zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Lucien

Teil 3

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

Die ersten Tage sind schwer

Nachdem wir zu Hause angekommen waren, hatte Papa die Taschen mit mir in mein Zimmer getragen. Ich schaute mich in meinem Zimmer um und stellte fest, dass sich nichts verändert hatte. Papa bat mich, in einer halben Stunde zum Essen zu kommen. Somit hatte ich etwas Zeit, meinen Computer zu starten, meine Taschen auszupacken und die Wäsche zu verteilen.

In meinem Postfach befanden sich einige E-Mails. Darunter auch eine von Nico. Das freute mich sehr. Er hatte daran gedacht, dass ich heute zurückkommen würde. Deshalb öffnete ich sie schnell und las, dass er sich freuen würde, wenn ich morgen vorbeikommen könnte. Er hätte auch einiges aus seinem Praktikum zu erzählen und das wäre doch eine gute Gelegenheit, sich mal wieder in Ruhe zu treffen. Tommy wäre dann auch da. Das gefiel mir richtig gut.

Um sicher zu sein, dass meine Eltern nicht etwas geplant hatten, fragte ich noch kurz nach. Es gab keine Einwände und somit war das beschlossene Sache.

Ich hatte soweit alles wieder in geordnete Bahnen gebracht und mir ein wenig Musik angemacht. Es klopfte und erstaunlicherweise stand Leif in meinem Zimmer. Er hatte ein kleines Päckchen in der Hand und ich muss ziemlich blöd geguckt haben, denn er grinste mich an.

„Hi, kleiner Bruder. Schön, dass du wieder zurück bist. Papa hatte mir schon ein wenig erzählt. Ich hoffe, du hast den Abschied von Stefan gut verkraftet.“

Das erstaunte mich noch mehr. Seit wann interessierte sich Leif für mein Befinden. Er kam auf mich zu und umarmte mich freundlich zur Begrüßung. Dann gab er mir das kleine Päckchen.

„Dankeschön, - was verschafft mir diese Ehre? Du bist doch sonst nur an deinem eigenen Vergnügen interessiert.“

„Ähm, ja. Ich weiß nicht, aber du hast mir gefehlt. In den drei Wochen habe ich gemerkt, dass du mir sehr wichtig bist. Und wenn ich dich in letzter Zeit genervt habe, möchte ich mich entschuldigen.“

Ich war völlig überrascht. Was war denn hier passiert?

„Danke, wenn du das ernst meinst, nehme ich deine Entschuldigung gerne an. Möchtest du einen Moment bleiben, dann erzähle ich dir ein wenig von München.“

„Klar, wenn du möchtest. Zuerst musst du aber das Päckchen auspacken.“

Dabei hatte er ein bestimmtes Lächeln im Gesicht. Ich hatte zwar keine Ahnung, was in der kleinen Schachtel sein würde, aber ich ahnte, dass es etwas Lustiges sein würde. Ich öffnete also das Band und dann das Geschenkpapier. Zum Vorschein kam ein echt edel aussehender Karton. Ich war verblüfft. Es war ein sehr teures Eau de Toilette.

„Leif, was soll das denn? Wie kommst du auf diese Idee?“

Es schien für einen Moment, dass er rot wurde, aber dann sagte er:

„Ich möchte damit zeigen, dass ich dich als Bruder wieder akzeptieren möchte und nicht immer nur dumme Sprüche über dich machen. Es tut mir leid.“

Das war aber eine Überraschung, mit der ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Ich nahm eine Duftprobe und es war wirklich sehr erfrischend und edel. Da hatte Leif wirklich Geld für mich, seinen kleinen Bruder, investiert.

„Dann lass uns das beenden und wieder nach vorne schauen.“

Jetzt kam Leif auf mich zu und umarmte mich, wir setzten uns zusammen an meinen Couchtisch und ich erzählte ihm, was ich in München erlebt hatte. Allerdings hatten wir nicht ausreichend Zeit, denn Papa klopfte an die Tür, und als er hereinkam, staunte auch er nicht schlecht, als er Leif bei mir sah. Er ging aber nicht darauf ein, sondern bat uns nur zum Essen zu kommen. Gemeinsam gingen wir in die Küche und nahmen noch ein paar Sachen mit in das Esszimmer. Nach dem Essen blieb Leif erstaunlicherweise bei uns sitzen und hörte sehr interessiert meinen Erzählungen zu. Relativ schnell kamen wir beim Thema Stefan und Mario an. Leif stellte einige Fragen und selbst Mama wunderte sich über sein Interesse.

Ich wurde aber doch müde und gegen zehn Uhr bat ich darum, in mein Zimmer gehen zu dürfen. Leif blieb noch bei Mama und Papa und ich ging, mich für das Bett fertig zu machen. Kurze Zeit später lag ich müde in meinem Bett und dachte über diesen Abend nach. Leif hatte mich völlig überrascht und auch immer wieder direkte Fragen zu Stefan und Mario gestellt. Ich beschloss, am nächsten Morgen Papa zu fragen, ob er mit Leif darüber gesprochen hatte.

Jetzt fiel mir der Umschlag von Stef wieder ein. Er hatte mir ja einen Brief mitgegeben. Ich sprang aus dem Bett, ging zu meiner Jacke, nahm den Umschlag und öffnete ihn. Ich wurde richtig aufgeregt. Was hatte er mir geschrieben. Ich nahm den Brief heraus, legte mich wieder ins Bett und las:

 

Hi Luc,

 

ich weiß, dass es feige ist, dir nicht persönlich zu sagen, was ich in den letzten Tagen und Wochen mit dir erlebt habe. Ich habe es versucht, aber bin immer wieder gescheitert an meiner Angst, dir zu sagen, was ich empfinde. Du hast mich nie nach einer Gegenleistung gefragt, du hast immer nur etwas für mich getan, ohne irgendetwas von mir dafür zu bekommen. Ich schäme mich dafür, dennoch bin ich aber in den letzten Wochen das erste Mal in meinem Leben richtig glücklich gewesen. Ich habe einen Freund gefunden, der mich so angenommen hat, wie ich bin. Du hast mich nicht einmal angegriffen, dass ich mich für Geld an Männer verkauft habe. Ich schäme mich auch dafür, habe aber keine andere Wahl gesehen, um Hunger und Durst zu stillen.

Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Ich vermisse dich! Ich weiß, du hast mich in drei Wochen zu dir eingeladen, aber wieder kann ich nichts dafür anbieten. Dennoch freue ich mich sehr, dich dann wiederzusehen. Das Gefühl, mit dir zusammen zu sein, war unbeschreiblich. Ich weiß es nicht, was das bedeutet und ob du es genauso empfindest, aber du bist der erste Mensch, für den ich so ein Gefühl empfunden habe. Ich möchte dich als Freund niemals wieder verlieren, auch wenn wir hunderte von Kilometern entfernt voneinander sind. Ich spüre immer noch deine Nähe. Bitte lass mich nicht so lange auf deinen Anruf warten.

Vielen Dank für deine Freundschaft. Ich weiß nicht, ob es nur Freundschaft ist, was uns verbindet. Ich weiß es wirklich nicht. Ich bin unsicher, wie ich mich verhalten soll. Es fühlte sich großartig an, mit dir zusammen durch den Park zu gehen. Ich hoffe, es war dir nicht unangenehm und wir können das bei dir wiederholen.

 

Vielen Dank für alles!

Dein Freund Stef

 

Mir standen Tränen in den Augen und die letzten Zeilen verschwammen vor meinen Augen. Ich war überwältigt. Was sollte ich jetzt tun? Am liebsten hätte ich ihn sofort angerufen. Dafür war es aber schon zu spät. Ich entschied mich, eine Nachricht über Whats App zu schreiben.

Hi Stef, danke für den tollen Brief. Es ist schon spät. Ich rufe dich morgen an. Sei beruhigt.“

Als ich das abgeschickt hatte, versuchte ich mich zu beruhigen und lenkte mich mit lesen einer Geschichte bei Nickstories ab. So konnte ich nach einer weiteren halben Stunde einschlafen.

Meine Eltern hatten mich ausschlafen lassen und ich stand im Bad unter der Dusche. Ich hatte gut geschlafen im eigenen Bett. Allerdings hatte ich auch einige sehr interessante Träume. Die Frage, die ich mir stellte, war, Stef gleich anzurufen oder erst nach dem Frühstück. Ich entschied mich, zuerst zu frühstücken.

In der Küche saß meine Mama und las Zeitung. Als ich hereinkam, legte sie diese auf den Tisch.

„Guten Morgen Schatz, wie war die Nacht wieder im eigenen Bett?“

Dabei schaute sie mich ganz genau an. Sie stand vom Tisch auf und stellte mir aus dem Kühlschrank ein bisschen Aufschnitt und andere Leckereien auf den Tisch. Ich hatte derweil drei Brötchen in den Ofen gelegt. Die Kaffeemaschine hatte frischen Kaffee gemacht und somit konnte ich in Ruhe mein Frühstück genießen.

„Mama, ich muss sagen, das eigene Bett ist doch schöner. Ich habe richtig gut geschlafen.“

Sie lachte und hinter mir stehend, legte sie mir ihre Hände auf die Schultern.

„Na, das freut mich aber, dass mein Jüngster sich immer noch zu Hause am wohlsten fühlt.“

 

Jetzt mussten wir beide lachen. Ich erfuhr, dass Papa schon in die Werkstatt gefahren war, um ein paar Sachen am Delta zu machen. Er hatte wohl vor, damit bald eine Youngtimer Rallye zu fahren. Leif war bereits zum Training und somit war ich mit Mama allein im Haus.

Nachdem ich einen Blick in die Zeitung geworfen hatte, schaute mich meine Mutter immer wieder beobachtend an. Ich spürte ihre Neugier. Also ging ich direkt in die Offensive.

„Mama, was ist los? Du möchtest doch etwas von mir wissen.“

Sie lächelte mich an und somit war klar, hier war irgendetwas im Busch.

„Luc, du kennst deine Mutter gut. Ja, ich möchte gerne mehr über Stefan und Mario wissen. Marc hat mir schon etwas erzählt und du hattest in München auch schon einiges berichtet, aber irgendwie habe ich das Gefühl, du hast etwas Wesentliches weggelassen.“

„Nun ja, es stimmt schon. Stef ist wirklich ein sehr wichtiger Freund geworden. Weißt du, er hatte mir einen Brief mitgegeben, den sollte ich erst lesen, wenn ich zu Hause im Bett liegen würde. Das habe ich auch so getan.“

„Und? Was hat er dir geschrieben? Etwas von seiner Vergangenheit?“

„Nein, aber ich glaube, es ist besser, wenn ich den Brief mal hole. Vielleicht verstehst du es dann besser.“

Ich wusste auch nicht, warum ich plötzlich keine Angst hatte, meiner Mutter diesen Brief zu zeigen, aber es fühlte sich richtig an. Sie würde mir sicherlich etwas dazu sagen können. Ich ging in mein Zimmer, nahm den Brief vom Tisch und ging zurück in die Küche. Ich gab ihr den Brief, setzte mich zu ihr an den Tisch und war sehr gespannt, wie ihre Reaktion sein würde. Sie las Zeile für Zeile, ihre Augen wanderten vom Brief immer wieder zu mir, irgendwann lächelte sie.

„Luc, ich glaube, du hast dort einen tollen neuen Freund kennengelernt. Ich finde das ganz wundervoll, wie er seine Gefühle beschreibt. Für einen vierzehnjährigen Jungen sehr beeindruckend. Wie war das für dich, als du es gelesen hast?“

Ich musste schlucken, aber ich konnte meinen Eltern alles anvertrauen. Also berichtete ich meiner Mutter von meinen Gedanken und Gefühlen. Ich versuchte, so gut es ging zu beschreiben, was meine Gedanken waren und dass ich manchmal sehr unsicher war, ob das richtig war, was ich gemacht hatte. Meine Mutter hörte mir sehr aufmerksam zu, und als ich fertig war, schaute sie mich an und nickte.

