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Lucien
Teil 2
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Informationen
- Story: Lucien
- Autor: cdwgrisu
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Lovestory
Inhaltsverzeichnis
- Ein zukunftsweisender Sonntag
- Sonntag beim Brunch
- Am Montag in der Firma
- Der Mittwoch bei Stefan in der Gruppe
- Das Ende des Praktikums und die Rückkehr nach Hause
- Nachwort
Ein zukunftsweisender Sonntag
Es war ein ereignisreicher Samstag für mich, der mit dem überraschenden Besuch meines Vaters den Höhepunkt hatte. Mario hatte zu Beginn große Schwierigkeiten, Papa als ganz gewöhnlichen Vater zu sehen. Zumal seine Erfahrungen mit Eltern nicht sonderlich angenehm waren. Am Samstag hatte er mir noch bei einer günstigen Gelegenheit erzählt, wie sehr er mich beneiden würde. Verstehen konnte ich ihn, aber ich erklärte ihm auch, dass Papa sicher nicht nur meinetwegen gekommen war. Mario verstand nicht, was ich ihm damit sagen wollte, von daher bat ich ihn um Geduld. Am Sonntag würde er das sicher verstehen. Papa hatte uns alle, auch die Geigers und Stef zum Brunch am Sonntag ins Hotel eingeladen. Mick und Lukas sollten dort ebenfalls hinkommen.
Ich hatte vor, den Samstagabend mit Papa allein zu verbringen. Er hatte sich in einem Hotel mitten in München einquartiert und somit waren wir zu Fuß unterwegs. Seinen Ferrari hatten wir in der Hotelgarage gelassen. Wir schlenderten durch die Straßen und unterhielten uns über meine Arbeit und was ich alles schon gelernt hatte. Ich bemerkte eigentlich überhaupt nicht, wo wir uns in der Stadt befanden. Plötzlich standen wir vor einem kleinen italienischen Restaurant und Papa fragte:
„Hast du Hunger? Ich dachte, wir könnten uns etwas zu Essen gönnen.“
Ich schaute ihn an und hörte in meinen Magen hinein, der mir ein Hungergefühl signalisierte.
„Ja, eine gute Idee, Papa.“
Er öffnete die Eingangstür und hielt sie mir auf, so dass ich als Erster eintrat. Ich ging direkt auf den Tresen zu, hinter dem ein typisch südländisch aussehender junger Mann stand. Ich begrüßte ihn freundlich und fragte nach einem Tisch für zwei Personen. Er nickte und führte uns an einen sehr schönen Tisch. Überhaupt war das Restaurant sehr hübsch eingerichtet. Gemütlich und dennoch modern. Ich zog meine Jacke aus und Papa hing unsere Jacken an der Garderobe auf.
Als wir uns gesetzt hatten, bekamen wir die Speisekarten und Papa bestellte uns etwas zu trinken. Ich hatte Lust auf eine Pizza speziale nach Art des Hauses. Papa bestellte sich ein Pasta Gericht. Nachdem wir die Karten zurückgegeben hatten, begann Papa mit mir ein Gespräch:
„Luc, erzähl mir doch ein wenig von Stefan. Was denkst du über diese Geschichte? Ich finde es beunruhigend, was mir Barbara schon erzählt hat.“
„Es ist schlimm. Manchmal denke ich an ihn und frage mich, was wohl noch alles passiert ist. Ich befürchte, dass wir bislang nur einen Teil seiner Geschichte kennen. Und Mario geht es auch nicht viel besser. Mario überspielt seine Angst. Er fühlt sich verantwortlich. Einmal hatte er mir gesagt, dass er versagt hätte. Er hätte seinen kleinen Bruder besser beschützen müssen.“
„Hm, das ist sicher falsch, aber ich kann es verstehen. Wie fühlst du dich denn mit diesen Gedanken. Du sagtest eben, dass du manchmal an Stefan denkst. Es lässt dir keine Ruhe und du möchtest öfter bei ihm sein, oder?“
Ich fühlte mich irgendwie ertappt. Aber es war richtig, immer wieder bekam ich tagsüber Gedanken, was Stef wohl machen und wie es ihm gehen würde. Abends hatte ich ja oft mit ihm telefoniert und konnte mit ihm sprechen.
„Naja, Papa, mir wird einfach bewusst, wie gut wir es haben. Ich habe wieder eine Familie, die sich um mich kümmert. Ich weiß, ich kann mich auf euch verlassen. Manchmal empfinde ich es als ungerecht. Warum kann ich denn für Stef nicht mehr tun? Immer, wenn wir zusammen etwas gemacht hatten, war er wie ausgewechselt. Er konnte lachen und war fröhlich. Aber wenn wir uns wieder trennen mussten, spürte ich seine Traurigkeit.“
„Luc, ich habe dich jetzt zwei Wochen nicht gesehen und ganz ehrlich, ich habe mich ein wenig erschrocken, als ich dich gestern gesehen habe. Du bist im Gesicht sehr schmal geworden. Wie geht es dir wirklich? Ich habe das Gefühl, du bist traurig, dass Stefan nicht in seiner Familie sein kann und ihr nicht mehr Zeit zusammen verbringen könnt. Du magst ihn, das habe ich schon sehr früh bemerkt, wenn du von ihm berichtet hast. Oder stimmt das nicht?“
Papa kannte mich gut, er hatte ein Gespür für uns Kinder. Das war auch schon damals so, als es um die Geschichte mit Lukas ging. Als es ihm klar wurde, was Mick für Lukas empfand, hatte er einfach eine Entscheidung getroffen und alles in Bewegung gesetzt, um seinem Sohn zu helfen. Er hatte nie die Frage gestellt, warum Mick sich in Lukas verliebt hatte. Er hatte es einfach akzeptiert. Ich hatte jetzt das Problem, sollte ich Papa auch von den Dingen erzählen, die mir Stef anvertraut hatte? Wie würde Papa darauf reagieren?
„Warum fragst du das? Was soll diese Frage?“
Ich wurde jetzt richtig verlegen und die Situation wurde mir unangenehm. Papa hingegen blieb ganz ruhig und schaute mir in die Augen. Ich konnte nicht mehr anders, ich berichtete ihm von den Dingen. Ich machte meiner Seele Luft. Ich erzählte alles, was ich wusste und dabei spürte ich eine große Wut in mir aufsteigen. Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten, mir lief vor Wut und Trauer eine Träne aus den Augen. Papa ließ mich gewähren, er nahm nur meine Hand und streichelte mir über den Handrücken. Er schwieg so lange, bis ich mich wieder beruhigt hatte.
„Danke, dass du mir alles erzählt hast. Ich verstehe deine Wut und auch deine Hilflosigkeit jetzt viel besser. Du wünschst dir, dass Stef wieder lachen kann und dass er mit Mario zusammen ein neues Leben beginnen kann. Ich bin deswegen auch hergekommen. Ich habe es geahnt, dass hier noch mehr passiert ist. Luc, sieh mich mal an. Ich müsste mich schon sehr irren, aber Stefan ist dir bereits ein wichtiger Freund geworden und du möchtest ihm helfen.“
Ich nickte wortlos. Glücklicherweise kam in diesem Moment unser Essen.
Während des Essens stoppte unser Gespräch und ich hatte einen Moment Zeit, darüber nachzudenken. Papa hatte wie schon so oft Recht, ich wollte Stef helfen, eine bessere Zukunft zu haben. Es ließ mir keine Ruhe und ich bekam ein schlechtes Gewissen, dass ich in einer Welt des Wohlstandes und Beschütztseins aufwachsen konnte.
Das Essen war klasse und Papa hatte für uns noch zwei Latte macchiato bestellt. Die ganze Zeit hatte er wieder sein geheimnisvolles Lächeln um den Mund. Das bedeutete, er hatte sich etwas überlegt und eine Entscheidung getroffen. Mal sehen, was sich entwickeln würde. Für mich war wichtig, ich wollte Stef nach diesem Praktikum nicht einfach hier zurücklassen und mich aus dem Staub machen. Das war mir klar, nur wie sollte das gehen. Ich würde hunderte Kilometer von ihm entfernt sein. Das machte mich sehr traurig.
„Hey, was ist los? Worüber denkst du gerade nach?“
Mein Papa riss mich aus meinen Gedanken. Ich schaute ihn an und er lächelte.
„Ach, Luc. Warum machst du es dir so schwer, gib dir einen Ruck und erzähle mir deine Gedanken. Gemeinsam schaffen wir, für alles eine Lösung zu finden.“
„Papa, ich will Stef weiter unterstützen und nicht einfach zurück in die Heimat fahren und ihn hier zurücklassen. Er hat noch so viel zu überstehen. Ich will ihm helfen. Er wird das allein nicht schaffen.“
„Und wo liegt das Problem? Mach das doch einfach. Sicher wirst du nicht mehr so oft bei ihm sein, aber ihr könnt schreiben, telefonieren und München ist mit dem Flugzeug nicht so weit weg. Aber du musst auch deine Wünsche und Träume äußern. Ich kann sonst nur raten. Deine Mutter hat mir etwas mit auf den Weg gegeben, bevor ich hierher gekommen bin.“
Ich spürte, hier würde gleich etwas Außergewöhnliches passieren, Papa hatte so einen bestimmten Ton in seiner Stimme. Es erinnerte mich an die Situation, als er uns mitteilte, dass er seine Karriere als Rennfahrer beendet hatte.
„Deine Mama hat gesagt, und da gebe ich ihr Recht, du sollst das tun können, was dir dein Gefühl sagt. Du bist ein Gefühlsmensch. Immer schon gewesen und du hast dich immer erst gut gefühlt, wenn du deinen Freunden gerecht geworden bist. Das ist ein Teil von deiner Persönlichkeit. Eines möchte ich dir aber noch zusätzlich sagen. Wir, deine Familie, werden immer hinter dir stehen. Ich habe ein gutes Gefühl, mit dem was du tun möchtest, also mach es!“
Mir steckte ein Kloß im Hals und ich bekam ungewollt feuchte Augen. Papa setzte sich neben mich und nahm mich ganz fest in den Arm. Das tat einfach gut.
Wir blieben noch einige Minuten schweigend so sitzen. Er ließ mich einfach nicht allein mit meinen Gefühlen, ohne dass ich auch nur ein Wort sprechen musste. Es war toll.
Einige Minuten später hatte ich mich wieder gefangen und ich wusste, was ich wollte. Allerdings musste ich dafür mit Stef und Mario sprechen. Jetzt war allerdings eine gute Gelegenheit mit Papa noch einige Dinge zu besprechen.
„Papa, wie kann ich mich bei Barbara und Karl bedanken für ihre Hilfe hier? Ich meine, sie haben mich hier aufgenommen, mir ermöglicht, Erfahrungen zu sammeln und mich auch noch in dieser Sache mit Stef unterstützt. Das ist nun wirklich nicht selbstverständlich.“
„Da hast du sicher Recht. Das ist nicht selbstverständlich, aber ich kenne beide schon eine ganze Zeit und ich glaube, du bist ihnen der Sohn, den sie sich immer gewünscht haben. Ein Junge, der die gleiche Begeisterung für amerikanische Autos hat wie sie. Bevor ich das vergesse, wir müssen morgen noch einmal zu euch in die Firma. Karl will mir und dir etwas zeigen. Und was meinst du, nehmen wir da Mario und Stefan mit?“
„Das wäre echt cool. Ich bin mal gespannt, wie Stef morgen überhaupt reagieren wird. Er hat kaum glauben können, dass du mein Papa bist und er hat auch ein wenig Angst davor, dir zu begegnen.“
Papa musste schmunzeln. Er kannte diese Reaktionen natürlich, gerade bei sehr jungen Fans. Aber Stef war kein Fan für mich, er war ein Freund und Freunde sollten Papa nicht als Superstar ansehen. Das hatte auch schon damals zu Hause am Anfang einige Probleme gemacht. Es dauerte einige Zeit, bis meine Freunde und Klassenkameraden das als normal ansahen. Heute war das kein Thema mehr, vor allem auch, weil Papa immer auf meine Freunde zuging und ihnen das Gefühl gab, sie seien willkommen.
„Das bekommen wir hin. Ich werde ihn schon nicht auffressen. Mario habe ich ja schon kennengelernt, er wird seinem Bruder bestimmt schon etwas erzählt haben.“
Ich musste lachen, Papa hatte es wieder geschafft, mich aus meiner traurigen Stimmung herauszuholen. Papa meinte dann, wir sollten doch noch einen kleinen Bummel machen. Er wollte mit mir eine Partie Dart spielen und es sollte nicht zu spät werden. Er bezahlte die Rechnung und wir machten uns wieder auf den Weg in die Stadt.
Kurze Zeit später standen wir vor einem urigen englischen Pub. Papa war der Meinung, dort würde man sicherlich eine Dartscheibe haben. Also betraten wir diese Kneipe und wirklich, eine typisch englische Kneipe. Einige britische Soldaten waren auch in Dienstkleidung dort. Es wurde sowohl englisch als auch deutsch gesprochen. Wir setzten uns an einen Tisch in dem Raum, wo drei Dartscheiben hingen. Was ich nicht bedacht hatte, die Briten spielten Steel Dart und nicht E-Dart wie wir. Ich hatte noch nie Steel Dart gespielt, nur im Fernsehen schon oft geschaut. Ich war immer fasziniert von Phil Taylor oder Raymond van Barneveld. Das waren in England Nationalhelden.
Wir bestellten uns etwas zu trinken und schauten den Briten bei ihrem Spiel zu. An der einen Scheibe spielten zwei Personen, von denen ich annahm, es waren ebenfalls Vater und Sohn. Der Sohn war etwas älter als ich, so schätzte ich zumindest. Sie spielten beide recht gut, sicherlich deutlich besser als ich. Papa stand irgendwann auf und sprach den Vater auf Englisch freundlich an, ob wir auch einmal eine Partie spielen dürften. Der Mann schaute einen Moment irritiert, vermutlich, weil er auf Englisch von einem unüberhörbar Deutschen angesprochen wurde. Jedenfalls reagiert er sehr freundlich und lud uns ein, mit ihnen zusammen zu spielen. Papa erklärte ihm schnell, dass wir Anfänger seien und meist nur E-Dart spielen würden. Der Junge stellte sich als Steve vor und besorgte mir schnell ein Set Darts. Papa bekam auch ein Set und somit konnte es losgehen.
Ich war sehr nervös, denn ich hatte noch nicht oft gespielt und ich spürte, dass wir beobachtet wurden. Wir waren Fremde in einem britischen Pub. Da mussten wir auffallen.
Steve hingegen war sehr nett. Er entschuldigte sich ein wenig, für sein schlechtes Deutsch, was aber gar nicht so schlecht war. Wir spielten einige Partien und nach der dritten Runde wurde meine Nervosität weniger. Papa unterhielt sich mit Steves Vater auf Englisch. Steve hatte mir schon erzählt, dass er hier auf eine deutsche Schule ging und bereits sechzehn war. Natürlich hatten wir noch kein einziges Spiel gewonnen, als Steves Vater mich fragte, ob wir nicht Väter gegen Söhne spielen wollten. Steve fand das gut und schlug gleich einen Einsatz vor. Wer verliert, müsste die nächste Runde Getränke zahlen. Ich fand das natürlich gar nicht gut, aber bevor ich etwas sagen konnte, hatte Papa schon eingeschlagen. Na toll, das konnte ja heiter werden. Allerdings merkte ich jetzt, dass Steve richtig gut war. Er hatte vorher mit uns nur gespielt. Ich hingegen konnte nicht besser spielen, aber wir lagen bald deutlich in Führung. Irgendwann kam ein Soldat zu Steve und sie redeten auf Englisch etwas, was ich nicht verstehen konnte. Steve schaute danach jedenfalls zu mir und zu meinem Papa und bekam plötzlich große Augen. Aber wir gewannen noch das Spiel und somit mussten die Väter bezahlen. Als Papa mit den Getränken kam, wurde Steve etwas unruhig. Er ging zu seinem Vater und auch der schaute danach etwas ungläubig. Steve drehte sich dann zu mir und fragte mich:
„Sag mal, kann es vielleicht sein, dass dein Vater einer der weltbesten Rennfahrer ist? Ich könnte schwören, dass er Marc Steevens ist.“
Ich musste grinsen. Daran hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht. Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten und musste laut lachen. Steve stand ratlos vor mir und auch die anderen schauten plötzlich zu mir.
„Hey Luc“, meinte Papa, „was für einen Witz hast du dir denn erzählt? Dürfen wir auch mit lachen?“
„Ich lache nur über Steves Frage. Papa, er hat mich gefragt, ob du vielleicht ein berühmter Rennfahrer bist.“
Jetzt fing Papa auch an zu lachen und er ging auf Steve zu und sagte zu ihm:
„Ja, du hast gut beobachtet, ich bin Marc Steevens und das ist mein Sohn Luc.“
Er gab Steve die Hand und es sprach sich danach blitzschnell herum, dass ein ehemaliger Formel 1 Weltmeister zu Gast war. Aber das hatte jetzt nicht zur Folge, dass Papa Autogramme schreiben musste, sondern wir wurden freundlich aufgenommen und es entstanden interessante Gespräche. Nach einigen weiteren Getränken verabschiedeten wir uns von den Briten, und als wir wieder an der frischen Luft waren, zeigte die Uhr bereits halb zwölf.
„Papa, das war ein cooler Abend, aber ich bin todmüde, kannst du mich zurückbringen. Ich schlafe gleich ein.“
„Klar, lass uns zurückgehen und dann bringe ich dich zu den Geigers.“
Sonntag beim Brunch
Nachdem der Wecker geklingelt hatte, war ich direkt auf dem Weg in die Dusche. Mario hatte mich gebeten, ihn auf dem Weg zu Stef zu begleiten. Also hatte ich nicht so viel Zeit und beeilte mich entsprechend. Das war eigentlich gar nicht mein Ding, es war Sonntag und da ließ ich mir immer sehr viel Zeit. Eine viertel Stunde später saß ich mit Mario in seinem Jeep und fuhr zu Stef. Mario war im Gegensatz zu mir schon richtig wach. Deshalb reagierte ich auch nicht direkt auf seine Frage:
„Hey Luc, was ist los? Pennst du noch? Ich hatte dich etwas gefragt.“
„Oh, sorry Mario. Was hast du gefragt, ich bin noch nicht ganz wach.“
Er lachte und wiederholte seine Frage:
„Was denkst du, wie soll sich Stefan verhalten. Er hatte mich gestern noch angerufen und mir Löcher in den Bauch gefragt. Er hat richtig Schiss vor deinem Vater.“
„So ein Quatsch, er soll einfach so sein wie immer. Mensch, mein Vater ist auch nur ein normaler Papa. Er wird das schon schnell merken. Ich kann ihm ja gleich noch mal was dazu sagen. Ich weiß jedenfalls, dass sich mein Papa darauf freut, ihn kennenzulernen.“
Mario schaute mich von der Seite an und schien das nicht so wirklich glauben zu wollen. Ich schob deshalb noch schnell einen Satz hinterher:
„Er freut sich immer, wenn ich einen neuen Freund mit nach Hause bringe. Er will immer wissen, mit wem ich unterwegs bin und er interessiert sich wirklich für uns.“
„Ich wünschte, ich hätte auch solche Eltern. Ich bin mal gespannt auf deine großen Brüder. Die müssten ja so in meinem Alter sein.“
„Genau, die sind beide zwanzig und wunder dich wie gesagt nicht, sie sind halt schwul und leben schon einige Jahre zusammen.“
„Keine Sorge, damit habe ich überhaupt keine Probleme, allerdings weiß ich nicht, wie Stef damit umgehen wird. Hast du ihm schon davon erzählt?“
„Nein, mit Absicht nicht. Ich finde es besser, wenn Mick und Lukas das tun, wenn sie das für richtig halten. Es ist ja eigentlich nicht wichtig für Stef, oder?“
„Hmm, so habe ich das noch gar nicht gesehen, aber ich glaube, dass du Recht hast. Lassen wir das einfach erst mal weg. Er wird es entweder bemerken oder eben nicht. Ich habe da noch eine andere Frage, wir wollten ja eigentlich heute Mittag für alle kochen, das wird vermutlich jetzt nichts. Wie machen wir das?“
„Also ich hatte gedacht, wir kochen dann heute Abend, Papa wollte noch mit Karl etwas besprechen, von daher passt das dann ganz gut. Hoffentlich darf Stef heute Abend noch mit uns zusammen sein. Er muss ja auch morgen wieder zur Schule.“
„Hört sich gut an. Stef wird sich bestimmt freuen, wenn wir dann noch zusammen kochen. Fragst du gleich in der Gruppe seinen Erzieher?“
„Ja, mache ich.“
In diesem Moment parkte Mario seinen Jeep. Es war noch ein kleiner Fußweg bis zum Haus der Wohngruppe. Ich wurde ein wenig unruhig. Ich freute mich, mit Stef einen ganzen Tag verbringen zu können. Hoffentlich freute er sich auch ein wenig und dann würde er auch sicher sehr schnell mit meinem Papa klarkommen.
