chris kam schon zum Ende seiner Ausführungen als er meinte:
„…und denk nur an den Ball auf dem Platz. Wenn du das hinbekommst, hast du keinen Grund, dir Sorgen zu machen. Hast du noch Fragen oder können wir zurück zu den anderen gehen?“
„Keine Frage, aber ich möchte euch beiden noch etwas mitteilen. Es tut einfach gut zu wissen, dass ich auch einen Fehler machen kann ohne zum Henker geführt zu werden. Aber ich habe auch begriffen, was ich verändern muss. Dazu möchte ich euch beide um Unterstützung bitten. Wenn ich mal wieder auf dem Holzweg bin, sagt es mir klar und deutlich. Wenn ich es dann nicht merke, ist mir wohl nicht zu helfen. Dann muss ich solche Spiele auch verlieren, unnötigerweise.“
„Sehr gern, Justin“, lachte Chris und zeigte auf Maxi, „wenn Maxi das nächste Mal von dir so angemacht wird, darf er schwere Geschütze einsetzen, um dich wieder auf Linie zu holen.“
Damit war die Vorbereitung für das Halbfinale zu Ende. Als wir drei zurück zu den anderen gingen, sprachen wir über Leon und Drees. Chris hatte eine Idee.
„Was meint ihr beide denn? Wenn einer von uns am Sonntag im Finale stehen sollte, können wir die beiden Jungs zu uns in die Box holen? Oder stört euch das? Die Rügener werden wir ja auch einladen. Aber die können wir nur auf der Tribüne unterbringen. Das sind zu viele.“
„Klar, coole Idee“, antwortete ich aber leicht verwundert, „aber sollten wir nicht erst einmal einen von uns ins Finale bringen? Du planst doch sonst nicht so in die Zukunft bei einem Turnier.“
„Stimmt, aber ich habe den beiden ja auch noch nichts gesagt. Das werde ich natürlich erst morgen nach dem Halbfinale machen, aber ich habe ein gutes Gefühl.“
„Dann kann ja nichts schiefgehen“, lachte Maxi, „das Gefühl von Chris war bislang immer sehr treffend. Ich bin mal gespannt.“
Interessanterweise herrschte bei den anderen eine gelöste Stimmung. Selbst Dustin und Fynn scherzten mit Marc und Sabine. Und Drees und Leon hatten wohl endlich die Angst vor Marc abgelegt, denn sie unterhielten sich lebhaft. Aber Leon sah müde aus. Das erinnerte mich sofort an die Geschichte von Luc, die er uns mal erzählt hatte (nachzulesen in „The race is on“).
Sabine war diejenige, die jetzt am Tisch die Regie übernommen hatte. Entsprechend reagierte sie, nachdem wir uns wieder gesetzt hatten.
„So, wir sind wieder vollzählig, Justin lebt auch noch und damit können wir aufbrechen. Chris soll genau wie Justin und Fynn zur Ruhe kommen. Leon und Drees sehen wir morgen wieder. Hat noch jemand Fragen?“
Ich schaute in die Runde, denn wir hatten ja nicht mitbekommen was hier passiert war. Plötzlich fragte Dustin:
„Äh, was machen wir denn jetzt? Irgendwie hab ich keine Ahnung wohin wir aufbrechen.“
Eine gute Anmerkung, denn ich hatte ebenfalls keinen Plan. Aber Sabine lachte nur und erwiderte:
„Niemand außer Marc und mir weiß wohin wir aufbrechen. Ist aber auch so gewollt. Dann lasst uns gehen. Wir treffen uns am Parkplatz. Marc und Chris werden noch kurz etwas für morgen vorbereiten.“
Da wurde mir klar, es wäre klug keine weiteren Fragen zu stellen. Wir würden eh keine Antworten erhalten. Sabine hatte das Zepter in der Hand, Chris würde mit Marc wieder eine Aktion für morgen vorbereiten und wir sollten einfach runterfahren und uns ausruhen. Und genau das wollte ich jetzt machen.
Chris: Halbfinaltag
Der gestrige Abend war wieder mal ein typischer Steevens Abend. Marc und Sabine hatten uns zu einer gemütlichen Dampfzugfahrt mit dem 'rasenden Roland' auf Rügen eingeladen. Dazu gab es ein gemütliches Abendessen. Fynn und Justin hatten sich selbstständig gegen zehn Uhr am Abend ins Bett verabschiedet. Dass Dustin seinen Freund nicht allein gehen ließ, war für mich klar.
Sergio und Marcelo hatten die Gelegenheit genutzt, uns etwas mehr von ihrer Situation zu berichten. Es war nicht einfach für Sergio, auf der Tour richtig Fuß zu fassen. Er war mittlerweile Anfang zwanzig und eigentlich sollte in seinem Alter der Schritt auf die große Profitour geschafft sein.
Allerdings habe ich mich bewusst dazu nicht weiter geäußert. Ich hatte den Eindruck, dass er sich bereits ernsthaft mit seiner Situation beschäftigen würde. Sollte er meinen Rat wollen, würde er sich bei mir melden.
Heute standen die beiden Halbfinale an. Es war Samstag und daher war der Zeitplan wieder etwas anders. Das erste Spiel sollte um vierzehn Uhr beginnen und direkt im Anschluss das zweite Match.
Das bedeutete frühes Aufstehen und volles Programm bis zum Halbfinale. Das gemeinsame Frühstück war für mich ein zentraler Punkt bei der Vorbereitung. Für die gute Stimmung sorgte insbesondere Jörg wieder. Er war ein Morgenmensch und hatte eigentlich immer den Schalk im Nacken.
Selbst Dustin ließ sich auf seine Art ein und lachte gerade über einen Spruch von Jörg als ich die Küche betrat.
„Guten Morgen, ist ja schon tolle Stimmung hier. Sehr schön. Gibt es noch etwas für mich zu tun?“, fragte ich.
Noch waren Justin und Fynn nicht bei uns. Aber Sabine und Marc hatten bereits draußen auf der Terrasse den Tisch gedeckt und saßen in der Morgensonne als ich nach draußen kam.
„Guten Morgen“, begrüßte mich Marc mit einem Lächeln, „wie ist die Lage bei dir? Alles im Lot?“
„Guten Morgen ihr beiden. Bin ich so spät oder seid ihr so früh?“
„Passt alles, du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Wir haben schon einmal das Frühstück vorbereitet. Dann kannst du dich ganz auf die Halbfinals konzentrieren. Ich soll dir beste Grüße von Stef und Luc ausrichten. Sie werden heute die Spiele am Computer verfolgen.“
„Vielen Dank, das ist toll. Ich freue mich schon auf das Wiedersehen in der kommenden Woche. Mal schauen wie es heute laufen wird. Ich vermute, Fynn wird richtig angespannt sein. Er hat sich viel vorgenommen.“
„Und meinst du nicht, Justin wird auch zeigen wollen, dass er es besser machen kann als gestern?“, fragte Sabine.
„Ganz sicher. Und ich bin davon überzeugt, dass wir heute ein ganz anderes Match sehen als gestern. Aber jetzt ist erst einmal ein ausgiebiges Frühstück angesagt. Da will ich von Tennis noch nichts wissen.“
Mittlerweile waren auch alle Jungs anwesend und erstaunlicherweise war die Stimmung bestens. Selbst Maxi, der als Langschläfer bekannt war, hatte schon gute Laune. Entsprechend gelöst verlief das Frühstück.
Erst, als ich bereits mit dem Essen fertig war und mit Jörg noch einen Extra Othello genoss, fragte mich Fynn:
„Wo schlagen wir uns ein? Hier oder in Stralsund?“
„Heute werden wir das in Stralsund machen. Das passt zeitlich besser, da wir die Anfangszeit von deinem Spiel genau kennen. Du wirst dann direkt vom Einschlagen in das Match starten.“
Fynn nickte und ich wusste, dass ihm das gut gefiel. Er hatte am liebsten keine lange Pause vor dem Match.
„Chris, Sabine und ich werden gleich noch etwas erledigen. Deshalb kommen wir etwas später nach Stralsund. Wir sind aber auf jeden Fall rechtzeitig vor Ort.“
„Das ist kein Problem. Macht euch keinen Stress, ihr müsst euch auch nicht beeilen. Sollte es länger dauern, wird das Spiel ja trotzdem starten können. Ihr habt ja ein eigenes Auto hier.“
Meine Jungs ließ ich jetzt ihre Sachen packen und im Anschluss machten Jörg und ich uns auf den Weg nach Stralsund. Die Jungs verteilten sich auf die beiden Autos. Das Besondere heute, Dustin stieg mit Marcelo und Sergio bei Jörg ein, während Maxi, Justin und Fynn bei mir Platz nahmen.
Aber wir besprachen keine neuen Dinge mehr. Es war alles gesagt, dennoch hatte das einen positiven Effekt auf die Fokussierung. Fynn wirkte entschlossen und konzentriert.
„Auf welchem Platz können wir uns gleich einschlagen? Und soll ich mich mit Justin einschlagen oder wie hast du dir das gedacht?“
Fynn hatte bereits den Turniermodus aktiviert, aber heute machte er einen selbständigen und konzentrierten Eindruck. Er beschäftigte sich nur noch mit dem kommenden Halbfinale. Auch Justin hatte sich bereits etwas in sich zurückgezogen. Eigentlich sollte ich zufrieden sein, aber etwas erstaunt war ich schon.
„Ihr geht gleich mit Maxi gemeinsam auf Platz zehn. Der ist für euch reserviert. Ich werde dorthin kommen sobald ich uns angemeldet habe.“
„Kann nicht Dustin die Anmeldung machen. Ich würde dich gern von Beginn an am Platz haben.“
Ich schaute Justin irritiert an. So klar hatte er noch nie vor einem Match einen Wunsch formuliert. Aber das sollte ich jetzt nicht kommentieren sondern einfach machen.
„Natürlich geht das. Wenn dir das wichtig ist, dann komme ich direkt mit an den Platz.“
Allerdings wollte ich nicht Dustin losschicken. Ich würde das Maxi überlassen. Er hatte die Co-Trainer Rolle und sollte das entsprechend dann auch machen.
Zehn Minuten später stand ich am Rand des Platzes und schaute bei einem guten Einschlagen zu. Justin konzentrierte sich auf jeden Ball und selbst Fynn schaute das ein oder andere Mal komisch aus der Wäsche, weil ihm Justin ohne Schnörkel die Bälle um die Ohren haute. Ich hatte das Gefühl, Justin wollte mir beweisen, dass er es heute besser machen konnte.
Ich konnte einfach am Rande stehen und zuschauen, ohne dass ich eingreifen musste. Auch Maxi stellte sich wortlos zu mir.
Nach weiteren fünfzehn Minuten fragte mich Maxi leise:
„Hast du eine Idee, warum du jetzt unbedingt sofort auf dem Platz sein solltest? Es läuft doch prima. Beide sind richtig gut drauf und sehr ernsthaft bei der Sache.“
„Ja, ich glaube Justin brauchte das heute einfach mal. Er hat sich gestern selbst verunsichert und möchte es heute besonders gut machen. Warte ab. Das wird gleich ein richtig gutes Match von Fynn. Wie es bei Justin wird, müssen wir abwarten. Da kann es auch passieren, dass er es jetzt zu gut machen will. Schauen wir mal. Hat bei der Anmeldung alles geklappt?“
„Ja, alles gut.“
Maxi schmunzelte und wir schauten den beiden Jungs weiterhin ganz ruhig zu. Auch Dustin kam irgendwann zu uns. Erst nach weiteren fünf Minuten fragte er mich:
„Das ist doch richtig gut was die beiden hier machen. Warum hat Justin dich auf den Platz gebeten? Das war doch jetzt überhaupt nicht notwendig.“
„Äußerlich vielleicht nicht, aber wenn sich Justin dabei besser fühlt, dann ist es doch okay. Du bist auch manchmal nicht ganz logisch in deinen Aktionen. Aber ich kenne dich gut genug um zu wissen wann du mal mehr oder weniger Hilfen benötigst. Das lehnst du ja auch nicht ab.“
„Was denkst du denn wie das Spiel von Fynn gleich ausgehen wird? Momentan sieht das richtig gut aus.“
„Wie es ausgehen wird, kann ich nicht sagen, aber ich weiß, dass wir ein tolles Match sehen werden. Er wirkt gelöst und dennoch sehr konzentriert. Das ist eine optimale Vorbereitung.“
Mit einem Blick zur Uhr rief ich über den Platz:
„Ball anhalten und einmal hier treffen.“
Wenige Augenblicke später standen Fynn und Justin bei uns. Beiden lief der Schweiß von der Stirn. Sehr gut sah das aus.
„So, Fynn geht jetzt mit Dustin in die Umkleide und macht die letzten Vorbereitungen. Maxi bleibt mit Justin noch etwas hier und spielt weiter ein paar Bälle. Justin, ich denke du bist einverstanden wenn ich schon zu Fynn an den Platz gehe und du hier mit Maxi noch etwas spielst. Das sah richtig gut aus. Bitte einfach so weitermachen.“
„Ja, das ist in Ordnung. Ich fühle mich jetzt viel besser als eben zuvor. Danke, dass du mir die Sicherheit gegeben hast.“
Dann machte er einen Schritt auf mich zu und umarmte mich auf dem Platz. Das zeigte mir den enormen Druck, den er sich wieder einmal selbst gemacht hatte. Hoffentlich würde das im Match nicht nach hinten losgehen.
Etwa dreißig Minuten später saß ich angespannt auf meinem Platz in der Coaching Box. Das erste Halbfinale begann jetzt mit Aufschlag von Fynn. Die ersten Spiele waren für Fynn immer extrem wichtig. Je besser er in sein Match kam, desto einfacher wurde es auch für mich. Aber ich erwartete heute ein ganz hartes Spiel und entsprechend angespannt war auch ich.