„Mein lieber Sohn, ich bin stolz auf dich. Ich glaube, du hast dich ganz toll verhalten, und wenn ich das so überlege, scheinst du ihn genauso zu mögen, wie er dich mag. Ich freue mich schon, wenn er uns besuchen kommt. Er hat schlimme Zeiten erlebt und du hast ihm geholfen, einen anderen Weg zu finden.“

Dabei umarmte sie mich und wuschelte mir durch die Haare. Danach ging ich in mein Zimmer und telefonierte mit Stef. Ich war doch ein wenig aufgeregt, als es bei ihm klingelte.

„Hallo?“

„Stef? Hier ist Luc.“

 

„Hi Luc, ich habe schon auf deinen Anruf gewartet. Wie geht es dir? Bist du schon wieder richtig zu Hause angekommen?“

„Mir geht es gut, sorry, dass ich mich erst jetzt melde, aber ich habe heute lange geschlafen. Danke für deinen tollen Brief. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Aber ich muss auch mit dir schimpfen.“

Jetzt konnte ich seine Anspannung fast fühlen. Er wartete stumm auf meine Reaktion.

„Ich möchte, dass du aufhörst, dir Gedanken zu machen, dass du etwas gutmachen musst. Wir sind Freunde und da zählt etwas anderes. Hast du das verstanden? Ich habe es genauso genossen wie du und natürlich werden wir hier eine genauso schöne Zeit verbringen. Ich soll dich schön grüßen von meiner Mutter.“

„Danke, aber ich habe ein schlechtes Gewissen.“

„Ich weiß, musst du aber nicht haben. Ich mag dich so, wie du bist. Was machst du jetzt am Wochenende?“

„Mario und ich werden in der Wohnung renovieren und schon mal ein paar Dinge einräumen. Außerdem muss ich noch für die Schule lernen. Und du?“

„Ich werde nachher erst mal bei Nico und Tommy vorbeifahren, dann morgen mit Papa in der Werkstatt arbeiten.“

Wir redeten noch eine ganze Weile über alltägliche Dinge. Ich hatte das Gefühl, unheimlich nahe bei ihm zu sein. Ich verabschiedete mich nach etwa einer halben Stunde und seine Stimme klang bei der Verabschiedung traurig. Mir ging es genauso, ich konnte ihn ein wenig aufheitern, indem ich versprach, morgen Abend wieder anzurufen.

„Luc!“, hörte ich plötzlich meine Mutter rufen, „kannst du bitte mal kommen?“

„Ich komme.“

Sie war im Wohnzimmer und hatte bemerkt, dass die Stehlampe nicht mehr funktionierte. Ich holte eine neue Glühlampe und drehte sie in die Fassung. Schon war wieder Licht im Wohnzimmer. Ich erzählte ihr von dem Telefonat mit Stef und richtete ihr seine Grüße aus. Sie lächelte mich an und meinte nur:

„Kümmer dich weiterhin um deinen Freund. Er hat es verdient, dass ihm geholfen wird. Die neue Wohnung mit seinem Bruder wird sicher auch gut für beide sein. Was machst du jetzt?“

„Ich wollte mich doch mit Nico und Tommy treffen. Hatten wir doch gestern drüber gesprochen.“

„Ach ja, hatte ich schon wieder vergessen. Wann bist du wieder zurück?“

„Keine Ahnung, liegt heute noch etwas an?“

Sie schüttelte mit dem Kopf und somit sagte ich ihr zu, mich zu melden, sobald wir geklärt hatten, was wir machen wollten. Damit verabschiedete ich mich, setzte mich auf mein Mountainbike und fuhr zu Nico.

Ich musste durch ein kleines Wäldchen fahren, das ich aber sehr gut kannte. Ich war schon sehr oft mit Papa und auch mit Leif früher hier durchgefahren. Leider hatte Leif in letzter Zeit keine Lust mehr, mit mir zu fahren. Nach einer Viertelstunde traf ich bei Nico ein. Seine Mutter öffnete mir die Tür.

„Hallo Luc, schön, dass du mal wieder vorbeikommst. Nico hat dich vermisst. Die beiden sind oben. Du kannst mir deine Jacke geben. Ich hänge sie dann hier auf.“

Ich begrüßte sie wie immer sehr freundlich, gab ihr meine Jacke und ging nach oben in Nicos Zimmer. Ich klopfte und Tommy machte die Tür auf. Die beiden waren seit Jahren ebenfalls ein festes Paar. Tommy war Leifs bester Freund und damaliger Zimmerkollege im Internat. Er wohnt auch heute noch dort. Leif hatte schwierige Zeiten mit Tommy durchlebt, als dieser sich mit Nico anfreundete. Leif war damals sehr eifersüchtig auf Nico. Glücklicherweise war es Nico, der diese Freundschaft zwischen Leif und Tommy gerettet hatte. Er bemerkte Leifs Eifersucht auf ihn rechtzeitig und sorgte dafür, dass Tommy immer auch entsprechende Zeit für Leif hatte. Das fand ich damals sehr beeindruckend, als Leif mir davon berichtet hatte. Nico war einer meiner besten Freunde und in meiner Klasse und somit hatte ich mich auch mit Tommy angefreundet.

„Hi Luc, schön, dass du wieder da bist. Wie geht es dir?“

Dabei umarmte er mich und auch Nico ließ sich zur Begrüßung die Umarmung nicht nehmen. Das war für mich immer schon völlig normal gewesen. Ich hatte noch nie Berührungsängste gehabt, auch als klar wurde, dass beide ein Paar wurden.

„Hi, danke mir geht es gut. Es ist schön, wieder zuhause zu sein. Allerdings musste ich heute erst einmal ausschlafen.“

Tommy lachte laut und grinste.

„Ach, da kenne ich noch eine Schlafmütze.“

Dabei zeigte er ganz unauffällig auf Nico, der sogar ein wenig rot wurde. Tommy berichtete sogar, dass er nicht bei Nico geschlafen hatte, weil er eben so kaputt war. Ich musste lachen und schüttelte meinen Kopf.

„Und hast du es überlebt, eine Nacht am Wochenende ohne Nico zu schlafen?“

„So gerade eben.“

Wir mussten alle drei heftig lachen. Das war eine schöne Situation für mich. Ich fühlte mich im Kreise meiner Freunde sofort wieder wohl. Wir setzten uns um den Couchtisch und Nico holte uns etwas zu trinken und ein paar Kekse. Dann erzählten wir uns gegenseitig, wie es uns im Praktikum ergangen war. Tommy ging ja im Internat zur Schule und hatte kein Betriebspraktikum gemacht. Er hatte nur langweiligen, normalen Unterricht und war deshalb auch ziemlich neidisch auf uns.

Die Zeit verging wie im Fluge. Draußen wurde es bereits dunkel und Nico und Tommy wollten sich einen schönen gemütlichen Abend machen. Da wollte ich nicht weiter stören und machte mich auf den Heimweg. Unterwegs kamen mir ein paar Gedanken, die ich so noch nie bewusst wahrgenommen hatte. Ich dachte darüber nach, dass Nico und Tommy jetzt zusammen einen schönen Abend haben würden. Ich wusste, dass sie bereits auch schon seit einiger Zeit miteinander schliefen und alle schönen Dinge einer Beziehung genossen. Gut, Tommy war über ein Jahr älter als ich, aber ich hatte mir noch nie Gedanken gemacht, dass mir so etwas fehlen könnte. Im Wald erinnerte ich mich an die schönen Momente mit Stef und spürte ein wohliges Gefühl von Wärme durch meinen Körper fließen. Was würde Stef wohl gerade machen.

Ich war einen Moment unaufmerksam und schon war es passiert. Mein Vorderrad rutschte auf einer Wurzel weg und schon lag ich auf dem Boden. Ich erschrak heftig und mein Puls raste. Für einen Moment hatte ich sogar die Orientierung verloren. Dann sortierte ich mich vorsichtig neu. Ich stellte erleichtert fest, dass ich keine großen Verletzungen hatte und schaute mir dann mein Rad an. Auch das schien den Sturz überstanden zu haben. Etwas zittrig fuhr ich langsam nach Hause. Ich stellte das Rad in die Garage und ging die Treppe nach oben. Mittlerweile spürte ich aber doch einen Schmerz in der rechten Schulter. Auf dem Weg in mein Zimmer kam mir Leif entgegen, der sich wieder aufgebrezelt hatte, um in die Disco zu gehen. Er schaute mich an und bekam große Augen.

„Luc, was ist denn mit dir passiert? Du siehst ja schlimm aus.“

Dabei schaute ich das erste Mal richtig an mir hinab und musste feststellen, meine Hose und auch der Rest der Sachen war nicht mehr im besten Zustand.

„Ach, nichts. Ich bin nur im Wald auf dem Rückweg weggerutscht und gestürzt. Ist aber alles halb so schlimm.“

„Bist du dir sicher? Du siehst echt wüst aus. So kannst du jedenfalls nicht mit in die Disko.“

Wir schauten uns an und da musste ich einfach nur lachen. Typisch Leif, kaum war klar, dass mir nichts passiert war, machte er dumme Sprüche.

„Ist ja nicht schlimm und Disco hatte ich eh nicht vor. Von daher kann ich auch noch in den Klamotten weiter herumlaufen.“

Er schaute verdutzt, zeigte mir dann aber den Daumen hoch. Damit hatte er wohl nicht wirklich gerechnet, dass ich einen genauso coolen Spruch loslassen würde. Er verabschiedete sich und ich ging in mein Zimmer. Dort entledigte ich mich erst einmal meiner Sachen. Ich wollte mir frische Sachen aus meinem Schrank nehmen und stand nun nur in Boxer vor dem Schrankspiegel. Da erschrak ich doch ein wenig. Meine rechte Schulter hatte eine große Schürfwunde davongetragen und die sah nicht sehr appetitlich aus. Ich wusste, dass ich die Wunde reinigen müsste. Aber ich kam nicht an alle Stellen der Schulter heran. Mist, da musste ich wohl doch Mama berichten, was passiert war.

Ich zog mir eine neue Jeans an und die anderen Sachen legte ich mir auf mein Bett. Anschließend ging ich hinunter ins Wohnzimmer. Überraschenderweise war Mama gar nicht da, nur Papa saß allein im Wohnzimmer.

„Hallo Luc, was ist los?“

 

Papa schaute mich an und dann realisierte er sofort, was passiert war.

„Oh la la, das sieht aber gar nicht gut aus. Was ist passiert?“

„Ich bin einen Moment unachtsam gewesen im Wald und dann mit dem Bike weggerutscht. Ich glaube, du musst mir mal helfen, das sauber zu machen.“

„Klar, geh schon mal ins Bad und zieh dich aus. Ich komme sofort nach. Ich hole das Verbandszeug. Mach bitte das Wasser nur lauwarm. Sonst brennt es zu sehr.“

Es war ein glücklicher Zufall, dass Papa allein war, denn Mama hätte jetzt einen riesigen Aufstand gemacht und sich besorgt aufgeregt. Papa hingegen blieb ruhig und half mir, mich gut zu verarzten. Er wusch mir die Wunde sauber und desinfizierte sie sehr vorsichtig. Erst als alles vorbei war, sagte er zu mir:

„So, das war alles. Jetzt kannst du dich erst einmal richtig anziehen und dann kommst du bitte ins Wohnzimmer und erzählst mir, was passiert ist.“

Ich ging in mein Zimmer und nahm meine vorbereiteten Sachen. Allerdings musste ich noch einen anderen Pullover nehmen. Er musste schön weit sein, damit die Wunde nicht zu sehr weh tat. Etwa zehn Minuten später stand ich bei Papa im Wohnzimmer. Er schaute mich schmunzelnd an und ich musste auch ein wenig über meine Dummheit lachen.