Wir wurden vom diensthabenden Erzieher begrüßt und Stef wartete bereits abfahrbereit auf uns. Mario umarmte ihn kurz und dann begrüßte mich Stef fast überschwänglich.
„Luc, das ist echt cool, dass du mitgekommen bist.“
Mit einem richtigen Strahlen im Gesicht umarmte er mich. Er war richtig aufgekratzt. Leider konnte ich immer noch die Spuren seiner Misshandlungen erkennen. Sie waren nicht mehr so offensichtlich, aber es löste bei mir Unbehagen aus. Ich besprach noch kurz mit dem Erzieher, dass wir ihn erst heute Abend zurückbringen wollten. Er war damit einverstanden und somit verließen wir drei die Gruppe wieder in Richtung Parkplatz.
„Stef, wie geht es dir heute? Ich habe mich eben richtig gefreut, dass du mal gelacht hast.“
Er hatte seinen Arm um mich gelegt und war total aufgekratzt.
„Es fühlt sich toll an. Ich habe mich so auf diesen Tag gefreut. Einen ganzen Tag mit dir etwas unternehmen. Mario ist auch da. Es ist einfach schön.“
„Ja, Stef, mir geht es genauso. Ich freue mich auch sehr auf diesen Tag. Für mich ist es auch etwas Besonderes, weil mein Papa ganz überraschend gestern zu Besuch gekommen ist. Du wirst dich sicher gut mit ihm verstehen.“
Jetzt spürte ich doch eine deutliche Verkrampfung bei Stef. Er zögerte einen Moment.
„Was ist los? Du musst keine Angst haben. Er ist echt locker drauf. Er freut sich, dich kennenzulernen.“
Stef war sehr skeptisch. Ich konnte seine Angst fühlen.
„Meinst du? Warum sollte sich dein Vater darauf freuen, mich kennenzulernen? Er hat es doch gar nicht nötig, sich mit einem Rumtreiber wie mir, abzugeben.“
Mir tat das weh. Ich löste mich aus seinem Arm und stellte mich vor ihn.
„Stef, damit das ganz klar ist. Er interessiert sich für dich, weil du mein Freund bist und er sich immer um meine Freunde kümmert. Ich will, dass du dich wieder wohl fühlst. Es war sein Wunsch, dass du heute mitkommst und wir den Tag zusammen verbringen. Hast du das verstanden? Ich mag dich so, wie du bist. Du bist mein Freund.“
Danach standen wir uns einen Moment lang wortlos gegenüber. Stef schaute mich an und ich konnte so etwas wie Rührung erkennen. Mario blieb etwas abseits stehen. Stef nickte nur noch und ich ging meinem Gefühl nach und umarmte ihn sehr liebevoll. Er ließ es geschehen und wir standen noch einen Augenblick ganz eng umschlungen vor dem Jeep. Es fühlte sich gut an. Stef hatte sich gefangen und somit fuhren wir gut gelaunt zum Hotel.
„Stef, eine Sache muss ich dir noch sagen.“
„Ja, Luc, was denn?“
„Ich möchte, dass du so normal bist, wie du immer bist. Egal was heute noch passiert. Papa ist für dich mein Vater und nicht der Rennfahrer, versprichst du mir das?“
Er drehte sich zu mir nach hinten und schaute mich an. Seine Augen sprachen Verwunderung aus. Ich musste lachen. Es sah einfach zu komisch aus.
„Was ist? Versprichst du mir das?“
„Ja, Luc, ich versuche es, aber ich kann es nicht versprechen. Ich habe keinerlei Erfahrungen, wie ich mich da verhalten soll.“
„Habe ich doch gerade gesagt, du sollst so sein, wie du bist. Wie ein toller Freund, den ich meinem Vater vorstellen möchte.“
Mario musste jetzt auch lachen. Er fand das wohl genau passend. Denn er wuschelte seinem Bruder durch die Frisur. Das lockerte das Ganze auf. Mittlerweile waren wir vor dem Hotel auf dem Parkplatz angekommen. Stef staunte über das noble Ambiente des Hotels. Als wir auf den Eingang zugingen, wurden wir von einem Mitarbeiter des Hotels freundlich begrüßt. Wir betraten den Eingangsbereich, und obwohl es noch früher Vormittag war, herrschte schon rege Betriebsamkeit. Ich schaute nach Papa und fand ihn in einer Sitzgruppe mit Mick und Lukas sitzend. Ich führte Mario und Stef zu ihnen und begrüßte die Drei.
„Hallo und guten Morgen.“
Mick und Lukas drehten sich sofort um und schon umarmten sie mich mit großer Freude.
„Mensch Luc. Wie schön, dass wir uns wieder mal treffen. Wir hatten uns schon gefragt, warum du dich noch nicht gemeldet hattest. Papa hat uns aber schon alles erklärt.“
„Ich weiß, Mick. Es tut mir auch leid, aber es war etwas viel los hier. Jetzt freue ich mich aber sehr, dass ihr beide hier seid. Darf ich euch meine neuen Freunde vorstellen. Das sind Mario und Stefan.“
Mick und Lukas begrüßten die beiden und das war noch ganz locker. Dann stand Papa auch auf und ging auf Mario und Stefan zu. Er gab zuerst Mario die Hand und anschließend stand er vor Stef. Ich konnte die Unsicherheit bei Stef praktisch fühlen. Papa umarmte ihn einfach mit den Worten.
„Hallo Stefan, schön, dass du mitgekommen bist. Ich freue mich, einen weiteren Freund von Luc kennenzulernen. Ich hoffe, es geht dir heute soweit gut.“
„Guten Morgen Herr Steevens. Danke, es geht soweit. Ich bin gerade nur etwas nervös. Ich war noch nie in so einem Hotel mit einem Freund.“
„Na, dann ist eben heute dein erstes Mal. Ist auch nicht viel anders als bei anderen Eltern zu Hause. Nur dass es bis zu uns in die Schweiz ein bisschen weit wäre.“
Typisch Papa, er hatte sofort bemerkt, wie ängstlich Stef war, und machte gleich ein paar lockere Sätze, um Stef ein wenig die Angst zu nehmen.
„So, wenn die Herrschaften soweit fertig sind, Lukas und ich haben Hunger. Können wir zum Brunch gehen?“
„Jaja, die beiden Raubtiere wollen gefüttert werden. Also gut, wollen wir gehen?“
Papa gab uns mit einer Handbewegung zu verstehen, dass wir in einen Nebenraum der Eingangshalle gehen sollten. Mick und Lukas gingen Arm in Arm vorweg und Papa lief neben uns. Mario hatte sich zu meinen Brüdern gesellt und unterhielt sich bereits mit ihnen. Ich war sehr gespannt, wann meine Brüder sich das erste Mal küssen würden und wie Stef darauf reagieren würde. Bislang hielten sie sich aber sehr zurück.
Einige Augenblicke später hatten wir Platz genommen und ich saß neben Stef. Lukas und Mick hatten sich neben mich gesetzt und Mario und Papa saßen uns gegenüber. Wir unterhielten uns über einige Dinge, die zu Hause passiert waren und dass Nico und Tommy mir schöne Grüße ausrichten ließen. Papa hatte Stef auch immer wieder in ein Gespräch verwickelt, so dass Stef gar nicht erst ins Grübeln kam. Wir warteten noch auf Karl und Barbara, aber Papa meinte, wir sollten einfach schon mal anfangen mit dem Brunch. So gingen Stef und ich mit Mick und Lukas zum Buffet und nahmen uns das, was wir essen wollten. In dem Moment, wo sich Lukas etwas auf seinen Teller auflegte, gab ihm Mick einen kleinen Kuss auf die Wange. Stef bekam große Augen und war sichtlich irritiert. Allerdings sagte er nichts dazu. Ich tat ebenfalls so, dass es eben das Normalste der Welt wäre. Mick und Lukas hatten sich bereits ihre Teller aufgefüllt und gingen zurück an unseren Tisch. Ich nahm mir gerade etwas Rührei mit Speck und Zwiebeln, als Stef neben mir stand und sich ebenfalls etwas auftat.
„Sag mal, du hast gesagt, Mick und Lukas sind deine Brüder. Wieso geben sie sich gegenseitig einen Kuss?“
Ich musste schmunzeln.
„Ganz einfach, weil sie seit einigen Jahren ein Paar sind. Lukas und Mick sind Stiefbrüder. Wir sind eine klassische Patchwork Familie. Also von daher alles im grünen Bereich.“
„Sie sind schwul?“
„Jep, gut kombiniert.“
„Cool, ich habe noch nie einen schwulen Jungen kennengelernt. Und ich würde mich nie trauen, das so offen zu zeigen.“
„Also für uns ist das alles völlig normal. Ich habe einige schwule Freunde.“
„Cool, das würde aber zu Hause noch mehr Stress auslösen. Wie ist das eigentlich, wenn man Geschwister hat, die schwul sind? Hast du deswegen schon mal Schwierigkeiten bekommen? In meiner Klasse wird ständig über Schwule gelästert. Ich würde mich also niemals outen.“
„Nein, ich habe noch nie Probleme damit gehabt, auch in meiner Klasse und in meinem Freundeskreis nicht. Im Gegenteil, ich habe einige schwule Freunde. Für mich ist das völlig normal.“
Stef hatte seinen Teller gut gefüllt und wir gingen wieder zurück an unseren Tisch. Barbara und Karl waren mittlerweile auch zu uns gestoßen und somit waren wir komplett. Das gemeinsame Essen verlief sehr harmonisch und lustig. Sogar Stef war richtig gut gelaunt und hatte relativ schnell seine Berührungsängste überwunden. Papa hatte es ihm allerdings auch recht einfach gemacht, indem er Stef immer wieder in ein Gespräch verwickelte, so dass es Stef gar nicht bewusst wurde, dass Papa ihn damit förmlich ausfragte. Aber irgendwann meinte Stef zu mir, dass er mal an die frische Luft möchte. Er bat mich mitzukommen. Einen Moment standen wir im Hotelgarten und liefen gemächlich ein paar Schritte nebeneinander her.
„Luc, weißt du eigentlich, was für eine geile Familie du hast? Ich fühle mich einerseits gerade ganz toll, aber andererseits auch sehr traurig.“
„Ja, ich weiß mittlerweile wirklich, was ich für eine tolle Familie habe. Ich bekomme immer Unterstützung. Das ist echt cool. Aber warum bist du traurig? Du hast doch gesehen, dass mein Papa gut drauf ist und dich gut akzeptiert.“
„Genau das ist der Grund, ich merke gerade, was ich alles versäumt habe und wie beschissen mein Leben ist. Manchmal denke ich, ich sollte einfach Schluss machen. Was macht das alles noch für einen Sinn?“
Ich erschrak, was sollte das denn jetzt.
„Hey, hör auf an so etwas zu denken. Gerade jetzt geht es doch endlich vorwärts. Bitte sag nicht so etwas. Ich will nicht um dich Angst haben.“
Ich hielt ihn jetzt an beiden Armen fest und wir standen direkt voreinander. Er schaute mir in die Augen. Was für ein Moment.
„Hast du mich verstanden, bevor du so etwas wieder denkst, rufst du mich an. Sofort! Ist das klar?“
Ich war fast wütend und panisch. Stef bemerkte meine Angst. Er kam mir näher und dann fiel er mir um den Hals und wir umarmten uns ganz fest. Das fühlte sich großartig an. Stef entspannte sich und wir blieben noch eine ganze Zeit so stehen. Es war mir egal, was die Leute denken würden, für mich fühlte sich das richtig an.
„Weißt du eigentlich, was du für mich bedeutest, Luc? Niemand hat sich bislang so um mich gekümmert, ohne einmal nach dem warum zu fragen.“
„Das `WARUM` ist mir noch völlig egal. Ich weiß, dass Freunde sich helfen müssen und wir sind Freunde. Also vertrau uns einfach. Wir werden für euch beide eine Lösung finden, die euch beide eine Zukunft bietet. Ich fühle das.“
Was dann passierte, war auch für mich überraschend. Stef löste sich einen Moment aus der Umklammerung und gab mir mit einem ganz leisen „Danke“ einen Kuss auf die Wange.
Es war ein schönes Gefühl. Wir gingen wieder zurück und ich hatte meinen Arm um seine Schulter gelegt. Das tat uns beiden gut und somit setzten wir uns wieder zu den anderen an den Tisch. Nur Papa und Mick hatten uns bemerkt und genau beobachtet. Papa gab mir mit seinen Augen zu verstehen, dass er es gut fand, wie ich mit Stef umging.
Karl bat einige Minuten später um Ruhe. Er wollte etwas besprechen.
„Marc, zuerst einmal freuen wir uns sehr, dass du mal wieder in München bist und wir zusammen sitzen. Dein Sohn hat damit auf jeden Fall schon einmal seine Aufgabe erfüllt.“
Das löste bei allen große Erheiterung aus.
„Aber ich habe noch eine Sache, die ich mit Dir und am besten auch mit Luc besprechen möchte. Ich würde euch daher bitten, dass wir zu uns in die Firma fahren. Alles Weitere dann dort.“
Papa schien erstaunt und wusste in diesem Moment überhaupt nicht, was kommen würde. Mick und Lukas schalteten am schnellsten und entschieden daher:
„Also wenn das so ist, dann brechen wir alle zu Dir in die Firma auf, und wenn das dort geklärt ist, fahren wir wieder gen Heimat. Wir müssen morgen wieder in der Uni sein und haben noch etwas Strecke vor uns.“
Karl lachte und ich sah bei Stef Unsicherheit im Gesicht.
„Aber Stefan und Mario kommen auch mit. Da bestehe ich drauf“, sagte ich sehr bestimmend. Barbara lachte nun richtig laut, Karl grinste und erwiderte:
„Natürlich, es war mir schon klar, dass du nicht ohne Stefan gehen würdest. Also dann, alle Mann und Frau einsteigen und abfahren.“
Mario kam zu mir und flüsterte mir etwas ins Ohr:
„Wie soll das mit dem Bezahlen sein? Wir haben hier doch mit euch gegessen und getrunken.“
Ich musste ihn wohl sehr verdutzt angesehen haben, denn er wich gleich ein paar Zentimeter zurück. Ich musste jetzt lachen.
„Mario, wenn ich mich richtig erinnere, hat Papa alle zum Brunch eingeladen. Und wenn er sagt alle, dann meint er auch alle. Also vergiss das Geld und komm mit.“
Das hatte gesessen, er schüttelte ein wenig mit dem Kopf und schmunzelte dann.
„So langsam verstehe ich, was du über deine Familie mal gesagt hattest. Ich beneide dich wirklich.“
„Du sollst mich nicht beneiden, ihr sollt beide an unserer Familie teilhaben. Also los, lass uns gehen. Die anderen warten schon.“
Stefan wartete auf uns am Ausgang und die anderen waren schon zu ihren Autos gegangen. Ich erklärte Mario und Stefan, dass ich mit Papa fahren möchte. Sie sollten doch bitte schon mal vorfahren. Stefan fand das nicht so toll, aber ich beruhigte ihn und versprach sofort nachzukommen.
Ich sagte noch Karl kurz Bescheid und dann fuhren sie alle schon in Richtung Firma. Papa war noch die Rechnung begleichen und kam anschließend zu mir. Er legte mir seinen Arm um die Schulter und so gingen wir in die Tiefgarage zum Auto.
„Luc, ich muss sagen, du hast einen guten Instinkt. Ich bin ganz deiner Meinung, sowohl Mario als auch Stefan sind nette Jungs. Sie haben auf mich einen sehr angenehmen Eindruck gemacht. Was war denn da draußen los, als du mit Stefan hinausgegangen warst?“
Also es war doch immer wieder erstaunlich, wie Papa das mitbekommen konnte.
„Ach, Stef hatte ein schlechtes Gewissen und war sehr traurig, dass er keine solche Familie hat. Er hat mir erzählt, wie schön dieser Tag für ihn bislang war.“
„Aber …? Komm Luc, mach mir nichts vor. Da ist noch mehr passiert. Du warst sehr aufgewühlt, als ihr zurückgekommen seid.“
„Also gut, aber das behältst du für dich, ok?“
„Versprochen!“
„Er hat mir erzählt, dass er manchmal daran denkt, das Leben zu beenden und es ja eh alles keinen Sinn macht.“
Leider hatte ich nicht damit gerechnet, dass mich dieser Satz, emotional so umhauen würde. Mir versagte die Stimme und ich musste schlucken. Papa spürte das sofort und blieb mit mir vor dem Auto stehen. Er nahm mich ganz fest in den Arm und redete beruhigend auf mich ein. Einige Augenblicke später hatte ich mich gefangen. Papa sah mich an.
„Du magst ihn sehr, oder? Er ist für dich ein Freund geworden. Und du fühlst dich für ihn mitverantwortlich.“
Ich nickte nur, reden war mir nicht möglich. Papa streichelte mir über den Kopf und bat mich einzusteigen.
„Hast du eigentlich eine Ahnung, was Karl uns zeigen möchte? Er tat so geheimnisvoll.“
„Nein, Papa, ich habe auch keine Ahnung. Aber so wie ich ihn einschätze, hat er sich etwas ausgedacht. Warten wir mal ab.“
Papa lachte und dann fuhren wir aus der Tiefgarage. Auf dem Weg zur Firma sprach er nicht viel, nur ein Satz blieb mir im Gedächtnis.
„Luc, eines verspreche ich dir, wenn wir den beiden helfen können, werden wir das tun. So wie du das auch von uns erwartest, wenn du in Schwierigkeiten wärst. Du hast ihnen einfach deine Hilfe gegeben und dafür zwei neue Freunde bekommen. Das ist das, was zählt. Also mach dir nicht zu große Sorgen, wir werden für beide eine Lösung finden. Das verspreche ich dir.“
„Danke, Papa.“
Er legte seine Hand auf meinen Oberschenkel und da war es wieder, dieses unglaubliche Gefühl der Sicherheit. Papa wusste sehr genau, wie ich fühle. Das tat mir einfach gut. Ich bekam ein sicheres, gutes Gefühl, dass heute nichts mehr schiefgehen würde. Also fuhren wir mit diesem guten Gefühl zur Firma. Wir betraten die Halle und alle anderen waren bereits dort. Mick und Lukas waren mit Mario bereits auf einem Rundgang. Stefan wartete auf mich und kam gleich zu mir. Karl nahm uns direkt mit in eine hintere Halle. Dort kam auch Mario mit meinen Brüdern hin. Mitten in der Halle stand ein in eine graue Plane gehülltes Auto. Was sollte das jetzt?
Karl ging zu der Plane und begann:
„So, ihr Lieben, ich habe mir Gedanken gemacht, wie Luc zu seinem Wunschauto kommen könnte. Also für den Sommer wolltest du ja ein altes Cabrio haben. Ich habe mal meine Verbindungen genutzt und dir hier das passende Objekt besorgt, so dass du in zwei Jahren auch tatsächlich damit fahren kannst.“
Mit diesen Worten riss er die Plane herunter und wir sahen ein altes und staubiges 67er Camaro Cabrio. Es sah auf den ersten Blick nicht besonders gut aus, aber Papa schaute sofort sehr interessiert hin. Er ging gleich auf die Karosserie zu und öffnete alle Türen und Hauben. Der Motorraum war leer. Das enttäuschte mich dann doch sehr. Mario hingegen war total begeistert, auch Papa hatte schnell ein Lächeln im Gesicht. Er drehte sich zu mir um.