Gut gefiel mir die Kontaktaufnahme von Fynn zu mir. Schon während der fünf Minuten Einschlagzeit hatten wir Blickkontakt und das gab mir ein gutes Gefühl. Fynns Gegner sollte auf dem Papier eine machbare Aufgabe sein. Allerdings hatte keiner meiner Jungs bereits viele Halbfinals auf diesem Niveau gespielt.
Fynn hatte sich heute für Aufschlag entschieden und begann mit guten Services. Nichts Spektakuläres, aber solide. Damit sicherte er sich ein 1:0. Der Start war also gelungen.
Erstaunlicherweise wirkte sein Gegner extrem nervös und fahrig. Als Fynn auf dem Weg zum Return zu mir schaute, tippte ich mir an die Stirn. Fynn blickte sofort zu seinem Gegner und nickte. Hatte er mich verstanden?
Und wie er mich verstanden hatte. Fynn haute seinem Gegner den zögerlichen Aufschlag mutig um die Ohren und führte nach einem weiteren tollen Punkt mit 0:30.
Fynn hatte in dem Ausnutzen der Situation viel dazugelernt. Er setzte nach und machte direkt das Break. Ein starker Beginn in das Halbfinale. Auch die Zuschauer honorierten das mit lautem Applaus.
Bei 3:2 für Fynn waren Marc und Sabine auch bei uns angekommen. Sie hatten uns freundlicherweise einen Othello im Becher mitgebracht.
Beim Spielstand von 5:3 für Fynn tauchte Maxi bei uns in der Box auf. Er setzte sich wortlos und erst als Fynn seinen Service zum 6:3 gewonnen hatte, informierte mich Maxi:
„Justin ist gut drauf, ich habe ihm jetzt etwas Ruhe verordnet zum Konzentrieren. Daher kommt er auch nicht mehr zum Zuschauen bei Fynns Match.“
„Alles klar, danke. Ja, das ist sicher vernünftig. Gehst du gleich wieder zu Justin?“
„Klar, kann ich machen. Meinst du, das wäre notwendig? Ich würde gern etwas von Fynns Spiel sehen wollen.“
„Ja, wenn wir schon zwei Trainer haben, solltest du jetzt bei Justin bleiben und ihm Sicherheit geben. Justin war sehr angespannt. Er soll nicht viel Zeit zum Nachdenken haben. Lenk ihn etwas ab oder macht sogar vielleicht einen kleinen Spaziergang.“
Maxi war sicher etwas enttäuscht, dass er von Fynn jetzt nicht viel sehen konnte, aber wie selbstverständlich ging er zurück zu Justin. Wie sich später noch zeigen sollte, war das genau richtig.
Fynn machte einen gefestigten Eindruck. Auch in der Satzpause blieb er auf seiner Bank und tauschte nur sein Hemd.
„Bist du zufrieden mit der Performance von Fynn?“, fragte mich Jörg überraschend.
Ich drehte mich um und blickte in das grinsende Gesicht von Jörg. Mit einem Griff in seinen Rucksack holte er eine Flasche Fassbrause hervor und hielt sie mir hin.
„Hier, für deine Nerven. Entspann dich etwas. Es läuft doch prima.“
„Oh, danke. Aber abwarten. Im Tennis kann immer alles passieren. Auch wenn du momentan recht hast. Es läuft prima.“
„Warum immer so skeptisch?“, fragte Sabine mit einem Lächeln, „Du hast Fynn alles mit auf den Weg gegeben. Er macht sich heute richtig gut und ich fühle, dass hier heute nichts mehr passiert. Warte ab.“
Ich musste schmunzeln, denn mittlerweile wusste ich was sie mit dieser Aussage bezwecken wollte. Sabine wusste genau welchem Stress ich während eines Turniers ausgesetzt war.
Marc meinte dann:
„Ich möchte mir ein Eis holen. Soll ich euch eins mitbringen?“
Bevor ich etwas antworten konnte, erwiderte Jörg:
„Ja, eine gute Idee“, und zeigte mit der Hand in die Runde.
Marc zwinkerte und lachte.
„In Ordnung, ich bring mal ne Runde für alle mit. Bis gleich.“
Mittlerweile hatte der zweite Satz begonnen und Fynns Gegner fing nun an den Ball nur noch zurückzuspielen und sehr defensiv zu werden. Bei mir löste das keine guten Gedanken aus. Ich hatte eigentlich schon früher mit dieser Taktik gerechnet, aber jetzt musste Fynn aufpassen und sich an unsere Strategie erinnern. Beim Spielstand von 2:1 und drei ewig langen Spielen saß Fynn auf seiner Bank und blickte zu mir.
Er zuckte mit den Schultern und pustete kräftig durch. Und dann fing er an zu grinsen und zeigte auf mich. Was war das denn jetzt?
Für einen Augenblick war ich irritiert, aber als Fynn wieder gelöst und mit einem leichten Hopserlauf auf den Platz ging, hatte ich es begriffen. Er hatte sich im Kopf auf die neue Situation eingestellt und wusste was zu tun war.
Eine halbe Stunde später stand es 4:1. Die Ballwechsel dauerten ewig, aber Fynn blieb cool und spielte es einfach zu Ende. Ohne einmal ungeduldig zu werden. Ganz großes Kino und ich war beeindruckt von dieser Entwicklung.
Nach dem Matchball gab es keine große Reaktion von Fynn. Er gab seinem Gegner die Hand und setzte sich erschöpft auf die Bank. Erst als sich unsere Blicke trafen, fing er an befreit zu lachen und ballte die Faust.
„Du solltest jetzt hinunter gehen. Ich glaube, das hat er verdient“, lachte Marc.
„Und komm nicht auf die Idee, dich schon mit Justin zu beschäftigen. Du hast jetzt Pause. Maxi ist doch bei Justin und übernimmt für dich.“
Sabine stand plötzlich vor mir und machte ein ernstes Gesicht, bevor sie mit ihren blitzenden Augen blinzelte.
„Ja ja. Ich geh dann mal. Haltet mir den Platz warm, hihi. Bis gleich.“
„Du machst dich langsam. Ich kann dich bald auch allein auf die Tour schicken. Hahaha.“
Die Zuschauer blieben zumeist auf ihren Plätzen und so waren die Wege auch nicht so voll. Ich überlegte wo ich Fynn am besten abpassen könnte. Aber plötzlich hörte ich hinter mir seine Stimme:
„Wie geil ist das denn, Chris. Ich habe gegen einen Verteidigungskünstler glatt gewonnen. Danke für die Hilfe.“
Ich drehte mich um und schon hatte mich Fynn umarmt und freute sich tierisch über diesen Erfolg.
Es war mir egal, dass er komplett verschwitzt war. Dieser Augenblick hatte eine enorme Intensität. Ich wusste aber gar nicht so richtig warum. Es war ein Sieg in einem Halbfinale, dennoch spürte ich ein besonderes Gefühl in dieser Umarmung. Fynn und ich hatten eine besondere Verbindung miteinander. Das konnte ich spüren.
Zum ersten Mal während eines Turniers hatte ich dieses intensive Gefühl.
Als wir uns wieder von einander gelöst hatten, begann Fynn vom Match zu erzählen.
„Als er begann nur noch defensiv zu spielen, habe ich sofort an deine Worte vor dem Match gedacht. Ich habe mich nicht einmal aufgeregt obwohl ich es hasse, so spielen zu müssen. Aber ich habe versucht, nur an die Strategie zu denken und weißt du was? Ich habe gewusst, wenn ich es durchhalten kann, werde ich gewinnen. Es hört sich total blöd an, aber ich konnte mich heute das erste Mal nur auf die Strategie konzentrieren. Das hat es mir einfach gemacht zu gewinnen. Ich kann es dir nicht anders beschreiben, aber ich habe verinnerlicht, wie wichtig du für mich bist. Es ist einfach toll dich als Freund und Trainer zu haben. Danke.“
Fynn wirkte emotional angefasst. Das erstaunte mich doch etwas.
„Danke für dein Lob, aber ich glaube, dass du noch viel mehr erreichen kannst. Jetzt gehst du aber bitte auslaufen und duschen. Ich gehe wieder zurück, denn Justin muss ja auch noch spielen. Wenn du möchtest, komm einfach zu uns. Wenn du lieber mit Dustin etwas entspannen möchtest, ist das natürlich auch in Ordnung.“
Er fing an zu lachen.
„Hahaha, du glaubst doch nicht, dass ich Justin nicht unterstützen möchte. Mit Dustin kann ich mich auch später noch vergnügen. Also bis gleich.“
Fynn nahm seine Tasche und verschwand in der Umkleide.
Auf dem Weg zurück gingen mir einige Dinge durch den Kopf. Obwohl ich noch einige Autogrammwünsche erfüllt hatte, konnte ich mich nicht wirklich daran erinnern als ich in der Coaching Box ankam. Mein Kopf beschäftigte sich mit diesem erneuten großen Erfolg. Ein Finale bei einem sehr hoch dotierten Challenger. Das war für mich alles andere als selbstverständlich.
Unsere Perspektive auf die große ATP Tour gehen zu wollen, verbesserte sich stetig. Bei Fynn, Dustin und auch Justin standen wir kurz vor dem Durchbruch. Und das gut ein Jahr vor dem Zeitplan. Das machte mir auch etwas Angst.
Bevor ich mich mit dem Match von Justin befassen wollte, schaute ich noch einmal auf mein Handy. Ich hatte auf dem Weg zurück zwei Nachrichten erhalten. Eine von Tim und Carlo und eine von Jan. Beides erstaunte mich und daher las ich sie umgehend.
Tim und Carlo hatten genau wie Jan im Internet das erste Halbfinale verfolgt und schickten uns Glückwünsche und viel Erfolg für das zweite Halbfinale.
Jan hatte sich das Spiel von Fynn angesehen und war ebenfalls begeistert von der Art und Weise wie Fynn sich durchgesetzt hatte. Das war für mich schon etwas ungewöhnlich.
Aber er sparte auch nicht mit Anerkennung für mich und meine Arbeit mit den Jungs. Ich zeigte Marc die Nachricht von Jan, der mein Handy einmal rumgehen ließ. Insbesondere Sabine hatte sie aufmerksam gelesen, dann kommentierte sie die Zeilen:
„Das ist doch prima. Hier ist auch nur Lob angesagt. Aber er hat deine Arbeit ebenfalls erkannt und wertgeschätzt. Fynn hat sich mental weiter entwickelt und das ist ein wichtiger Aspekt, um dieses Spiel gewinnen zu können. Es freut mich, dass Jan das auch so sieht.“
Ich freute mich zwar, war aber bereits gedanklich mit Justins Match beschäftigt. Marc schien das zu bemerken und fragte daher:
„Warum bist du so angespannt? Wird Maxi nicht für Justin verantwortlich sein? Du kannst dich doch jetzt etwas entspannen.“
„Weil ich natürlich weiterhin auch für Justin verantwortlich bin. Maxi entlastet mich, klar, aber die Verantwortung bleibt bei mir. Ich muss jederzeit eingreifen können. Aber ich werde versuchen mich zurückzunehmen.“
Sabine nickte mir zu, Sergio und Marcelo waren ebenfalls schon mit dem kommenden Match beschäftigt. Sergio fragte mich:
„Denkst du, dass Justin noch das Viertelfinale im Kopf hat oder kann er sich ausschließlich auf das heutige Match fokussieren?“
„Er wird die Situation im Kopf haben, ganz bestimmt. Aber ich hoffe, eher positiv. Also mit den gemachten Erfahrungen. Dadurch sollte er heute viel stärker auf dem Platz sein. Schauen wir mal, da kommt Maxi. Er wird uns die neuesten Informationen geben.“
Maxi setzte sich zu uns.
„Wie ist die Stimmung bei Justin?“, fragte ich Maxi.
„Eigentlich gut. Ich habe nur etwas Sorge, dass er es zu gut machen will. Aber ich glaube, er wird ein besseres Spiel zeigen als im Viertelfinale.“
In diesem Augenblick betraten die Spieler den Platz.
„Chris, Justin hat mich darum gebeten, dass du bitte von Beginn an das Coaching übernimmst.“
Ich schaute Maxi verwundert an.
„Hat er das so klar gesagt? Das wäre ja ein riesiger Schritt, dass er so klare Wünsche formulieren kann.“
Maxi holte tief Luft. Damit wusste ich schon, dass es nicht so deutlich gewesen war.
„Nein, hat er natürlich nicht getan. Aber er hat es so gemeint.“
„Erzähl bitte. Wie ist das abgelaufen?“
„Na ja, er hat mir noch einmal diese Situation aus dem Viertelfinale geschildert und davon gesprochen, dass die Verbindung zu dir für ihn doch viel einfacher sei. Es war ihm sichtlich unangenehm, weil er mich nicht verletzen wollte. Ich habe ihm aber gesagt, dass ich ja auch in Zukunft vermutlich nur selten da sein würde, von daher wäre mir das absolut bewusst. Das nehme ich zum Anlass, dir diesen Wunsch so zu formulieren.“
„Danke, ich bin echt froh, dass du Justin noch so gut kennst. Ich hoffe, du bist jetzt nicht sauer oder enttäuscht.“
„Nein. Überhaupt nicht. Es ist doch nur logisch. Ich bin nur selten am Platz. Dass es hier so ist, heißt nicht, dass ich ein gleichwertiger Ersatz für dich bin. Ich freue mich, dass ich hier mit dir Erfahrungen sammeln kann.“
Ein tolles Gefühl durchströmte meinen Körper. Maxis Worte waren großes Kino. Das dokumentierte seine menschliche Entwicklung. Es zeigte, wie wertvoll Maxi für uns als Team sein könnte. Ich war mir recht sicher, dass er ein guter Coach werden würde.