„Na, was oder sollte ich besser sagen, wer hat dich beim Biken abgelenkt?“

Papa lachte dabei und ich wusste natürlich genau, auf was er anspielte. Ich wollte es mir aber nicht anmerken lassen und tat ahnungslos. Er ließ mich damit in Ruhe, nur wollte er sich mit mir das Rad ansehen. Nicht, dass doch etwas kaputt gegangen war und ich bei der nächsten Fahrt erneut stürzen würde. Bei solchen Dingen war Papa sehr sorgfältig. Wir gingen in die Garage und er kontrollierte das Rad sehr genau. Leider stellte sich heraus, dass eine Felge doch mehr abbekommen hatte. Papa bestand darauf, sie austauschen zu lassen.

„Aber wie komme ich denn dann Montag zur Schule. Ich wollte doch nach der Schule noch zu Nico. Da kann ich nicht mit dem Bus fahren.“

Papa schaute mich fragend an und ganz selbstverständlich sagte er: „Dann nimmst du halt mein Pedelec. Du musst es nur gut an der Schule abschließen.“

„Echt? Danke Papa. Ich bringe das Rad dann am Dienstag in die Werkstatt, ok?“

„Ja, das hört sich vernünftig an. Und erzähl deiner Mama am besten nicht so genau, was du gemacht hast.“

Dabei grinste er mich an und ich wusste genau, dass er Recht hatte. Mama würde sonst wieder tagelang mit mir schimpfen.

Abends schrieb ich Stef eine Email. Ich wusste ja, dass sie mitten im Umzug waren und wenig Ruhe zum Telefonieren hatten. Ich schrieb ihm, was passiert war und dass aber alles nicht so schlimm sei. Ich ging so gegen halb elf ins Bett. Leif war natürlich noch unterwegs und ich würde ihn normalerweise erst am Sonntagmittag sehen.

Die Nacht war leider sehr unruhig, ich hatte doch erhebliche Schmerzen, wenn ich im Schlaf auf meiner Schulter lag. Entsprechend schlecht gelaunt verlief der Morgen. Da half mir auch ein gutes Frühstück nicht. Ich fand eine Nachricht von Papa auf dem Küchentisch, in der er mich bat, bei ihm in der Werkstatt vorbeizukommen.

Ich nahm das Handy und meldete mich bei ihm, um den zeitlichen Ablauf zu klären. Wir beschlossen, dass ich am Vormittag noch ein paar Sachen für die Schule vorbereiten wollte und wir nach dem gemeinsamen Mittagessen zusammen zurück in die Werkstatt fahren würden. Ich freute mich immer, wenn ich mit meinem Vater zusammen etwas unternehmen konnte. Viele meiner Klassenkameraden fanden das total blöd, wenn sie mit ihren Eltern etwas unternehmen mussten. Für mich war das immer mit ganz viel Spaß verbunden.

Ich suchte mir also alle wichtigen Unterlagen für die Schule zusammen und machte meine Mappe über den Praktikumsverlauf fertig. Wir sollten diese morgen abgeben. Die Mappe würde ein Teil der Note für das Halbjahr ausmachen. Entsprechend ernst nahm ich das. Nach zwei Stunden hatte ich ein für mich gutes Ergebnis erreicht und somit beendete ich meine schulischen Tätigkeiten für heute. Ich bekam von Stef einige whats app Bilder aus der neuen Wohnung und wie sie sich dort einrichteten. Er schien mit großem Eifer mit Mario dort renoviert zu haben und sich sehr auf den neuen Abschnitt zu freuen. Allerdings schrieb er auch, dass er sich wünschen würde, ich könnte sein neues Zimmer gemeinsam mit ihm einweihen. Ich schrieb ihm zurück und erklärte ihm, dass wir das sicherlich beim nächsten Besuch in München nachholen würden.

Emotional fühlte ich allerdings ähnlich wie er. Es tat mir leid, dass ich nicht dabei sein konnte. Ich wollte es ihm aber nicht noch schwerer machen und versuchte möglichst sachlich zu bleiben.

Die Zeit bis zum Besuch

Am Montag und Dienstag beschäftigte sich der Unterricht ausnahmslos mit den recht unterschiedlichen Praktika der Schüler. Jeder Schüler musste seine Arbeit und seinen Betrieb ausführlich vorstellen. Auf diese Weise bekam jeder einen Eindruck eines bestimmten Berufes. Meine Vorstellung zog sich bis zum Dienstag hin und ich wurde doch ein wenig nervös. Vor der gesamten Klasse einen Vortrag zu halten, war nicht so meine Sache. Ich hatte auch lange überlegt, ob ich die Begebenheit mit Stefan überhaupt erwähnen sollte oder nicht. Ich hatte mich mit meinem Klassenlehrer vorher besprochen und wir waren uns einig geworden, dass ich die Hintergründe von Mario und Stefan nicht erwähnen sollte. Nico war also der Einzige, der genau Bescheid wusste.

Als ich mit meinem Vortrag fertig war und in die Klasse schaute, erntete ich einige neidvolle Blicke. Die Note war entsprechend gut und ich war froh, dass ich das hinter mir hatte. Nach der Schule war ich mit Nico auf dem Heimweg, als mein Handy klingelte. Auf dem Display konnte ich erkennen, dass es Papas Nummer war.

„Hallo Papa, was gibt’s denn?“

„Hi Luc, bist du schon zu Hause? Ich bräuchte mal deine Hilfe.“

„Nein, ich bin noch auf dem Weg dorthin. Nico ist auch bei mir.“

„Ahso, könntest du bitte gleich mal in die Werkstatt kommen. Ich bin allein hier und brauche eine helfende Hand. Wenn Nico auch Lust hat, kann er gerne mitkommen.“

„Ja ok, ich frage ihn. Aber es kann noch einen Moment dauern. Ich denke, so eine Viertelstunde brauchen wir noch.“

„Kein Problem, ich warte auf dich.“

„Nico hat mir gerade gesagt, dass er gerne mitkommt. Also dann bis gleich.“

Ein wenig überrascht war ich allerdings schon. Normalerweise war immer einer von den beiden Mechanikern mit in der Werkstatt. Naja egal, ich freute mich schon, dass mein Vater mich um Hilfe bat. Das kam noch nicht so oft vor. Ich war zwar schon oft in der Werkstatt, aber dass er mich extra bat zu kommen, das war noch nicht oft vorgekommen.

Wir machten uns also auf direktem Weg in die Werkstatt. Als wir durch die Tür kamen, wartete Papa schon auf uns. Der Delta stand auf der Hebebühne mit offener Motorhaube. Die Räder waren demontiert. Ich war verwundert, weil, eigentlich war der Delta perfekt restauriert und voll einsatzbereit.

„Hallo ihr beiden, schön, dass ihr so schnell kommen konntet. Ich brauch ein paar helfende Hände.“

Dabei zeigte er auf die Werkbank und dort lagen ein neuer Turbolader und Kartons von Bremsscheiben.

„Warum? Ich dachte, das Auto wäre fertig und bereit für alle Schandtaten.“

Dabei musste Papa auch lachen, Nico grinste sich einen und somit war die Stimmung wieder locker und gelöst. Papa erklärte uns dann, dass in drei Wochen eine Youngtimer Rallye stattfinden würde und er neue Bremsen und einen größeren Turbo montieren wollte. Die Bremsen waren bereits montiert, mussten aber noch entlüftet werden. Das war alleine nicht zu machen. Also machten wir drei uns daran, alles gemeinsam fertig zu machen. Das dauerte aber doch etwas länger als gedacht, denn als wir fertig waren, war es bereits dunkel draußen. Nico erschrak ein wenig, weil er zu Hause nicht Bescheid gesagt hatte. Das holte er schnell nach und dann verabschiedete er sich von uns. Papa versprach ihm, beim nächsten Mal eine Probefahrt mit ihm zu machen.

„So, Luc, das hat ja toll geklappt mit euch beiden. Vielen Dank und jetzt gehen wir mal was essen. Was meinst du?“

„Essen ist immer gut, Papa. Meinst du nicht, Mama hat was vorbereitet?“

„Deine Mama ist doch heute und morgen gar nicht da. Hast du das vergessen? Sie ist doch mit Manuels Mutter nach Zürich gefahren.“

Stimmt, das hatte ich total vergessen. Sie wollte mit Manuels Mutter dort ein paar Tage sich erholen. Manuels Mutter hatte es nicht so gut wie wir. Manuel war mittlerweile als Rennmechaniker in Papas altem Team unterwegs. Wir hatten uns vor zwei Jahren kennengelernt und angefreundet. Mama hatte ihr zum Geburtstag ein paar Wellnesstage geschenkt.

So fuhren wir gemeinsam mit dem Auto zu Salvatori und ich ließ das Rad in der Werkstatt stehen. Das Essen bei Salvatori war immer wieder ein Erlebnis. Er hatte immer gute Laune und was zu erzählen. Wir waren mittlerweile gute Freunde geworden und Papa war dort eine normale Person und kein Prominenter mehr. Ich saß mit ihm an unserem Stammtisch und wir hatten unsere Pizza gerade gegessen, als Papa sich noch einmal die Karte bringen ließ. Er bestellte uns noch einen Nachtisch.

„Luc, hast du eigentlich mit Stefan schon telefoniert, seit du wieder da bist?“

„Klar, sogar schon mehrfach. Sie sind jetzt dabei in die Wohnung zu ziehen und er freut sich schon, mir sein neues Zimmer zu zeigen. Er hat auch ein paar Bilder geschickt. Möchtest du die mal sehen?“

„Klar, gerne.“

Ich holte mein Handy hervor und legte es auf den Tisch. Ich zeigte Papa die Bilder und er war sichtlich angetan. Er freute sich für die beiden und wir sprachen noch ein wenig über die Zeit in München, und als unser Nachtisch kam, meinte Papa:

„Sag mal, er scheint dich als Freund auch zu vermissen. Du hast jeden Tag mit ihm telefoniert oder geschrieben. Wie ist das für dich? Fehlt er dir auch?“

Ich wusste jetzt nicht so richtig, was diese Frage bezwecken sollte. Ich hatte schon mehrfach berichtet, dass mir der Abschied nicht leicht gefallen ist.

„Naja, schon ein bisschen. Aber das weißt du doch. Wir verstehen uns einfach gut. Ich habe immer das Gefühl gehabt, er hat genau gewusst, was ich gerade gedacht habe und umgekehrt. Außerdem fühlte es sich toll an, wenn wir zu zweit unterwegs waren.“

Er schaute mich an und in diesem Moment wusste ich, er hatte irgendetwas herausgefunden, was ich noch nicht wusste.

„Schau mal, Mick hatte mich vor ein paar Tagen angerufen und mit erzählt, dass du mit ihm über Stefan gesprochen hast. Ich war ein wenig überrascht, denn so oft hast du mit Mick ja nicht zu tun. Also habe ich mir meine Gedanken gemacht.“

Mir war das jetzt ein wenig unangenehm, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass Mick Papa von unserem Telefonat erzählen würde.