„Komm, Luc. Schau dir das Kunstwerk einmal an. Original Cabrios aus dem Baujahr sind Raritäten. Und dieser Schatz hat eine tolle Substanz. Kaum Rost und vor allem alle Teile scheinen vorhanden. Außer dem Motor und Getriebe.“
Ich verstand noch nicht ganz, was hier passierte. Wollte sich Papa ein neues Objekt zur Restaurierung zulegen? Ich ging also zu ihm und er zeigte mir wirklich alle Stellen, die bei diesem Objekt wichtig und oft leider auch unter Rost zu leiden hatten.
„Warum zeigst du mir das alles? Ich habe doch eh keinen Einfluss auf deine Objekte. Klar, es ist ein sehr schönes Auto, oder besser gesagt, es könnte mal ein wunderschönes Auto wieder werden.“
Jetzt mischte sich Karl ein.
„Marc, er hat es noch nicht begriffen. Vielleicht sollten wir ihm etwas auf die Sprünge helfen.“
Jetzt war meine Verwirrung vollends perfekt. Man konnte es meinem Gesicht vermutlich ansehen, denn Papa nahm mich nun in den Arm und stand mit mir direkt vor dem Fahrzeug.
„Also, mein Sohn, Karl hat mir von einem Gespräch berichtet, in dem du sagtest, du würdest gerne ein altes Cabrio für den Sommer haben wollen. Daraufhin hatte er mit mir telefoniert und mich gefragt, ob er für dich nicht ein Objekt suchen sollte, dass wir gemeinsam restaurieren könnten.“
Jetzt war meine Gelassenheit vollends verschwunden. Ich wollte noch etwas sagen, aber Karl ließ das erst gar nicht zu.
„Schau mal, Luc, du hast Talent und auch Spaß an der Schrauberei. Außerdem hast du ein Faible für meine Ami-Schlitten. Das freut mich natürlich. Deshalb möchte ich, dass du dieses Auto bekommst, um es hier und später in der Schweiz in Ruhe zu restaurieren. Wenn du dann deinen Führerschein gemacht hast, kannst du ein bildschönes Cabrio fahren. So wie du es dir gewünscht hast. Wir finden, außerdem wäre das eine gute Gelegenheit, auch in Zukunft deine Ferien hier zu verbringen. Zumal ich mindestens noch eine andere Person kenne, der das gut gefallen würde.“
Jetzt schauten alle zu Stefan, der überhaupt nicht begriffen hatte, dass von ihm die Rede war. Allerdings mussten alle laut lachen. Ich wurde sowas von rot im Gesicht. Papa rettete mich aus der Situation.
„Karl, was denkst du. Was soll diese Rohbaustelle noch kosten? Ich finde es bildschön. Das soll für meinen Sohn das richtige Auto werden.“
Karl schüttelte den Kopf und sagte:
„Also gut, ich möchte ja, dass Luc hier noch häufiger arbeitet und mich unterstützt. Mario und Stefan finden das bestimmt auch nicht verkehrt, oder?“
Beide schüttelten lachend den Kopf, ein lustiger Anblick.
„Deshalb möchte ich diese Baustelle Luc schenken. Alles was an Teilen noch gebraucht wird und neu gekauft werden muss, wäre dann eure Aufgabe. Wir helfen bei der Teilesuche und sicherlich wird Mario hier auch mit Rat und Tat helfen. Wir haben ja noch zwei Jahre Zeit, in Ruhe daran zu arbeiten. Was meinst du, Luc? Gefällt dir das?“
Mein Gehirn lief gerade auf Störung und deshalb schaute ich Papa fragend an.
„Papa?“
Er hingegen lachte nur und meinte:
„Ja oder nein?“
Plötzlich hörte ich Stefan rufen:
„Sag jetzt nichts Falsches, Luc.“
Ich musste lachen, dann bekam ich meinen Kopf in den Griff und sagte laut und deutlich:
„Ja, ich will.“
Was nun kam, war so typisch für Karl. Er setzte ein feierliches Gesicht auf und sagte:
„Also gut, damit erkläre ich Luc Maergener und das Camaro Cabrio hiermit für Mann und Frau. Bis das der TÜV euch scheidet.“
Alle anderen brüllten vor Lachen. Was für ein Text! Ich lag lachend und prustend bei Stef im Arm und die Stimmung war grandios. Barbara hatte passend dazu ein Tablett mit Sektgläsern mitgebracht und somit stießen wir auf mein Zukunftsprojekt an.
Als der Sekt geleert war und wir noch vor dem leeren Camaro standen, kam Stef zu mir und strahlte über das ganze Gesicht.
„Luc, ich finde das Auto so cool. Aber viel besser finde ich, dass du nun doch in den Ferien häufiger hier bist und wir uns sehen können. Vielleicht darf ich dir ja auch mal bei dem Auto helfen.“
Er umarmte mich und ich erwiderte seine Zuneigung. Wir freuten uns beide. Papa stand hinter uns und unterhielt sich mit Mick und Lukas, die bereits im Begriff waren, nach Hause aufzubrechen. Mick ging auf Mario zu und ich konnte nur nebenbei mitbekommen, dass er Mario zu ihnen eingeladen hatte. Das freute mich ungemein, endlich würde Mario auch mal auf andere Gedanken kommen und nicht immer nur an die Probleme denken müssen.
Wenige Minuten danach verabschiedeten sich Mick und Lukas. Ich umarmte beide noch einmal sehr intensiv. Ich war traurig, dass ich sie wieder für eine längere Zeit nicht sehen würde. Papa hatte noch ein paar Bilder gemacht, damit Leif und Mama zu Hause auch etwas mitbekommen würden.
Mario stand mittlerweile bei Karl und unterhielt sich mit beiden Geigers, es machte den Anschein, als ob Mario sie etwas gefragt hatte, denn Karl machte einen nachdenklichen Eindruck. Ich wollte mich jetzt nicht einmischen und blieb bei Papa und Stef.
„Sag mal, Stefan“, begann Papa ein Gespräch, „auf welche Schule gehst du eigentlich?“
„Ich gehe auf eine städtische Realschule in die achte Klasse. Aber ich habe im Moment große Schwierigkeiten, die Klasse zu schaffen. Ich habe zu oft gefehlt.“
Ich konnte sofort sehen, wie weh ihm das tat. Es war ihm peinlich.
„Es ist doch im Moment vollkommen egal, wie deine Noten sind. Es ist viel wichtiger, dass du überhaupt wieder regelmäßig zur Schule gehst. Alles andere wird die Zeit bringen. Du musst jetzt Geduld haben. Außerdem kann dir Luc sicher auch helfen. Luc ist recht gut in der Schule und so wie ich das sehe, werdet ihr euch bestimmt nicht streiten.“
Dabei lachte Papa Stef direkt an und das half ihm, seine ängstliche Haltung sofort aufzugeben. So sah er auch viel besser aus.
„So, wie sieht denn die weitere Planung für heute aus? Mario fährt sich eine Wohnung ansehen und Karl und Barbara müssen noch im Büro etwas arbeiten, war das richtig?“
Wieder so eine typische Art von Papa. Er hatte immer einen guten Überblick über das, was als Nächstes kommen würde. Karl bestätigte ihm das und somit hatten Papa, Stef und ich den restlichen Tag noch zur freien Verfügung. Papa würde erst Montagmittag zurückfahren.
„Was meint ihr beiden Helden? Sollen wir drei ein wenig die Gegend unsicher machen? Wir haben noch den ganzen Sonntag Zeit. Erst zum Abendessen müssen wir wieder zusammenkommen.“
„Es gibt da ein Problem. Mario hat extra eingekauft und wir drei wollten zusammen für euch alle etwas kochen. Aber wenn du möchtest, Papa, kannst du uns gerne helfen.“
„Das ist eine richtig gute Idee. Es gibt nur ein Problem, in meinem Auto können nur zwei Personen mitfahren.“
Das war Karls Einsatz.
„Ist kein Problem. Du nimmst meinen Hummer und ich nehme deinen Ferrari. Dann geht es wieder. Was meinst du dazu?“
Papa nickte sofort zustimmend. Und so wurde es auch gemacht. Stef, Papa und ich fuhren nach Hause und wollten schon einmal mit den Vorbereitungen beginnen. Mario würde dann zu uns stoßen. Wir saßen in Karls Panzer und rollten durch Münchens Straßen. Stef schaute immer wieder staunend aus dem Fenster. Plötzlich fragte er Papa:
„Herr Steevens, haben Sie eigentlich keine Angst um ihren teuren Ferrari? Sie geben den einfach so aus der Hand.“
Papa lachte und an einer Ampel drehte er sich zu Stef.
„Nein, es ist nur ein Auto. Sicher, es ist sehr wertvoll, aber dieser Hummer ist auch kein Billigangebot. Außerdem weiß ich, dass Karl damit umgehen kann. Also ist das doch die beste und einfachste Lösung. Karl denkt ähnlich pragmatisch wie ich. Deshalb verstehen wir uns auch so gut.“
Die Ampel wurde grün und wir rollten in die Kreuzung ein, wir mussten links abbiegen. Papa achtete auf den Verkehr, während ich mich mit Stef weiter unterhielt. Solange er nicht an seine bescheidene Situation denken musste, machte Stef einen fröhlichen Eindruck. Ich hatte den Eindruck, er war längst nicht mehr so ängstlich.
„Was wollt ihr eigentlich heute Abend kochen? Müssen wir noch etwas besorgen?“
„Mario hatte eigentlich alles eingekauft, oder was meinst du, Stef?“
„Müsste alles da sein. Wir wollten Chili con Carne machen. Das ist für mehrere Personen gut zu machen. Oder mögen Sie das nicht, Herr Steevens?“
„Oh doch, das ist auch bei uns sehr beliebt. Wir müssen nur immer Rücksicht auf Leif und Lucs Mama nehmen, weil die es nicht so scharf mögen.“
„Also Sie mögen es auch eher etwas schärfer?“
„Schon, aber es muss noch nach etwas schmecken und nicht nur scharf.“
Stef musste lachen, was für ein gutes Gefühl, ihn immer häufiger wieder lachen zu sehen und zu hören.
Wenige Minuten später hatten wir den Hummer in der Einfahrt geparkt und waren ins Haus gegangen. Ich freute mich, denn es war auch für mich immer noch ein besonderes Erlebnis, mit Papa gemeinsam zu kochen. Stef und ich bereiteten die Küche vor und Papa wollte noch zu Hause anrufen. Ich stand mit Stef an der Arbeitsplatte und hatte schon mal damit begonnen, die Zwiebeln zu schälen, als Papa in die Küche kam und mir sein Handy in die Hand drückte.
„Deine Mama, sie möchte dich auch mal sprechen.“
Ich nahm das Handy und Mama freute sich hörbar, dass sie mit mir sprechen konnte. Es wurde das übliche Mutter Sohn Gespräch, lediglich als Leif auch noch ans Telefon kam, wurde es noch einmal lustig. Er fragte mich natürlich wieder nach dem Münchner Nachtleben aus und ob ich denn schon ein nettes bayrisches Mädel kennengelernt hätte. Ich verneinte und nebenbei fragte Stef, ob er das Gehackte schon in die Pfanne legen sollte.
„Mit wem bist du denn noch in der Küche, außer Papa?“, wollte Leif nun wissen.
„Stef, mein neuer Freund, den ich hier ja kennengelernt habe. Wir wollen zusammen kochen für die anderen.“
„Und du meinst, du kannst das, kleiner Bruder?“
Das war auch wieder so typisch für Leif. Je älter er wurde, desto ätzender konnte er werden. Immer nur provozieren. Eigentlich war er aber harmlos.
„Im Gegensatz zu dir muss ich nicht verhungern oder mich ständig mit ungesunden Burgern vollstopfen.“
Papa hatte das gehört und zeigte mir seinen Daumen hoch, ich nahm das zum Anlass, Leif noch ein wenig mehr zu ärgern.
„Außerdem kann ich bald mein eigenes Auto bauen, du kannst ja nicht mal einen Nagel in die Wand hauen.“
Da brachen Papa und Stef in lautes Gelächter aus. Leif hingegen schwieg und legte auf. Ich würde sagen, Treffer und versenkt.
„Mensch Luc, du wirst ja immer lockerer. Das gefällt mir gut. Lass dich von Leif nicht immer so ärgern.“
Papa klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Stefan hingegen sah mich mit fragendem Blick an.
„Warst du denn mal nicht so selbstbewusst? Ich meine, ich kenne dich nur so, wie du jetzt bist und ich denke manchmal, so möchte ich auch gern mal sein.“
„Nein, Stef, es gab auch mal andere Zeiten, sehr dunkle Zeiten. Da möchte ich jetzt aber nicht drüber reden. Lass uns lieber mit dem Essen vorbereiten weiter machen.“
Er nahm es so hin, wobei Papa schon genau hinschaute. Er stellte Stef eine Frage:
„Weißt du eigentlich schon, wie Luc und ich uns kennengelernt haben?“
„Ja, er hat es mir mal kurz erklärt. Ihr hattet euch beim Metzger getroffen. Und er wollte ein Autogramm von Ihnen haben.“
Verdammt, Papa, bitte nicht die ganze Geschichte erzählen. Wie peinlich wäre das nur. Aber Papa hatte anderes im Sinn. Er erzählte die ganze Geschichte, leider auch die Tatsache, dass wir meinetwegen sogar eine Pause auf dem Heimweg machen mussten. Ich konnte zu der Zeit keine 300 Meter ohne Pause gehen. Stef sah mir dir ganze Zeit ins Gesicht, während Papa diese Geschichte erzählte. Als er fertig war, wusste Stef nicht, wie er reagieren sollte und ich wäre am liebsten im Boden versunken.
„Warum warst du damals so schlapp? Warst du an dem Tag krank?“
Mir war das dermaßen unangenehm, ich wollte ihn damit nicht belasten, aber Papa war auch hier anderer Meinung.
„Nein, Stefan, Luc war damals nicht nur an dem Tag krank. Er hatte ein ganzes Jahr im Krankenhaus verbracht und war gerade eine Woche wieder zu Hause. Er war sehr schwer krank und ich wusste es damals auch noch nicht. Ich habe es erst von seiner Mutter erfahren, als ich ihn dann nach Hause begleitet hatte.“
„Wie - schwer krank? Hattest du einen Unfall?“
Ich sah Papa an und er nickte mir zu. Na gut, wenn es sein musste.
„Nein Stef, ich hatte Leukämie und wäre fast gestorben. Erst kurz bevor ich Marc getroffen hatte, wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen mit einer guten Prognose. Ohne die Knochenmarkspende würde ich heute allerdings nicht mehr leben.“
Es überrollte mich jetzt einfach. Ich konnte es nicht mehr verhindern, aber mir schossen die Tränen in die Augen und ich fühlte mich so bescheiden. Bevor Papa auch nur eine Reaktion zeigen konnte, stand Stef neben mir und tröstete mich. Er hatte mich in den Arm genommen und streichelte mir über den Rücken und das Gesicht. Papa hielt sich im Hintergrund. Es dauerte auch nicht lange und ich hatte mich wieder gefangen. Papa hatte wohl auch nicht mit so einer starken Reaktion gerechnet. Es war ja auch mittlerweile einige Jahre her, aber ich konnte mich nicht dagegen wehren.
„Luc, es tut mir leid. Ich dachte nicht, dass es immer noch so schwer für dich ist. Aber ich dachte, es wäre nur fair, wenn Stefan es erfährt.“
Ich nickte Papa stumm zu, Stef wich mir nicht von der Seite und war richtig besorgt. Er wollte sogar allein weiter kochen und ich sollte mich erst einmal hinsetzen, aber das musste auch nicht sein. So war nach einigen Minuten auch wieder alles normal. Aber das Gefühl, wie Stef mir geholfen hatte, das war schon sehr schön gewesen.
Die weiteren Vorbereitungen verliefen dann auch wieder viel fröhlicher und Stef alberte sogar mit Papa ein wenig herum. Wer hätte das heute Morgen gedacht? Ich freute mich unheimlich über Stefs Lachen und Toben. Wir räumten noch die Küche wieder auf und warteten dann nur noch auf die anderen. Eigentlich wollte ja Mario auch mit uns kochen, aber er musste doch länger in der Wohnung warten, als es geplant war.
Papa saß mit mir am Tisch und Stef hatte für einen Moment die Küche verlassen.
„Du solltest deinen Freund zu uns in die Schweiz einladen, mein Sohn.“
Das Erstaunen über diese direkte Aufforderung war groß.
„Wie kommst du gerade jetzt darauf?“
„Ich sehe, wie ihr miteinander umgeht. Das machen nur sehr enge Freunde. Es wird dir und auch ihm gut tun, wenn er mal zu uns kommt. Dann sieht er auch mal eine andere Umgebung und ihr seid bei uns ungestört und könnt euch frei bewegen.“
„Aber wie soll das gehen? Das wird für ihn nicht zu bezahlen sein. Bahnfahren ist unverschämt teuer.“
Ich hatte diese Aussage ernst gemeint, während Papa anfing zu lachen:
„Ja, das ist allerdings richtig. Ich mache dir einen Vorschlag, bis morgen Mittag bleibe ich noch in München. Wir beide haben morgen noch einen Termin bei euch in der Werkstatt. Bis dahin möchte ich, dass du dich erkundigst, was eine Bahnfahrt kostet und was ein Wochenendflugticket kostet. Dein Flugticket nach Hause hat auch nicht viel mehr als ein Bahnticket gekostet, vielleicht gibt es ja auch noch was Günstigeres.“
„Und dann? Er wird beides nicht bezahlen können.“
„Ach, Luc, sei doch nicht so negativ. Glaubst du, ich bin blöd? Ich habe es begriffen, was er für dich bedeutet und was du für ihn bist. Also was ist die Aufgabe guter Eltern? Ihren Kindern zu helfen. Da Stefans Eltern das nicht tun, müssen wir das machen. Also komm, mach dich an die Suche und lass es Stefan noch nicht wissen. Falls das nicht klappt, wäre er sehr enttäuscht. Kümmere du dich um die Reise und den Termin und alles andere machen Karl und ich. Deal?“
Ich war perplex. Immer wieder schaffte es Papa, mich aus dem Konzept zu bringen. Ich war völlig sprachlos und schaute ihn mit großen Augen an. Papa nahm mich ganz fest in den Arm und sagte mir leise ins Ohr:
„Luc, es ist richtig, was du machst. Lass dich von deinen Gefühlen leiten. Wir unterstützen dich.“
Dann gab er mir noch einen kleinen Kuss auf die Wange. Das tat er nicht so oft.
Stef kam wieder in die Küche und sagte uns, dass Mario jeden Moment kommen würde. Er wäre sehr aufgeregt gewesen.
„Hat er was gesagt, ob ihr die Wohnung bekommt?“
„Nein, Luc. Er wollte nichts sagen. Ich bin gerade sehr aufgeregt. Vielleicht klappt das ja doch und dann würde ich den Geigers nicht mehr zur Last fallen.“
„Blödsinn!“, unterbrach Papa ihn sofort.
„Du fällst hier niemandem zur Last. Ich kenne die beiden schon recht lange, sie machen das gerne und würden es jederzeit wieder tun. Allerdings gebe ich dir recht, ihr müsst wieder einen Bereich bekommen, wo ihr zur Ruhe kommen könnt.“
Stef setzte sich zu mir und wurde sehr nachdenklich. Er sah mich an und überlegte einen Moment.
„Weißt du, Luc, ich denke gerade daran, was wohl sein wird, wenn du in einer Woche nicht mehr hier sein wirst. Ich habe Angst, dann wieder ganz allein zu sein. Was wird mit meinen Sachen und meinen Eltern? Immer wenn ich mit dir zusammen etwas machen kann, muss ich nicht an den ganzen Mist denken.“
Ich legte meinen Arm um seine Schulter. Nach kurzem Zögern legte er seinen Kopf auf meine Schulter und er entspannte sich spürbar in meinen Armen. Ich blickte zu meinem Papa, der mich anlächelte und dann die Küche für einen Moment verließ. Ich bekam eine Gänsehaut.