Nebenbei hatte ich mit Justin bereits Blickkontakt aufgenommen. Die Einschlagzeit neigte sich mit der Ansage „zwei Minuten“ dem Ende zu. Justin begann einige Aufschläge zu machen.
Seine Bewegungen wirkten locker und entspannt. Eine gute Voraussetzung für ein Halbfinale. Und was ich dann zu sehen bekam war ganz großes Tennis. Es wurde um jeden Punkt gekämpft und ein total ausgeglichenes Match entwickelte sich. Allerdings nicht mit langweiligen Ballwechseln. Es wurde aggressiv gespielt und viele sehenswerte Punkte erzielt. Dieses Spiel war hochklassig, aber auch spannend und für mich nervenzehrend.
Justin kommunizierte auch in engen oder kritischen Situationen offen mit mir. Beim Spielstand von 5:5 im ersten Satz gab es einen Moment wo ich richtig gefordert war. Der Stuhlschiedsrichter hatte den Linienrichter überstimmt und damit Justins Gegner den Punkt gegeben. Justin war mit dieser Entscheidung überhaupt nicht einverstanden und forderte den Stuhlschiedsrichter auf, sich den Abdruck anzuschauen.
Eigentlich war das eine Formsache, dass der Schiedsrichter vom Stuhl kam, sich den Abdruck anschaute und dann eine Entscheidung fällte. Hier fand das nicht statt. Der Schiedsrichter ließ sich nicht darauf ein. Für mich unverständlich und für Justin ein Grund sich richtig aufzuregen.
Kein guter Zeitpunkt bei 5:5. Da es sinnlos war mit dem Schiedsrichter weiter zu diskutieren, versuchte ich Justin zum Weiterspielen aufzufordern. Justin war außer sich und machte dann den Fehler einen Ausdruck zu wählen, der sofort eine Verwarnung nach sich zog. Allerdings hatte das zur Folge, dass sich Justin versuchte zu beruhigen und weiterspielte.
Das Spiel ging an seinen Gegner. Beim folgenden Seitenwechsel passierte dann allerdings etwas Bemerkenswertes. Justin ging zum Schiedsrichter und sprach in ruhigem Ton mit ihm. Ich konnte noch ein „Sorry“ wahrnehmen. Er hatte sich also für seine Entgleisung während des Spieles entschuldigt. Wow, das beeindruckte mich sehr.
Als Justin auf der Bank saß, blickte er zu mir. Seine Schultern fielen nach unten und er atmete tief aus. Er versuchte sich neu zu fokussieren. Ich nickte ihm bestätigend zu und ballte meine Faust. Er sollte mit seinem Aufschlag noch einmal zur Attacke gehen. Und genau das tat er auch. Mit zwei Assen und zwei Service Winnern gewann Justin sein Service zu Null.
Tiebreak!
Jetzt wurde es noch einmal richtig spannend. Justin zeigte eine großartige Performance. Gerade nach diesem Zwischenfall mit dem Schiedsrichter hatte ich einen mentalen Einbruch fast erwartet, aber nichts dergleichen zeigte sich. Justin kämpfte weiter um jeden Punkt.
Mein Puls raste mit gefühlten 160 Schlägen und ich spielte jeden Punkt im Geiste mit. Beim Stand von 6:4 hatte Justin zwei Satzbälle, einen sogar bei eigenem Aufschlag. Leider konnte der Gegner beide Punkte zum 6:6 machen. Erneuter Seitenwechsel und jetzt konnte ich bei Justin Ärger über die, aus seiner Sicht, vergebene Chance erkennen. Das sah ich anders, denn sein Gegner hatte einfach zwei brillante Punkte gespielt.
Für etwa drei Minuten hatte Justin die Konzentration verloren und das reichte um den ersten Satz mit 6:8 im Tiebreak zu verlieren. Sehr ärgerlich, aber leider im Tennis Realität. Wütend pfefferte Justin seinen Schläger auf die Tasche. Hoffentlich beruhigte er sich schnell wieder, sonst würde der zweite Satz schnell vorbei sein.
Aber Justin griff in seine Tasche, holte ein neues Shirt und eine neue Hose heraus und sprach kurz mit dem Schiedsrichter. Danach verließ er den Platz und gab mir noch ein Zeichen. Respekt, in dieser Situation noch an den Coach zu denken. Sofort machte ich mich auf den Weg in die Umkleide.
Justin erwartete mich bereits.
„Danke, dass du kommst. Ich bin echt zu blöd. Für einen Moment nicht richtig bei der Sache und schon ist der Satz weg. Aber ich werde noch einmal angreifen oder soll ich defensiver spielen? Was meinst du?“
„Du hast völlig korrekt agiert. Ich würde nichts verändern. Du bist voll im Spiel. Versuche einfach in den kritischen Situationen noch mehr deine Konzentration zu halten. Ich weiß, das ist einfacher gesagt, aber du bist jung und sollst lernen. Also spiel so weiter. Das ist großes Tennis was du zeigst.“
Justin schaute mich an und jetzt spürte ich eine Nähe zu ihm, die sehr emotional für mich war. Obwohl wir einen Meter voneinander entfernt standen.
Justin nickte nur kurz, dann schlugen wir uns ab und er verließ die Umkleide wieder. Ich musste noch einen Moment verweilen. Diese Situation hatte mich erfasst und die Gedanken gingen zurück an den Anfang. Was für eine Entwicklung hatten meine Jungs durchlaufen!
Auf dem Weg zurück tauchte ich wieder in den Tunnel des Matches ein. In der Box erwartete mich eine gespannte Stimmung. Selbst Fynn, der mittlerweile zu uns gekommen war, wagte es jetzt nicht mich anzusprechen. Sofort ging ich wieder in den Kontakt zu Justin.
Der zweite Satz begann gut. Justin startete direkt mit einem Break. Sehr starker Anfang. Sofort setzte er mit einem guten Aufschlagspiel nach. Das verschaffte etwas Luft, aber war auch gefährlich, sollte sich Justin darauf ausruhen wollen.
Tat er aber nicht, im Gegenteil, er kämpfte um jeden Punkt und es blieb ein hochspannendes Match.
Bis zum 5:4 blieb alles in der Reihe und jetzt konnte Justin mit eigenem Aufschlag den Satz beenden. Für mich bedeutete das allerdings Stress pur. Also stand ich beim Seitenwechsel einmal von meinem Platz auf und zeigte Justin nur kurz die Faust.
Das letzte Spiel im zweiten Satz ist schnell erzählt und es ging in den dritten Durchgang. Justin wirkte komplett fokussiert. Sehr beeindruckend bis hierher.
„Hier, du musst auch mal etwas trinken. Außerdem gut für die Nerven“, lachte mich Jörg an und hielt mir eine Fassbrause hin.
„Au ja, danke. Die kann ich jetzt gebrauchen“, erwiderte ich mit Freude.
Erst jetzt spürte ich den großen Druck in der Brust. Ich hatte den ganzen Satz noch nicht einmal etwas getrunken. Selbst Sabine wagte es jetzt nicht mich anzusprechen. Nur Fynn stellte sich ganz eng neben mich.
„Das ist großes Kino was Justin hier zeigt, oder? Ein guter Gegner und ein tolles Match. Das wird für mich eine richtige Herausforderung. Egal gegen wen. Wobei ich mir Justin lieber wünschen würde. Das wäre eine coole Nummer, oder?“
Dann fing er an zu lachen. Einfach klasse wie Fynn mit dieser Situation umgehen konnte.
„Ja, ich stimme in allen Punkten zu. Ein großartiges Match und es wäre eine coole Nummer wenn ihr beide im Finale sein würdet, aber da ist noch ein weiter Weg zu gehen. Deshalb werde ich mich jetzt wieder nur mit dem Spiel beschäftigen.“
Justins Gegner begann den dritten Satz mit dem Aufschlag.
Es entwickelte sich ein ganz harter Kampf um jeden einzelnen Punkt. Justin blieb geduldig, aber wenn er eine Chance zum Angriff bekam, riskierte er auch etwas.
Beide Spieler hielten ihre Aufschlagspiele und ich litt unter dieser Spannung. Bis zum 5:5 gab es trotz langer und hochklassiger Ballwechsel keine realistische Breakchance. Auch Justin konnte sich keine Chance erarbeiten, dem Gegner den Aufschlag abzunehmen.
Ich war komplett mit dem Spiel beschäftigt und bei 6:5 für den Gegner saß Justin auf seiner Bank und blies die Backen auf. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass ihm vielleicht die Kraft ausgehen könnte. Dieses Match hatte viel Energie gekostet, auch mental. Hoffentlich würde es bis zum Ende reichen.
Meine Fassbrause war auch schon lange leer und mein Hals trocken. Dieses Match forderte mich komplett. Daher freute ich mich auch auf das Ende des Tages. Mein Akku leerte sich zusehends. Aber die Anspannung hielt mich konzentriert.
Als sich Justin die Bälle für das definitiv letzte Aufschlagspiel geben ließ, zeigte ich ihm die geballte Faust.
„So, jetzt wird es richtig ernst“, kam von Fynn.
Dustin schlug seine Hand ab und auch Marc und Sabine saßen jetzt gespannt auf ihren Stühlen.
Das Aufschlagspiel war erstaunlich zügig beendet. Justin haute seinem Gegner zwei Asse und einen Service Winner um die Ohren. Was für ein Signal. Psychologisch sehr wichtig, jetzt gut aufzuschlagen.
Erneut ein Tiebreak.
Das strapazierte meine Nerven wieder extrem. Aber es half ja nichts, Justin kämpfte um den Einzug ins Finale in einem Challenger.
Justin kämpfte wie ein Löwe um jeden Ball. Und er blieb ruhig und konzentriert. Das war in jedem Fall eine Weltklasseleistung. Egal wie das ausgehen würde.
Ich ging jetzt bei jedem Punkt voll mit. Das Publikum tobte. Es war einfach geiles Tennis. Dann kam bei 7:6 für Justin der erste Matchball und Justin schlug auf. Mein Herz raste und es war totenstill im Stadion. Erster Aufschlag schlug zwei Meter im Aus ein. O weh, das geht nicht gut. Justin wirkte total verkrampft und es folgte ein Doppelfehler. Der schwere Arm hatte wieder zugeschlagen.
Aber Justin zeigte jetzt, dass er sich entwickelt hatte. Er ließ sich zwei neue Bälle zuwerfen und nahm sich etwas mehr Zeit. Ich konnte nicht mehr anders als einmal laut auf den Platz zu rufen:
„Nicht denken, spiel einfach.“
Danach ballte ich die Faust und Justin drehte seinen Kopf zu mir. Er fing an zu lächeln. Das war nicht zu fassen.
Der nächste Punkt ging an Justin. Wieder Machtball, aber jetzt bei Aufschlag vom Gegner.
Erster Aufschlag im Aus. Ich hielt die Luft an. Jetzt ging Justin fast provokant einen Schritt ins Feld und erwartete den zweiten Aufschlag. Der Gegner schlug mit Kick nach außen auf, Justin ging mit vollem Risiko auf den Ball und hämmerte den unerreichbar ins Feld. Vorbei!
Justin hatte dieses Weltklasse Halbfinale gewonnen. Ich bekam von hinten einen mächtigen Schlag auf die Schulter und ohrenbetäubender Jubel brach aus. Dustin und Fynn fielen mir um den Hals und selbst der ruhige Marc hüpfte begeistert in der Box umher.
Ich war fix und fertig mit den Nerven. Aber es hatte sich gelohnt.
Nachdem sich alle etwas beruhigt hatten, stand noch ein kurzes Siegerinterview an. Justin wurde gefragt wie er das Spiel gesehen hatte und wie er sich nun fühlen würde.
„Es ist einfach ein geiles Gefühl, wenn du weißt, dass deine Freunde und dein Trainer bedingungslos hinter dir stehen. Danke, Chris, danke Jungs. Aber jetzt will ich nur noch die Beine hochlegen. Ich bin völlig kaputt.“
Das Publikum lachte, klatschte und freute sich, aber bei mir gingen die Gedanken bereits zum morgigen Tag.
„Maxi, du kommst bitte mit mir, die anderen können sich ein Getränk gönnen. Wir treffen uns im Players Bereich. Ich sehe mal zu, dass wir Justin schnell mitnehmen können und dann möchte ich hier so schnell wie möglich weg.“
Sabine hielt mich am Arm fest als ich gehen wollte.
„Kümmer dich um Justin und entspann dich bitte etwas. Alles andere ist jetzt wieder Marc und meine Baustelle. Du kommst einfach zu uns und alles Weitere ist unser Job. Okay?“
„Hahaha, ok. Das kenne ich ja mittlerweile und ich werde nicht widersprechen. Aber jetzt muss ich zu Justin.“
Sie nickte nur einmal und dann waren Maxi und ich schon unterwegs.
Marc: Eine Überraschung zum Finale
Was für ein Halbfinaltag. Nachdem Fynn sein Match recht souverän gewonnen hatte, stand für Justin ein ganz hartes Spiel an. Jeder Punkt war ein Kampf und auch Chris als Coach war ständig gefordert.
Für mich war das zwar spannend, aber längst nicht so nervenaufreibend wie für Chris. Sabine hatte mich schon nach dem zweiten Satz darauf hingewiesen, dass Chris sehr blass im Gesicht war. Aufgrund der Anspannung hatte er das Trinken komplett vergessen. Das war natürlich nicht gut. Immerhin hatte Justin nach hartem Kampf noch gewonnen.
Jetzt waren Maxi und Chris zu Justin gegangen und Jörg und ich standen mit Sabine vor der Theke im Spielerbereich.