„Was hat Mick denn erzählt? Eigentlich sollte er euch nichts erzählen.“

„Keine Sorge, er hat keine Details berichtet. Er war nur sehr überrascht und hatte sich sehr gefreut, dass du dich ihm anvertraut hattest. Das wiederum hat mir gezeigt, dass es dir schon viel bedeuten muss, mit Stefan Zeit zu verbringen.“

Ich wurde ein wenig verlegen, aber er hatte ja Recht. Also berichtete ich ihm auch von meinen Empfindungen und Wahrnehmungen, wenn ich mit Stef telefoniert hatte. Papa lächelte nur und ließ mich erzählen. Irgendwann schaute er mich an und ich wusste, er hatte irgendeine Idee im Kopf. Allerdings ließ er an diesem Abend nichts davon heraus. Nur gab er mir zu verstehen, er würde jederzeit für mich und Stefan auch Zeit haben, wenn es von mir gewünscht wäre. Ich sollte einfach meinen Gefühlen nachgehen. Damit beendeten wir unseren schönen gemeinsamen Abend. Für mich war es einfach wieder toll zu spüren, wie wichtig es Papa war, Zeit für mich zu haben. Ich war richtig glücklich in einer solchen Familie leben zu können.

Die nächsten Tage verliefen alle recht ähnlich ab und jeden Abend war ich sehr traurig, wenn ich mich von Stef wieder verabschieden musste. Allerdings gefiel es beiden in der neuen Wohnung sehr gut. Am ersten Wochenende nach dem Praktikum berichtete mir Stef von einem Brief, den ihm seine Eltern geschrieben hatten. Dort hatten sie ihm gedroht, wenn er vor Gericht gegen seinen Vater aussagen würde, bräuchte er nie mehr zurückzukommen. Ich fand das schon recht krass. Gott sei Dank hatte Mario das mit dem Betreuer sofort besprochen und somit ging es Stef nicht zu schlecht nach diesem Vorfall. Ich hatte ihm auch signalisiert, dass er von uns jederzeit Unterstützung bekommen würde. Er sollte sich nicht einschüchtern lassen. Allerdings erklärte mir mein Vater auch, dass dieser Prozess noch sehr anstrengend für beide werden würde. Ich bekam da schon ein wenig Angst, dass Stef vielleicht doch schwach werden könnte und nicht bis zum Ende gegen seine Eltern vorgehen würde.

Jeden weiteren Tag spürte ich bei Stef immer mehr Stress. Er erzählte mir immer wieder, dass seine Mutter ihn nicht in Ruhe ließ. Sie rief ständig bei ihm an und wollte ihn überreden, die Anzeige zurückzuziehen. Sie fing sogar an, ihm zu drohen. Am Freitag in der zweiten Woche passierte es dann. Ich telefonierte mit Stef und er brach vollkommen in Panik aus. Er war allein in der Wohnung und Mario war arbeiten. Wir hatten wie immer telefoniert und plötzlich begann er, an sich zu zweifeln und sich die Schuld an der ganzen Situation zu geben. Ich war vollkommen überrascht und versuchte ihn zu beruhigen. Aber er hörte mir überhaupt nicht mehr zu. Er geriet in Panik. Erst als ich laut wurde und ihn richtig anbrüllte, war plötzlich einen Moment Stille.

„Stef, bitte hör mir zu. Du bist nicht schuld an dieser Situation. Du musst uns vertrauen und darfst nicht nachgeben. Hast du das verstanden?“

Immer noch Stille. Ich wartete einen Moment und konnte hören, dass er weinte. Mir wurde schlecht. Was sollte ich machen. Ich war wie gelähmt. Da fiel mir ein, Papa war unten im Wohnzimmer und ich ging, während ich mit Stef sprach, nach unten.

„Stef, hast du dich etwas beruhigt? Ich geb dir mal meinen Papa, der wird mit dir alles Weitere besprechen.“

Stef gab mir ein leises ja und ich gab Papa mein Handy. Danach musste ich mich setzen. Ich zitterte am ganzen Körper und Papa ließ mich nicht los und sprach nebenbei mit Stefan. Innerhalb weniger Minuten hatte Papa die Situation wieder unter Kontrolle und gab Stefan klare Anweisungen. Dabei hatte er mich die ganze Zeit im Arm gehalten. Das gab mir Sicherheit. Als er den Eindruck hatte, dass Stefan sich gefangen hatte, gab er mir das Handy zurück und ich konnte noch ein paar ruhige Worte mit Stef sprechen. Er versprach mir, sich, wie mit Papa besprochen, mit Mario zu besprechen und uns dann am nächsten Tag wieder anzurufen. Dann legte ich auf und mir liefen Tränen übers Gesicht. Ich war einfach nur wütend auf seine Eltern. Papa hielt mich wortlos in seinen Armen. Als ich mich etwas beruhigt hatte, begann er mit mir zu sprechen.

„Luc, geht es wieder? Können wir reden?“

Ich nickte und versuchte mich zu sammeln. Papa schickte mich zuerst ins Bad. Als ich zurückkam, beendete er gerade ein Telefonat. Ich hatte nicht mitbekommen, mit wem er telefoniert hatte.

„Komm, Luc, setz dich bitte noch mal zu mir. Wir müssen etwas besprechen.“

Ich schaute ihn fragend an. Was hatte er sich überlegt, ich hatte keine Ahnung.

„Ich habe gerade mit Karl telefoniert. Ich habe ihn gebeten, dass er Mario nach Hause schickt, damit Stefan nicht mehr allein ist. Allerdings müssen wir überlegen, wie es weitergehen kann. Wenn die Eltern immer weiter Stefan bedrängen, müssen wir ihm helfen.“

„Aber was können wir denn tun? Wir sind so weit weg, ich fühle mich so hilflos.“

„Ich verstehe dich, aber ich habe jetzt mal eine Frage an dich.“

Verwundert nickte ich.

„Könntest du dir vorstellen, Stefan bereits schon an diesem Wochenende hier aufzunehmen?“

„Wie soll das gehen? Er hat doch noch Schule dort.“

„Ich weiß, aber er kann dort nicht länger bleiben. Er ist allein und kann sich nicht gegen die Eltern wehren. Das geht so nicht weiter. Ich werde mal mit Leifs Direktor sprechen und mal sehen, was wir machen können.“

Völlig irritiert schaute ich meinen Vater an. Er fing an zu lachen. Ich fand das überhaupt nicht witzig.

„Papa, lachst du mich aus? Oder was soll das jetzt?“

„Nein, Luc, ganz bestimmt nicht, aber dein Gesicht war einfach zu niedlich. Zurück zu meiner Frage, würdest du dich schon früher um Stefan kümmern können?“

„Was für eine Frage, na klar! Aber ich verstehe nicht ganz was …“

„Warte es einfach ab. Lass mich mal machen und tu mir einen Gefallen, du darfst Stefan noch nichts davon sagen, dass wir hier etwas planen.“

Ich nickte und wollte schon wieder nach oben gehen.

„Luc, du hast alles richtig gemacht. Also mach dir nicht zu viele Sorgen. Ich denke, morgen kann ich dir schon mehr dazu sagen. Ok?“

„Gut, Papa. Also, was soll ich jetzt machen?“

Er schaute mich grinsend an und meinte nur: „Am besten gehst du einfach ins Bett und wartest ab, bis ich morgen mit Neuigkeiten zu dir komme.“

Er streichelte mir noch einmal durch die Haare und dann ging ich wieder in mein Zimmer. Sehr nachdenklich legte ich mich auf mein Bett. Tausend Gedanken gingen mir durch den Kopf. Mir kamen wieder die Situationen in München in den Sinn. Wie ich mit Stef spazieren war und wir uns gegenseitig im Arm hielten. Ich fühlte plötzlich eine Wärme in mir aufsteigen, es war fast unheimlich. Ich hatte das Gefühl, Stef würde bei mir sein, so real war dieses Gefühl.

Nach einigen Minuten ging ich unter die Dusche und machte mich fertig, ins Bett zu gehen. Ich packte noch meine Schultasche und legte mich dann ins Bett und begann, noch an meiner begonnenen Geschichte zu lesen.

Es klopfte an meiner Tür und ich rief „herein“. Die Tür öffnete sich und meine Eltern betraten mein Zimmer. Mama sah besorgt aus, Papa hingegen hatte ein Lächeln auf den Lippen.

„Dürfen wir für einen Moment hereinkommen?“, fragte meine Mama.

„Klar, setzt euch doch.“

Mama setzte sich auf mein Bett und Papa in meinen Sessel. Ich legte mein Tablet an die Seite und war doch etwas ratlos.

„Wie geht es dir jetzt?“, fragte Mama.

„Ich glaube, es geht wieder. Aber ich habe Angst, dass ich nicht das tun kann, was Stefan vielleicht von mir erwartet. Ich möchte mehr für ihn tun können.“

Mama nahm meine Hand und dann berichtete sie mir, dass Papa ihr alles erzählt hatte und sie sich Sorgen machen würde. Sie wollten nur sichergehen, dass ich mich wieder beruhigt hätte. Das konnte ich nicht so ganz glauben, aber sie wollten mir nicht mehr dazu sagen. Also redeten wir noch einen Moment über die vergangenen Stunden und dass ich mich doch absolut richtig verhalten hätte. Stefan hätte sich wieder einmal auf mich verlassen können und ich sollte mir nicht zu viel Verantwortung aufhalsen. Nachdem sich Mama vergewissert hatte, dass es mir wieder besser ging, verließen meine Eltern mein Zimmer und ich widmete mich wieder meiner Geschichte. Allerdings bekam ich wieder dieses schöne Gefühl, als ich das Licht löschte. Ich stellte mir vor, wie ich mit Stef zum Abschied durch den Park gegangen war und wie schön sich das angefühlt hatte.

Erst, als ich das Licht wieder anmachte und die Sauerei auf meiner Hose sah, wurde mir bewusst, dass ich mir gerade einen runtergeholt hatte mit den Bildern von Stef und mir im Park. Ich erschrak. Stef hatte mich so erregt, dass ich nicht mehr anders konnte, als mir Entlastung zu verschaffen.

Nach einigen Momenten sammelte ich mich wieder und zog mir eine andere Boxer an und beseitigte die Spuren. Dann legte ich mich sehr nachdenklich ins Bett und schlief doch noch nach einiger Zeit ein.

Am nächsten Morgen erwachte ich mit dem Gedanken, nicht sicher zu sein, ob das alles tatsächlich passiert war oder ich es geträumt hatte. Aber als ich richtig wach war, hatte ich Gewissheit. Das machte mich erneut sehr nachdenklich. Was hatte das zu bedeuten? Ich wollte Stef nahe sein, immer noch. Aber die Erregung gestern war neu für mich. Ich verdrängte diese Gedanken und ging duschen. Als ich nach dem Anziehen in die Küche kam, um zu frühstücken, saß Mama bereits am Tisch und las in der Zeitung. Papa war schon unterwegs, wie ich erfuhr.

„Guten Morgen, Luc. Hast du dennoch gut geschlafen?“

„Hi, Mama. Ja, ich habe wirklich gut geschlafen. Wohin ist denn Papa schon so früh unterwegs?“

 

Sie lächelte und erwiderte: „Ich weiß es nicht so genau. Er sagte nur, dass er gegen elf zurück sein will und dann mit dir in die Werkstatt möchte. Er wollte dir irgendetwas zeigen.“

„Cool, da habe ich ja noch ein wenig Zeit und kann frühstücken.“

Ich nahm am Tisch Platz und Mama legte ihre Zeitung an die Seite. Sie wollte mir frischen Kakao machen.

„Mama, nun bleib doch mal sitzen. Ich kann das auch selber machen. Lies doch einfach weiter in deiner Zeitung.“

Sie schaute mich an und ich musste grinsen.

„Außerdem kann ich dann auch die Zeitung lesen, du bist ja dann bald fertig damit.“

Jetzt mussten wir beide lachen.