Ich hörte, wie Papa für Mario die Tür öffnete. Plötzlich spürte ich Stefs Atem an meinem Gesicht. Er flüsterte mir etwas in mein Ohr:
„Danke, Luc. Ich bin so glücklich, dich als Freund zu haben.“
Ich streichelte wortlos seinen Rücken, dann lösten wir uns voneinander. Es musste nicht noch peinlicher werden, wenn Mario hereinkam. Papa war ja schon extra hinausgegangen.
Allerdings fühlte es sich für mich richtig an. Ich hatte ein gutes Gefühl, mit Stef auch mal zu kuscheln und ihm Nähe zu geben.
Nachdem auch Karl und Barbara wieder zurück waren, konnte das Abendessen beginnen. Mario war es sichtlich unangenehm, dass er nicht wie vereinbart mit uns gekocht hatte. Papa hatte eine eigene Art, ihm das auszureden.
„Mario, du hast doch eine viel wichtigere Aufgabe gehabt. Das Essen haben wir auch so hinbekommen, dein Bruder kann mittlerweile recht gut kochen. Das Ergebnis sieht und schmeckt man hier.“
Alle anderen stimmten sofort zu. Es hatte allen geschmeckt und Stef wurde ein wenig rot. Papa fuhr dann fort:
„Jetzt möchten wir aber wissen, was hast du denn erreicht mit der Wohnung?“
Mario stellte sein Glas auf den Tisch und holte tief Luft.
„Ja, wie soll ich anfangen. Es waren drei Bewerber dort, alle vom Jugendamt dorthin bestellt. Es ist eine städtische Wohnung, sie ist ungefähr 65m² groß und hat zwei Zimmer, eine kleine Küche und ein Bad. Dazu einen kleinen Balkon. Die Wohnung liegt im dritten Stock.“
„Das hört sich doch erst einmal sehr vielversprechend an“, meinte Karl.
„Ja, eigentlich schon. Sie liegt auch relativ gut für Stef, wegen der Schule. Mit der Straßenbahn ist es nur eine viertel Stunde Fahrt. Allerdings gibt es einen entscheidenden Haken. Die Miete.“
Papa ließ keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit:
„Mario, die Miete wird später Thema sein. Die Frage ist doch, könnt ihr die Wohnung haben oder ist sie schon vergeben?“
Mario schaute Papa ziemlich erstaunt an und wusste einen Moment gar nicht, was er sagen sollte. Allerdings hielt das nur kurz an, denn auch Stef wurde jetzt ungeduldig. Mario berichtete dann noch von dem Rundgang in der Wohnung und dem Gespräch mit dem Vermieter. Zum Schluss allerdings verkündete er die Entscheidung, dass sich das Jugendamt für ihn entschieden hatte, insbesondere wegen Stefans Situation. Allerdings gab es ein Problem. Mario hat ein geregeltes Einkommen und muss sich an den Kosten für die Miete beteiligen. Als Karl und Papa dann die Aufrechnung lasen, wurden sie richtig ärgerlich.
„Leute, das kann doch nicht richtig sein. Jemand, der in der Ausbildung ist und sich um seinen kleinen Bruder kümmern will, weil die Eltern versagen, kann sich eine kleine Wohnung nicht leisten. Daran scheitert eine sinnvolle Unterbringung? Das darf ja nicht wahr sein.“
Karl tobte förmlich über diese Tatsache. Papa hingegen blieb relativ ruhig. Ich konnte bei Stef eine große Enttäuschung spüren. Mario war auch sehr niedergeschlagen. Papa übernahm jetzt das Zepter, ich konnte förmlich an seinem Gesicht erkennen, dass er eine Lösung parat hatte.
„Bis wann musst du dich entschieden haben, diese Wohnung zu nehmen?“
„Ähm, bis Dienstag. Warum? Sie ist nicht zu bezahlen.“
„Warte doch mal, Mario. Lass uns doch mal gemeinsam überlegen. Du bist in wenigen Wochen fertig mit deiner Ausbildung, das ist doch richtig, oder?“
„Ja, in zwei Monaten sollten alle Prüfungen vorbei sein.“
„Gut. Karl, habe ich das gestern richtig verstanden, du möchtest Mario anschließend gerne übernehmen?“
Ich schaute zu Karl, dessen Gesicht entspannte sich zusehends. Ich hatte den Eindruck, er hatte verstanden, worauf Papa hinaus wollte.
„Ja, auf jeden Fall. Das weiß Mario auch bereits. Ich gehe davon aus, dass Mario bei uns bleibt und einen Vertrag bekommt. Wie alle, erst einmal auf ein Jahr befristet und wenn es uns beiden immer noch gut gefällt, dann einen unbefristeten Vertrag.“
„Und Mario, willst du denn auch bei Geiger Cars bleiben oder hast du dir etwas anderes überlegt?“
„Nein, Herr Steevens, ich würde wirklich sehr gern bei den Geigers bleiben. Aber kann mir jetzt mal …“
Weiter kam er nicht, Barbara unterbrach ihn.
„Bleib ruhig, Mario. Marc wird es bestimmt gleich erklären.“
„Danke, Barbara. Ich habe mir Folgendes überlegt. Du brauchst doch jetzt nur eine Übergangslösung bis zum Ende deiner Ausbildung. Dann kannst du die Wohnung finanzieren. Außerdem bekommst du dann auch das gesamte Kindergeld für Stefan. Er lebt ja dann richtig bei dir. Da habe ich mir überlegt, wir reden von maximal vier Monaten. Ich mache jetzt folgenden Vorschlag. Zwei Monate übernehme ich den Differenzbetrag und zwei Monate Karl. Wenn du dann dein volles Gehalt bekommst, kannst du dieses Geld in kleinen Raten an Karl zurückzahlen. Karl was meinst du dazu?“
Karl konnte nicht schnell genug antworten, denn Barbara hatte schon entschieden.
„Eine tolle Idee. Warum sind wir da nicht drauf gekommen? Genauso machen wir das! Oder, Karl?“
„Das ist aber nett, dass ich auch noch mal gefragt werde. Aber ja, das ist eine gute Idee. Ich bin dafür, dass wir das so machen.“
Mario hatte noch nicht richtig begriffen, dass damit alle Wohnungssorgen mit einem Mal erledigt waren. Er schaute sehr ungläubig.
„Meint ihr … das ernst?“
„Natürlich, damit beliebe ich nicht zu scherzen“, erwiderte Papa mit einem Grinsen.
„Los, du rufst sofort bei dem Vermieter an und sagst diese Wohnung zu. Bevor noch etwas passiert.“
Mario dachte glücklicherweise nicht weiter nach und ging ins Wohnzimmer und telefonierte mit dem Vermieter und klärte die Formalien. Also damit war es amtlich. Mario und Stef würden in eine gemeinsame Wohnung ziehen. Und das schon sehr bald. Das war ein großartiges Gefühl und ich umarmte Stef einfach vor Freude. Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange, ohne daran gedacht zu haben, dass wir ja alle in der Küche saßen und es alle gesehen hatten. Egal, mir war danach, es gab auch keine Reaktionen darauf.
Es dauerte auch nicht mehr lange und der Tag ging zu Ende. Morgen war wieder Montag und meine letzte Woche des Praktikums würde beginnen. Papa fuhr zurück in das Hotel und Mario wollte Stef in seine Gruppe zurückbringen. Doch bevor Stef in Marios Auto stieg, kam er noch einmal zu mir und umarmte mich.
„Vielen Dank für diesen schönen Tag. Dein Vater ist wirklich toll. Ich denke manchmal, wann wache ich aus diesem Traum auf.“
„Es ist kein Traum. Du bekommst mit Mario eine eigene Wohnung und ich verspreche dir, dein Leben wird ab jetzt wieder mehr Freude machen.“
Wir standen voreinander und Mario wartete schon im Auto.
„Meldest du dich morgen? Oder kommst du mich noch einmal besuchen?“
„Auf jeden Fall rufe ich dich morgen Abend an. Dann schauen wir, wann ich noch einmal vorbei kommen kann.“
„Danke, du bist wirklich ein toller Mensch, Luc. Weißt du das eigentlich?“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und deshalb hob ich die Hand und er schlug ein. Das war für heute unser Abschied.
Am Montag in der Firma
Der einzige Vorteil der momentanen Situation war, dass ich mit Mario zur Arbeit fahren konnte. Dadurch konnte ich eine halbe Stunde länger schlafen.
Wir saßen also in seinem Jeep und quälten uns durch den morgendlichen Berufsverkehr. Ich war ein kleiner Morgenmuffel und von daher morgens noch nicht sehr gesprächig. Mario war da schon anders.
„Luc, wissen die anderen Mitarbeiter eigentlich, dass Marc dein Vater ist? Oder wissen das nur Karl und ich?“
„Barbara auch, sonst keiner. Aber ich fürchte, es wird heute nicht mehr zu verheimlichen sein. Papa wollte ja in die Firma kommen. Ich glaube kaum, dass es danach jemand noch nicht weiß. Aber egal, die letzte Woche wird es nicht mehr so wichtig sein. Ich hoffe, ich habe bis heute zeigen können, dass ich mich bemüht habe.“
Mario schaute nun zu mir hinüber und musste lachen.
„Also das kann ich voll und ganz bestätigen. Wer das noch nicht bemerkt hat, dem ist eh nicht mehr zu helfen.“
„Wie meinst du das?“
„Na ja, die Kollegen, mit denen ich gesprochen habe, meinten alle, dass du einen richtig guten Eindruck hinterlassen hast. Und Herr Geiger wird dir nicht umsonst das Angebot gemacht haben, hier eine Ausbildung zu machen.“
„Danke, ich habe mir jedenfalls große Mühe gegeben und viel gelernt. Auch dank dir.“
„Ach, im Vergleich zu dem, was du für uns getan hast, ist das doch gar nichts. Ich habe Spaß, mit dir zu arbeiten. Du lernst schnell und bist geschickt. Da haben wir hier schon ganz anderes erlebt.“
Mittlerweile war die Firma in Sichtweite und so waren wir nach weiteren Minuten bereits dabei, uns den ersten Arbeitsauftrag zu holen. Ich ging zum Meister und er gab mir einen Auftragszettel mit einem Autoschlüssel. Damit ging ich zurück zu Mario. Wir schauten gemeinsam, was wir an Material brauchten und Mario ging das Auto holen, während ich mich ins Teilelager aufmachte.
Auf dem Weg dorthin begegnete ich Karl und wir wünschten uns gegenseitig einen guten Morgen. Karl war wie immer schon gut gelaunt am frühen Morgen. Er bat mich einen kurzen Moment stehenzubleiben.
„Luc, dein Vater kommt in zwei Stunden zu einer Besprechung. Ich werde mit ihm einen Rundgang durch die Firma machen und ihm etwas zeigen. Wir kommen dann zu euch und ich möchte, dass du dann einfach ganz normal mit deinem Vater umgehst. Es kann jetzt ruhig jeder wissen, wer du bist.“
„Ähm, ja, Karl. Ich hoffe, du hast Recht, ich möchte hier keinen Sonderstatus haben.“
„Sehr witzig. Mach dir darüber keinen Kopf. Ich kann sehr wohl entscheiden, wo ich unsere Praktikanten einsetze. Außerdem sind die wenigsten Azubis bereits in der Lage, allein am Geräusch ein kaputtes Getriebe zu erkennen. Also ich möchte, dass du nachher dich nicht verstellst, wenn dein Papa kommt.“
„Geht klar, ich werde nicht widersprechen.“
Karl gefiel meine Art zu antworten. Er grinste mich an und meinte:
„Luc, wenn du so weiter machst, werde ich dich sofort als persönlichen Chef Azubi verpflichten. Dann kannst du dein Abitur vergessen.“
Jetzt mussten wir beide laut lachen. Karl war ein toller Typ und ein sehr ungewöhnlicher Chef. Hier würde es mir wirklich Spaß machen zu arbeiten. Das war das Stichwort, ich hatte noch einen Auftrag zu erledigen. Ich verabschiedete mich von Karl und steuerte direkt das Lager an. Andy stand gerade am Terminal und tippte etwas in den Computer ein. Er schaute kurz hoch, als er mich bemerkte.
„Guten Morgen Lucien, na, was möchtest du diesmal haben? Hat Mario dich wieder auf die Reise geschickt?“
„Guten Morgen Andy, ja, wir brauchen Nachschub, sonst haben wir ja nichts mehr zu tun. Dann wird der Chef böse und die Stimmung ist im Keller. Das wollen wir doch nicht. Also gib mir bitte diese Teile von der Liste.“
Ich gab ihm die Teileliste und er schaute lächelnd auf das Papier. Es war schon toll, hier wurde immer mit einem Lächeln im Gesicht gearbeitet.
„So, dann wollen wir mal schauen, dass ihr wieder an die Arbeit kommt. Warte bitte einen Moment. Ich muss das gerade zusammenstellen.“
Er ging mit dem Zettel nach hinten in das riesige Teilelager. Einige Augenblicke später tauchte ein anderer Mechaniker auf, der ebenfalls eine Liste mit Teilen hatte. Er begrüßte mich freundlich und wir unterhielten uns einen Moment. Zu keinem Zeitpunkt hatte ich hier das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Alle Mitarbeiter waren immer nett und freundlich und erklärten mir bereitwillig alles, was ich wissen wollte.
Andy war mittlerweile zurück und hatte einen Rollwagen mitgebracht, der mit Kartons gefüllt war.
„Nimm am besten den Wagen mit. Wenn du nachher wieder kommst, bringst du mir den bitte wieder mit.“
„Super, danke Andy. Mache ich dann.“
Ich wollte schon gehen, aber Andy fragte mich noch:
„Hast du das schon mitbekommen? Ich glaube, wir bekommen heute Morgen noch besonderen Besuch. Der Chef hat für einen prominenten Kunden einen Wagen besorgt. Der soll heute noch umgebaut und anschließend gleich übergeben werden.“
Ich überlegte einen Moment, aber er konnte ja Papa nicht meinen, denn ich wusste nichts von einem neuen Auto. Also fragte ich:
„Echt, weißt du schon, welcher Promi denn kommt?“
„Ich glaube eine Rennfahrerlegende. Herr Geiger sprach von Marc Steevens. Das wäre echt eine tolle Sache, wenn so eine berühmte Person hier ein Auto bekommen würde.“
Ich musste mich sehr zusammenreißen, um nicht aufzufallen.
„Echt? Meinst du wirklich, dass so eine Legende einfach herkommt und sich ein Auto kauft?“
„Ich weiß nicht, aber hoffentlich kann ich ein Foto machen, so berühmten Besuch haben wir hier auch nicht jeden Tag.“
„Ach bestimmt. Du weißt ja, wann er kommt. Dann musst du nur aufpassen, dass er es nicht merkt. Manche Promis mögen das gar nicht. Oder frag ihn doch einfach.“
Andy lachte jetzt laut und ich nahm gut gelaunt meinen Wagen mit den Teilen und fuhr damit zurück zu unserem Arbeitsplatz. Allerdings wunderte ich mich schon ein wenig. Von einem neuen Auto hatte Papa mir gar nichts gesagt. Oder meinte Andy vielleicht den alten Camaro für mich? Egal, jetzt musste ich erst einmal mit Mario diesen Auftrag abarbeiten.
Ich stellte den Wagen an die Seite und legte die Teile richtig sortiert auf die Werkbank. Mario hatte den Wagen, einen Dodge Ram, bereits auf die Hebebühne gestellt. Er erklärte mir, was zuerst zu tun war und dann legten wir los. Ich durfte mittlerweile auch schon einige kleinere Sachen vollständig allein machen. Mario prüfte lediglich, ob ich alles korrekt ausgeführt hatte. Dadurch kamen wir schneller voran. Bei einer kurzen Pause fragte mich Mario:
„Luc, bevor du wieder zurückfährst, besuchst du Stef noch einmal? Er würde sich sehr freuen, glaube ich.“
„Natürlich besuche ich ihn noch vorher. Ich werde ganz sicher nicht einfach so wegfahren. Mal sehen, wie das am besten passt. Vielleicht am Mittwoch und ich möchte eigentlich, dass er am Freitag mit zum Flughafen kommt. Kannst du das vielleicht einrichten? Mein Flug geht abends um halb acht.“
„Ich werde mit Herrn Geiger sprechen, aber im Normalfall klappt das. Diese Woche habe ich ja keinen Spätdienst. Dann habe ich um halb drei Feierabend am Freitag. Wie du auch.“
„Das wäre echt toll. Ich möchte, dass ihr beide mitkommt. Irgendwie kann ich noch nicht so richtig glauben, dass dann schon die drei Wochen herum sind. Naja, noch ist ja eine Woche Arbeit zu tun.“
Damit wendeten wir uns wieder der Arbeit zu. Allerdings führten wir unsere Unterhaltung fort. Wir redeten über die Pläne des Umzuges und ich erzählte auch mal ein wenig von meinen Brüdern und meinen Freunden. Ich erklärte Mario, dass ich auch schon einige Sportarten ausprobiert hatte. Nebenbei erfuhr ich von Mario, dass er, seit er 15 war, immer nur noch zu Hause war, wenn es unbedingt sein musste. Er hat oft die Wochenenden bei Freunden verbracht. Seit er in der Ausbildung ist, hatte er nur noch zu Hause geschlafen. Er hatte auch nicht für möglich gehalten, dass Stef so schlimme Sachen erleben würde.
„Reichst du mir mal die Druckluftpistole. Ich muss hier mal etwas durchpusten.“
„Warte, soll ich das mal machen? Dann kannst du gleichzeitig schauen, ob die Leitung frei wird.“
„Das ist gut. Ja, mach das bitte.“
Innerhalb weniger Augenblicke war die verstopfte Treibstoffleitung wieder frei und wir montierten einen neuen Benzinfilter. Das Zusammenbauen der ganzen Benzinanlage war allerdings sehr aufwendig. Wir hatten etliche Leitungen wieder zusammenzusetzen und vor allem auch auf Dichtigkeit zu prüfen.
Als Mario nach etwa zwei Stunden die letzte Schraube festzog, gab er mir das Signal, den Motor zu starten. Nach kurzem Durchziehen des Anlassers sprang der Motor an und lief rund. Mario war zufrieden und wir konnten diesen Auftrag als erledigt abhaken.
„Gehst du einen neuen Auftrag holen, ich bringe das Auto weg.“
„Klar, wie immer also.“
Dabei schaute mich Mario verwundert an.
„Weißt du eigentlich Luc, ich habe mich echt schon an dich gewöhnt. Ich denke gar nicht mehr daran, dass du eigentlich nur ein Praktikant bist. Bekommst du die drei Wochen eigentlich bezahlt?“
„Nein, wo denkst du hin? Schülerpraktika werden in der Regel nicht bezahlt, im Gegenteil, die Reisekosten und Unterkunft müssen die Eltern auch bezahlen.“
„Echt? Das finde ich blöd, du kannst dir ja nicht aussuchen, ob du ein Praktikum machen willst oder nicht.“
„Naja, es ist ja schon im eigenen Interesse, aber ich hätte mir natürlich auch etwas in der Nähe aussuchen können. Und dass ich bei den Geigers wohnen darf, ist natürlich auch etwas Besonderes. Weißt du eigentlich etwas Schönes, womit ich den beiden eine Freude machen könnte? Ich möchte mich schon für die tolle Unterstützung bedanken.“
„Nein, aber ich überlege mal. Ich frage mal den Dieter, unseren Werkstattleiter. Er kennt die Geigers schon sehr lange. Der weiß bestimmt etwas. Außerdem würde ich mich gerne daran beteiligen. Sie haben uns schließlich einfach geholfen, ohne einen Moment zu zögern.“
„Cool, da fällt uns bestimmt etwas ein. Ich könnte ihnen zum Beispiel den Entwurf für das weitere Auto schenken. Und du machst mit Stef eine Kleinigkeit dazu.“
„Das wäre doch mal eine Idee. Ich spreche mit Stef, so viel können wir uns ja auch nicht leisten.“
„Ich bin mir sicher, es kommt den beiden bestimmt nicht auf den Wert an. Eine Kleinigkeit wird vollkommen ausreichen.“
„Du, was mir gerade einfällt. Wann wollte dein Vater eigentlich kommen? Es ist schon zehn Uhr durch.“
Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass es schon so spät war.