„Wo sind denn die anderen Jungs?“, fragte ich in die Runde.
„Dustin und Fynn sind mit Sergio und Marcelo eine Runde über die Anlage gegangen. Sie brauchten wohl auch etwas Ruhe nach dem Match von Justin.“
Ich schaute Jörg an und dachte über eine Sache nach, die mir durch den Kopf ging. Sabine hatte uns etwas zu trinken bestellt und dann setzten wir uns an einen der großen Tische. Mittlerweile waren nicht mehr viele Spieler und Trainer anwesend. Morgen war bereits Finaltag.
Um meine Idee umsetzen zu können, brauchte ich allerdings ein paar Informationen aus Halle. Daher hatte ich Thorsten eine Whatsapp geschrieben mit den Ergebnissen. Gleichzeitig hatte ich ihm noch zwei Fragen gestellt.
Sabine schaute schon leicht genervt zu mir. Sie mochte es überhaupt nicht, wenn wir zusammen am Tisch saßen, dass ich dann noch mit dem Handy schrieb.
„Ich bin sofort fertig, Schatz. Aber ich musste Thorsten für morgen noch ein paar Dinge fragen. So, jetzt bin ich fertig. Hast du schon eine Idee was wir gleich machen wenn Chris zurück ist?“
„Klar, habe ich das. Aber wir müssen mit Chris sprechen was er machen möchte. Ich bestehe jedenfalls darauf, dass Chris heute keine Aufgaben mehr übernimmt. Ich befürchte, dass ihn dieser Tag wieder viel Kraft gekostet hat. Er braucht auch mal eine richtige Pause.“
Und genau das war auch mein Plan für morgen. Dafür brauchte ich aber eine Information von Thorsten aus Halle.
In diesem Augenblick kam Maxi allein zurück. Er wirkte immer noch angespannt, obwohl das Match doch schon einige Minuten vorbei war.
„Na, was ist passiert? Du siehst aus als ob Justin verloren hätte. Freu dich doch mal.“
„Ja, im Prinzip mache ich das ja auch. Es war einfach ein geiles Match, aber Justin hat massive Kreisprobleme bekommen. Chris ist noch bei ihm geblieben und lässt ausrichten, dass er noch mit Justin zum Turnierarzt geht. Es wird noch etwas dauern bis er zu uns kommen wird.“
Das war natürlich ein „worst case“ Szenario für Chris und auch für Justin. Halbfinale gewonnen, aber sich so verausgabt, dass der Körper nicht mehr mitmacht.
Sabine und ich schauten uns an. Mir wurde klar, sollten Dustin und Fynn mitbekommen, dass Justin ein ernstes Problem hätte, würden sie niemals mit uns in die Unterkunft fahren. Also beschloss ich, alle zusammen zu holen und mit einer kleinen Notlüge ins Quartier zu fahren.
„Kannst du bitte nach den anderen Jungs schauen? Ich möchte, dass ihr mit Jörg in die Unterkunft fahrt. Fynn sollte noch nichts von den Problemen bei Justin erfahren. Sabine und ich bleiben hier und kommen dann mit Chris und Justin nach.“
Maxi schaute mich mit großen Augen an, überlegte eine Sekunde und erwiderte:
„Ja, du hast recht. Wenn Fynn jetzt davon etwas erfährt, würde er sich nur tierisch Sorgen machen und aufregen. Ich kümmere mich darum. Kommst du mit, Jörg?“
Sofort machten sich die beiden auf die Suche nach den Jungs. Sabine und ich blieben noch einen Augenblick sitzen.
„Möchtest du noch etwas trinken?“, fragte ich sie.
„Nein, im Moment nicht. Eigentlich würde ich lieber zu Chris gehen und ihn fragen ob und wie wir ihn unterstützen können. Er sollte außerdem die Info bekommen, dass die anderen schon in die Unterkunft fahren. Damit muss er sich damit nicht mehr beschäftigen. Du weißt doch, dass Chris immer alles im Kopf hat.“
Ja, da hatte mein Schatz allerdings ein überzeugendes Argument.
„Dann lass uns zu Chris und Justin gehen. Vielleicht können wir Chris ja noch mehr unterstützen.“
Da ich keinen Plan hatte wo Chris mit Justin sein könnte, rief ich Chris auf dem Handy an.
„Marc, was gibt es?“, meldete sich Chris etwas angespannt.
„Sabine und ich würden gern wissen, wo du mit Justin gerade bist. Dann würden wir dorthin kommen und dich unterstützen. Zur Info für dich, die anderen habe ich mit Jörg schon in die Unterkunft geschickt. Also darum brauchst du dich nicht mehr zu kümmern.“
„Oh, das hört sich gut an. Danke. Darum wollte ich mich nämlich gerade kümmern. Hier wird das noch einen Moment dauern. Ich bin beim Turnierarzt. Das ist im Keller vom Clubhaus. Geht die Treppe her unter und folgt den Schildern. Ich werde euch in Empfang nehmen.“
„Alles klar, bis gleich.“
Wenige Minuten später trafen wir Chris wie verabredet. Sabine fragte sofort:
„Wie geht es Justin und was ist eigentlich passiert?“
„Es geht ihm soweit wieder ganz gut. Er hat nach dem Match auf dem Weg in die Kabine schon Schwindel bemerkt, so dass Maxi ihn dann in die Kabine geführt hat und ich den Physio verständigt habe.“
Ich hörte bereits aus seiner Stimme die Aufregung und die Anspannung. So einfach wie es Chris jetzt beschrieb war es nicht gewesen.
„Und was sagt der Physio? Kann er morgen spielen?“, fragte ich.
„Bislang spricht nichts dagegen. Das Spiel war mega anstrengend und Justins Akku ist momentan leer. Ich hoffe, er erholt sich bis morgen. Aber wenn nicht, dann ist das halt so. Dann sage ich das Finale ab. Ich glaube zwar nicht, dass ich das ohne großen Protest von Justin hinbekomme, aber das halte ich dann aus.“
Sabine schüttelte den Kopf.
„Das glaube ich gar nicht. Klar, Justin würde sehr enttäuscht sein, aber er würde sich dem fügen. Bei Justin ist schon viel länger angekommen, dass du keinen deiner Jungs bevorzugen würdest geschweige denn ein gesundheitliches Risiko nur für ein Tennismatch eingehst. Aber ich bin zuversichtlich, du wirst keine Entscheidung dazu brauchen. Justin wird sich bis morgen erholt haben. Können wir denn gleich zurück nach Rügen fahren oder muss Justin noch länger behandelt werden?“
„Das weiß ich erst, wenn die Untersuchung des Turnierarztes beendet ist. Die findet gerade statt. Wir können jetzt auch hineingehen und ich kann mit dem Arzt und mit Justin sprechen.“
Das taten wir auch. Chris ging vorweg und nachdem wir in den Vorraum zum Behandlungsbereich kamen, klopfte Chris an eine Tür, öffnete sie einen Spalt und fragte in den Raum hinein.
„Können wir hereinkommen?“
Die Antwort konnte ich nicht hören, aber Chris öffnete die Tür richtig und winkte uns heran. Justin saß bereits auf der Couch und hatte ein Elektrolytgetränk in der Hand. Er sah blass aus.
Chris hatte sich sogleich neben ihn gesetzt und sie redeten miteinander. Ich ging auf die beiden zu und gratulierte Justin zuerst zu seinem tollen Spiel. Als ich gefragt hatte wie es ihm ginge, zuckte er kurz mit den Schultern.
„Es geht so. Ich bin einfach platt. Das war total anstrengend. Ich würde gern hier so schnell wie möglich weg und mich hinlegen. Aber der Doc hat gemeint, ich solle noch ein paar Minuten warten und wenn alles okay sei, dann dürfte ich gehen. Wo sind denn Dustin und Fynn?“
Bevor ich antworten konnte, reagierte Chris direkt.
„Sobald wir gehen können, fahren wir auch zurück. Die anderen sind schon vorgefahren und ich denke, dass wir gleich wirklich fahren können. Das Finale ist für fünfzehn Uhr angesetzt. Bis dahin ist genug Zeit für Erholung. Du bist topfit. Das klappt schon.“
Justin nickte jetzt mit einem Lächeln.
„Also du lässt mich morgen spielen? Ich meine, es ist ein Finale in einem Challenger. Das will ich auf keinen Fall verpassen. Wobei, halt, wenn du mir klar sagst, ich soll nicht spielen, weil es gefährlich wäre, dann würde ich natürlich auf dich hören.“
Als Sabine diesen Satz hörte, musste sie lachen und meinte:
„Hahaha, siehst du Chris, Justin hat es begriffen.“
„Ja jaja, schon gut. Du hast recht. Ich gebe es zu. Aber jetzt…“
In diesem Moment betrat der Arzt erneut den Raum. Er begrüßte uns und ging dann auf Chris und Justin zu.
„Ich denke, ihr könnt jetzt fahren. Justin soll sich ausruhen und viel trinken. Ein gesundes Abendessen noch und dann ab ins Bett. Dann solltest du bis morgen wieder fit sein. Deine Kreislaufwerte sind alle wieder bestens.“
Das war das Stichwort was ich hören wollte.
„Gut, dann werden wir schon mal zum Auto gehen und dort alles vorbereiten. Wo ist deine Tasche, Justin? Dann können wir die schon mitnehmen.“
„In der Umkleide. Ihr braucht das aber nicht, das schaffe ich schon noch selbst. Aber trotzdem danke.“
„Nichts da“, kam sofort von Sabine, „du sollst dich schonen hat der Doktor gerade gesagt, also Marc nimmt deine Tasche und ich den Autoschlüssel. Chris begleitet dich zum Auto und dann geht es zurück nach Rügen. Und keine Widerrede, das ist entschieden.“
„Jetzt verstehst du vielleicht“, lachte Chris, „warum ich mich diesen Anweisungen nicht mehr widersetze. Wenn Sabine solche Dinge ansagt, dann sollte man das tunlichst so machen.“
Das war so klasse, wie Chris das mitspielte. Es verfehlte auch die Wirkung nicht, denn Justin fing an zu lachen und meinte dann:
„In Ordnung, ich werde mich jetzt auch nicht dagegen wehren und es genauso machen.“
Sabine nickte nur noch lachend und ging direkt mit dem Autoschlüssel von Chris hinaus.
Ich hatte Justins Tasche geschultert und folgte Sabine zum Auto, als mein Handy klingelte. Leider kam ich nicht schnell genug heran. Das Klingeln endete und erst als ich die Tasche ins Auto gelegt hatte, konnte ich schauen wer mich angerufen hatte. Als ich den Namen las, wählte ich sofort den Rückruf.
„Hallo Papa“, meldete sich Luc.
„Hallo Luc, was kann ich für dich tun? Ich hoffe, es ist nichts passiert.“
„Nein, hier ist alles bestens, aber wir haben die Halbfinals im Internet gesehen und Stef hatte jetzt die spontane Idee morgen nach Stralsund zu fahren. Von München geht früh ein Flieger nach Hamburg. Wir wären dann um halb zehn in Hamburg und steigen in den ICE 1676 nach Stralsund. Ankunft dort wäre 12:29. Könntest du uns dort am Bahnhof abholen?“
„Wie cool. Na klar. Kein Problem. Ich kenne zwar den genauen Zeitplan von Chris noch nicht, aber das bekommen wir hin. Und dann fahrt ihr mit uns nach Halle oder wie habt ihr das geplant?“
„Genau, Ich habe die ganze Woche frei und wir wollten ja sowieso zum Geburtstag nach Halle kommen.“
„Gut, dann wird das für Chris morgen ein Tag der Überraschungen. Ich habe nämlich noch eine andere Überraschung vor. Das verrate ich aber noch nicht, da es noch nicht geklärt ist ob das überhaupt klappt.“
„Ach Papa, du und deine verrückten Ideen. Aber wir freuen uns auf morgen und grüß die Mama bitte.“
„Danke, das mache ich und du grüßt mir den Stef bitte.“
Eine Stunde später trafen wir in unserem Quartier ein. Justin hatte die ganze Fahrt über geschlafen und Chris wirkte ebenfalls angefasst von dem Tag, obwohl er ja noch gefahren ist. Sabine hatte gefragt ob ich fahren sollte, aber Chris meinte es sei ein Firmenwagen des Teams. Da wüsste er nicht ob jemand anderes ohne Not fahren dürfe. Das sollte ich vielleicht mal mit Thorsten besprechen. Im Prinzip gehörte ich als Teamsponsor ja zum erweiterten Kreis.
Dass Luc und Stef morgen kommen würden, freute mich sehr. Auch für Fynn, Dustin und Justin dürfte das sicherlich ein freudiges Ereignis werden.
Jörg hatte schon für uns frischen Kaffee gekocht. Darüber konnte sich Chris richtig freuen. Solche kleine Dinge waren ihm wichtig. Er selbst war auch immer aufmerksam mit solchen Sachen.
Justin wirkte noch verschlafen und etwas desorientiert als Jörg uns empfing. Chris schaute sich Justin genau an.
„Oh man, Jörg. Du kennst mich aber schon gut. Dieser Kaffee holt meine Lebensgeister zurück. Und es ist noch Abendsonne da. Lasst uns auf der Terrasse sitzen und den Tag ausklingen lassen“, lachte Chris.
„Justin, willst du dich direkt hinlegen oder noch mit uns etwas draußen sitzen?“, fragte Chris.