Nach meinem ruhigen Frühstück räumte ich meine Sachen weg und ging in die Garage. Ich wunderte mich, Papas Ferrari stand noch dort. Er war also mit Mamas Auto unterwegs. Das war ungewöhnlich. Mama würde niemals Papas Ferrari fahren. Also musste Papa schon irgendetwas vorhaben, wo er ein größeres Auto brauchen würde. Ich ging wieder nach oben und schon konnte ich hören, dass Papa zurückkam. Wir begrüßten uns und entgegen der Planung meinte Papa zu mir:

„Luc, wir haben gleich einen Termin im Internat. Dr. Steyrer möchte dich sprechen.“

Das wiederum war nun doch eine große Überraschung. Was hatte ich denn mit dem Direktor vom Internat zu tun. Ich kannte ihn natürlich von den gemeinsamen Dingen meiner Brüder. Er hatte auch Benny damals spontan Hilfe angeboten. Mittlerweile war Benny im letzten Schuljahr angekommen und würde bald sein Abitur machen. Sein Vater kam regelmäßig zu Besuch und er hatte sich mit Marcel, seinem Freund eine tolle feste Partnerschaft aufgebaut.

„Warum das denn? Was habe ich mit dem Internat zu tun?“

„Das wird dir der Direktor dann gleich selbst erklären. Ich war heute Morgen bereits im Internat und habe ein paar Dinge angefragt. Es wäre also gut, wenn du jetzt mitkommen würdest.“

Natürlich bin ich mit Papa in das Internat gefahren, damit wir uns mit Dr. Steyrer treffen konnten. Wir stiegen kurze Zeit später auf dem leeren Parkplatz aus. Es war ja Wochenende und kein Unterricht mehr. Einige Schüler waren immer über das Wochenende im Internat, aber der größte Teil fuhr doch nach Hause. Papa legte seinen Arm um meine Schulter und wir gingen in Richtung Eingang.

„Luc, ich habe gestern noch lange mit deiner Mutter gesprochen und ich habe Mick angerufen. Wir haben uns lange beraten und wir sind uns einig geworden, dass wir die Situation von Stefan grundlegend verändern müssen. Er ist zurzeit in München nicht sicher. Heute Morgen habe ich mit Mario telefoniert und er hat mir zugestimmt, dass etwas passieren muss. Ich möchte, bevor wir zu Dr. Steyrer gehen, von dir wissen, ob du in der nächsten Zeit bereit wärest, dich hier um Stefan zu kümmern.“

Peng, das war jetzt aber ein Schlag ins Gesicht. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet.

„Äh, ja. Klar bin ich dazu bereit, aber was würde das denn bedeuten?“

„Genau deswegen solltest du ja mitkommen. Dr. Steyrer will es dir nämlich gleich erklären.“

„Ok, ich verstehe zwar noch nicht ganz den Zusammenhang, aber ich lasse mich mal überraschen.“

„Schau mal Luc, du hast dich sicher darauf gefreut, dass Stefan uns besuchen kommt und du mit ihm Zeit verbringen kannst, er bei uns wohnt und ihr könnt euch nahe sein. Mir ist nicht entgangen, was er für dich bedeutet. Jetzt hat sich die Lage aber etwas verändert, ich musste eine Entscheidung treffen und das wird dir wahrscheinlich nicht so gut gefallen. Stefan wird nicht in einer Woche zu uns kommen und bei uns wohnen.“

Bitte? Das war jetzt nicht sein Ernst, ich hatte mich schon die ganze Zeit auf genau das, so gefreut. Ich blieb auf der Stelle stehen und mir schossen Tränen in die Augen.

„Das kannst du nicht machen. Darauf haben wir beide uns so gefreut. Das kann nicht sein.“

Papa nahm mich in den Arm und dann sagte er etwas sehr Verwirrendes.

„Du musst keine Angst haben, dass er nicht kommen wird. Nur wird er nicht die ganze Zeit bei uns wohnen. Ihr werdet schon viel Zeit füreinander haben. Aber eben nicht so, wie du es geplant hattest. Bitte beruhige dich und lass es dir von Dr. Steyrer erklären. Ok?“

Was sollte ich denn davon halten? Papa hatte es mir doch versprochen und jetzt sollte alles anders werden. Ich ging sehr gespannt, aber auch etwas ängstlich mit Papa in das Büro von Dr. Steyrer. Dieser war eigentlich ein netter Typ. Meine Brüder hatten mir immer viel von ihm erzählt und ich hatte auch einige Gelegenheiten, ihn schon kennenzulernen. Wir begrüßten uns und wurden gebeten uns zu setzen. Ich nahm neben Papa Platz. Dr. Steyrer nahm uns gegenüber Platz.

„So, Lucien. Dein Vater hatte mir schon einige Dinge berichtet und ich möchte mit dir heute über deinen Freund Stefan sprechen. Er hat ja eine wirklich schlimme Geschichte erlebt und ist sicher momentan in keiner guten Lage. Kannst du mir bitte noch einmal deine Erlebnisse mit ihm schildern?“

Ich war verwirrt, warum interessierte sich der Leiter des Internats für Stefan? Was hatte Papa vor? Jedenfalls erzählte ich ihm die ganze Geschichte und es dauerte entsprechend lange, bis ich fertig war. Dr. Steyrer unterbrach mich nicht einmal. Er hörte die ganze Zeit aufmerksam zu, und als ich geendet hatte, schaute er mich zwar ernst, aber mit einem Lächeln an.

„Ok, das ist wirklich eine heftige Geschichte und es ist gut, dass du ein so gutes Verhältnis zu deinen Eltern hast und ihnen davon berichtet hast. Dein Vater hat mir erzählt, dass dein Freund eigentlich in einer Woche zu Besuch kommen und er hier für drei Wochen seine Ferien verbringen sollte.“

„Ja, so war es geplant und wir haben uns auch schon sehr auf diese Zeit gefreut. Ich wollte ihm meine Schule zeigen und sicher auch hier das Internat, wo mein Bruder zur Schule geht. Nur jetzt hat Papa gesagt, dass das nicht klappen wird? Ich finde das nicht schön.“

Papa legte seine Hand auf meine Schulter.

„Luc, bleib ganz ruhig. Wir werden dir deinen Freund schon nicht wegnehmen. Hör dir bitte erst einmal an, was wir machen möchten.“

Meine Anspannung stieg, und Papa merkte das.

„Herr Steyrer, wir sollten Luc nicht länger auf die Folter spannen. Erklären Sie ihm bitte unseren Plan.“

„Also gut, Lucien, dein Vater kam zu mir und bat mich um Unterstützung. Wir sind uns einig darüber, dass Stefan zurzeit nicht in München bleiben kann. Wenn seine Eltern ihn bedrohen und bedrängen, kann er sich nicht wehren. Früher oder später könnte er nachgeben oder noch schlimmer, seine Eltern könnten versuchen, ihn anzugreifen. Das darf und wird nicht passieren. Er ist aber noch schulpflichtig und kann also nicht einfach aus der Schule genommen werden. Eine Frage zwischendurch. Kannst du dich noch erinnern, wie wir damals mit Benny verfahren sind?“

Ich überlegte einen Moment und musste feststellen, dass meine Erinnerungen nur sehr vage waren, wie das im Detail gelaufen war.

„Nein, Herr Dr. Steyrer, so genau weiß ich das nicht. Ich weiß nur, dass Benny nicht wieder nach Deutschland zurück gegangen ist und noch immer hier zur Schule geht.“

„Richtig, Lucien, er wird im kommenden Jahr hier sein Abitur machen. Er hat eine Therapie gemacht und sich toll entwickelt. Damals haben ihm deine Brüder geholfen. Und wir haben ihn seinerzeit über einen sogenannten Notfallplatz hier aufgenommen. Dein Vater hat sich seitdem immer für diese Notfallplätze engagiert und mittlerweile haben wir durch die Spenden anderer Eltern weitere Plätze einrichten können. Und wir haben uns entschlossen, Stefan hier aufzunehmen. Er wird bereits an diesem Wochenende herkommen und hier weiter zur Schule gehen. So lange, bis seine Lage sich geklärt hat. Benny ist auch hier geblieben. Stefan kann das auch, wenn es ihm hier gefällt. Das heißt aber auch, dass er nicht bei dir wohnen kann, sondern er wird hier im Internat leben. Ich möchte dich aber bitten, ihm als Hilfe zur Seite zu stehen und ihm das Leben hier zu erleichtern. Natürlich darf er an den Wochenenden oder in den Ferien bei dir wohnen, wenn ihr das möchtet. Also, was meinst du dazu?“

Es war eine völlige Überraschung, was ich hier gerade gehört hatte. Vermutlich musste ich sehr komisch ausgesehen haben, denn Papa fing laut an zu lachen. Ich schaute ihn ein wenig verärgert an, aber er schubste mich leicht in die Seite und da wusste ich, er meinte es nicht böse.

„Ich bin ein wenig sprachlos“, erwiderte ich dem Direktor, „aber finde das natürlich ganz toll, denn dann würde er ja nicht nur drei Wochen hier bleiben, sondern ich könnte immer mit ihm etwas unternehmen.“

Dr. Steyrer und Papa nickten beide und Papa meinte dann:

„Ich glaube, wir haben es nicht ganz falsch gemacht. Herr Steyrer, sagen Sie es ihm oder soll ich erklären, wie es weitergeht?“

Dr. Steyrer lachte und gab Papa das Wort.

 

„Also gut. Ich habe ja bereits mit Karl in München telefoniert und auch mit Mario gesprochen. Mario wird in diesen Minuten mit Stefan sprechen und ihm unsere Entscheidung mitteilen. Wir gehen mal davon aus, dass er zustimmen wird. Sobald sich Stefan entschieden hat, was er möchte, wird sich Mario melden und wir werden Stefan auf die Reise schicken. Dann könnte er bereits heute Abend oder eben Morgen hier ankommen.“

Dr. Steyrer ergänzte noch: „Wir haben bereits sein Zimmer vorbereitet und er wird bei uns in die achte Klasse gehen können. Du kennst dich hier ja auch ein wenig aus und ich habe schon jemanden gefunden, der ihm hier eine sehr gute Hilfe sein wird. Tommy, der ehemalige Zimmergenosse deines Bruders wird sich um ihn kümmern.“

Wow, damit hatte ich nicht gerechnet. Es war im Prinzip schon alles vorbereitet und ich spürte eine große Erleichterung. Papa bemerkte meine Stimmungslage und somit entspannte sich das Ganze.

Ich umarmte Papa und bedankte mich bei ihm für seine Entscheidung. Das hieß für unsere Familie natürlich auch wieder, eine neue Situation zu meistern. Allerdings wollte ich alles dafür tun, damit Stef hier einen guten Start bekommen würde.

„Wie geht es denn jetzt weiter?“, fragte ich in die Runde.

Papa schmunzelte und erklärte dann: „Wir fahren wieder nach Hause, warten auf Marios Anruf und dann sehen wir, was passiert.“

War ja klar, Papa hatte schon wieder seinen Humor ins Spiel gebracht. Das hieß aber auch, dass er sich schon sehr sicher war, wie es weitergehen würde. Ich ließ es deshalb so stehen und wir verabschiedeten uns von Herrn Steyrer mit der Vereinbarung, dass wir ihn anrufen würden, sobald sich Stefan entschieden hatte.

Zwei Stunden später saß ich zu Hause in meinem Zimmer und machte mir Gedanken, wann sich Stefan endlich melden würde. Hoffentlich würde er unserem Vorschlag zustimmen. Es klopfte und Papa kam mit dem Handy in mein Zimmer.

„Luc, hier ist jemand für dich am Telefon.“

Ich nahm das Handy und wurde nervös.

„Lucien Maergener“, meldete ich mich.