„Eigentlich müsste er schon da sein, aber vielleicht ist er das auch schon, nur wir haben es nicht bemerkt.“
„Meinst du wirklich? Er würde dich nicht begrüßen, wenn er kommt?“
„Nein, jedenfalls nicht zuerst. Er möchte nicht, dass ich eine Sonderrolle habe. Das hatte er mir versprochen.“
„Ok, dann geh mal neuen Nachschub holen, ich bringe das Auto weg. Vielleicht weißt du ja dann schon mehr.“
Genau das tat ich dann auch. Ich nahm den fertigen Auftrag mit zum Meister. Dort angekommen, wurde ich bereits erwartet.
„Hallo Lucien, seid ihr fertig mit dem Ram?“
„Ja, Dieter. Was hast du nun als Nächstes für uns?“
„Hier ist eine Neuwagenübergabe. Ihr müsstet das bitte recht zügig machen, denn der Kunde möchte den Wagen heute Mittag mitnehmen. Hier sind die Kennzeichen und die Papiere. Ein paar Sonderwünsche sind da auch noch zu machen. Und der Kunde scheint recht berühmt zu sein. Der Chef persönlich hat sich darum gekümmert. Mario hat bereits die Schlüssel.“
Dieter gab mir zwei Zulassungskennzeichen. Dies ließ mich stutzig werden, denn es waren Kennzeichen aus unserem Schweizer Kanton. Die Papiere waren für einen Cadillac CTS, eine tolle Limousine. Ich schaute auf den Auftragszettel und mir blieb fast die Luft weg. Da stand doch tatsächlich Papas Name drauf. Davon hatte er mir nichts gesagt. Ich ging ziemlich aufgeregt zurück zu Mario, der bereits das Auto geholt hatte.
„Du Mario, ich glaube, mein Papa ist wirklich immer für eine Überraschung gut. Schau mal hier.“
Dabei gab ich ihm die Unterlagen. Mario las sich den Auftrag durch und schüttelte den Kopf.
„Wieso meinst du das? Ich sehe nur ein paar Sonderwünsche. Ansonsten ist das Auto sehr schön und schon fertig aufgerüstet. Ich verstehe nicht, wie du da auf deinen Vater kommst?“
„Du liest wohl immer nur, was zu tun ist, oder?“
Ich musste schon grinsen. Mario hatte es aber immer noch nicht gesehen.
„Schau mal auf den Namen des Kunden. Was steht das?“
Er nahm den Auftragszettel erneut in die Hand und dann bekam er große Augen.
„Ach du Sch…, das habe ich ja gar nicht gesehen. Deshalb meinte er auch gestern, dass er noch etwas zu klären hat.“
Ich nickte und war jetzt doch ein wenig aufgeregt. Warum hatte Papa noch nichts davon gesagt, dass er eine neue Limousine gekauft hatte?
„Ich habe keine Ahnung, aber ich werde ihn wohl mal fragen müssen.“
„Komm, Luc, wir müssen uns beeilen. Es gibt noch einiges zu tun. Ich möchte den Chef und deinen Vater nicht enttäuschen.“
Innerlich schmunzelte ich ein wenig. Ich war echt gespannt, was hier gleich noch passieren würde. Jedenfalls begannen wir das Auto von allen Schutzfolien und die Sitzpolster von den Schutzbezügen zu befreien. Das war meine Aufgabe. Mario hatte einen Test aller Funktionen zu machen, den Motor noch mal auf dem Prüfstand zu testen und ein anderes Reifen- und Felgenpaket zu montieren.
Wir hatten nicht mehr viel Zeit und wir merkten auch recht schnell bei den anderen Mechanikern, dass sich etwas Außergewöhnliches anbahnte. Es wurde getuschelt und irgendwann kam Mario von der Toilette zurück.
„Luc, ich glaube, wir bekommen gleich Besuch. Ich habe deinen Vater schon gesehen. Er geht mit Herrn Geiger gerade durch den Betrieb. Komischerweise sind sie nicht alleine. Dein Vater hat eine junge Frau an seiner Seite.“
„Bitte? Eine junge Frau? Was soll das denn nun?“
Jetzt war ich vollends verwirrt. Wer sollte das denn sein. Bevor ich mich noch weiter wundern konnte, hörten wir Karl bereits in die Halle kommen. Er erklärte den Besuchern die Werkstatt und es war schon komisch. Ich konnte Papa schon hören, aber er ließ sich nichts anmerken. An den anderen Hebebühnen wurde teilweise die Arbeit unterbrochen. Ein anderer Azubi kam zu Mario und flüsterte ihm leise etwas zu. Mario musste lachen. Dann waren die drei Personen auch schon zu uns herangekommen. Karl erklärte Papa nun, dass dies sein neues Auto wäre und wir noch die letzten Arbeiten zu tun hätten. Karl spielte das Spiel mit. Bis dahin konnte niemand erkennen, dass ich der Sohn von Marc Steevens bin. Leider hatte Papa eine Komponente nicht bedacht. Ich erkannte in diesem Moment die „junge Frau“ an seiner Seite. Es hielt mich nichts mehr, denn das war die totale Überraschung. Ich musste mich unheimlich beherrschen nicht loszulaufen, aber ich musste ihnen entgegen gehen.
„Mama, was machst du denn hier?“
Karl und Papa standen grinsend neben ihr und dann kam sie auf mich zu gelaufen und wir umarmten uns.
„Luc, wie schön, dass es dir gut geht. Freust du dich über meinen Besuch?“
Nach einem Moment der sprachlosen Freude fand ich meine Sprache schnell wieder.
„Ob ich mich freue? Machst du Witze? Und wie ich mich freue.“
Mario stand mit dem anderen Azubi völlig konsterniert am Auto und schaute mich an. Ich nahm Mama an die Hand und ging zu Mario.
„Mario, darf ich dir meine Mama vorstellen. Mama, das ist Mario, der Bruder von Stef.“
Mama gab Mario die Hand und was dann folgte, war schon ein wenig strange. Der andere Azubi ging drei Schritte zurück und innerhalb weniger Augenblicke waren weitere Mitarbeiter hinzugekommen. Wir wurden ungläubig bestaunt. Dieter, der Meister, kam zu uns und Karl bat ihn, meinen Eltern die Werkstatt-Crew vorzustellen.
Nachdem das erledigt war, hatte ich ein ungutes Gefühl. Ich fühlte mich von allen beobachtet. Mama und Papa ließen sich nichts anmerken und erst, als Karl alle wieder an die Arbeit schickte, kam Papa zu mir.
„Na, Luc, wie findest du Mamas neues Auto?“
„Also ich bin einfach nur platt. Du hast nichts davon gesagt, dass Mama ein neues Auto bekommt.“
„Nun, du warst ja auch nicht da, als wir das besprochen hatten und der S8 war einfach zu alt mittlerweile. Also was lag näher, mal ein anderes Modell zu probieren. Deine Mama wollte dieses Modell, und da es ihr Auto sein sollte, war es halt so. Außerdem bekommst du für den S8 keine Gasanlage, das ist bei den Amis aber überhaupt kein Problem.“
Mittlerweile hatten Mario und ich weiter die Vorbereitungen gemacht und wir mussten noch die neuen Reifen und Felgen montieren. Papa schaute uns bei der Arbeit zu und ich konnte erkennen, dass die anderen Kollegen immer wieder zu uns hinüber sahen. Ich fühlte mich etwas unwohl. Papa merkte das und gab mir zu verstehen, dass er wieder zu Mama und den Geigers gehen würde.
„Papa, du fährst aber nicht nach Hause ohne Tschüs zu sagen, oder?“
„Nein, keine Sorge. Wir sehen uns gleich noch mal. Mach du hier erst einmal deine Arbeit weiter.“
Er drehte sich um und ging gut gelaunt in Richtung Empfangshalle. Mario grinste über das ganze Gesicht.
„Dein Vater ist aber wirklich immer für Überraschungen gut. Hast du gewusst, dass deine Mutter auch hier ist?“
„Spinnst du? Ich habe gar nichts gewusst. War aber auch vielleicht ganz gut so. Ich weiß nicht, ob ich sonst so ruhig geblieben wäre.“
Mario klopfte mir anerkennend auf die Schulter und meinte:
„Deine Eltern sind echt toll. Sie kümmern sich um euch und haben immer Zeit für dich. Ich beneide dich ein wenig dafür. Aber es ist sicher nicht immer leicht, wenn der Vater so berühmt ist.“
„Nein, du hast schon Recht, aber Vater hat immer versucht, für uns so normal zu sein, wie jeder andere Papa auch. Ich bin wirklich sehr glücklich, so eine Familie zu haben. Jetzt müssen wir aber zusehen, dass wir fertig werden. Karl wartet bestimmt schon auf das Auto.“
Wir machten noch die letzten Arbeiten, und als alles soweit fertig war, überredete Mario mich, mit ihm gemeinsam das Auto in die Übergabehalle zu fahren.
Dort standen meine Eltern mit Karl und einem Verkäufer vor einem Van und unterhielten sich. Wir stellten das Fahrzeug passend in die Halle und stiegen aus. Mario wollte schon wieder zurückgehen, als mein Vater uns rief.
„Mario, Luc, kommt doch bitte beide einmal zu uns.“
Also gingen wir beide zu den vier zusammenstehenden Personen und ich spürte Marios Unruhe.
„So, Herr Steevens, Ihr Auto ist fertig vorbereitet. Sie können es jetzt mitnehmen.“
Papa lächelte uns an, aber Karl machte ein ernstes Gesicht.
„So, so, neuerdings entscheiden schon unsere Azubis, wann neue Autos mitgenommen werden können.“
Mario erschrak, er hatte das natürlich nicht so gemeint. Jetzt wollte er sofort diese Aussage korrigieren, aber Karl lachte nur laut auf.
„Ist schon Recht, Mario. Das war nur Spaß. Erklärst du Lucs Mutter noch das Fahrzeug bitte. Nicht dass unterwegs etwas schiefgeht. Ach ja, Marc, du wolltest noch mit deinem Sohn etwas besprechen? Geht doch am besten in mein Büro. Dort seid ihr ungestört.“
Ich schaute Papa fragend an. Er hingegen lächelte nur und nahm mich in den Arm und so marschierten wir in Karls Büro.
„Setz dich bitte, Luc. Ich möchte mit dir etwas besprechen.“
Mir kam das Ganze sehr merkwürdig vor. Papa machte sonst nie so große Umstände, wenn er mit mir etwas besprechen wollte.
„Ich möchte, dass du weißt, deine Mutter und ich stehen voll hinter deinen Bemühungen, Stefan zu helfen. Mir ist nicht verborgen geblieben, dass du Stefan besonders magst. Und er scheint dich auch sehr zu mögen. Er vertraut dir. Hast du dir Gedanken über eine Reise zu uns in die Schweiz gemacht?“
„Nein, Papa. Noch nicht. Es stimmt aber, wir verstehen uns wirklich sehr gut und ich habe Angst, dass er hier allein bleibt, wenn ich wieder nach Hause fahre.“
„Also, allein wird er nicht mehr sein. Mario wird bei ihm bleiben und auch Karl und Barbara haben mir versprochen, sich weiterhin zu kümmern. Du kannst dich um deine Sachen kümmern. Also wenn du weiter mit Stefan Kontakt haben möchtest, kümmere dich darum. Unsere Zustimmung hast du. Nutze die letzten Tage, Stefan zu überzeugen, dass er bei uns willkommen ist. Und damit du ein gutes Argument in der Hand hast, gebe ich dir diesen Umschlag. Ich hoffe, es war richtig, diese Entscheidung ohne dich zu treffen.“
„Was ist das?“
„Schau doch mal rein.“
Ich nahm den Umschlag und nachdem ich ihn geöffnet hatte, hielt ich eine Blanko Buchung in der Hand.
„Meinst du das ernst? Du hast das Ticket schon besorgt?“
„Luc, ich denke, es ist so besser. Gib ihm das bei einer guten Gelegenheit und lade ihn zu uns ein. Das Datum kann er selbst bestimmen. Wir müssen nur wissen, wann wir das Ticket buchen sollen. Bezahlt ist es bereits.“
„Danke, Papa. Ich werde es versuchen, dass er es auch annimmt.“
Danach musste ich Papa umarmen. Es tat so gut zu wissen, dass ich nicht allein mit dieser Situation war. Papa bat mich, nun wieder mit nach vorn zu kommen, damit ich mich auch von Mama verabschieden konnte. Leider war der kurze Besuch damit auch schon wieder zu Ende. Ich nahm Mama noch einmal fest in die Arme und dann stiegen beide in ihre Autos und fuhren davon.
Die letzten Tage meines Praktikums würde ich wieder allein sein, ohne die Unterstützung meiner Eltern.
Der Mittwoch bei Stefan in der Gruppe
Was nach dem Besuch meiner Eltern in der Firma folgte, war schon komisch. Jetzt war es ja bekannt, dass ich der Sohn von Marc Steevens war und einige hatten damit anscheinend einige Schwierigkeiten. Allerdings die meisten Mitarbeiter behandelten mich genauso wie vorher. Es machte mir weiterhin unheimlich viel Spaß, hier zu arbeiten. Mario hatte auch am Dienstag den Mietvertrag unterschrieben.
Ich hatte mich heute, am Mittwoch, mit Stef in der Gruppe verabredet. Ich wollte ihm meine Einladung in die Schweiz geben. Den genauen Termin wollte ich mit ihm besprechen. Papa hatte mir versprochen, die Reisekosten und die Unterkunft zu übernehmen. Also musste ich Stef nur davon überzeugen, diese Einladung auch anzunehmen. Mario hatte ich schon informiert und er versprach mir, wenn Bedarf bestünde, mich zu unterstützen.
Ich hatte sehr pünktlich Feierabend gemacht und war bereits zu Hause. Ich hatte mich entschieden, bevor ich zu Stef fahren würde, heute ein Bad zu nehmen. Das Wasser lief bereits, als mein Handy klingelte.
„Hallo Papa, was gibt es denn?“
„Hallo, mein Sohn. Ich wollte nur sichergehen, dass du nicht vergisst, Stefan unsere Einladung zu übermitteln.“
„Schon gut, Papa. Ich habe alles vorbereitet. Ich habe sogar die Idee, er könnte in seinen Ferien für eine Woche zu uns kommen. Denn dann kann er auch mal meine Schule kennenlernen. Ich habe zwar dann keine Ferien, aber das bekomme ich schon organisiert.“
„Das ist eine tolle Idee. Besprich das mit ihm, und wenn du Fragen hast, ruf mich einfach an. Bestellst du bitte allen schöne Grüße von uns. Ich habe mich schon sehr lange mit deiner Mutter über Stefan und Mario unterhalten. Wir mögen sie beide. Also sieh zu, dass du Stefan zu uns bekommst.“
„Alles klar, Papa. Ich werde alles versuchen. Ich muss jetzt Schluss machen, ich habe mir Badewasser eingelassen. Sonst überschwemme ich gleich das Bad. Also Tschüs und grüß bitte Mama und Leif von mir.“
„Das werde ich tun und viel Spaß heute Abend.“
Ich zog mich aus und ging ins Bad. Es war einfach herrlich, sich in dem heißen Wasser zu entspannen. Dabei kamen mir allerdings auch einige Gedanken in den Kopf zu der Situation von Stef. Wie lange wäre das noch so weitergegangen? Wäre Stef vielleicht straffällig geworden? Es tat mir weh, daran zu denken. Warum musste er so leiden? Meine Gedanken schweiften zu den Situationen, wo wir uns sehr nahe waren. Es breitete sich ein Gefühl der Wärme aus. Ein angenehmes Empfinden, ich konnte mir sehr gut vorstellen, dass Stef in meiner Nähe war. Aber als ich merkte, dass diese Gedanken an meiner Männlichkeit nicht spurlos vorbei gingen, erschrak ich ein wenig. Ich bekam wirklich ein erregendes Gefühl. Ich wollte Stef nahe sein und ihn in meinen Armen halten. Die Erregung nahm zu und ich musste dem nachgeben. Es dauerte auch nicht lange und Entspannung machte sich wieder breit.
Eine seltsame Situation für mich. Ich hatte allerdings nicht viel Zeit darüber nachzudenken, denn die Zeit war schon so weit fortgeschritten, dass ich mich beeilen musste, um nicht zu spät zu kommen.
In der Straßenbahn sitzend, gingen mir einige Gedanken durch den Kopf. Was hatte dieses Erlebnis zu bedeuten? Ich war verunsichert. Ich hatte mir noch nie ernsthaft Gedanken gemacht über eine Beziehung. Geschweige denn, ob ich schwul oder hetero war. Ich spürte deutlich eine gewisse Verunsicherung. Sollte ich diese Gefühle mit Stef besprechen? Ich beschloss, es erst einmal nicht zu tun.
Meine Haltestelle war erreicht und so konnte ich mich nicht weiter mit diesen Gedanken beschäftigen. Der Weg zur Wohngruppe war schnell erledigt. Ich klingelte an der Haustür und einer der anderen Jungs öffnete mir.
„Hallo Lucien, Stefan ist oben. Er hat noch mit den Schulsachen zu tun und mich gebeten, dich hereinzulassen.“
„Hallo Nico, das ist nett. Danke. Soll ich hochgehen oder hier unten warten?“
„Nein, nein, geh ruhig hoch. Er weiß ja, dass du kommst.“
Nachdem ich meine Jacke an der Garderobe aufgehängt hatte, stieg ich die Treppe hoch. Am Erzieherbüro klopfte ich und meldete mich an. Der Erzieher begrüßte mich freundlich und einen Augenblick später stand ich dann vor der Zimmertür von Stef. Ich klopfte an und nach dem lauten „Herein“ betrat ich sein Zimmer. Er saß am Schreibtisch und machte noch Schularbeiten.
„Hallo Luc, sorry, ich bin noch nicht ganz fertig. Dauert aber nicht mehr lange. Ich habe ein wenig Probleme mit Mathe. Das dauert doch länger, als ich dachte.“
„Hi Stef, ist doch nicht schlimm. Ich kann warten.“
Jetzt drehte er sich zu mir und ich konnte sein Gesicht sehen. Er freute sich unübersehbar. Er bat mich, mich auf das Sofa zu setzen.
„Kann ich mir auch einen Stuhl nehmen und mich neben dich setzen? Vielleicht kann ich dir ja etwas helfen.“
Er schaute mich verwundert an.
„Klar, aber du musst das nicht machen. Du hast doch schon den ganzen Tag gearbeitet.“
„Ach, hör auf. So kaputt bin ich auch nicht mehr. Ich habe schon ein heißes Bad gehabt.“
Ich nahm mir also einen Stuhl und setzte mich neben Stef an den Schreibtisch. Nach wenigen Augenblicken hatte ich mir einen Überblick verschafft, was Stef für ein Thema zu bearbeiten hatte. Er hatte eigentlich alles gut im Griff, nur hin und wieder hatte er Probleme, die Rechnungen zu Ende zu führen. Er verlor den Faden und bekam ein falsches Ergebnis heraus. Das ärgerte ihn und er zweifelte an seinen Fähigkeiten.
„Verdammt, wieder falsch. Ich könnte irre werden. Immer wieder übersehe ich etwas.“
Er regte sich richtig auf. Sein Kugelschreiber flog gegen die Wand und er steigerte sich richtig in einen Wutanfall. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Erst als ich ihn dann einfach festhielt, beruhigte er sich. Jetzt bemerkte er erst, dass er gerade so ausgerastet war. Er stand vor mir und schaute mich peinlich berührt an.
„Alles geht schief, ich bekomme es einfach nicht hin. Ich bin zu doof für die Schule.“
Ich schüttelte ihn und redete auf ihn ein.
„So ein Blödsinn. Du kannst doch rechnen. Ich habe dich nur in deiner Konzentration gestört. Komm, wir machen das jetzt zusammen. Ich helfe dir. Gemeinsam schaffen wir das.“
Er zweifelte an sich selbst. Aber warum? Ich setzte ihn wieder an den Tisch und mich daneben. Innerhalb weniger Minuten hatte er sich wieder beruhigt und ich konnte ihm einiges erklären. Als er das verstanden hatte, ging alles wie von selbst. Er strahlte mich an, als alles fertig und richtig gerechnet war.