„Boah, wenn ich mich jetzt ins Bett lege, wache ich bestimmt mitten in der Nacht auf und kann nicht mehr schlafen. Was meinst du denn?“
„Mach das, wie du möchtest. Ich werde heute auch nicht alt, aber ich brauche noch etwas Zeit um herunterzufahren. Obwohl ich mich erschöpft fühle, bin ich nicht müde.“
In dem Augenblick betraten die Jungs ebenfalls die Terrasse. Dustin freute sich, dass Justin bei uns war. Fynn fragte Chris:
„Was ist mit Justin und dem Finale morgen? Kann er sich bis dahin ausreichend erholen?“
Danach drehte sich Fynn zu Justin und meinte:
„Damit du mich nicht falsch verstehst, ich freue mich tierisch auf dieses Finale mit dir, aber ich habe auch Angst, dass du dich überforderst und dann vielleicht eine längere Pause machen musst.“
Chris blieb äußerlich ruhig, aber er war angespannt und erschöpft. Seine Antwort war allerdings typisch:
„ Ich denke schon, dass sich Justin bis morgen erholen wird. Dennoch möchte ich euch bitten, heute keine Aktionen mehr zu planen. Ruht euch aus oder macht noch einen Spaziergang, aber ab jetzt ist Energie tanken angesagt.“
Fynn und Dustin schauten sich an und entschieden sich, bei uns noch in der Abendsonne zu sitzen. Justin versuchte sich aufrecht zu halten, aber er nickte immer wieder ein. Nach dem dritten Mal konnte er sich überwinden und aufstehen.
„Sorry Leute, aber ich gehe mich hinlegen. Ich bin einfach platt für heute.“
„Mach das ruhig. Wir bleiben hier noch ein Weilchen und wenn etwas bei dir sein sollte, komm runter und wir schauen dann was zu tun ist. Nimmst du dir bitte noch genug von dem Elektrolytgetränk mit. Und bitte immer wieder trinken. Auch wenn du in der Nacht wach werden solltest, immer wieder Flüssigkeit nachfüllen. Der Körper kann das allein nicht so schnell ausgleichen. Ansonsten wünsche ich dir eine gute Erholung. Ich komme gleich noch einmal nach oben. Ist das okay?“
Justin nickte und verließ uns. Fynn und Dustin blickten ihm sorgenvoll hinterher.
Auf meinem Handy waren zwei Nachrichten eingegangen. Eine von Luc und eine, die mich besonders freute. Meine Überraschung für das Finale würde klappen. Hervorragend.
Die Stimmung hatte ein wenig gelitten, aber Chris gab sich große Mühe, keine Zweifel an Justins Spielfähigkeit zuzulassen.
Aber auch bei Chris konnte ich die Erschöpfung deutlich spüren.
Umso erstaunlicher, dass er noch das Versprechen im Kopf hatte, die Rügener Freunde zum Finale einzuladen, sollte einer von den Jungs im Finale spielen.
„Fynn und Dustin“, bat er die beiden, „könnt ihr bitte Simon und Mattes informieren, dass sie morgen zum Finale kommen können. Da aber mehr als vier wohl nicht möglich sind, fragt ihr vielleicht Leon und Drees noch.“
Dustin versprach sich darum zu kümmern. Und dann endlich konnten wir den Tag ruhig ausklingen lassen.
Allerdings schien Chris offenbar noch immer nicht richtig abschalten zu können. Deshalb fragte ich ihn:
„Womit beschäftigst du dich momentan? Richtig abschalten kannst du jedenfalls noch nicht.“
„Stimmt“, erwiderte er, „ich mache mir Gedanken über Justin. Erst, wenn ich gleich noch einmal bei ihm war und sicher bin, dass bei ihm alles in Ordnung ist, werde ich vermutlich zur Ruhe kommen.“
Dustin und Fynn waren mit ihren Handys nach oben verschwunden, um ihre Freunde zu informieren. Fynn kam wenige Minuten später wieder zu uns und fragte Chris:
„Wirst du Justin morgen wirklich spielen lassen? Als wir eben hochkamen, lag er bereits auf seinem Bett und schlief. Also ich möchte nicht, dass er sich zusätzlich noch verletzt. Obwohl ich mich sehr auf dieses Spiel freue und es total blöd fände, wenn er nicht spielen könnte.“
Chris atmete einmal tief aus.
„Pass auf, Fynn. Ich kann deine Gedanken gut nachvollziehen, aber vor Morgen früh werde ich dazu keine weitere Aussage machen können. Wir müssen die Nacht abwarten, aber da er total fit ist und sich eben nicht verletzt hat, bleibe ich zuversichtlich. Mach dir bitte nicht zu viele Gedanken darüber. Sieh zu, dass du jetzt auch etwas zur Ruhe kommst. Was macht Dustin?“
„Dustin wollte oben bleiben, falls Justin einen Krampf bekommt. Er macht sich halt auch Sorgen um Justin. Und er macht sich wie ich auch Gedanken um dich. Du bist genauso erschöpft wie Justin.“
„Aber ich muss morgen nicht auf dem Platz stehen“, konterte Chris direkt.
Fynn schaute Chris einige Sekunden nachdenklich an. Dann hatte er sich entschieden.
„Na gut, ausnahmsweise lasse ich das gelten. Du brauchst morgen ja nicht coachen. Also kannst du entspannt zuschauen. Tu mir bitte aber den Gefallen und gönne dir heute noch etwas Entspannung.“
Hier konnte ich diese besondere Beziehung von Fynn und Dustin zu Chris sehr deutlich spüren. Chris war einfach eine ganz wichtige Bezugsperson für beide. Sabine hatte diese Szene ebenfalls genau beobachtet und als Fynn dann wieder zu Dustin nach oben ging fragte sie Chris:
„Was möchtest du jetzt noch machen?“
„Ganz ehrlich, nichts mehr. Gott sei Dank muss ich keine Strategie für morgen vorbereiten. Ich fühle mich ziemlich erschöpft.“
Sergio und Marcelo wollten noch einen Spaziergang durch den Ort machen. Jörg, Maxi, Sabine, Chris und ich blieben auf der Terrasse sitzen. Chris fielen irgendwann die Augen zu und er meinte dann:
„Leute, seid mir nicht böse, aber ich gehe auch ins Bett. Mein Akku ist leer. Ihr seid ja schon groß und Jörg kennt sich hier auch aus. Hahaha. Also, euch einen schönen Abend noch und dann bis morgen.“
„Bis morgen“, kam von uns im Chor. Danach musste Chris lachen und verließ die Terrasse.
Chris: Finaltag mit ungewöhnlichen Geschehnissen
Heute war es also soweit, das erste große Finale auf der Profitour für meine Jungs. Und dann gleich ein Finale mit zwei Spielern der Break-Point Base. Ein bisschen stolz war ich schon, als ich am Morgen unsere Küche betrat.
Gespannt war ich auf Justins Zustand. Immerhin hatte er ohne Krämpfe durchgeschlafen. Bevor ich das Frühstück vorbereitete, füllte ich die Kaffeemaschine. Heute war mir nach Kaffee am Morgen und nicht nach Tee.
Als erster tauchte Justin auf. Noch vor Marc und Sabine. Das wunderte mich doch etwas.
„Guten Morgen, Chris. Hast du vielleicht schon einen Kaffee fertig?“, begrüßte er mich.
Moin, Justin. Kleinen Moment noch, die Maschine benötigt noch ein paar Minuten. So früh heute, bist du unruhig?“, fragte ich.
„Ganz ehrlich, ich fühle mich immer noch etwas müde in den Beinen von gestern. Ich weiß ja, dass du dich aus dem Coaching für heute komplett heraushalten wirst, aber ich benötige einen Rat. Ich gehe davon aus, dass wir ein ganz enges Match sehen werden. Da ich aber vom Halbfinale noch Probleme habe, wollte ich versuchen möglichst aggressiv zu beginnen. Ich habe Sorge im dritten Satz keine Kraft zu haben.“
„Das ist soweit alles nachvollziehbar. Was genau möchtest du jetzt von mir wissen? Ich möchte eigentlich keine Strategieratschläge geben.“
„Ja, ich weiß. Ich würde gern mit hohem Risiko spielen, um die Ballwechsel nicht zu lang werden zu lassen. Aber ich bin mir unsicher, gerade weil das Team vielleicht eine bestimmte Erwartung hat. Ich möchte euch nicht enttäuschen, sollte das dann nach hinten losgehen.“
„Hm, ich kann deine Gedanken zur Taktik verstehen. Deine Unsicherheit, weil das Team vielleicht bestimmte Erwartungen haben könnte, kann ich nicht nachvollziehen. Entscheide dich für Deine Lösung. Du solltest wissen, dass ich euch immer unterstütze, wenn ihr eine für euch plausible Lösung habt. Auch wenn ich eine andere Vorstellung haben sollte, wirst du von mir keine Kritik dazu hören. Du wirst in Zukunft häufiger alleine solche Entscheidungen treffen müssen. Du stehst auf dem Platz und musst Verantwortung für dich tragen. Ich bin mir sicher, dass du auch heute eine gute Entscheidung finden wirst. Ich werde genau hinsehen und wenn es so sein sollte, dass dein Körper nicht mehr mitspielt und du dennoch weiterspielen willst, dann greife ich ein. Sonst darfst du frei entscheiden. Ist das so für dich okay?“
„Ja, danke. Das hilft mir sehr. Ich möchte ehrlich keinen Vorteil gegenüber Fynn haben. Ich habe gestern übrigens mit Fynn darüber gesprochen und ihm gesagt, dass ich heute früh dieses Gespräch mit dir führen werde. Und was ich mega cool fand, er hat keine Fragen gestellt und mir nur gesagt, dass er sich darauf verlässt, dass du keine konkrete Taktik vorgeben wirst. Ich finde es toll, dass Fynn und ich uns so gut verstehen, auch wenn leider nur einer den Titel bekommen kann.“
„Wow, Justin. Das gefällt mir richtig gut. Ich bin mir sicher, es wird ein toller Finaltag und du wirst es richtig entscheiden. So, und jetzt ist der Kaffee fertig. Lass uns einfach schon eine Tasse vorweg genießen. Kommst du mit auf die Terrasse?“
Mit einem Lächeln begleitete mich Justin. Wir blieben allerdings nicht lange allein. Sabine und Marc kamen ebenfalls mit einem Becher Kaffee zu uns.
„Schon so früh am Morgen unterwegs, Justin?“, lachte Marc als er sich zu uns stellte.
„Es geht, Marc. Ich bin etwas nervös und habe nicht länger schlafen können. Da tat es gut, dass Chris bereits in der Küche war.“
Und dann kam mehr Leben in das Haus. So nach und nach tauchten alle auf der Terrasse auf. Sabine fragte irgendwann in die Runde:
„Wer außer Chris fährt zum Bäcker und holt Brötchen?“
Interessanterweise meldete sich Fynn mit einem Grinsen im Gesicht:
„Wenn ich Marcs Ferrari nehmen darf, fahre ich gern.“
Dustin zuckte entsetzt zusammen und wollte seinem Freund schon einen Elfmeter geben, als Marc schneller reagierte.
„Wenn du schon die Prüfung gemacht hättest, könnte ich darüber sogar nachdenken, aber ich fahre und du darfst mich begleiten.“
So eine gelöste Stimmung am Finaltag gefiel mir natürlich gut. Hoffentlich würde es auch so bleiben.
Dustin wollte Fynn noch einen Text reindrücken, aber das verhinderte ich mit einem klaren Augenkontakt zu ihm. Erst als Fynn mit Marc verschwunden war, und Dustin noch einmal über die Situation nachgedacht hatte, entspannte er sich wieder.
Dustin hatte weiterhin Schwierigkeiten in bestimmten Situationen den Spaß zu erkennen und nicht gleich ärgerlich zu werden. Aber ich konnte mittlerweile frühzeitig an der Körpersprache von Dustin ablesen, wenn es für ihn schwierig wurde.
Schnell waren wir wieder bei dem eigentlichen Tagesthema angelangt, dem Finale von Fynn und Justin. Marcelo und Sergio waren sich sicher, dass wir ein hochklassiges Spiel sehen würden.
Für mich interessant, Justins Reaktionen auf die Gespräche bevor Fynn mit Marc wieder zurückkehrte. Es war ihm vor allem unangenehm, nach seiner Meinung zum Spiel gefragt zu werden. Das konnte ich gut verstehen und lenkte mit Jörg schnell das Thema auf das anstehende Frühstück.
Beim Essen wurde nicht viel gesprochen. Die Anspannung stieg langsam an bei beiden Jungs. Bis zu dem Moment als auf den Handys von Fynn und Dustin einige Nachrichten eingingen. Einige „Pings“ später schauten sich die beiden Jungs plötzlich fragend an. Fynn fragte Justin:
„Hast du keine Bilder von Luc bekommen?“
„Ähm, mein Handy ist aus. Ich habe keine Lust von Papa komische Nachrichten zu bekommen. Was schreibt Luc denn Schönes?“
Fynn hielt ihm sein Handy hin und auch Justin schaute anschließend verwundert zu mir.
„Weißt du etwas davon, dass Stef und Luc vielleicht hierher unterwegs sind?“
„Hahaha, nein. Luc musste doch in München noch arbeiten“, erwiderte ich.
Jetzt meldete sich Marc zu Wort:
„Also, bevor es zu unnötigen Aufregungen kommt. Luc hat mich gestern angerufen und mich informiert, dass sie heute gern das Finale schauen möchten. Und zwar am Platz und nicht im Internet. Ich werde sie um halb eins am Bahnhof in Stralsund abholen.“
„Ja wie geil ist das denn wohl?“, freute sich Dustin und auch Fynn und Justin strahlten um die Wette.
„Ich glaube, bei den Jungs kommt diese Steevens Aktion gut an. Hahaha“, lachte ich.
„Na ja, wenn man seinen eigenen Fan Club auf die Tribüne bekommt, dann muss man sich freuen“, grinste Fynn über beide Backen.