„Hi Luc, Stef hier. Wie geht es dir?“

„Boah, eigentlich ganz gut, aber ich bin schon echt aufgeregt. Kommst du zu uns in die Schweiz?“

Ich wollte nicht mehr länger warten und Gewissheit haben, ob mein Freund sich richtig entschieden hatte.

„Luc, ich weiß nicht, ob das richtig ist. Wie sollen wir das denn auf Dauer bezahlen können. Ich habe einfach ein schlechtes Gewissen.“

„Hast du das nicht richtig verstanden? Es wird vom Internat finanziert werden. Du musst nur das beitragen, was du in der Lage bist, zu leisten. Ich will, dass du herkommst. Meine Güte Stef, es ist eine tolle Chance, völlig neu anzufangen. Mario kann in Ruhe seine Prüfungen machen und du bist bei mir.“

Ich konnte seine Unsicherheit spüren, aber auch die Freude mich wiederzusehen.

„Also gut. Ich werde es versuchen. Hier halte ich es auch nicht mehr lange aus. Also kann ich auch ausprobieren, ob ich das überhaupt schaffe, die Anforderungen in der Schule zu erfüllen.“

„Geil, also du kommst? Wann wirst du fliegen?“

„Weiß noch nicht so genau. Dein Vater wollte das gleich mit Mario besprechen. Am besten fragst du ihn gleich. Luc, ich freu mich auf dich.“

„Ich auch. Und es wird auf jeden Fall besser werden, als in den letzten 10 Jahren. Das verspreche ich dir.“

„Ja, ich hoffe es. Weißt du, wenn du nicht gekommen wärst, wer weiß, wo ich jetzt wäre. Ich denke oft darüber nach … Ich weiß nicht, wie ich dir erklären soll, was ich gerade fühle …“

„Lass es einfach so, wie es ist und lass uns hier darüber reden. Und vergiss nicht, Karl und Barbara noch einmal zu danken.“

„Ganz bestimmt nicht. Ich habe schon eine Kleinigkeit besorgt, die Mario dann mitnehmen soll.“

„Ok, schade, dass wir jetzt nicht zusammen sitzen und darüber reden können. Musst du noch Sachen vorbereiten?“

„Klar, ich muss noch meine Sachen packen, was ich alles mitnehmen muss. Ich kann ja nicht einfach wieder nach München und noch mal etwas holen.“

„Aber Mario könnte dir ja auch was mitbringen, wenn er zu Besuch kommt. Also nimm erst mal nur die wichtigsten Sachen mit. Schulsachen brauchst du und sonst nur deine persönlichen Sachen. Bücher und alles andere bekommst du hier.“

„Ok, du Luc, wir müssen Schluss machen. Mario möchte noch mit deinem Vater etwas besprechen. Ich freu mich auf dich. Hoffentlich falle ich deiner Familie nicht zu sehr auf die Nerven.“

„Unsinn, wir freuen uns, dass du dich so entschieden hast. Weißt du, ich bin schon total aufgeregt, dich bald wieder zu sehen.“

Es fiel uns schwer, das Gespräch zu beenden. Wir hatten noch so viel zu erzählen, aber das musste nun noch etwas warten. Stef verabschiedete sich und ich ging mit dem Handy in unser Wohnzimmer, wo Papa schon wartete. Er grinste mich an und nahm das Handy, um sich mit Mario abzustimmen. Ich ging zurück in mein Zimmer und war total aufgewühlt. Stef würde schon an diesem Wochenende zu uns kommen und auch bleiben. Ich begann spontan, mein Zimmer aufzuräumen. Eigentlich überhaupt nicht meine Art, aber ich wollte doch einen guten Eindruck machen, wenn Stef zu Besuch war.

Ich war noch mitten in den Aufräumarbeiten, als Papa wieder in mein Zimmer kam. Er hatte sich kurz umgeschaut und fing an zu lachen.

„Sag mal, räumst du jetzt auf, weil Stef bald zu Besuch kommt? Ich könnte fast glauben, das ist wie bei Leifs erstem Rendezvous. Da hatte er auch plötzlich angefangen sein Chaos aufzuräumen.“

Ich wurde rot und es war mir furchtbar unangenehm. Papa schaute mir ins Gesicht und wechselte schnell das Thema.

„So, Luc. Folgender Ablauf. Mario kann nicht weg aus München. Er muss für seine Prüfungen lernen. Allerdings soll Stefan nicht allein fahren. Mario hat Sorge, dass etwas passieren könnte. Also wirst du ihn begleiten. Du fliegst in zwei Stunden nach München und holst Stefan dort ab. Mario bringt ihn zum Flughafen und ihr fliegt direkt wieder zurück in die Schweiz. Dann seid ihr beide heute Abend wieder hier. Heute bleibt Stefan dann bei uns und morgen bringen wir ihn in sein neues Quartier im Internat.“

Ich fiel meinem Vater vor Freude und Glück um den Hals. Ein tolles Gefühl war das, die Gewissheit zu haben, dass Stef wirklich kommen wird. Er ließ mich einfach gewähren und stellte auch keine Fragen mehr. Er hielt mich nur fest. Ich konnte mich nicht mehr länger beherrschen und mir liefen ein paar Freudentränen übers Gesicht. Erst als ich mich wieder gefangen hatte, wollte Papa wieder hinausgehen.

„Papa, warte bitte einen Moment.“

Er drehte sich überrascht um, schaute mich an, sagte aber kein Wort.

„Danke, für alles. Ich weiß noch nicht, was ich sagen soll. Ich bin so froh darüber, was du gemacht hast.“

Er nickte nur und sagte dann: „Schon gut, Kleiner. Ich glaube zu wissen, was dir Stefan bedeutet.“

Er zwinkerte mir zu und verließ wortlos mein Zimmer. Was hatte er mir damit sagen wollen? Was bedeutete mir Stefan eigentlich? Ich kam ins Grübeln. Allerdings hatte ich nicht viel Zeit zum Überlegen, denn eine Stunde später waren wir bereits im Auto unterwegs zum Flughafen.

„Wie geht es dir jetzt? Freust du dich auf Stefan?“

„Ich bin aufgeregt, Papa. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so schnell wieder nach München komme. Außerdem, ja, ich freue mich auf Stef.“

Papa schaute kurz zu mir hinüber und lächelte.

„Na, dann haben wir das ja richtig gemacht, dich zu schicken.“

Wir mussten lachen. Einige Minuten später standen wir am Check-In Schalter und ich bekam meine Bordkarte. Ich verabschiedete mich von Papa. Er wollte gar nicht erst nach Hause fahren, sondern in Genf ein paar Dinge besorgen. In Genf gab es einen der wenigen Lancia Händler und dort wollte er sich einen Delta S4 ansehen. Das war sozusagen das absolute Rallye Auto. Davon wurden nur 200 Stück gebaut. Er wollte sich ansehen, in welchem Zustand der Wagen war und ob es sich lohnen würde, den zu restaurieren.

Also trennten wir uns recht schnell wieder und ich saß kurze Zeit im Wartebereich und schaute mir die anderen Passagiere an. Nahezu ausnahmslos Geschäftsleute im Anzug und mit Krawatte. Ich wurde auch von einigen argwöhnisch beäugt, ein so junger Bengel allein im Wartebereich ist bei einem Linienflug ungewöhnlich. Aber ich versuchte, mich mit Lesen abzulenken, dann kam der Aufruf. Unsere Maschine stand bereit und wir konnten das Flugzeug betreten.

Als wir alle an Bord waren und bereits die Türen geschlossen waren, meldete sich der Kapitän und teilte uns mit, dass sich der Abflug um einige Minuten verzögern würde.

Mein Sitznachbar war ein junger Mann so Anfang zwanzig in einem dunklen Maßanzug. Mir war das absolut schleierhaft, wie man in diesem Alter so eine Kleidung tragen konnte. Wir bekamen von den Flugbegleitern Getränke angeboten und da war mir klar, dass sich unser Abflug noch etwas verzögern würde. Ich bestellte mir einen O-Saft und lehnte mich etwas zurück. Nach etwa einer Viertelstunde setzte sich das Flugzeug in Bewegung. Wir rollten vom Terminal rückwärts und dann wurden die Turbinen angelassen. Die Hinweise zum Anschnallen leuchteten auf und innerhalb weiterer Minuten waren wir in der Luft. Der Flug selbst verlief ohne Ereignisse und somit landete ich mit etwa zehn Minuten Verspätung am Franz-Josef Strauß Flughafen in München.

Es war vereinbart, dass Mario mit Stef zum Flughafen kommen würde und wir noch eine gute Stunde hatten, bis wir dann zurück in die Schweiz einchecken mussten. Als ich aus dem Terminal in die Halle kam, standen die beiden bereits auf mich wartend am vereinbarten Treffpunkt. Ich ging auf die beiden zu und war nicht darauf vorbereitet, dass Stef auf mich zu laufen würde. Er kam angelaufen und begrüßte mich mit einer kräftigen Umarmung und voller Freude.

„Hallo Luc, ich freue mich so, dass du wieder hier bist. Danke, dass ich nicht allein fliegen muss.“

Er strahlte über das ganze Gesicht und gab mir in seiner überschwänglichen Freude, einen Kuss auf die Wange. Mario stand immer noch an seinem Punkt und schaute uns bei dieser Begrüßung zu. Er lächelte. Ich löste mich von Stef, um auch Mario zu begrüßen. Ich berichtete beiden kurz, was sich bei mir ereignet hatte und Mario schickte Stef los, für jeden eine Mantaplatte zu bestellen. Damit hatte er etwas Zeit, mich über die Details im Streit mit den Eltern aufzuklären. Stef sollte das wohl nicht mitbekommen. Was ich zu hören bekam, war nicht sehr schön. Da wurde mir bewusst, warum Papa so entschlossen reagiert hatte und Stef in die Schweiz holen wollte. Mario und ich folgten dann zum Imbiss, wo Stef bereits die Mantaplatten bestellt hatte. Wer nicht weiß, was eine Mantaplatte ist, dem sei erklärt, dabei handelt es sich um eine Currywurst mit Pommes weiß.

Mario bezahlte und wir schaufelten uns das Menü ein. Dann wurde Mario ernst und wollte mir einen Umschlag geben. Ich war irritiert.

„Was soll das? Davon hatte Papa nichts gesagt. Was ist da drin, Mario?“

„Da ist für euch etwas Geld drin für die Verpflegung und eure Unkosten. Ich möchte nicht, dass ihr das alles übernehmt.“

„Spinnst du? Steck das wieder ein. Papa hat sich um alles gekümmert und Stef braucht nur Taschengeld für die erste Zeit. Dann bekommt er ja das Kindergeld und alles andere auf sein Konto. Da kümmert sich Papa schon drum. Also du kannst das bestimmt viel besser gebrauchen. Sonst spar das auf, für deinen Besuch bei uns.“

Dabei grinste ich ihn an. Er schien peinlich berührt zu sein, nickte aber und steckte den Umschlag wieder ein. Er nahm mich in den Arm und sagte:

„Weißt du Luc, Menschen wie dich und deine Familie, gibt es viel zu wenige. Meinst du, ich könnte Stef mal bei euch besuchen? Ich würde gerne mal auch deine ganze Familie kennenlernen und wie ihr dort so lebt.“

„Klar, lass Stef erst einmal richtig ankommen und dann kommst du uns besuchen, wenn du deine Prüfungen gemacht hast. Dann hast du bestimmt mehr Zeit.“

Er schaute mir tief in die Augen und nickte mir zu. Ich sah auf die Uhr und es wurde Zeit wieder einzuchecken. Stef gab mir die Papiere und somit checkten wir ein. Ich ließ die beiden einen Moment allein, damit sich Stef in Ruhe von seinem Bruder verabschieden konnte. Sie würden sich die nächsten Wochen vermutlich nicht mehr sehen. Es flossen doch ein paar Tränen bei beiden, aber dann war es auch wirklich soweit. Ich umarmte Mario noch einmal und dann trennten sich unsere Wege. Wir gingen in den Wartebereich und Mario fuhr zurück.