„Man, Luc, woher kannst du das so gut erklären. Wenn unser Lehrer das so gemacht hätte, würde ich das auch verstehen.“
„Ich habe früher selbst oft nicht verstanden, was unsere Lehrer von mir wollten. Erst als mir Mick und Papa immer wieder auf ihre Art das erklärten, konnte ich das verstehen. Papa hatte mir gesagt, dass es nichts mit klug oder dumm zu tun hat. Es hat was mit dem Begreifen zu tun. Jeder Mensch ist anders. Leider können Lehrer nicht für jeden Einzelnen das erklären.“
„Heißt das, ich kann die Schule schaffen, wenn du mir Mathe richtig erklären würdest?“
Dabei schaute er mich mit einem Blick an, der so niedlich war. Ich musste einfach lachen.
„Ja, du schaffst das. Ich werde versuchen, dir zu helfen, aber hier hast du auch Leute, die du fragen kannst. Du musst es nur tun.“
Er umarmte mich und da war es wieder. Das Gefühl der besonderen Nähe. Eine Wärme breitete sich in mir aus. Es tat einfach gut.
„Danke, Luc. Ich bin so froh, dass ich dich und deine Familie kennengelernt habe.“
Wir setzten uns nun auf das Sofa und er berichtete mir von seinen Erlebnissen in der Schule. Es war schwer für ihn, weil er viel Stoff versäumt hatte und einige aus seiner Klasse ihn mieden. Sie meinten, er wäre ein Krimineller. Das machte mich wütend. Was mich allerdings noch wütender machte, war die Angst von Stef, es seinem Betreuer zu erzählen. Ich nahm mir vor, genau das mit ihm zu tun.
Es wühlte ihn auf und er begann, auch ein wenig von den Erlebnissen zu Hause zu berichten. Es kostete ihn unheimlich viel Kraft und ich musste mich zusammennehmen. Ganz oft hätte ich ihn am liebsten unterbrochen und ihm klargemacht, dass er dafür keine Verantwortung trägt. Aber ich wollte ihn erzählen lassen. Es war das erste Mal, dass er mir so viel aus seiner Kindheit erzählte. Ich war betroffen. Nachdem er das beendet hatte, bekam er Angst. Er hatte wohl nicht darüber nachgedacht, was er mir alles erzählt hatte, denn ich sah ihn mit großen Augen an. Ich war einfach nur entsetzt. Er interpretierte das falsch und wollte schon weglaufen. Ich hielt ihn sofort fest und zog ihn an mich heran. Da brach er in Tränen aus.
Glücklicherweise hatte der Erzieher diese Situation gehört und war in das Zimmer gekommen. Er sah mich mit Stef im Zimmer stehen, wie ich ihn umarmte und tröstete. Er ließ uns erst einmal in Ruhe. Blieb aber bei uns. Ich setzte mich mit Stef auf das Sofa und der Erzieher setzte sich zu uns. Er ließ uns Zeit, er bedrängte Stef nicht, ihm etwas zu erzählen. Stef hatte sich nach einigen Minuten wieder gefangen und ich fragte ihn, ob er nicht etwas erzählen möchte.
Er schüttelte nur mit dem Kopf und schluchzte:
„Luc, ich kann es nicht. Ich schäme mich so dafür. Es tut mir leid, dass ich dir so viele Schwierigkeiten mache.“
„Hör auf, Stef. Du machst mir keine Schwierigkeiten, aber ich werde jetzt deinem Erzieher etwas erzählen. Ist das in Ordnung für dich?“
Ich hielt ihn ganz fest im Arm und er nickte.
Nach einer halben Stunde hatte ich dem Erzieher alles erzählt, was ich bis dahin von Stef wusste. Er schaute mich fassungslos an und blieb bei uns. Stef war nur ein Haufen Elend. Er schämte sich dafür, was natürlich Unsinn war. Aber seine Gefühle waren so. Der Erzieher bat mich, Stef nicht allein zu lassen und er wollte uns einen heißen Kakao machen und dann würde er sich Zeit nehmen, mit uns das Gespräch fortzusetzen. Er verließ das Zimmer und Stef sackte in sich zusammen.
Ich beruhigte ihn immer wieder und machte ihm Mut, sich zu offenbaren. Die Mitarbeiter könnten ihm doch nur richtig helfen, wenn sie alles von ihm erfahren, was er erlebt hatte. In der nächsten Stunde erzählte Stef alles. Er redete sich seinen ganzen Schmerz von der Seele. Immer wieder musste ich ihn beruhigen und streicheln. Es war richtig brutal. Der Erzieher war genauso geschockt, wie ich. Was wir zu hören bekamen, war wirklich ganz heftig.
Nachdem Stef seine Erzählungen beendet hatte, fragte mich der Erzieher:
„Lucien, kannst du noch ein wenig bleiben? Ich glaube Stefan braucht dich noch etwas.“
„Na klar, vielleicht sollten wir mal ein wenig nach draußen gehen?“
„Das ist eine gute Idee. Geht ein wenig spazieren. Wenn was sein sollte, ruf mich an.“
Er gab mir eine Visitenkarte und dann verließen Stef und ich sein Zimmer und zogen uns unsere Jacken an.
Die ersten Meter gingen wir schweigend nebeneinander her. Ich wusste nicht, was ich jetzt machen sollte. Ihn weiterhin in den Arm nehmen oder ihm genug Abstand lassen, damit er sich beruhigen und an etwas anderes denken konnte.
Nach Minuten des Schweigens fragte er mich:
„Luc, kannst du mich noch einmal so fest halten wie eben. Das tat so gut.“
Wortlos nahm ich ihn ganz fest in den Arm. Er blieb stehen und schaute mir in die Augen. Er brauchte kein Wort zu sagen, denn seine Augen sprachen genug.
„Lass uns weiter gehen. Luc, warum tust du dir das an? Ich mache dir deine Zeit in München kaputt.“
„Du spinnst wohl, ich bin dein Freund. Und Freunde haben genau dann da zu sein, wenn sie gebraucht werden. Du brauchst mich jetzt, also bin ich für dich da. Egal, wie oft oder wie lange ich noch mit dir diesen Kampf fechten muss.“
Jetzt nahm er meine Hand, erst zaghaft, abwartend ob ich es zulasse, dann drückte er sie immer fester, bis ich das Gefühl hatte, wir seien miteinander verbunden. Trotz der unangenehmen Lage ein sehr intensives Gefühl. Wir hatten mittlerweile einen Block umrundet und Stef schien sich beruhigt zu haben. Er blieb unvermittelt stehen und schaute mich an. Für einen Moment lag eine enorme Spannung in der Luft.
„Luc, du bist der erste echte Freund, der immer zu mir steht und mich wieder aufrichtet, wenn ich am Boden liege. Danke!“
„Ich sage es noch einmal, dafür sind Freunde da und sei dir ganz sicher, solange du meine Freundschaft möchtest, werde ich für dich da sein.“
Er umarmte mich und ich streichelte seinen Rücken. Er entspannte sich spürbar und dann umfassten seine Arme meinen Körper und er hielt mich einfach nur fest. Eine Wärme strahlte von ihm aus, die ich in mir aufnehmen konnte. Ein großartiges Gefühl.
„Was meinst du, sollen wir zurückgehen?“
„Nein, Luc, ich möchte noch mit dir ein wenig allein sein. Geht das?“
„Natürlich, wollen wir vielleicht irgendwo etwas essen?“
„Ich habe kein Geld eingesteckt.“
„Aber ich, also was ist?“
Er zögerte, nickte aber dann. Also marschierten wir ein paar Straßen weiter und standen vor einem großen „BurgerKing“. Wir lösten unsere Hände und betraten das Restaurant. Stef zögerte für einen Moment, er war sich nicht sicher, was er bestellen sollte.
„Was ist? Warum zögerst du? Weißt du nicht, was du essen möchtest?“
„Doch, aber kann ich denn einfach so bestellen? Hast du genug Geld dabei?“
„Mensch Stef, wenn ich sage, ich habe Geld dabei, dann ist das ausreichend. Also los, bestell dir, war du möchtest.“
Wenige Minuten später saßen wir uns an einem Tisch gegenüber und ich genoss es, ihn wieder mit einem Lächeln im Gesicht zu sehen. Um keine Sorge in seiner Gruppe auszulösen, hatte ich noch kurz den Erzieher angerufen und ihm gesagt, dass alles in Ordnung ist. Er wünschte uns viel Spaß und bat nur darum in einer Stunde wieder zurück zu sein. Er wollte mit uns noch einmal sprechen.
Wir hatten unser Menü mittlerweile vernichtet und ich war total satt. Allerdings hatte ich jetzt noch die Aufgabe, Stef davon zu überzeugen, dass er mich in der Schweiz besuchen sollte. Ich überlegte, ob ich das hier oder erst wieder in der Gruppe in seinem Zimmer. Ich entschied mich, es ihm erst in seinem Zimmer zu erklären. Wir machten uns also wieder auf, um zurückzugehen.
Wir redeten nicht viel, aber ich konnte spüren, dass heute zwischen uns eine neue Verbindung entstanden war.
„Luc, ich möchte dir etwas sagen. Ich habe noch nie so einen Freund wie dich gehabt. Du hast bislang nicht einmal eine Gegenleistung von uns gefordert. Immer nur gegeben und warst für mich da. Mario hat mir erzählt, wie gern er mit dir zusammenarbeitet und dass du immer gute Laune hast. Ich weiß nicht, wie ich dir das jetzt erklären soll, aber ich werde dich vermissen, wenn du am Freitag nach Hause fährst.“
Ich musste schlucken, denn mir ging es ja genauso.
„Meinst du, mir geht es da anders. Wir sind Freunde geworden, aber mein Papa hat mir etwas gesagt. Eine Freundschaft wird nicht durch räumliche Nähe aufrecht erhalten, sondern durch emotionale Nähe. Ich habe es am Anfang nicht verstanden, aber ich vertraue ihm. Also ich werde immer dein Freund bleiben, auch wenn wir uns nicht mehr so oft sehen können.“
Er schaute mich an und ich konnte erkennen, dass seine Augen feucht waren.
„Hoffentlich hast du recht. Ich würde mich so freuen, wenn du mich mal besuchen würdest.“
„Weißt du Stef, eigentlich bist du ja erst einmal mit Besuch bei mir dran. Ich war ja jetzt bei dir und als Nächstes besuchst du mich.“
Er schaute mich traurig an.
„Ich weiß, aber ich werde diese weite Reise nicht machen können. Dafür fehlt uns das Geld im Moment.“
Ich musste schmunzeln. Es war genau, wie Papa es vorhergesagt hatte. Jetzt war die Gelegenheit günstig.
„Nehmen wir einmal an, du könntest es dir leisten, uns zu besuchen, würdest du dann zu mir kommen?“
Sofort kam ein:
„Ja, Luc. Auf jeden Fall. Ich möchte sehen, wie du lebst und was du für Freunde hast.“
„Toll, dann ist ja alles klar.“
Er schüttelte irritiert den Kopf.
„Wie meinst du das? Ich verstehe nicht ganz.“
Ich lachte.
„Warte es ab, ich erkläre es dir gleich zu Hause.“
Der Weg in die Gruppe zurück wurde viel fröhlicher. Stef konnte sogar wieder ein wenig scherzen, und als wir wieder in der Gruppe waren, schaute der Erzieher recht verdutzt über die gute Stimmung bei Stef. Wir zogen unsere Jacken aus und setzten uns mit ihm in das Büro. Wir berichteten kurz, was wir gemacht hatten und ich erzählte noch ein wenig von meinem Zuhause. Er war sichtlich erleichtert und somit entließ er uns in Stefs Zimmer.
Wir hatten es uns auf dem Sofa bequem gemacht und Stef hatte uns etwas zu trinken besorgt. Jetzt schaute er mich neugierig an.
„Du wolltest mir noch etwas erklären. Also ich warte.“
Ich lachte ihn an und war doch ein wenig überrascht, dass Stef so schnell wieder in eine gute und normale Stimmung gekommen war.
„Also gut, aber du versprichst mir, mich erst einmal ausreden zu lassen.“
„Klar, mache ich doch immer.“
Also gut, es gab jetzt kein zurück mehr.
„Ich werde ja am Freitag wieder zurück in die Schweiz fliegen. Meine drei Wochen sind dann schon um und ich muss nächste Woche wieder in die Schule gehen. Ich habe Mario gebeten, dass er am Freitag gemeinsam mit dir zum Flughafen kommt. Ich möchte, dass wir uns dort verabschieden können. Aber ich habe noch etwas mitgebracht. Das hat mir mein Papa noch gegeben, bevor er zurückgefahren ist.“
Ich stand nun auf und ging zu meiner Jacke auf dem Flur, nahm den Umschlag aus der Tasche und ging wieder zu Stef.
Er schaute mich ganz gespannt an und ich setzte mich wieder neben ihn auf das Sofa.
„Schau mal, also meine ganze Familie hat beraten und wir haben beschlossen, dass du mich besuchen sollst. Hier ist ein kleines Geschenk für dich von uns, damit du uns besuchen kannst. Wann das sein wird, kannst du selbst bestimmen. Vielleicht in den nächsten Ferien, also in drei Wochen. Dann kannst du bei uns wohnen und ich kann dir alles zeigen.“
Ich übergab ihm den Umschlag und Stef nahm ihn mit zittrigen Händen. Er öffnete ihn und dann fiel er mir um den Hals. Er weinte vor Freude. Papa hatte mir ja das Flugticket besorgt und Stef musste nur noch das Datum sagen, damit wir den Flug buchen konnten.
„Luc“, schniefte er leise, „das kann ich nicht glauben. Ihr wollt mich wirklich einladen und ich darf dann bei dir bleiben für diese Zeit?“
„Genau, ich möchte, dass du sehen kannst, wo ich lebe und wie meine Schule ist. Außerdem sollst du meine Freunde kennenlernen. Bitte, erfülle mir diesen Wunsch.“
Er war sehr aufgewühlt. Ich konnte seine Fassungslosigkeit, aber auch die Freude erkennen.
„Also gut, ich werde dir diesen Wunsch erfüllen. Auch wenn ich es noch nicht so ganz glauben kann.“
Ich legte meinen Arm um ihn.
„Das ist fein. Ich wäre wirklich zutiefst traurig, wenn du mich nicht besuchen würdest. Ich mag dich sehr und ich möchte, dass du auch mal etwas anderes kennenlernen kannst. Mario hätte dir sonst in den Hintern getreten, wenn du das nicht angenommen hättest.“
Jetzt mussten wir beide lachen.
„Ich glaube sogar, das hätte er tatsächlich gemacht.“
Stef war richtig gelöst und es war für mich kaum zu begreifen, dass Stef vor so kurzer Zeit am Boden zerstört war. Aufgrund der Erzählungen von Papa, wie das damals mit Lukas abgelaufen war und auch mit Benny, ahnte ich, dass würde nicht das letzte Mal passieren. Umso entschlossener war ich, Stef als Freund beizustehen.
Leider war es nun schon spät geworden und ich musste mich auf den Weg nach Hause machen. Stef begleitete mich nach unten. Ich sagte dem Erzieher Bescheid, dass ich nun nach Hause gehen würde.
Ich stand mit Stef noch einen Moment vor dem Haus. Zum Abschied umarmte er mich erneut und flüsterte mir ins Ohr:
„Vielen Dank für alles. Ich weiß nicht, was ich ohne dich heute machen würde.“
Ich schwieg, jedes Wort war jetzt überflüssig. Dann geschah etwas sehr Schönes. Stef gab seine Zurückhaltung auf und ich spürte seine warmen Lippen auf meiner Wange. Sofort breitete sich eine enorme Wärme in meinem Körper aus.
Einen Moment später löste ich mich aus der Umarmung und wir verabschiedeten uns bis Freitag.
„Ich rufe dich nochmal vorher an. Wenn du dich entschieden hast, wann du kommen möchtest, sag bitte Bescheid.“
„Mache ich und komm gut nach Hause.“
Ich drehte mich um und ging in Richtung Straßenbahn. Nach etwa fünfzig Metern drehte ich mich noch einmal um, Stef stand immer noch vor dem Haus. Ich winkte ihm zu und bog dann um die Ecke.
In der Straßenbahn sitzend, hing ich meinen Gedanken nach. Was hatte ich heute wieder mit Stef erlebt? Eine Achterbahn der Gefühle, auch bei mir. Was hatte das nur zu bedeuten, dass ich immer stärker spürte, dass er mir als Freund etwas bedeutete. Ich wusste es nicht. Hatte ich mich vielleicht verliebt? Ich hatte keine Ahnung, aber ich wusste, Stef war etwas sehr Besonderes für mich geworden. Vielleicht sollte ich doch mal mit Mick sprechen. Auf der weiteren Fahrt war mein Kopf ziemlich leer. Ich vermisste Stef bereits jetzt schon.
Mir wurde immer klarer, wie groß meine Freiheiten waren. Ich konnte überall hinfahren und musste keine Angst haben, zu Hause verprügelt zu werden. Ein Gedanke, der mir Gänsehaut machte. Als ich zu Hause vor dem Haus der Geigers stand, wurde mir klar. Ich hatte ein unglaubliches Glück mit meinen Eltern und meinen Geschwistern. Auch meine Freunde in der Schweiz waren immer für mich da, wir unterstützten uns gegenseitig, wann immer jemand Hilfe brauchte. Der Gedanke, dass Stef und auch Mario ganz oft in ihrer Lage allein waren und niemand ihnen geholfen hatte, sich gegen die Eltern zu wehren, betrübte mich.
Ich ging hinein und erstaunlicherweise war Barbara bereits zu Hause. Sie begrüßte mich herzlich und fragte mich nach Stefan. Ich berichtete ihr von den Ereignissen. Sie hörte sehr aufmerksam zu. Entgegen ihrer sonstigen Art unterbrach sie mich kein einziges Mal. Als ich fertig war, schaute sie mich lächelnd an.
„Luc, ich glaube Stefan ist wirklich ein besonderer Freund für dich geworden. Ich bin mir sicher, du wirst ihm eine große Hilfe sein. Egal ob du in der Schweiz bist oder hier in München. Du hast so ein Gefühl gezeigt in deiner Erzählung, Mario wird dir sicher sehr dankbar sein, dass sein kleiner Bruder nun Menschen gefunden hat, die ihn so annehmen, wie er ist.“
„Was meinst du damit, ihn so annehmen, wie er ist? Ich verstehe nicht ganz, was ist anders bei ihm, als bei anderen Jungs?“
Barbara wurde jetzt ein wenig unsicher, sie schien zu überlegen, ob sie mir etwas dazu sagen sollte oder nicht.
„Ich glaube Luc, Stefan mag dich einfach sehr, er ist bei keinem anderen so offen wie bei dir. Er lässt sich von dir umarmen und ist immer in deiner Nähe. Ich habe so das Gefühl, du bedeutest ihm mehr, als alle anderen.“
Mehr sagte sie nicht dazu und ließ mich verwirrt stehen. Klar, sie hatte Recht mit dem, was sie sagte, aber was hatte das zu bedeuten? Ich ging in mein Zimmer und saß einige Minuten sehr nachdenklich auf meinem Bett. Ich war einfach nur ratlos. Alles, was ich mit Stef bislang erlebt hatte, war einfach sehr heftig gewesen. Entweder, weil es einfach schreckliche Erlebnisse waren, die sich mir offenbarten oder weil ich zu ihm eine immer stärker werdende emotionale Bindung spürte. Ich war verunsichert, was bedeutete das? Einerseits wollte ich mit Stef möglichst viel zusammen sein, andererseits war mir bewusst, dass ich bald viele hundert Kilometer von ihm entfernt sein würde. Das beunruhigte mich. Ich spürte dieses Grummeln im Bauch. Verdammt.
Ich lag einige Zeit sehr nachdenklich auf meinem Bett. Ich überlegte, wer könnte mir in dieser Situation helfen? Papa hatte mir nur gesagt, ich sollte meinem Gefühl nachgehen und das wäre sicher richtig. Das half mir aber nicht wirklich. Was war denn mein Gefühl gerade?