„Aber für wen soll denn dieser Fan Club klatschen? Er ist ja für euch beide gleichberechtigt in der Unterstützung.“
Sabine hatte Fynn damit für ein paar Sekunden zum Nachdenken gebracht, aber dann kam die Antwort:
„Ist doch egal, Hauptsache sie sind überhaupt in unserer Box. Ich freue mich tierisch, die beiden wieder persönlich begrüßen zu können.“
Ich hatte nun das Problem, ob ich mich freuen sollte oder mich eher mit einer möglichen Ablenkung vom Finale beschäftigen sollte. Aber das behielt ich für mich, denn dass Luc mit Stef extra nach Stralsund reisten um ihre Freunde zu unterstützen, war sowohl für Fynn als auch für Justin ein Bonus.
Das Frühstück entwickelte sich erstaunlich entspannt. Insbesondere Fynn wirkte gelöster als sonst. Justin merkte ich die Folgen des gestrigen Halbfinals noch an.
Sollte ich das Einschlagen noch hier in Rügen machen oder schon früh nach Stralsund aufbrechen? Heute entschied ich mich, die Jungs entscheiden zu lassen.
Während Jörg frischen Kaffee aufsetzte, fragte ich in die gelöste Runde:
„Wo wollt ihr euch einschlagen? Hier in Rügen oder auf der Anlage in Stralsund?“
Sofort, wie aus der Pistole geschossen kam von beiden:
„Auf jeden Fall in Stralsund. Zum Einen möchte schon die Atmosphäre haben und zum Anderen zeigen wir auch nach außen, dass wir ein Team sind und gemeinsam die Vorbereitungen machen.“
Justin ergänzte noch:
„Ja, da gebe ich Fynn Recht. Außerdem sind Luc und Stef ja auch schon dort. Ich finde wir sollten anwesend sein, wenn sie schon unseretwegen kommen.“
„Gut, dann machen wir das so. Wir brechen zeitig nach Stralsund auf. Marc wird dann heute auch mit dem Auto fahren müssen. Wir haben ja noch zwei zusätzliche Gäste zu transportieren. Ich schlage vor, wir packen unsere Sachen und räumen hier bereits auf und nehmen alle Sachen mit. Dann fahren wir nach dem Finale direkt Richtung Halle. Jörg, was meinst du, wie lange brauchen wir hier zum Aufräumen?“
„Das ist nicht so viel, aber du solltest mit Fynn und Justin so fahren, dass es in deinen Plan passt. Wir machen hier alles fertig und kommen dann nach. Es ist heute nicht deine Aufgabe zu putzen, sondern mit den Jungs den Titel einzufahren.“
Dieser Spruch brachte alle zum Lachen, insbesondere Sabine klatschte Beifall.
„Dieser Spruch hätte von mir sein können. Jörg wird mir immer sympathischer, hihihi. Und genau so wird es gemacht.“
„Na gut“, lachte ich, „dann fahren Dustin, Fynn und Justin mit mir in einer Stunde los. Bis dahin solltet ihr eure Sachen gepackt haben.“
Ich packte gerade meine Sachen in meinem Zimmer als es klopfte.
„Herein“
Marc betrat mein Zimmer.
„Ist das für dich ein Problem, wenn Luc und Stef so unvermittelt kommen? Ich kann das schlecht einschätzen ob es eher ein Vorteil oder eine Behinderung darstellt, wenn sich Fynn und Justin noch vor dem Match mit ihnen treffen.“
„Ach, heute ist das alles relativ entspannt. Sie sollen sich so verhalten wie sie es für richtig halten. Sag Luc und Stef vielleicht, sie sollen es den beiden überlassen wie sie es möchten. Ich glaube aber, beide werden noch vor dem Spiel zu ihnen kommen. Lass es einfach laufen. Luc und Stef wissen mittlerweile, dass vor dem Match besondere Regeln herrschen. Das wird schon.“
„Gut, das machen wir so. Ich freue mich auf Luc und Stef ebenso, weil ich sie auch schon einige Wochen nicht mehr gesehen habe.“
„Ja, geht mir auch so. Ich finde es toll, dass sie sich für unsere Jungs immer noch interessieren und den Weg auf sich nehmen. Ich glaube, wir werden eine tolle Woche haben. Insbesondere nach dem Gewinn eines Titels auf der Challenger Tour. Egal wer gewinnen wird. Das wird wohl ein Anlass werden, kräftig zu feiern.“
Marc zwinkerte mir zu und meinte:
„Sehr guter Gedanke. Dann fahrt ihr bitte schon vor. Und keine Gedanken an das Aufräumen hier. Deine Aufgabe ist eine optimale Betreuung von Fynn und Justin. Wir sind rechtzeitig auf der Anlage. Vermutlich sogar noch bevor ich zum Bahnhof fahre und meine Jungs abhole.“
Dann hielt er mir seine Hand hin und ich schlug ein.
Wenige Minuten später hatte ich meine Tasche bereits im Auto verstaut und wollte noch etwas beim Aufräumen helfen. Fynn und Justin waren noch nicht fertig. Aber Jörg meinte:
„Hey, setz dich einfach noch etwas in die Sonne. Dein Tag wird anstrengend genug und lass uns mal hier arbeiten. Fynn und Justin sind eh bestimmt gleich hier.“
Und tatsächlich tauchten wenige Augenblicke später die drei Jungs auf. Denn Dustin würde niemals noch hierbleiben wollen. Das war auch für Justin gar kein Problem. Im Gegenteil, sie alberten noch richtig herum.
„Habt ihr wirklich alles zusammen und wir können aufbrechen?“
Ein einstimmiges „Ja“ folgte und alle drei luden ihre Taschen ins Auto.
„Wie gut, dass Maxi keine große Tennistasche mehr dabei hat. Sonst hätten wir doch den Bus gebraucht“, lachte Dustin.
„Los, einsteigen, die Herrschaften. Der Fahrdienst möchte aufbrechen.“
Mit dem Verlassen des Parkplatzes wurde mir bewusst, das Abenteuer Finale hatte begonnen. Jetzt sollte ich in den Turniermodus wechseln und mich auch auf den Verkehr konzentrieren.
Meine Jungs wurden verdächtig still im Auto. Selbst Dustin, der mit Fynn hinten saß, hielt etwas Abstand zu seinem Freund. Jedenfalls tauschten sie keine Zärtlichkeiten aus. Justin hatte immer wieder seine Augen geschlossen. Ich wollte ganz bewusst nicht nach seinem Befinden fragen. Das wäre für Fynn schwierig und auch für Justin selbst. Daher ließ ich die Fahrt einfach mal laufen.
In Stralsund auf der Anlage wollte ich eigentlich meine Jungs direkt zum Aufwärmen schicken, aber wir wurden von einem jungen Mann empfangen, der uns gebeten hatte an einem kurzen Interview für das Lokalradio und der Tennis Zeitung teilzunehmen.
Das wollte ich nicht allein entscheiden und fragte:
„Was ist, Jungs? Wollt ihr das machen oder lieber eure Ruhe haben? Ist beides für mich in Ordnung. Ich würde auch allein zum Interview gehen.“
„Boah, Chris. Das geht gar nicht. Dann kannst du nicht bei uns sein und wir müssen uns allein beschäftigen. Dann können wir auch gleich mitkommen.“
Für eine Sekunde war ich unsicher ob Fynn das ernst gemeint hatte. Aber als ich sein Blitzen in den Augen wahrnahm, musste ich lachen. Einfach nur lachen.
„In Ordnung, dann kommt mit. Lasst uns das hinter uns bringen und danach zum Aufwärmen gehen.“
Als wir am vereinbarten Treffpunkt ankamen, staunte ich allerdings. Unsere Interviewpartner waren keine Journalisten oder Redakteure der Tennis Zeitung, es waren Ballkinder aus dem Turnier und zwei Schüler aus einem Gymnasium in Stralsund, die für ein Lokalradio die Fragen stellten. Das war auch für meine Jungs etwas ungewohnt, aber machte einige Dinge auch einfacher, weil die Berührungsängste nicht so groß waren. Zu Beginn wurden wir kurz vorgestellt und es gab Fragen zur Person und wie uns das Turnier bislang gefallen hat. Erst als die letzten zwei Fragen angekündigt wurden, holten die Ballkinder noch zwei besondere Fragen hervor.
„Ihr spielt beide für das Break-Point Team aus Halle, lässt euch euer Coach frei spielen oder wie läuft das in der Vorbereitung ab?“
Justin und Fynn schauten sich beide an und dann zu mir. Ich war eigentlich bislang nicht groß in Erscheinung getreten und hatte den Jungs das Feld überlassen. Aber jetzt wollten sie wohl, dass ich dazu etwas erklären würde.
„Bevor mich meine Jungs steinigen, sie trauen sich nicht so richtig das zu beantworten, hihihi, sage ich mal dazu etwas. Natürlich dürfen sie frei spielen. Ich habe auch keine Taktikbesprechung gemacht. Ich werde selbstverständlich keine Hinweise zum und auch während des Spieles geben. Der heute Bessere möge es gewinnen. Und sowohl Fynn als auch Justin wissen genau, dass ich beiden den Sieg gönne. Dustin wird es vielleicht etwas lieber sehen, wenn sein Freund Fynn gewinnt, aber er würde es Justin auch sehr gönnen. Bei uns ist das Teamplay sehr wichtig. Und bevor noch jemand nachfragt, natürlich ist auch Marc Steevens als Sponsor und Förderer vollkommen neutral in dieser Situation. Wir werden ein sicher unterhaltsames Finale sehen. Wobei ich zugeben muss, dass ich schon etwas nervös bin. Es ist das erste Finale in einem so großen Turnier für uns.“
„Du und nervös? Das kann ich ja gar nicht glauben“, meldete sich Dustin lachend, „du bist doch immer die Ruhe in Person. Außerdem kannst du heute wirklich entspannt zuschauen.“
Dieses Interview fand auf der Zuschauerterrasse statt und entsprechend gab es nun Lacher und Applaus von dort.
Die letzte Frage stellte ein etwas fünfzehnjähriger Balljunge:
„Eine Frage an Dustin und Fynn. Werdet ihr noch oft angefeindet oder gar bedroht, weil ihr schwul seid? In Kitzbühel und an anderen Orten hatte es ja schlimme Ereignisse gegeben.“
Schlagartig wurde es wieder still und ich hatte das Gefühl, dass diese Frage auch nicht abgesprochen war. Der Veranstalter schien jedenfalls nicht begeistert gewesen zu sein. Fynn wollte auch nicht so richtig darauf antworten, aber Dustin nahm sich das Mikrofon und sprach klare Worte:
„Kitzbühel war bitter und schrecklich, ja. Aber es ist jetzt auch schon Monate her und wenn es jemanden belasten könnte, dann ist es unser Trainer Chris. Er hat die Schmerzen und den Schock ertragen müssen. Für Fynn und mich war das später nur ein noch größerer Ansporn besser zu werden und das Ziel die ATP Tour zu erreichen. Anfeindungen gibt es immer wieder mal, leider. Aber wir müssen ganz klar sagen, der ganz große Teil der Zuschauer und Spieler akzeptieren uns, weil wir gutes Tennis spielen und vielleicht auch menschlich ganz okay sind. Nur wenn alle Menschen den homophoben und kranken Menschen die Stirn bieten, wird sich in unserer Gesellschaft etwas Grundsätzliches für alle gleichgeschlechtlichen Beziehungen ändern. Damit möchte ich das Thema auch beenden und hoffe gleich auf ein tolles Finale.“
Nach einer Gedenksekunde brandete lauter Beifall auf. Die Veranstalter bedankten sich bei uns für das Gespräch und dann wurde es aber auch wirklich Zeit, in die Matchvorbereitung zu gehen.
Für mich erstaunlich, obwohl es erst halb zwölf war, gab es schon etliche Zuschauer auf der Anlage. Aber als ich den Tagesplan sah, war auch klar warum. Vor dem Einzelfinale wurde das Doppelendspiel gespielt. Daher waren schon etliche Zuschauer anwesend.
Aber nun widmete ich mich der Vorbereitung des Finals mit meinen Jungs. Wir hatten einen Platz zugewiesen bekommen und dorthin hatte ich mich begeben. Fynn und Justin wärmten sich noch auf, aber bevor ich mir Gedanken über diesen Turnierverlauf machen konnte, tauchte Dustin bei mir auf.
„Nanu? Nicht bis zuletzt bei Fynn?“, fragte ich.
„Nein, heute nicht. Ich möchte nicht, dass Justin den Eindruck bekommt, Fynn hätte einen Vorteil. Aber eigentlich wollte ich mit dir noch einmal in Ruhe sprechen.“
„Und, was liegt an? Was beschäftigt dich?“
„Denkst du, dass Justin vollkommen fit ist? Ich habe etwas Sorge, dass er sich zu viel zumutet und eventuell eine Verletzung riskiert. Ich weiß, es klingt grade blöd, weil Fynn dadurch ja eventuell bevorteilt wäre, aber ich mache mir halt Sorgen.“
„Ehrliche Antwort? Justin kann nicht vollkommen fit sein. Er hat sich etwas erholt und er wird bestimmt gut beginnen, aber wie lange er das durchhalten kann, muss man abwarten. Das Thema Verletzung haben wir klar besprochen und er weiß darum Bescheid. Ich werde auch weiterhin ein genaues Auge darauf haben und habe mit ihm vereinbart, dass ich eingreifen werde, wenn ich den Eindruck bekomme, dass er es zwingen will.“
„Ja, das ist gut. Ich wäre vermutlich auch total angepisst wenn ich im Finale stehen würde und du mir vorher sagst, ich darf nicht spielen, weil ich mich zu sehr verausgabt hätte. Aber dafür eine Verletzung riskieren? Ist eine schwierige Situation.“
„Nein, Dustin. Die Situation ist eigentlich ganz einfach. Er spielt und erst wenn es wirklich zu einem Problem kommt, dann breche ich das Match ab. Das ist auch meine Verantwortung euch gegenüber. Ich kann nicht erwarten, dass ihr schon so erfahren seid, so eine Entscheidung ganz allein zu treffen. Und das wird auch noch so sein, wenn ihr volljährig seid. Nur dass ich es euch dann nicht mehr vorschreiben kann, aber raten werde ich es euch auch weiterhin.“
Wir saßen noch einige Minuten in der Sonne, bevor die beiden dann auf den Platz kamen. Worüber ich sehr erfreut war, Fynn hatte zwei Dosen neuer Turnierbälle dabei. Er hatte also daran gedacht sie sich aus dem Turnierbüro zu holen. Sehr schön.