Was wir nicht beachtet hatten, waren die Sitzplätze. Wir mussten einige Reihen getrennt Platz nehmen. Das war natürlich sehr unglücklich, aber der Flug würde ja nicht sehr lange dauern. Als wir in der Luft waren, kam eine Flugbegleiterin zu mir und bot mir an, mich zu Stef nach hinten setzen zu dürfen, weil einige Plätze frei geblieben waren. Das tat ich dann auch und Stef freute sich sichtlich, mich neben sich zu haben.

„Luc, ich bin total aufgeregt. Wirst du denn Zeit haben, mir alles zu zeigen? Mario sagte, ich würde nicht bei euch wohnen. Stimmt das wirklich? Ich will nicht allein irgendwo sein.“

Verwundert beruhigte ich ihn erst einmal, dann erklärte ich ihm die Lage.

„Also heute wirst du bei uns bleiben und auch schlafen. Morgen werde ich dich in dein neues Zimmer bringen und dir alles erklären und zeigen. Du musst keine Sorge haben, dass du allein bist.“

Er nahm meine Hand so, dass es kaum jemand bemerken konnte und drückte sie fest. Ich war überrascht, dass Stef so deutlich Kontakt wollte. Ich ließ ihn gewähren, weil ich sehr schnell spüren konnte, dass ihn dies entspannte. Er fing sogar an, mir von den schönen Dingen in den letzten Wochen zu berichten. Sein Gesicht wurde immer freundlicher und ich genoss sein Lachen. Auch ich berichtete ihm von meinen Aktivitäten. Irgendwann legte er seinen Kopf an meine Schulter und schlief doch tatsächlich ein. Ich musste schmunzeln, denn er hatte mir erzählt, dass er vor Aufregung in der Nacht kaum geschlafen hatte. Am liebsten hätte ich ihm jetzt das Gesicht gestreichelt, aber wie würde das wohl aussehen und was wäre, wenn Stef das unangenehm war. Also ließ ich es sein und widmete mich meiner Lektüre. Irgendwann wurde Stef aber wieder wach und bemerkte, wo er seinen Kopf abgelegt hatte. Verschämt schaute er mich an und ich musste grinsen.

„Na, wie hat dir meine Schulter als Kopfkissen gefallen? War es bequem?“

Stef zögerte, es war ihm unangenehm.

„Ähm, sorry. Ich wollte das nicht. Ich bin einfach eingeschlafen. Tut mir leid.“

„Hey, ist doch nicht schlimm. Wir sind doch Freunde. Stell dir vor, das wäre dir mit einem der „wichtigen“ Herren hier passiert.“

 

Ich lachte leise und er entspannte sich wieder.

„Stimmt, das wäre richtig peinlich gewesen. Und ja, deine Schulter als Kissen war bequem.“

Sein Lachen war einfach nur toll. Ich knuffte ihm in die Seite und damit war das Thema erledigt. Die Durchsage des Kapitäns unterbrach unsere Gedanken, denn er kündigte an, dass der Landeanflug ein wenig unruhiger werden könnte und bat alle Passagiere sich anzuschnallen. Wir taten wie gewünscht und warteten auf die Dinge, die nun kommen würden. Zuerst war alles weiterhin ruhig, aber einige Augenblicke später wurde es doch unruhig. Das Flugzeug vibrierte und manchmal wurde es auch hin und her geschleudert. Die Tragflächen schwangen auf und ab, allerdings dauerte der ganze Spuk nur wenige Minuten. Das hatte allerdings ausgereicht, um eine Stille in der Kabine zu erzeugen. Die Landung hingegen war wieder butterweich. Stef nahm sein Handgepäck und wir verließen das Flugzeug über die hintere Treppe. In Genf herrschte am Boden angenehmes Wetter. Ich hatte keine Ahnung, warum wir diese Turbulenzen gehabt hatten. Egal. Jetzt stand erst einmal wieder Stef auf dem Plan. Ein Bus brachte uns von der Maschine in den Terminal. Dort stellte sich Stef an das Gepäckband. Seine beiden Taschen kamen auch recht bald und somit gingen wir beide mit je einem Koffer Richtung Ausgang.

„Wollte dein Vater uns nicht abholen?“, fragte Stef.

„Eigentlich schon. Keine Ahnung wo er bleibt.“

Ich holte mein Handy heraus und da wurde mir klar, warum ich keine Nachricht bekommen hatte. Im Flugzeug hatte ich es abgeschaltet. Ich schaltete es wieder ein. Da kam auch schon eine Nachricht von Papa. Dort stand zu lesen:

Hallo ihr beiden. Ich komme etwa 15 Minuten später. Hat hier doch länger gedauert. Macht euch keine Sorgen. Gruß Papa.

Ich zeigte Stef die Nachricht und somit setzten wir uns auf eine Bank und warteten auf meinen Vater. Stef wurde doch ein wenig unruhig. Ich verwickelte ihn in ein Gespräch und meinte zum Schluss:

„Du kannst ja Mario schon mal schreiben, dass du gut gelandet bist. Dann wird er sicher auch beruhigt sein.“

Er nickte und tippte sofort auf seinem Handy herum. Er war noch nicht fertig, da sah ich Papa durch die Eingangstür des Terminals kommen. Er kam auf uns zu gelaufen. Es schien so zu sein, dass er sich richtig beeilt hatte.

„Sorry, Jungs. Ich bin etwas aufgehalten worden. Hoffentlich wartet ihr nicht schon zu lange.“

„Nein, Papa. Dank deiner Nachricht wussten wir ja, was los ist.“

Erst jetzt begrüßte Papa mit einer herzlichen Umarmung meinen Freund. Stef war sichtlich überrascht, dass Papa ihn so begrüßte. Stef schaute mich fragend an, aber für mich war das völlig normal. Die Fahrt zu uns verlief relativ ruhig. Papa ließ Stef sich in Ruhe alles anschauen und redete nicht viel. Ich konnte nicht sehen, was Stef machte, da ich vorne saß. Papa hingegen schaute immer wieder mit einem Lächeln durch den Rückspiegel nach hinten. Die Fahrt dauert ja doch einige Zeit und als sich Stef ein wenig gefangen hatte, fragte er:

„Entschuldigung Herr Steevens, aber wo fahren wir jetzt eigentlich hin? Zu Ihnen oder direkt in das neue Quartier?“

Papa schaute mich fragend an.

„Hast du ihm noch nichts erzählt?“

Ich schüttelte den Kopf und Stef schien zu denken, dass Papa sauer sein würde.

„Es war meine Schuld, dass Luc es mir noch nicht erklären konnte. Ich habe im Flugzeug geschlafen.“

Papa lachte und zwinkerte mir zu.

„Na gut, dann will ich mal nicht so streng mit Luc sein. Also, wir fahren jetzt zu uns nach Hause. Dort kannst du dich erst einmal erholen und wir zeigen dir unser Haus und du lernst alle kennen. Ich habe auch für Luc noch eine Überraschung, denn Mick und Lukas sind auch zu Besuch gekommen.“

Das war wirklich eine Überraschung. Sie wollten doch erst nach den Klausuren kommen. Egal, ich freute mich sehr darüber. Stef hingegen wurde immer stiller, je näher wir unserem Haus kamen. Papa erklärte ihm immer wieder, wo wir uns befanden und zeigte ihm dieses oder jenes. Ich hielt mich zurück, erst als wir kurz vor unserem Zuhause waren, wies ich ihn darauf hin. Das führte doch zu einer gewissen Spannung. Als Papa in unsere Einfahrt bog und den Wagen abstellte, stieg ich aus und öffnete Stef die Autotür.

„So, der Herr, bitte aussteigen, ihr Ziel ist erreicht.“

Papa fing sofort an zu lachen und Stef musste auch grinsen. Erst als er ausgestiegen war und zu unserem Haus blickte, fing er an zu staunen. Er hatte wohl nicht mit einem so schönen Anwesen gerechnet. Unser Haus war nicht riesig, es war sicherlich kleiner als das Geigersche Anwesen in München, aber es war wirklich sehr schön gelegen.

„Kommt, lasst uns reingehen. Die anderen warten bestimmt schon darauf, dich kennenzulernen.“

Papa und ich nahmen je einen Koffer, und bevor wir die Haustür aufschließen konnten, öffnete Leif uns die Tür. Er stand mit einem Grinsen im Gesicht in der Tür und begrüßte unseren Gast sehr freundlich.

„Hi, ich bin Leif und einer der Brüder von dem da.“

Dabei zeigte er mit dem Finger auf mich.

„Und du bist Stefan, nehme ich mal an.“

Ich musste mich zusammennehmen, denn ich fand das einfach nur peinlich. Papa griff überraschenderweise ein und gab folgenden Kommentar ab:

„Leif, deine Auffassungsgabe ist heute wirklich enorm. Anstatt unseren Besuch zu verunsichern, solltest du lieber mal die Koffer nehmen und in mein Arbeitszimmer stellen. Stefan schläft bei Luc, nehme ich mal an.“

Dankbar für die Unterstützung, gab ich Leif meinen Koffer in die Hand und Leif ging wortlos in Richtung Arbeitszimmer.

 

„Komm Stefan, wir gehen erst mal die anderen begrüßen.“

Papa hatte die Situation gerettet und wir folgten ihm ins Wohnzimmer. Dort saßen Mama, Mick und Lukas und warteten auf uns. Als wir eintraten, standen alle auf und es wurde eine freundliche Begrüßung für Stefan. Mama kannte er ja auch noch nicht. Nur Mario hatte sie schon kennengelernt. Nachdem sich alle vorgestellt hatten, meinte Mama dann: „So, bevor es etwas zu essen gibt. Luc, führst du deinen Gast mal im Haus herum und zeigst ihm alles, damit er sich auch zurechtfindet, wenn du mal nicht da bist.“

„Klar Mama, mache ich. Stef, kommst du mit?“

„Bin schon da.“

Somit machten wir beide uns auf den Weg, unser Haus zu erkunden. Ich erklärte ihm, was wo war und zeigte ihm Leifs und zum Schluss mein Zimmer. Dort angekommen schien es so, als ob er etwas vermisst hätte.

„Was ist, Stef. Du siehst so aus, als ob du eine Frage hättest.“

„Stimmt, wo sind denn die Zimmer von Mick und Lukas? Sie müssen doch vorher auch hier gewohnt haben.“

Da musste ich lachen.

„Stimmt, aber das sollen sie dir am besten selbst zeigen. Sie haben hier unten kein Zimmer mehr gehabt. Papa hat ihnen damals gleich die obere Wohnung eingerichtet.“

Das erstaunte Stef dann doch. Somit nahmen wir erst mal in meiner Sitzecke Platz.

„Möchtest du etwas trinken? Eine Cola oder was anderes?“

„Ja, gerne. Eine Cola wäre gut. Ich habe einen ziemlich trockenen Hals.“

Ich stand auf und besorgte aus der Küche eine Flasche Cola, Gläser hatte ich in meinem Zimmer genug. Mama bereitete in der Küche das Abendessen vor. Es gab mein Lieblingsessen, Lasagne.

„Hmmm, das riecht aber schon gut. Bestimmt wieder richtig lecker. Danke, Mama.“

Sie schaute mich an und lächelte.

„Denk dran, in fünfzehn Minuten können wir essen. Wer zu spät kommt, hat Pech gehabt.“

Ich umarmte meine Mutter. Warum, wusste ich eigentlich gar nicht. Aber ich hatte ein Glücksgefühl, wie schon ganz lange nicht mehr. In meinem Zimmer saß mein neuer Freund Stef und er würde nicht wieder zurück nach München fahren. Was für ein Gedanke. Ich ging mit der Cola also wieder zurück in mein Zimmer, und als ich durch die Tür trat, stand Stef in meinem Zimmer und schaute sich um.