Leif war sowieso gerade keine Hilfe, der hatte eh nur Partys und Mädchen im Kopf. Ich könnte Nico oder Tommy anrufen, aber die waren auch weit weg in der Schweiz. Zu Hause würde ich zu ihnen fahren und mit ihnen mal reden. Das half mir aber jetzt nichts. Es machte sich ein wenig Panik breit. Ich bemerkte eine Ratlosigkeit. Das war mir vollkommen neu. Sonst hatte ich immer eine Idee oder wusste, wen ich fragen konnte. Da fiel mir die vielleicht rettende Idee ein. Mick!
Ich sprang vom Bett auf und griff zum Handy. Hoffentlich war er überhaupt erreichbar. Ich war erleichtert, als ich seine Stimme hörte.
„Luc, das ist aber eine Überraschung. Wie geht es dir in München?“
Ich überlegte eine Sekunde, dann war mir klar, ich musste es ihm sagen.
„Ich glaube, gerade geht es mir gar nicht gut. Ich weiß nicht, was mit mir los ist.“
Einen Moment war Stille am anderen Ende, dann konnte ich hören, wie Mick mit Lukas irgendetwas flüsterte.
„Luc, geht es um Stefan? Hast du ein Problem mit ihm?“
„Nein, ... ich habe ein anderes Problem. Ich habe ein Problem mit…….mir.“
Ich wurde richtig traurig. Und ich spürte ein Gefühl in mir hochkommen. Es war einfach unangenehm. Mick bemerkte es sofort.
„Mensch, beruhige dich erst einmal wieder. Möchtest du mir etwas erzählen? Ich höre dir zu.“
Ich nahm meinen Mut zusammen und berichtete Mick, was ich in den letzten Tagen und insbesondere heute mit Stef erlebt hatte. Er ließ mich erzählen, und erst als ich fertig war, konnte ich einen tiefen Seufzer hören.
„Hmm, also ich habe das Gefühl, du machst dir Gedanken über deine Zukunft mit Stefan. Du fragst dich eben, was machen deine Gefühle mit dir gerade. Darf ich dich mal etwas fragen?“
„Klar, schieß los.“
„Es gefällt dir, mit Stefan zusammen zu sein und seine Nähe zu spüren, oder?“
„Ja!“
„Ein Kribbeln im Bauch, wenn ihr euch nahe seid? Es breitet sich ein tolles Gefühl im ganzen Körper aus, wenn ihr euch berührt?“
„Ja, auch das, warum fragst du das?“
Mick überlegte einen Moment, dann sagte er.
„Luc, zweifele nicht an deinen Gefühlen. Wenn es so ist, dann ist es so. Ich glaube, du weißt es auch selbst, was gerade passiert. Wehre dich nicht dagegen. Ich weiß, das ist verwirrend, aber ich kann dir sagen, es ist schön und befreiend, wenn du es einfach so akzeptierst, wie es ist. Du bist auf dem Weg, dich zu verlieben. Das ist doch toll.“
Ich hatte es geahnt, Mick würde es mir direkt sagen, aber ich würde bald sehr weit weg sein. Wie sollte das weiter gehen.
„Aber ich fahre bald nach Hause und Stef bleibt hier. Das hat doch keine Zukunft. Was soll ich jetzt machen? Ich will ihn nicht enttäuschen.“
„Es wird für alles eine Lösung geben. Du musst nur suchen. Redet ganz offen über eure Gefühle und findet eine gemeinsame Lösung. Es wird nur gemeinsam gehen. Hast du mit Mama und Papa schon gesprochen?“
„Nein, nicht direkt. Ich will nicht noch mehr Probleme für Papa machen.“
„So ein Unsinn, rede mit Papa und er wird sicher mit dir an einer Lösung arbeiten. Er hat mir damals auch geholfen, als ich merkte, dass Lukas für mich etwas Besonderes ist. Hör auf, dich dagegen zu wehren, sondern lasse es einfach so geschehen.“
„Du meinst …, ich soll einfach meinem Gefühl nachgehen? Was ist, wenn ich merke, dass er auch mehr möchte? Soll ich es einfach zulassen?“
„Absolut! Lasst euch von euren Gefühlen leiten. Ich weiß, dass du da ganz sicher das Richtige tun wirst. Stefan wird sich auf dich verlassen. Also geh es positiv an und versuche nicht, vor deinen Gefühlen wegzulaufen. Sie werden dich immer wieder einholen. Und eines ist ganz sicher. Mama und Papa werden dich so unterstützen, wie sie uns unterstützt haben. Du musst nur sagen, wenn du Hilfe brauchst.“
Es war erleichternd von Mick diese Worte zu hören.
„Danke, Mick. Du hast mir sehr geholfen.“
„Gerne, kleiner Bruder. Ein Tipp noch, lass Leif in Ruhe damit. Er wird dir im Moment damit nicht helfen können. Er hat genug eigene Probleme, nur hat er es noch nicht gemerkt. Im Gegensatz zu dir. Also ich bin stolz darauf, dein großer Bruder zu sein. Und Lukas auch. Er steht nämlich gerade mir gegenüber und zeigt mir den Daumen hoch.“
„Vielen Dank, schöne Grüße an Lukas. Ich glaube, ich weiß jetzt besser, damit umzugehen. Wann sehen wir uns mal wieder?“
„Ich denke in drei Wochen sind unsere Klausuren durch, dann kommen wir für eine Woche nach Hause. Dann sehen wir uns bestimmt. Und ruf mich an, wenn du mich brauchst. Dafür haben wir immer Zeit.“
Ich verabschiedete mich von ihm und fiel erleichtert auf mein Bett. Ich las noch ein wenig in den neuesten Unterlagen für die Werkstatt und schlief dann recht bald und todmüde ein.
Das Ende des Praktikums und die Rückkehr nach Hause
Der Donnerstag verlief ganz normal und ich hatte mit Mario sehr viel zu tun. Abends hatte ich wieder mit Stef telefoniert und wir hatten verabredet, dass er schon am frühen Freitagnachmittag zu mir kommt. Ich wollte die letzten Stunden in München mit ihm gemeinsam verbringen. Mario hatte mit Karl geklärt, dass er mit uns zum Flughafen kommt und deshalb pünktlich Feierabend machen möchte.
Ich hatte heute für Karl und Barbara noch eine Kleinigkeit vorbereitet. Karl hatte sich eine neue Stingray zugelegt und war ein wenig neidisch auf die tolle Lackierung, die ich für einen Kunden entworfen hatte. Ich hatte abends die Zeit genutzt und das Design für sein Auto weiterentwickelt. Michael hatte den Entwurf bereits gesehen und war total begeistert. Das wollte ich ihm schenken, als Dankeschön für die tollen drei Wochen hier in München.
Als ich mit Mario morgens in die Firma kam, ließ mich Michael gleich zu sich ins Büro rufen. Dort stand ich nun vor ihm.
„Guten Morgen Michael, was gibt es denn, dass ich sofort antreten muss?“
Er lachte und meinte:
„Keine Angst Lucien, ich möchte dir nur etwas zeigen. Du hattest mir deinen Entwurf gegeben und ich habe das fertig gemacht. Möchtest du mal schauen, wie das jetzt aussieht?“
„Klar, lass mal sehen, bitte.“
„Gut, dann komm mal mit.“
Ich war jetzt irritiert. Er könnte mir das doch auf seinem Computer zeigen. Aber ich folgte ihm aus dem Büro, hinaus auf den Hof. Dort stand ein Transporter mit einem Auto darauf. Das Auto war unter einer Plane verdeckt. Ich wusste gerade nicht, was Michael nun vorhatte. Als wir vor dem Transporter standen, drehte er sich zu mir.
„Lucien, der Chef hatte seine neue Stingray ja gleich umbauen lassen. Ein paar Pferdchen mehr und ein paar optische Veränderungen. Das habe ich gleich zum Anlass genommen, dem Lackierer einen Auftrag zu geben. Damit der Chef nicht sofort etwas merkt, haben wir das gestern heimlich machen lassen. Der Chef denkt, wir haben sie nur zum TÜV gebracht wegen der Eintragungen.“
„Äh, heißt das, du hast meinen Entwurf etwa gleich auf das Auto gebracht?“
„Genau, willst du mal sehen?“
Schlagartig erhöhte sich mein Puls. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Michael ging nun zum Auto und zog die Plane vom Auto. Mir blieb fast die Luft weg. Sah das auf dem Papier schon toll aus, war es in der Realität geradezu umwerfend.
„Meine Güte, das sieht echt cool aus. Das hast du gut hinbekommen.“
„Nein, Lucien, ich habe nicht mehr viel geändert. Das ist dein Entwurf. Ich bin jetzt nur mal gespannt, was der Chef dazu sagt. Aber wenn es ihm nicht gefällt, kann ich ja sagen, es war deine Idee.“
Mir wurde gerade ein wenig übel. Meinte er das ernst? Erst, als ich sein Grinsen sah, wusste ich, dass es Spaß war.
„Keine Sorge, es wird ihm gefallen. Er hatte sich den anderen Entwurf schon ganz genau angesehen. Da war er schon neidisch und jetzt wird sein Auto deinen Entwurf tragen und ich bin mir sicher, dass er total begeistert sein wird.“
Ich ging noch einmal um das ganze Auto herum und war verblüfft. Es sah wirklich toll aus. Hoffentlich würde sich Karl darüber freuen. Immerhin hatten wir einfach sein Auto neu lackieren lassen.
Michael deckte die Stingray sorgfältig wieder ab und wir vereinbarten, dass Michael Karl nach dem Mittagessen sein Auto zurückgeben würde.
Mario wartete schon auf mich.
„Na, wo warst du denn so lange? Hat dich Michael wieder etwas entwerfen lassen?“
„Nein, oder doch, ja. Aber nicht so, wie du denkst.“
„Hä? Wie meinst du das denn?“
„Ach, kann ich jetzt nicht erklären, du wirst es noch später sehen. Was steht heute Morgen noch an?“
„Herr Geiger meinte, ich soll heute mit dir nur an deinem Camaro arbeiten. Also die Karosserie auseinander bauen und alle Anbauteile entfernen. Dann kann das alles gerichtet und sandgestrahlt werden. Er meinte, dann hast du Zeit in der Schweiz deinen Entwurf für die Lackierung zu machen.“
„Er lässt dich einfach einen Tag an meinem Auto arbeiten? Wow.“
„Naja, weißt du, bisher habe ich noch nie an einem echten Oldtimer arbeiten können. Er meinte, für meine Prüfung könnte das auch nicht so schlecht sein. Also, fangen wir an?“
„Klar, auf geht’s. Nur, wie bekommen wir das Auto hier her. Es fährt ja nicht.“
„Wir gehen dorthin. Wir arbeiten in der Halle, wo das Auto steht. Werkzeug haben wir alles dort. Außerdem haben wir dort unsere Ruhe.“
Wir machten uns umgehend auf den Weg dorthin. Mario sagte dem Meister noch Bescheid und schon waren wir verschwunden. Ich wurde ein wenig nervös, es war schon etwas anderes, am eigenen Auto zu schrauben. Mario zeigte mir wirklich viele kleine Tricks und Tipps, wie man alte Schrauben lösen konnte, ohne dass etwas kaputt ging. Wir entfernten alle Chromleisten und bauten alle Scheiben aus. Jedes Teil bekam einen Zettel mit der Beschreibung, wo es hingehörte. Alle Hauben und Türen entfernten wir und legten sie sorgfältig an die Seite. Dann begannen wir damit, alle noch vorhandenen Kabel auszubauen. Diese mussten nicht wiederverwendet werden und konnten entsorgt werden. Karl würde einen neuen Kabelbaum besorgen.
Die Zeit verging wie im Fluge. Ich hatte überhaupt nicht mehr auf die Uhr geachtet und plötzlich kam Karl zu uns.
„Hallo ihr zwei. Wollt ihr nicht langsam mal Mittag machen? Sonst ist der Tag zu Ende und ihr habt nichts gegessen. Und ich bekomme dann mit Marc Ärger, wenn Luc zu Hause fast verhungert ankommt.“
Jetzt mussten wir alle lachen. Karl schaute sich unsere Arbeit an und Mario hatte noch ein paar konkrete Fragen zu dem alten Auto. Karl riet ihm, das mit seinem Meister zu besprechen, weil der viel mehr Erfahrung mit alten Autos hatte. Zu dritt verließen wir die Halle und Mario und ich gingen uns die Hände waschen. Als wir wieder beim Meister aufkreuzten, sagte Mario diesem Bescheid, dass wir zum Essen gehen würden.
Wir saßen, wie schon so oft in den vergangen Tagen, beim Griechen und Mario schien sehr nachdenklich zu sein. Er war im Gegensatz zu sonst sehr still.
„Luc, ich finde es wirklich schade, dass heute schon dein letzter Tag ist. Ich werde dich vermissen.“
„Ach Mario, ich bin ja nicht aus der Welt und wir werden uns ganz sicher wieder sehen. Spätestens, wenn ich nach München komme und euch besuchen werde. Ich will ja schließlich meinen Camaro irgendwann auch mal fahren können.“
„Aber was wird mit Stef? Er wird noch mehr daran zu knabbern haben, dass du wieder in die Schweiz fährst. Du bist seit ganz langer Zeit für ihn ein Freund geworden, der ihn immer unterstützt hat. Ohne dich wären wir niemals schon dort, wo wir jetzt sind.“
„Auch das sehe ich anders. Ihr werdet euren Weg jetzt machen. Es ist nun bekannt, was Stef erlebt hat und was du auch erleiden musstest. Du wirst dich um ihn kümmern. Außerdem hast du mit deinem Chef und Barbara tolle Unterstützer. Du musst nur aufhören, immer alles allein lösen zu wollen. Und aufgrund der Erfindung des Telefons und des Internets können wir regelmäßig miteinander reden.“
Jetzt musste er schmunzeln. Das gefiel mir gut.
„Stef ist sehr traurig, dass du heute zurückfliegst. Er hat Angst, dass du ihn schnell vergessen wirst.“
„Nein, Mario, ganz sicher nicht. Ich mag ihn genauso, wie er mich. Ich werde ihn weiter unterstützen und auch mit ihm Zeit verbringen. Hat er dir noch nichts von dem Ticket gesagt?“
„Welches Ticket? Nein, er hat nichts erwähnt.“
„Ich habe ihm am Mittwoch ein Ticket für einen Flug in die Schweiz gegeben. Ich will, dass er mich in den nächsten Ferien besuchen kommt. Meine Eltern haben das so entschieden. Ich bin allerdings sehr froh darüber. Also wird er sich bei uns ansehen können, wie ich lebe und wo ich zur Schule gehe. Außerdem wird er meine Freunde kennenlernen.“
„Man, wie geil ist das denn? Du bist verrückt, weißt du das? Das wird für ihn sicher ein ganz wichtiger Schritt sein. Er kann spüren, dass er auch wichtig für dich ist. Toll.“
„Mario, er ist wichtig für mich. Ganz richtig. Ich möchte weiterhin mit ihm Zeit verbringen.“
Mario schaute mich jetzt ein wenig fragend an und ich konnte sehen, dass er sich Gedanken machte. Allerdings ging er nicht weiter darauf ein. Wir hatten auch nicht mehr so viel Zeit, bezahlten unser Essen und machten uns wieder auf den Weg in die Firma.
Wir waren soeben in der Werkstatt angekommen, als uns Karl über den Weg lief.
„Halt, ihr beiden. Wo wollt ihr hin? Ich glaube, wir haben etwas zu besprechen. Michael hat uns zu sich gerufen. Habt ihr was angestellt?“
Ich musste schlucken, jetzt würde es ernst werden. Also gute Miene machen und unwissend tun.
„Nein, Herr Geiger, wir waren bis eben noch etwas essen und davor haben wir doch an dem alten Camaro geschraubt.“
Mario nahm mir die Antwort ab und ich war ihm dafür sehr dankbar.
„Hmm, dann lasst uns mal gehen. Er meinte, es wäre wichtig und ich sollte euch beide mitbringen. Was da wohl los ist.“
Zu dritt machten wir uns nun auf den Weg zu Michael, allerdings kam er uns schon auf der Treppe entgegen und fing uns entsprechend ab.
„Das trifft sich gut, ihr drei folgt mir umgehend zum Objekt.“
Karl schaute etwas verwirrt und ich wurde immer nervöser. Karl sagte nichts weiter und wenige Minuten später standen wir in der Auslieferungshalle vor einem verhüllten Automobil.
„Was soll das denn bitte? Seit wann werden hier die neuen Autos verhüllt? Wer hat sich das denn ausgedacht?“
Karl wurde richtig ungehalten und schaute uns beide dabei an.
Ich wurde ziemlich rot und Michael setzte dem noch einen oben auf, indem er ergänzte:
„Das ist der Grund, weshalb ich die beiden dabei haben will.“
Dabei zeigte er zuerst auf das Auto und dann auf uns. Mario wurde richtig blass und mir rutschte das Herz in die Hose. Hoffentlich würde das gut ankommen, was gleich zum Vorschein kam.
„Also, Jungs, was hat das zu bedeuten? Ich will wissen, was da unter der Plane versteckt ist und zwar zügig.“
Ich nahm jetzt meinen Mut zusammen und versuchte sehr cool zu wirken.
„Nun, Karl, vielleicht schaust du einfach mal nach. Ich weiß es nämlich auch nicht, was sich da unter der Plane versteckt.“
Karl schaute mich ratlos an und schritt zur Tat. Mit einem Ruck zog er die Plane herunter und blieb wie angewurzelt stehen. Seine Augen wurden groß und seine Gesichtsfarbe tendierte in Richtung weiß.
„Was … was bitte ist das? Wer hat das gemacht? Ist das etwa mein Auto?“
„Tja Chef, das ist der Grund, weshalb ich die beiden da mit hierher haben wollte.“
Karl drehte sich zu uns um und schaute mich an.
„Luc, das ist nicht dein Ernst. Du hast das zu verantworten?“
Ich nickte ein wenig zögerlich, ich konnte immer noch nicht erkennen, ob Karl sich freute oder stinksauer war. Erst jetzt kam er auf mich zu und umarmte mich.
„Junge, wie geil ist das denn bitte? Du hast es echt gewagt, das einfach zu machen? Oder wie geht das?“
„Nun ja, Karl, eigentlich hat Michael es zu verantworten. Ich habe nur das Motiv entworfen. Ich ... ich hatte echt keine Ahnung, dass er das sofort hat machen lassen.“
„Gott sei Dank, hat er das so gemacht. Luc, es ist Weltklasse geworden. Vielen Dank. Das ist eine echte Überraschung.“
„Also es gefällt dir? Ich hatte echt ein wenig Schiss, dass es zu heftig ist. Immerhin ist das Auto nagelneu.“
„Absolut perfekt. Genauso habe ich es mir gewünscht. Aber dafür musst du jetzt in mein Büro kommen. Wir müssen da noch etwas besprechen. Kommst du bitte gleich zu mir.“
Ich sagte natürlich nicht nein, aber zuerst ging ich noch mit Mario zurück in die Werkstatt. Wir unterhielten uns noch einen Moment über das eben geschehene. Mario war auch sichtlich erleichtert, dass es seinem Chef so gut gefallen hatte. Ich redete noch mit Mario kurz darüber, dass ich dann am Auto auf ihn warten würde, um gemeinsam mit ihm nach Hause zu fahren.
Einige Minuten später klopfte ich bei Karl an die Bürotür. Nach dem deutlichen „Herein“ betrat ich sein Büro.
„Hallo Luc, setz dich bitte. Möchtest du etwas trinken? Einen Kaffee vielleicht?“
„Ja gerne, du wolltest mich noch einmal sprechen?“
Karl hatte noch seine Sekretärin beauftragt für mich einen Kaffee zu bringen und dann begann unser Gespräch.
„Also, heute sind die drei Wochen schon wieder vorbei. Ich möchte dir sagen, dass es uns hier sehr gut mit dir gefallen hat. Nicht nur die Arbeit, auch dass du für Stefan Verantwortung übernommen hast und dich für ihn eingesetzt hast, ist nicht selbstverständlich.“
„Mir hat es auch sehr viel Spaß gemacht, allerdings die Sache mit Stef hat mir weniger Spaß gebracht, aber ich freue mich sehr, dass ihr mich auch unterstützt und nicht gezögert habt, zu helfen.“
„Du musst deine Leistungen nicht herunterspielen. Luc, ich möchte dir anbieten, deine nächsten längeren Ferien hier zu verbringen. Du kannst wieder bei uns arbeiten und dann auch regulär bezahlt. Kannst du dir das vorstellen?“
„Klar, aber wie machen wir das dann mit dem Wohnen und der Verpflegung? Ich kann ja nicht …“
„Stopp, natürlich wirst du wieder bei uns wohnen. Außerdem kenne ich da mindestens zwei Jungs, die sich auch sehr freuen werden, wenn du wieder hier bist.“
Dabei musste er grinsen. Ich hingegen wurde ziemlich rot. Es klopfte und unser Kaffee kam.