Justin öffnete die zweite Dose und dann ging es auch schon los. Ich hielt mich aus diesen Abläufen komplett heraus und beobachtete wie sie sich vorbereiteten. Es war toll zu sehen, dass sie genauso miteinander umgingen wie immer. Es spielte keine Rolle, dass sie gleich ein Finale gegeneinander spielten. Das hatte ich mir immer gewünscht und gab mir ein gutes Gefühl.
Je weiter die Zeit voranschritt, desto angespannter wurde ich. Ich bekam natürlich auch mit, dass mittlerweile viel mehr Zuschauer auf der Anlage weilten. Mit einem Blick auf die Uhr musste ich feststellen, dass es bereits viertel vor eins war. Von unseren Freunden noch keine Spur, das erstaunte mich doch etwas. Sicherheitshalber nahm ich mein Handy heraus und schaute nach, ob es vielleicht Neuigkeiten geben würde. Aber dort stand nichts. Dustin saß immer noch neben mir und beobachtete das Einschlagen von Justin und Fynn.
In diesem Moment kam so etwas wie Unruhe auf der Anlage auf. Einige der Ballkinder bewegten sich Richtung Clubhaus und auch etliche Zuschauer folgten ihnen.
„Jetzt ist bestimmt Marc angekommen. Es hat sich wohl herumgesprochen, dass er hier zuschaut.“
„Jetzt wo du es sagst, das könnte allerdings sein. Ich habe mich schon gewundert warum diese Unruhe aufkommt.“
Aus dem Nichts heraus hörte ich plötzlich hinter mir eine bekannte Stimme:
„Das sieht doch gut aus was die Jungs hier machen. Und der Coach sitzt entspannt in der Sonne und schaut zu.“
Schlagartig schnellte mein Puls nach oben und ich drehte mich um. Vor mir stand Jan mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
„Hi, Bruderherz“, lachte er und umarmte mich.
„Was machst du denn hier? Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Bist du nicht unterwegs?“
Dustin hatte sich bereits neben mich gestellt und staunte genauso wie ich. Aber Jan begrüßte ihn genauso herzlich. Anschließend ging Jan kurz an den Platz und begrüßte Fynn und Justin. Beide schauten anschließend fragend zu mir und ich konnte nur mit den Schultern zucken. Als Marc, Sabine, Luc und Stef auch mit den anderen dazukamen, wurde mir klar, das konnte nur Marc ausgeheckt haben.
Marc freute sich wie ein Schneekönig, dass ihm diese Überraschung geglückt war.
„Na, da staunst du aber, was?“, grinste Marc und hielt mir die Hand hin.
„Allerdings, damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Aber umso schöner, dass Jan hier ist. Es ist ein tolles Signal für die Jungs, dass der Headcoach der Break-Point-Base extra hierher reist, um beim ersten Titelgewinn persönlich dabei zu sein.“
„Genau so ist das“, meinte Jan, „als Marc mich über den Verlauf informiert hatte, habe ich sofort zugesagt herzukommen. Das ist ja ein sensationeller Turnierverlauf. Ihr macht mir langsam Angst. Wo soll das noch hinführen? Aber jetzt werde ich mit euch diesen Tag genießen.“
Dann setzte sich Jan einfach zu mir ins Gras und schaute Justin und Fynn zu. Ich nutzte die Gelegenheit Luc und Stef auch zu begrüßen. Dass sie lieber zu Fynn und Justin an die Bank wollten, konnte ich verstehen und schickte Dustin auch gleich mit. Sergio und Marcelo begleiteten sie. Somit waren wir mit Sabine, Marc, Maxi, Jörg und Jan unter uns.
„Spielbeginn ist um 14 Uhr?“, fragte Jan.
„Korrekt. Wir sollten die Jungs auch mal so langsam vom Platz holen. Eine kleine Pause vor dem Finale ist nicht verkehrt. Nochmal trockene Sachen anziehen und dann kann es auch losgehen.“
„Sehr guter Plan. Du hast hier echt alles im Griff. Das ist wirklich beeindruckend was du mit den Jungs auf die Beine stellst. Ich freue mich schon auf die nächsten Wochen.“
Das hatte ich jetzt nicht verstanden was er damit gemeint hatte. Aber heute wollte ich mich überhaupt nicht damit befassen. Ich wollte jetzt das Finale zwischen Justin und Fynn genießen.
Maxi hatte ich gebeten unsere Gäste aus Rügen in Empfang zu nehmen und Leon und Drees hatte ich persönlich begrüßt. Unsere Coaching Box war allerdings zu klein um alle bei uns unterzubringen. Daher hatte ich Simon und Mattes zu uns geholt und Drees und Leon saßen mit den Eltern ganz normal auf der Tribüne. Allerdings hatte ich sie nach dem Spiel alle zum gemeinsamen Siegerumtrunk eingeladen.
Der Platzsprecher begrüßte die Zuschauer und machte eine kurze Einleitung zum Finale. Das machte er richtig geschickt und die Spannung stieg bis zu dem Augenblick wo ich meine Jungs schon am Eingang zum Platz stehen sah. Dann stellte der Sprecher die Spieler vor und lauter Applaus kam auf.
Jetzt stieg doch noch mein Puls leicht an. Es war ein komisches Gefühl bei einem Challenger Finale zu sitzen und zu wissen, dass heute ein Titel nach Halle kommt. Jan blieb die ganze Zeit mit Marc hinter mir sitzen. Er mischte sich überhaupt nicht in meine Abläufe ein, er beobachtete mich aber genau.
Nach den fünf Minuten Einschlagzeit rief der Stuhlschiedsrichter das obligatorische „Time“ und das Match begann. Justin hatte die Wahl gewonnen und sich für Aufschlag entschieden.
Was allerdings dann folgte, hatte ich so nicht erwartet. Innerhalb von zwanzig Minuten führte Justin mit 5:0 und schoss Fynn jeden Ball um die Ohren. Die Ballwechsel dauerten nicht länger als zwei oder drei Ballkontakte. Die Zuschauer raunten bei jedem Return Winner von Justin. Das Verrückte, Justin traf nahezu jeden Ball und Fynn hatte bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt keine Chance ins Spiel zu kommen.
Beide saßen wie erwartet auch auf derselben Bank und sprachen sogar beim Seitenwechsel miteinander. Wie im Training. Jetzt, bei 5:0 im ersten Satz, sprach mich Jan an:
„Sag mal, was macht Justin da? Das ist ja unfassbar was der für Bälle spielt. Aber warum diese Strategie? Das kann auch genauso gut furchtbar in die Hose gehen. Hast du das mit ihm so besprochen?“
„Nein, habe ich natürlich nicht. Ich habe gar keine Strategie besprochen. Wie immer wenn zwei von unseren Jungs gegeneinander spielen. Aber Justin war heute früh bei mir und er hatte Angst das Match nicht fertig spielen zu können, da er von gestern noch platt war. Du hast es ja nicht mitbekommen, Justin hatte nach dem Halbfinale Kreislaufprobleme und Krämpfe in den Beinen gehabt.“
Jan kniff kurz die Augen zusammen und meinte dann:
„Ah, ich verstehe. Ballwechsel kurz halten und hoffen, dass die Kraft reicht und der Ball das Feld trifft. Bei längeren Ballwechseln würde Fynn in jedem Fall Vorteile haben und gewinnen. Aber so krass habe ich das noch nicht oft gesehen. Sehr mutig von Justin das so konsequent zu versuchen. Und das aller geilste ist für mich, dass sie immer noch zusammen auf der Bank sitzen und miteinander reden. Unglaublich gutes Kino.“
Jan schien zufrieden zu sein und mein Handeln zu akzeptieren. Hoffentlich blieb das auch so, sollte es für Justin mit der Kraft nicht reichen und er noch aufgeben müssen.
Interessant war die Situation nach dem 6:1 im ersten Satz. Fynn hatte bislang kein Mittel gegen Justins Raketen gefunden. Aber ich konnte keinerlei Frustreaktion bei Fynn erkennen. Im Gegenteil, in der Satzpause unterhielten sich beide relativ entspannt auf der Bank, bis Fynn irgendetwas zu Justin gesagt hatte. Justin schüttelte den Kopf und lachte. Fynn hingegen zeigte ihm lachend die Faust und ging wieder auf den Platz.
„Ist das eigentlich immer so, dass die Gegner zusammen auf der Bank sitzen, sich einen Witz erzählen und dann weiterspielen?“, fragte mich Jörg.
„Nein“, erwiderte ich schmunzelnd, „das ist nur bei unseren Jungs so. Und ich finde es ziemlich cool. Auch wenn es vermutlich für die Konzentration nicht perfekt ist. Ist mir heute aber relativ egal. Das Publikum findet es auch amüsant und sie sehen unfassbar gute Bälle von Justin. Ich bin gespannt was Fynn sich nun einfallen lässt. Kampflos wird er Justin das Feld nicht überlassen. Dafür ist er viel zu ehrgeizig.“
„Du willst also Justin so weiter spielen lassen?“, fragte mich Jan.
Eine Frage, die mich verunsicherte. Wie hatte Jan das gemeint? Sollte ich wirklich in das Spiel eingreifen?
„Ich werde es komplett den Jungs überlassen, was sie auf dem Platz machen. So lange es nicht gefährlich für die Gesundheit wird, sollen sie das eigenständig ausfechten. Das ist so besprochen und ich werde diese Absprachen auch einhalten.“
Jan nickte nur kurz und lehnte sich wieder zurück auf dem Stuhl. Dustin hatte natürlich diese Bemerkung mitbekommen und warf einen finsteren Blick zu Jan. Er hatte es als einen Angriff gegen Fynn und Justin empfunden.
„Dustin, tust du mir bitte einen Gefallen und holst mal eine Runde Eis für alle. Ich brauche etwas Nervennahrung.“
Damit wollte ich Entspannung schaffen. Dustin sollte sich nicht unnötigerweise mit Jan anlegen.
Dustin stand auf und Maxi meinte:
„Warte, ich komme auch mit. Ich muss mal auf die Toilette.“
„Scheint wohl aufregend zu sein. Wenn die Blase drückt“, lachte Marc.
Maxi lachte und ging mit Dustin Eis holen.
Der zweite Satz begann anders als das bisherige Spiel gelaufen war. Fynn versuchte gar nicht mehr, im Tempo dagegenzuhalten. Er machte den Ball langsamer und spielte viel Slice. Da konnte Justin nicht sofort attackieren. Zumindest wenn er ernsthaft noch versuchte, das Match zu gewinnen.
Justin hatte die Taktik erkannt und sein Ehrgeiz hatte sich durchgesetzt. Er begann sich auf die längeren Ballwechsel einzulassen, musste aber jetzt viel mehr laufen. Das zeigte nach drei weiteren Spielen Wirkung. Justin bekam Probleme richtig an den Ball zu kommen und wurde oftmals zu kurz in der Länge. Das konnte Fynn dann für sich nutzen und machte viele Punkte.
Ich musste jetzt höllisch aufpassen, dass sich Justin nicht überforderte und eine muskuläre Verletzung riskierte.
Beim Stand von 4:1 im zweiten Satz für Fynn, konnte ich die Erschöpfung bei Justin deutlich sehen. Es ging ihm die Luft aus.
„Du solltest nach dem zweiten Satz überlegen, ob du das Spiel beendest“, meldete sich Jan jetzt ruhig zu Wort.
Ich schaute ihm in die Augen. Es schien ehrlich gemeint zu sein. Überhaupt nicht überheblich oder abwertend mir gegenüber. Ich spürte wie empfindlich ich immer noch Jan gegenüber war.
„Du erkennst es also auch. Justin ist platt. Und ich befürchte, er wird sich freiwillig nicht zurückziehen, auch wenn es klar besprochen war.“
„Genau das sehe ich auch so. Du hast die Lage gut eingeschätzt. Du kennst Justin viel besser als ich. Warte den zweiten Satz ab und dann entscheide ob und wie es weitergehen kann.“
Marc und Sabine schauten uns beiden genau zu. Sabine nickte mir fast unmerklich zu.
Mittlerweile hatte auch das Publikum bemerkt, dass Justin in Schwierigkeiten steckte. Mit rhythmischem Klatschen versuchten sie Justin aufzumuntern. Aber Justins Akku war alle. Sein Körper spielte nicht mehr mit. Das musste ich erkennen und entsprechend nahm ich nach dem zweiten Satz mit Justin Blickkontakt auf. Fynn hatte es auch bemerkt, dass es Justin nicht mehr gut ging. Er blickte auch zu mir nach oben. Für mich ein klares Zeichen, dass auch er Hilfe wollte.
Mit zwei kurzen Handzeichen gab ich Justin meine Aufforderung aufzuhören. Er sollte spüren, dass ich hinter ihm stand.
Fynn saß schon auf der Bank als Justin sich vor ihn hinstellte und ihm wohl gerade mitteilte, dass er aufgeben würde. Fynn stand von der Bank auf und umarmte Justin. Eine tolle Geste der Freundschaft. Keine Geste der Freude, trotz des gigantischen Erfolges auf der Challenger Tour. Im Gegenteil, sofort kümmerte er sich um seinen Freund und beide gingen zum Schiedsrichter um ihn zu informieren, dass das Match beendet sei.
„Geh hinunter an die Bank, Chris“, forderte mich Jan auf, „Die Jungs brauchen dich und du solltest ihnen jetzt die Unterstützung geben. Sie haben hier großes Kino gezeigt.“
Jan nickte mir noch einmal zu und dann lief ich hinunter zur Bank. Justin saß niedergeschlagen dort und Fynn versuchte ihn zu trösten. Ein tolles Bild, wenn es nicht so schade für Justin gewesen wäre. Als mich Fynn bemerkt hatte stand er auf und ich setzte mich neben Justin.
„Danke, dass du gekommen bist. Ich fühle mich gerade ganz mies. Als ob mir einer den Stecker gezogen hat. Es geht einfach nicht mehr.“
„Hey“, ich legte meinen Arm auf seine Schulter, „das war doch so besprochen. Es war zu erwarten, dass du noch nicht so austrainiert bist, um das Match gestern so wegzustecken. Jan hat mich bestärkt, es jetzt zu beenden. Du bist siebzehn und der Körper ist noch nicht austrainiert. Das braucht Zeit. Aber eine Verletzung wäre jetzt fatal. Ich verstehe sehr gut, dass du enttäuscht bist, aber du hast alle Möglichkeiten versucht und heute war das nicht ausreichend. Komm, Kopf hoch und lass uns das tolle Teamergebnis zusammen genießen.“
Fynn stand die ganze Zeit neben der Bank und hatte schon die Taschen gepackt. Er wäre am liebsten vom Platz gegangen, aber natürlich stand noch die Siegerehrung an. Der Oberschiedsrichter hatte sich bei Justin erkundigt, ob er in der Lage wäre an der Siegerehrung teilzunehmen. Justin nickte nur. Er war einfach sehr enttäuscht und traurig. Verständlicherweise, aber ich war hoch zufrieden mit der Performance des ganzen Teams.
Der Veranstalter hatte bereits alles für die Siegerehrung aufgebaut als ich den Platz wieder verließ. Justin hatte sich etwas gefangen und Fynn blieb immer an seiner Seite. Eine tolle Geste des Respektes zu seinem Freund.
Alle Zuschauer standen und klatschten Beifall als der Moderator die Siegerehrung begann. Ich beeilte mich um wieder in die Box zu kommen. Ich wollte das sehen.
Fynn wollte sich von mir partout noch nicht zum Sieg gratulieren lassen. Das wollte er erst außerhalb der Öffentlichkeit haben. Mir wurde gerade bewusst was für ein geiles Team wir waren. Selbst hier waren der Respekt und die Freundschaft größer als alles andere.
Aber als ich zurück in der Box war, spürte ich die Freude bei allen Anwesenden. Jan fragte noch leise:
„Wie geht es Justin? Ist es nur die Erschöpfung oder eine ernsthafte Verletzung?“
„Nein, nur totale Erschöpfung. Und Enttäuschung. Das tut gerade richtig weh. Auch Fynn kann sich überhaupt nicht über den Sieg freuen. Aber das kommt bestimmt später noch. Jetzt will ich aber die Siegerehrung sehen.“
Mein Bruder nickte lächelnd und stellte sich neben mich. Erst jetzt registrierte ich die vielen Kameras die klickten und unsere Box im Visier hatten. Das war mit Sicherheit ein gutes Bild mit Marc und Jan in der Box.
„Liebe Zuschauer“, begann der Turnierdirektor mit der Siegerehrung und es kehrte Ruhe auf der Tribüne ein, „ein phantastisches Finale ist zu Ende gegangen, viel zu früh, und für Justin sehr unglücklich.“
Erneuter Applaus brandete auf. Fynn stand immer noch ganz nah bei Justin als der Moderator fortfuhr:
„Ich möchte beiden Spielern großen Dank für dieses hochklassige Finale aussprechen. Heute wurde hier in Stralsund vielleicht Geschichte geschrieben. Zwei sehr junge Spieler aus Halle standen im Finale und ich bin mir sehr sicher, wir werden sehr bald auch auf der ATP Tour mehr von ihnen sehen. Sie haben eine exzellente Ausbildung erhalten und mit Jan de Witt einen Headcoach, der bereits vielen Weltklassespielern auf der Tour Erfolg gebracht hat. Ich habe gerade erfahren, dass er sogar persönlich dem Finale beigewohnt hat. Herzlich willkommen in Stralsund.“
Erneut lauter Applaus. Justin und Fynn wurden bereits unruhig auf der Bank. Auch Dustin bei uns war sauer über diese Anmerkung des Turnierdirektors. Ich gab ihnen mit klaren Zeichen zu verstehen, ruhig zu bleiben.
„Auch ein vorzeitiges Ende des Finales hat nicht verhindert, heute tolles Tennis gesehen zu haben. Ich möchte nun den Vertreter von der Sparkasse in Stralsund bitten, Herrn Horn, die Ehrung des Zweitplatzierten vorzunehmen. Justin Boulais“
Justin stand von der Bank auf und ging nach vorn. Der Bankmanager überreichte ihm einen großen Silberteller und einen Umschlag. Natürlich wurden auch Fotos gemacht. Erst danach fragte der Turnierdirektor Justin:
„Justin, bitte richte ein paar Worte an die Zuschauer. Wie ist es dir hier in dieser Woche ergangen?“
Justin nahm sich das Mikrofon und was jetzt folgen sollte, berührte mich. Die nächsten zehn Minuten der gesamten Ehrung wurden sehr emotional für mich.
Justin führte diese Ansprache in erstaunlich sauberem Deutsch. Beeindruckend wie schnell er Deutsch gelernt hatte. Das wurde mir in dieser Situation richtig bewusst.
„Liebe Zuschauer, sehr geehrte Sponsorenvertreter, liebe Ballkinder und alle die an diesem Turnier ihren Anteil hatten, ich möchte mich zuerst einmal entschuldigen, dass ich das Finale nicht regulär zu Ende spielen konnte, aber mein Körper hat mir heute klar meine Grenze aufgezeigt und das gestrige Halbfinale hatte mich zu viel Kraft gekostet. Chris, mein Coach, und ich haben bereits heute früh darüber gesprochen und ich habe es versucht, aber es hat nicht gereicht meinen Freund Fynn zu schlagen….“
Bevor Justin weitersprechen konnte, musste er warten bis der Applaus wieder abebbte.
„Aber ich werde im nächsten Jahr erneut versuchen den Titel zu holen. Dieses Turnier ist wirklich gut organisiert und dabei familiär geblieben. Dafür vielen Dank. Einen Satz muss ich aber unbedingt noch loswerden, Danke an dich, Chris. Ohne deine Hilfe und deine Fürsorge für uns, wäre keiner von uns dort wo wir jetzt stehen. Du hast uns immer Fehler machen lassen und dennoch voll hinter uns gestanden. Ich möchte heute sagen, du bist viel mehr als ein Coach. Für mich bist du so etwas wie ein Vaterersatz, Mentor und Coach gleichzeitig. Ich bin sehr glücklich damals in Halle so gut aufgenommen worden zu sein. Vielen Dank dafür. Aber jetzt möchte ich Fynn gratulieren zu seinem großartigen und verdienten Erfolg hier in Stralsund. Wer weiß, vielleicht stehen wir ja bald wieder in einem Finale gegenüber. Ihnen allen einen guten Heimweg und bis bald.“
Die Zuschauer klatschten und insbesondere die Rügener Gruppe war sehr lautstark dabei. Der Turnierdirektor musste mehrfach darum bitten, fortfahren zu können.
Was mir gerade noch aufgefallen war, Marc stand nicht mehr bei uns in der Box. Das wunderte mich schon.
Aber als der Turnierdirektor das Mikrofon wieder in der Hand hatte, konnte ich sehen warum Marc nicht mehr bei uns war. Er stand unten auf dem Platz und ich ahnte was nun kommen würde.
„Jetzt habe ich noch eine besonders schöne Überraschung, den Siegerpokal und –scheck wird heute eine Legende überreichen. Marc Steevens. Fynn, darf ich dich nach vorn bitten.“
Fynn stand von der Bank auf und bevor er zu Marc ging, gab er Justin noch einmal die Faust. Marc hob den großen Pokal vom Tisch und übergab ihn an Fynn. Dann nahm Marc das Mikrofon:
„Liebe Tennisfans und liebes Break-Point-Team, ich darf heute diesen Pokal an dich überreichen, Fynn. Das ist für mich ein ganz besonderer Tag und insbesondere Chris hat eine unglaubliche Arbeit mit den Jungs abgeliefert. Dass Jan heute auch hier ist, war ganz bewusst so geplant. Es sollte eine Anerkennung für Chris sein. Für die, die es nicht wissen, Chris ist Jans jüngerer Bruder und er ist der Kopf dieses Projektes. Jan unterstützt es sicherlich, aber der führende Kopf in diesem Team mit Dustin, Fynn und Justin, ist Chris. Das musste einmal gesagt werden. Und jetzt ist Fynn dran mit seiner Siegeransprache.“
Dann gab Marc das Mikro an Fynn weiter, der sichtlich nervös wirkte.
„Tja, nun muss ich wohl oder übel eine Siegeransprache halten. Gar nicht so einfach, aber ich fange mit dem Dank an die Sponsoren und den Veranstalter an. Es war ein toll organisierter Event und ich habe mich hier sehr wohl gefühlt. Kann man sich sicher denken, da ich es gewonnen habe.“
Kurzes Gelächter auf den Rängen unterbrach Fynn.
„Für mich ist heute ein Traum in Erfüllung gegangen. Ich habe zum ersten Mal ein größeres Turnier auf der Profitour gewonnen und das auch noch in Anwesenheit vieler Freunde und Förderer. An dieser Stelle sei Marc Steevens erwähnt, der uns bereits seit längerer Zeit fördert und immer an unser Können glaubt. Vielen Dank für dein Vertrauen. Aber den größten Anteil an unserem Erfolg hat ganz klar Chris, unser Coach, Freund und Mentor. Justin hat es eben schon gesagt, ohne Chris wäre niemand von uns da wo wir gerade stehen. Ich möchte es nur kurz erwähnen, wir sind ja erst gut zwei Jahre gemeinsam unterwegs. Daher möchte ich klar sagen, dieser Traum geht noch weiter und ich hoffe in einem Jahr kann ich diesen Titel verteidigen. Auch wenn meine Freunde es mir sicher sehr schwer machen werden. Von den anderen Spielern mal ganz abgesehen. Also für heute ist es genug gesprochen. Ich werde jetzt mit meinen Freunden diesen Titel gemeinsam feiern. Zumindest ein bisschen. So lange bis uns Chris wieder auf den Boden holt. Vielen Dank allen Zuschauern und bis bald.“
Dafür gab es lauten Applaus und mir gefiel diese launige Ansprache. Kein langweiliges Gerede wie sonst von den Profis. Fynn hielt für die Fotografen den Pokal hoch, aber nur für einen kurzen Moment, dann holte er sich Justin hinzu und er ließ sich nur noch mit Justin fotografieren. Ein tolles Zeichen und entgegen aller Regeln der ATP.
Marc hatte sich ebenfalls schon dezent zurückgezogen und bevor ich noch etwas tun konnte, meinte Jörg:
„Jetzt sollten wir aber noch den Erfolg etwas genießen. Marc und ich haben da mal etwas vorbereitet. Ihr werdet heute ja noch nach Hause fahren, aber nicht mit leerem Magen. Das kann ich nicht verantworten.“
Bevor Jörg äußern konnte, was er geplant hatte, kamen Justin und Fynn mit ihren Trophäen zu uns. Das hatte natürlich Priorität und natürlich hatte Fynn die obligatorische Flasche Sieger Champagner in der Hand. Ohne sie zu schütteln, öffnete er den Korken und füllte den Pokal mit dem Inhalt.
„Hier“, tippte mir Jörg auf die Schulter und hielt mir eine Fassbrause hin, „damit du auch etwas zum Anstoßen hast.“
Ich nahm die Flasche und schon standen Fynn und Justin vor mir. Fynn strahlte und auch Justin konnte sich wieder freuen. Wir stießen an und Fynn reichte den Pokal dann weiter. Jeder durfte einen Schluck nehmen. Fynn hatte den Pokal aus der Hand gegeben und stand vor mir:
„Vielen Dank, Chris. Es ist so ein geiles Gefühl gerade. Ich möchte dich umarmen.“
Und das tat er dann auch. In diesem Moment spürte ich die Nähe zu meinen Jungs. Auch Justin umarmte mich intensiv und es wurde ein toller Abschluss des Stralsund Ausflugs. Es gab zusätzlich zu dem Preisgeld auch viele Weltranglistenpunkte. Mal schauen wo sich die Jungs in der neuen Woche einsortieren würden.
Jan hatte sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten. Erst als die Jungs bei mir waren, kam er zu mir:
„Geile Nummer, Chris. Das ist beeindruckend wie ihr vorwärts geht. Jetzt lasst uns schnell zum Essen fahren und dann ab nach Hause. Morgen ist wieder Trainingsalltag und da steht ja auch noch eine Geburtstagsparty an.“
Danach umarmte er mich genauso intensiv wie meine Jungs. Das bedeutete mir wirklich viel und umso positiver konnte ich in die Zukunft blicken. Das Abenteuer Challenger in Stralsund war ein voller Erfolg.
Mal schauen wo es uns noch hinführen würde.
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