Karl wartete, bis die Dame das Büro wieder verlassen hatte und dann öffnete er seinen Schreibtisch.
„Also damit du nicht auf komische Ideen kommst, hier ist deine Beurteilung für die Schule und in diesem Umschlag ist noch etwas für dich. Ich möchte darüber mit dir nicht diskutieren, du hast hier gute Arbeit geleistet.“
Er gab mir zwei Umschläge. In dem einen war die erwähnte Beurteilung, die sich wirklich sehr gut las. In dem anderen Umschlag waren 150 Euro. Das ließ mich doch erstaunen. Karl bemerkte das natürlich sofort.
„Sag nichts und steck es ein. Es war eine schöne Zeit mir dir und ich würde mich sehr freuen, wenn du wieder kommen würdest.“
„Danke, Karl. Ja, es war sehr schön bei euch. Ich komme gerne wieder. Darf ich dich noch um einen Gefallen bitten?“
Karl lächelte und nickte.
„Ich weiß schon, was du möchtest. Aber sprich.“
„Ähm, ja, ich möchte, dass du dich auch weiterhin um Mario und Stefan kümmerst. Wir sind ja sehr weit weg.“
„Luc, ich verspreche dir, Mario wird ein guter Mechaniker bei uns und somit werden wir uns weiterhin um beide kümmern. Sei beruhigt.“
Karl stand jetzt auf und ich konnte nicht anders, als ihn zu umarmen.
„Danke, für alles.“
Wir verabschiedeten uns bis zum Abend. Barbara und er wollten mich zum Flughafen bringen und das freute mich sehr. Ich verließ das Büro und traf mich mit Mario am Auto. Auf dem Weg dorthin verabschiedete ich mich bei allen Mitarbeitern, mit denen ich mehr zu tun hatte. Mario schaute mich gespannt an, als ich zu ihm kam.
„Na, hast du dich von deinem Arbeitsplatz verabschiedet? Ich kann immer noch nicht glauben, dass drei Wochen schon vorbei sind.“
„Ich habe allen auf Wiedersehen gesagt. Ich komme ja wieder. Vielleicht nicht als Praktikant, aber ich komme wieder. Und ja, du hast Recht, die drei Wochen sind sehr schnell vorbei gegangen.“
„Wo möchtest du jetzt zuerst hin? Soll ich dich nach Hause bringen oder kommst du mit, Stef abholen?“
„Ganz ehrlich, ich möchte erst nach Hause, duschen und meine Taschen packen. Wenn Stef kommt, möchte ich nur Zeit für ihn haben. Ist das in Ordnung?“
„Na klar, kann ich verstehen. Ich werde am Wochenende mit ihm in die neue Wohnung fahren. Vielleicht bekomme ich heute noch den Schlüssel.“
„Was machst du mit Stef gleich noch?“
„Wir haben noch was zu erledigen, das passt dann ganz gut, wenn du erst nach Hause möchtest.“
Wir stiegen in seinen Jeep und nach etwa zwanzig Minuten stand ich vor dem Haus der Geigers. Ich ging hinein und nahm erst mal eine heiße Dusche. Meine Gedanken kreisten um die letzten drei Wochen. Was hatte ich alles erlebt. Eine tolle Zeit, aber auch eine Situation, die mich zum Nachdenken gebracht hatte. Mir war bewusst geworden, wie privilegiert meine Position war. Das wollte ich nutzen, um Stef und Mario zu helfen, in eine bessere Zukunft zu schauen. Außerdem habe ich einen tollen neuen Freund kennengelernt. Stef sollte in Zukunft ein sehr enger Freund werden, das nahm ich mir vor.
Hoffentlich würde es mir gelingen, ihm eine gute Zukunft zu zeigen. Ich wusste aber auch, ohne Mama und Papa würde das nicht gehen.
Eine halbe Stunde später war ich bereits dabei, meine beiden Taschen zu packen. Ich staunte, wie viele Sachen ich dabei hatte, die ich gar nicht benutzt hatte. Für Karl und Barbara hatte ich noch eine große Schachtel Pralinen besorgt und legte diese ins Wohnzimmer. Ich hatte noch eine kleine Karte dazu geschrieben. Ein wenig Wehmut breitete sich bei mir aus. Zu Beginn hatte ich doch ein wenig Bedenken, das Praktikum so weit weg von zuhause zu machen. Heute spürte ich ein Gefühl der Befriedigung und des Stolzes, alles geschafft zu haben. Außerdem hatte ich sehr viel gelernt.
Der schwierigste Teil stand mir allerdings noch bevor. Ich musste mich von Stef verabschieden. Daran wollte ich einfach noch nicht denken, aber ich konnte es nicht verhindern. Ich war froh, als Mario mit Stef dann kam. Stef kam in mein Zimmer und wir standen uns einen Moment wortlos gegenüber. Ich ging einen Schritt auf ihn zu und wir umarmten uns sehr lange.
„Hey, warum so traurig, wir sind doch noch den ganzen Nachmittag zusammen.“
Stef holte tief Luft und wir lösten uns aus der Umarmung.
„Schon, aber was ist dann? Du wirst nicht mehr da sein. Ich vermisse dich jetzt schon. Ich habe Angst vor der Zukunft.“
„Nein, Stef, ich bin nicht weg. Ich bin nur nicht mehr hier in München. Aber deine Zukunft sieht doch viel besser aus, als vor drei Wochen. Sei nicht so ängstlich. Es wird schon klappen. Und in drei Wochen sehen wir uns dann ja bei mir zu Hause.“
„Das kann ich immer noch nicht so richtig begreifen, dass deine Eltern einfach sagen, wir machen das so. Wie soll ich das wieder gut machen?“
„Indem du mich einfach besuchst. Damit wirst du meiner Familie die größte Freude machen. Stef, ich freue mich jetzt schon, dir alles zeigen zu können. Es wird dir bestimmt gefallen.“
Wir standen am Fenster und schauten gemeinsam in den kleinen Park, wo alles begonnen hatte. Stef schwieg und ich ließ ihn einfach in Ruhe. Ich hatte immer noch nicht begriffen, wie verzweifelt jemand sein musste, um so etwas tun zu müssen. Bislang wollte Stef nicht erneut darüber reden. Papa hatte mir geraten, ihn damit nicht zu konfrontieren, bis er von sich aus bereit war, darüber zu sprechen.
Einige Augenblicke später legte er seinen Arm um mich und ich tat es ihm gleich.
„Luc, ich weiß nicht warum, aber jedes Mal wenn ich mit dir zusammen bin, möchte ich dich in den Arm nehmen. Ist das normal? Aber es fühlt sich so gut an.“
Mein Gesicht füllte sich mit Blut und eine starke Wärme breitete sich aus.
„Mir ist das egal warum, aber ich finde es genauso schön. Also warum soll ich mir die Frage stellen, ob es normal ist. Ich genieße es einfach.“
Dieser Moment war unfassbar. Wir standen nebeneinander und schauten wortlos in den Park. Stef zögerte, es schien so, als ob er mit sich und seinen Gefühlen kämpfen würde.
„Kommst du mit mir in den Park. Ich möchte noch einmal an den Anfang zurück. Und in das Café, wo du mit mir warst.“
„Willst du das wirklich? Tut das nicht weh, da wieder hinzugehen?“
„Ich weiß es nicht, aber ich möchte es versuchen. Herr Mayr hat mir gesagt, dass es wichtig sei, einen Abschluss zu finden. Aber ich habe Angst allein dorthin zu gehen. Heute ist ja die letzte Chance, es mit dir gemeinsam zu tun.“
„Dann lass uns gehen. Du musst mir aber etwas versprechen.“
„Ja?“
„Wenn es zu schmerzhaft wird, sagst du es mir bitte. Ich will einen schönen letzten Nachmittag mit dir haben.“
„Einverstanden.“
Wir zogen unsere Jacken an und ich sagte Mario noch Bescheid. Allerdings hatte er noch eine Information für mich, als ich in das Wohnzimmer kam.
„Ich soll euch von Barbara und Karl sagen, dass sie uns um halb sechs abholen. Wollen wir vorher noch etwas zusammen essen?“
Ich überlegte einen Moment und wir entschieden dann, Mario sollte für fünf Uhr eine Pizza bestellen. Damit verließ ich das Zimmer und mit Stef anschließend das Haus.
Als wir den Park betraten, nahm Stef meine Hand. Ich war erst einen Moment irritiert, es war ja noch hell und ich wollte nicht, dass es noch zu einer unangenehmen Situation kommt. Allerdings fühlte es sich gut und richtig an, also erinnerte ich mich an die Worte meines Papas. Ich folgte meinem Gefühl. So gingen wir Hand in Hand durch den Park. Wir sprachen kein Wort miteinander. Dennoch war es einfach toll, ihn zu spüren und mit ihm gemeinsam hier entlang zu gehen.
„Weißt du, es fühlt sich toll an, mit dir hier entlang zu gehen. Ich habe keine Angst mehr. Aber ob ich allein hier noch einmal sein werde, ich weiß es nicht.“
„Ja, das verstehe ich. Für mich ist es auch schön, mit dir gemeinsam hier zu sein. Sollen wir jetzt Richtung Café gehen?“
Er nickte mir zu und so steuerten wir das kleine Café an, wo ich damals mit ihm das erste Treffen hatte. Ich bestellte uns zwei heiße Kakao und jeweils eine frische Waffel dazu. Als ich am Tisch ankam, saß Stef bereits und wartete auf mich. Ich stellte das Tablett ab und setzte mich ihm gegenüber. Seine Augen fixierten mich, ich spürte eine gewisse Anspannung bei mir. Was hatte das zu bedeuten? Ich schob ihm seinen Kakao zu und wir schauten uns in die Augen. Da holte er aus seiner Jacke einen Umschlag und legte ihn auf den Tisch. Ich konnte erkennen, dass mein Name vorne darauf stand.
„Ich möchte, dass du diesen Umschlag mitnimmst. Aber du darfst den erst lesen, wenn du heute Abend im Bett liegst. Das musst du mir versprechen.“
Seine Augen zeigten eine deutliche Anspannung und große Unsicherheit. Er war mindestens genauso aufgeregt, wie ich.
„Ich verspreche es, aber es ist nicht nötig, dass du mir etwas schenken musst. Ich möchte, dass du mir deine Freundschaft schenkst.“
Jetzt lachte er wieder. Ein toller Anblick.
„Das werde ich ganz sicher tun. Aber ich möchte dir noch etwas sagen. Schon ein paar Tage, aber ich schaffe es einfach nicht. Bitte sei mir nicht böse, ich habe es versucht aufzuschreiben, aber bitte erst lesen, wenn du zu Hause im Bett liegst.“
Ich steckte den Umschlag in meine Jacke und gab ihm mein Wort, es nicht vorher zu lesen. Ich schaute zur Uhr und musste leider feststellen, dass unsere Zeit schon fast vorbei war. Wir mussten uns wieder auf den Heimweg machen. Auch hier sprachen wir nicht viel. Ich selbst war mit meinen Gedanken schon in der Zukunft. Mir wurde bewusst, dass Stef mehr als nur ein guter Freund geworden war. Ich wollte, dass er häufiger an meiner Seite sein würde. Wir verstanden uns mittlerweile fast ohne Worte. Ein Gefühl verband mich mit ihm, wie es noch nie zuvor mit irgendjemand anderem war. Mir kam das Gespräch mit Mick wieder in den Sinn. Sollte ich Stef jetzt davon erzählen? Nein, ich beschloss, es erst zu tun, wenn er mich besuchen würde. So lange wollte ich mir selbst Zeit geben.
Bis wir zu Hause waren, sprachen wir nicht mehr viel. Wir hatten beide unsere Probleme mit den Gedanken. Aber ich spürte eine Nähe zu Stef, als ob er mein Bruder wäre, oder wir uns schon ewig kannten. Mario hatte uns bereits das Essen warm gestellt. Wir setzten uns gemeinsam an den Esstisch und widmeten uns dem Essen.
Es blieb nicht mehr viel Zeit, bis uns die Geigers abholen würden. Mario hatte das Bedürfnis, mir zu erklären, wie dankbar er für meine Hilfe war. Ich empfand das ein wenig unangenehm, denn für mich war das absolut selbstverständlich. Er musste mir versprechen, nicht auf die Idee zu kommen, irgendetwas wieder gut machen zu müssen. Ich gab ihm noch die Handynummer von Mick, falls er mal einen Rat oder schnelle Hilfe brauchen würde. Plötzlich klingelte es an der Haustür. Wir sahen uns ein wenig verwundert an. Ich stand auf und ging zur Tür und sah Karl vor der Tür.
„Warum klingelst du an deinem eigenen Haus?“
„Weil ich euch nicht stören wollte. Ich wusste ja nicht, was ihr so macht zum Abschied.“
Dabei grinste er so dermaßen dreist, dass ich nur lachen konnte.
„Seid ihr soweit, wir müssen los. Du musst rechtzeitig am Schalter sein.“
„Ja, wir können los. Mario soll dann hinter uns herfahren.“
„Nein, er soll bei uns mitfahren. Ich habe genug Platz, schau mal.“
Er machte einen Schritt zur Seite und gab mir den Blick frei auf eine ewig lange, weiße Stretchlimousine. Ich hätte es mir denken können, dass sich Barbara das nicht nehmen lassen würde.
„Mario, Stef, kommt ihr. Unser Taxi ist da.“
Einen Moment später kamen die beiden aus der Küche und schauten uns fragend an. Ich nahm schnell meine Taschen und schaute noch einmal, dass die Pralinen auch gut sichtbar auf dem Tisch standen. Mario nahm mir eine Tasche ab und dann verließen wir gemeinsam das Haus. Bevor ich in die Limousine einstieg, schaute ich noch einmal zurück auf das Haus und den Park. Ich würde sicher einige Zeit nicht mehr hier sein. Schade, wie ich fand. Es hatte mir gut gefallen in München. Ich stieg ein und Herr Rügamer schloss die Tür. Im Auto hatte Barbara schon ein paar kalte Getränke vorbereitet und die beiden Geigers boten noch einmal alles auf, was ging. Es war schon eine lustige Gesellschaft. Obwohl wir alle viel Spaß hatten und noch einmal auf einige Dinge zurückschauten, Stef wurde immer stiller, je näher wir dem Flughafen kamen. Ich nahm ihn einfach in den Arm und er kuschelte sich an mich. Keiner der anderen sagte dazu etwas. Sie ließen uns einfach in Ruhe.
Herr Rügamer öffnete die Tür und wir stiegen aus der Limousine. Es war schon ein wenig merkwürdig, aber ich hatte begriffen, dass gehörte zu den Geigers auch mit dazu, manchmal ein wenig zu übertreiben. Mario nahm eine Tasche, und bevor ich die andere Tasche nehmen konnte, hatte Karl sie schon in der Hand. Er gab mir mit einem Zeichen zu verstehen, dass ich mich um Stef kümmern sollte.
Das Einchecken ging sehr schnell und somit war der Zeitpunkt des Abschieds endgültig gekommen. Stef hatte Tränen in den Augen und Mario und die Geigers hatten sich schnell verabschiedet. Sie wollten uns allein lassen. Ein toller Zug, wie ich fand. Wir hatten ja auch bereits alles besprochen gehabt.
Stef umarmte mich noch einmal und dann gab er mir einen Abschiedskuss. Es dauerte nur einen Moment, aber dieser Moment war einfach nur toll.
„Hey, sei nicht so traurig. Ich rufe dich an, wenn ich zu Hause bin. Versprochen! Wir können uns schreiben und in drei Wochen sehen wir uns dann bei uns in der Schweiz.“
Er nickte stumm und ich wollte es eigentlich nicht, aber ich nahm meinen Mut zusammen und gab ihm noch einen kleinen Abschiedskuss auf die Wange. Zum Schluss hatte ich mir überlegt, ihm den Umschlag mit dem Geld von Karl zu geben. Ich hatte genug Taschengeld und war mir sicher, er könnte es sehr gut gebrauchen.
„Hier, diesen Umschlag steckst du bitte ein. Ich möchte, dass du ihn erst zu Hause öffnest.“
Er steckte ihn wortlos ein. Er konnte, genau wie ich, nicht mehr viel reden.
Dann musste ich gehen, denn die Passagiere wurden aufgerufen, in das Flugzeug einzusteigen. Ich winkte noch einmal und dann war die Tür zu. Ich war allein. Als ich auf meinem Sitz Platz genommen hatte, wurde mir erneut bewusst, dass die letzten drei Wochen sehr ereignisreich gewesen waren und ich sehr aufgewühlt war. Wie musste es jetzt Stef gehen? Ich sah auf mein Handy, bevor ich es ausschalten musste. Stef hatte mir noch einen Gruß geschickt und auch Mario ein Danke für alles. Das tat schon gut.
Damit war das Kapitel München für mich vorerst einmal beendet. Das Flugzeug rollte zum Start und hob ab. Ich versuchte mich zu entspannen und nahm mir meinen Kopfhörer und gönnte mir ein paar Lieder von Santiano. Das hatte auch schon meinen großen Brüdern geholfen.
Der Flug verlief reibungslos und nach gut 75 Minuten Flugzeit setzten wir in Genf zur Landung an. Das Flugzeug setzte butterweich auf und rollte in die Parkposition. Jetzt wurde ich ein wenig nervös. Die Freude, meine Eltern wiederzusehen, wurde doch deutlich spürbar. Ich nahm meine Sachen und verließ die Maschine. Im Terminal bekam ich sogar recht schnell meine Taschen und konnte den Sicherheitsbereich verlassen.
Ich schaute mich um und dann sah ich meine Mutter auf mich zukommen. Sie strahlte und bevor ich noch etwas tun konnte, hatte sich mich in die Arme genommen.
„Hallo, mein Schatz. Ich bin so froh, dass du wieder zurück bist. Ich habe dich vermisst.“
„Hallo Mama, ja, vermisst habe ich euch auch, aber es war toll in München.“
Typisch Mama, sie war gleich einen Schritt zurückgegangen und schaute mich an.
„Freust du dich nicht, wieder zu Hause zu sein?“
„Ach Mama, natürlich freue ich mich, aber der Abschied war nicht so schön. Wo ist Papa denn?“
„Er wartet draußen im Auto, damit wir nicht so weit mit den Taschen laufen müssen.“
„Ok, meinetwegen können wir dann los.“
Mit den beiden Taschen in der Hand ging ich neben meiner Mutter zum Auto. Dort wartete Papa, und zwar mit dem neuen Cadillac CTS. Ich war gespannt. Papa kam auf mich zu und begrüßte mich genauso herzlich, aber ohne viel Tamtam. Das gefiel mir. Auf dem Weg nach Hause berichtete ich noch die wesentlichen Dinge der letzten Woche. Allerdings den schweren Abschied von Stef ließ ich erst einmal weg. Sie fragten mich glücklicherweise auch nicht danach.
Als ich einen Moment Zeit hatte, schaltete ich mein Handy wieder ein und hatte schon drei Nachrichten bekommen. Alle von Stef. Ich musste schmunzeln. Ich schrieb ihm, dass ich gut gelandet war und dass ich nun auf dem Weg nach Hause war. Er sollte sich ein wenig gedulden und ich schrieb für Mario und den Geigers auch eine kurze Nachricht, dass ich heile gelandet war.
Ich hatte drei sehr ereignisreiche Wochen gehabt und war nun sehr gespannt, was die Zukunft bringen würde.
Zuerst wollte ich mich aber wieder zu Hause einleben und den Alltag wieder einkehren lassen. Mit meinem Freund Stef gemeinsam. Auch wenn wir einige hundert Kilometer getrennt waren.
Nachwort
Die Geschichte wird weitergehen.
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