 

„Sag mal, hast du eigentlich keine Musik hier? Ich sehe keine CDs, aber eine geile Anlage. Wie passt das zusammen?“

Ich lächelte, stellte die Cola auf dem Tisch ab und nahm zwei Gläser aus der Vitrine.

„Doch, aber ich habe alles auf dem Computer gespeichert. Die Anlage läuft über den PC. Was möchtest du denn hören?“

Er überlegte, zögerte und sagte dann:

„Also eigentlich mir egal, solange es kein Rap oder HipHop ist.“

„Das wirst du nur bei Leif finden, aber bei mir gibt es keinen Lärm. Hier gibt es nur gute Musik.“

Jetzt musste er lachen. Er strahlte über sein ganzes Gesicht. Dann kam er auf mich zu und legte mir beide Hände auf meine Schultern. Er stand jetzt ganz nah vor mir und schaute mir in die Augen. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Was geschah hier gerade? Stef sagte nichts mehr, wir sahen uns nur wortlos in die Augen, dann atmete Stef ganz tief ein und sagte ganz leise:

„Luc, du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich gerade fühle. Ich bin einfach nur glücklich, dass du in meiner Nähe bist.“

Ich legte meine Hände auf seine Schultern und unsere Köpfe berührten sich an der Stirn. Ein sehr intensives Gefühl durchströmte meinen Körper. Es war absolut neu für mich. Wir sprachen kein Wort und ich verlor das Gefühl für die Zeit. Ob wir eine Minute oder zehn Minuten so gestanden hatten, ich wusste es nicht. Irgendwann löste ich mich von ihm und sagte:

„Doch, ich kann es mir vorstellen, weil ich genauso froh bin, dass du hier bist und wir wieder Zeit zusammen verbringen können.“

Er schaute sich um und sah das für ihn bezogene Gästebett in meinem Zimmer. Er strahlte und sagte:

„Weißt du, heute wird seit langer Zeit das erste Mal sein, dass ich nicht allein einschlafen muss. Wenn du wüsstest, wie oft ich mit Angst eingeschlafen bin und nicht gewusst habe, ob mein Vater nicht wieder betrunken hereinkommt und mich verprügelt.“

Bei den letzten Worten versagte seine Stimme und ich konnte erkennen, dass seine Augen feucht wurden. Schnell legte ich meinen Arm um ihn und streichelte ihm über den Rücken.

„Stef, eines kann ich dir versprechen. Das wird niemals wieder passieren. Dein Vater wird dich nie wieder misshandeln. Nie wieder! Hast du das verstanden?“

Ich wurde richtig ärgerlich, was musste alles geschehen, damit ein vierzehnjähriger Junge Hilfe bekommen konnte. Am liebsten hätte ich seinem Vater persönlich ins Gesicht geschrien, was für ein mieses Arschloch er ist. Leider bekam ich dazu keine Gelegenheit, allerdings war es vielleicht auch ganz gut so. Es würde Stefan nicht helfen.

Stefan legte seinen Kopf auf meine Schulter und nickte. Wir redeten kein weiteres Wort. Ein paar Augenblicke später hob er den Kopf an und flüsterte ein ganz leises „Danke“. Ich streichelte noch einmal über seinen Rücken und dann löste er sich. Er hatte sich gefangen und wir gingen zum Essen. Ich fand es einerseits schade, dass wir diese Situation auflösen mussten, aber andererseits freute ich mich, dass er nicht mehr so traurig war.

Wir betraten gemeinsam die Küche und Stef sog den Duft des Essens ein. Er strahlte und freute sich wie ein kleines Kind.

„Lasagne, woher wussten Sie, dass das mein Lieblingsessen ist, Frau Maergener.“

Mama schaute ihn lachend an und erklärte ihm: „Ich habe es nicht gewusst, aber Luc isst diese Lasagne für sein Leben gern. Das war schon damals die Mahlzeit, als er aus dem Krankenhaus kam, womit ich ihn immer zum Essen bringen konnte.“

Ich musste lachen und Stef schaute mich fragend an. Ich wollte nicht weiter auf diese Zeit eingehen und bat ihn nur, sich an den großen Esstisch zu setzen. Lukas und Mick kamen auch hinzu und Papa folgte mit Leif als Letzter. Wir waren komplett. Mama stellte das Essen auf den Tisch und in den nächsten Minuten wurde nicht viel gesprochen, da wir alle mit essen beschäftigt waren. Mama hatte sich, wie immer, große Mühe gegeben und ein Festmahl zubereitet. Es blieb nichts übrig und das Eis zum Nachtisch wurde natürlich ebenso vollständig aufgegessen.

Nachdem wir noch einen Cappuccino getrunken hatten, meinte Mick, dass wir doch mal zu ihnen nach oben gehen sollten. Er wollte Stef ihre Wohnung zeigen. Mick, Lukas und Stef standen bereits in der Tür, als sich Lukas umdrehte und meinte:

„Was ist, Luc? Kommst du nicht mit?“

„Ihr habt nichts gesagt, da habe ich gedacht …“

„So ein Unsinn, natürlich kommst du mit. Es ist doch dein Besuch. Nicht, dass er Angst haben muss, mit zwei schwulen Jungs, allein sein zu müssen.“

Bei diesem Spruch konnte ich genau erkennen, dass Mick mich anschaute und es ihm ein wenig unangenehm war, dass Lukas so einen flapsigen Spruch gebracht hatte. Er schwieg jedoch und ging einfach hinaus. Auf dem Weg nach oben allerdings konnte ich sehen, dass er Lukas etwas ins Ohr flüsterte und Lukas ihn ziemlich verwundert anstarrte. Oben angekommen, zeigten die beiden Stef ihre Wohnung und den tollen Ausblick von der Terrasse. Er war sichtlich beeindruckt und drückte auch seine Bewunderung aus. Er fand es toll, dass die beiden ihre Beziehung so offen lebten. Er berichtete von den vielen Sprüchen aus seiner alten Klasse über Schwule und die Art der Liebe. Wir hörten alle sehr aufmerksam zu, was er berichtete, dann sagte Mick zu ihm:

„Weißt du, Stefan, einen wahren Freund erkennst du nicht in guten Zeiten, sondern dann, wenn es dir mal nicht gut geht oder du in großen Schwierigkeiten steckst. Dann zeigt sich erst, auf wen du tatsächlich zählen kannst. Und eines sei dir sicher, es spielt keine Rolle, ob dein Freund schwul oder hetero ist. Hauptsache ist doch, dass er dann für dich da ist, wenn du ihn brauchst.“

Stef schaute sich um, er suchte meinen Blick und dann kam er zu mir, legte seinen Arm um mich und sagte:

„Ja, da hast du sicher recht. Ich habe mit Luc auch einen solchen echten Freund gefunden. Ich weiß gar nicht, wie ich ihm das nur zeigen kann, wie viel er mir bedeutet.“

Mick schaute ihn an und meinte: „Da wird dir schon das Richtige einfallen. Verlass dich auf dein Gefühl und zeig es ihm einfach. Es wird schon richtig sein.“

Stef stand jetzt ganz nah neben mir und sein Gesicht kam immer näher an mein Ohr. Seine Nasenspitze berührte mein Ohr. Es war unfassbar aufregend. Ein Kribbeln durchströmte meinen Körper. Dann spürte ich seine Lippen auf meiner Wange und plötzlich gab er mir einen richtigen Kuss. Ich war überrascht und zuckte einen Moment zusammen, hielt ihn aber ganz fest in meinem Arm. Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Durch das Festhalten konnte er nicht zurückzucken. Als sich seine Lippen von meinem Gesicht lösten, standen Mick und Lukas grinsend vor uns.

„Was ist?“, fragte ich.

„Das war doch schon mal ein guter Anfang. Ich glaube, Stefan, dir werden noch mehr gute Ideen einfallen, wie du Luc das zeigen kannst.“

Typisch mein großer Bruder. Mick wusste immer den passenden Text, in jeder Situation. Stef musste nun auch grinsen und ich wurde rot. Lukas hingegen schaute nur schweigend zu seinem Freund und dann sagte er nur noch:

„Ich wünsche euch beiden eine schöne Zeit, hier bei uns. Ich gehe mal davon aus, dass ihr noch einiges zusammen machen werdet. Also genießt die Zeit und wenn ihr Hilfe braucht, sprecht mit uns. Auch wenn wir Morgen wieder nach Deutschland fliegen. Außerdem sind ja bald Semesterferien, dann kommen wir für länger wieder her.“

Stef und ich bedankten uns und verließen ihre Wohnung. Wir sprachen nicht viel, ich war noch immer sehr beeindruckt, von dem was vor wenigen Minuten passiert war. In meinem Zimmer angekommen, setzte sich Stef auf mein Sofa. Ich nahm die Flasche Cola und schenkte mir erst einmal ein großes Glas ein. Ich trank es auf einen Zug aus. Stefan schaute zu, und als ich ihm auch etwas einschenkte, bedankte er sich.

Er bedeutete mir mit einer Handbewegung, dass ich mich neben ihn setzen sollte. Ich wusste nicht, ob das richtig sein würde. Ich zögerte, er bemerkte das sofort.

„Was ist Luc, habe ich etwas falsch gemacht? Warum willst du dich nicht zu mir setzen?“

„Sorry Stef, ich bin gerade etwas verwirrt.“

Ich setzte mich zu ihm und er legte seinen Arm um mich. So blieben wir eine ganze Zeit wortlos nebeneinander sitzen. Es fühlte sich richtig an. Stef war mir ein ganz besonderer Freund und ich musste lernen, diese starken Gefühle zu akzeptieren und einzuordnen. War das mehr als eine Freundschaft? Begann hier die Liebe? Ich wusste es einfach nicht.

Was ich wusste, es fühlte sich sehr gut an, so nahe neben ihm zu sitzen. Keiner hatte das Verlangen, irgendetwas zu tun. Wir saßen mit leiser Musik im Hintergrund, still nebeneinander. Es war schon richtig dunkel draußen und dann kam Stef auf die Idee, noch einmal an die frische Luft gehen zu wollen. Wir zogen uns also unsere Jacken an und ich sagte meinen Eltern Bescheid, dass wir noch einen Spaziergang machen wollten.

 

Stef kam aus der Großstadt. Er kannte unser ländliches Umfeld nicht und auch nicht die viel klarere Luft. Es war außerdem sternenklar und somit schaute ich nach einigen Sternbildern, die ich ihm erklären konnte. Wir standen dafür direkt nebeneinander und schauten nach oben. Stef hörte meinen Erklärungen zu. Nachdem ich ihm die Cassiopeia als Sternbild gezeigt hatte, gingen wir weiter. In der Nähe gab es einen Hügel. Von dort hatte man einen fantastischen Blick über den Ort und man konnte auch das Internat sehen. Ich beschloss, mit ihm auf diesen Hügel zu gehen. Auf dem Weg dorthin legte Stef seinen Arm um mich und legte erneut seinen Kopf auf meine Schulter. Da war es wieder, dieses unbeschreibliche Gefühl von Nähe und Verbundenheit. So etwas hatte ich noch mit keinem meiner anderen Freunde erlebt. Selbst bei Nico nicht, obwohl wir uns auch sehr nahe stehen. Ich ließ es einfach laufen, es war mir egal, falls uns jemand sehen sollte. Ich konnte spüren, wie Stef sich entspannte. Auf dem Hügel zeigte ich ihm die Lichter und das große beleuchtete Internatsgebäude. Nach einem Moment des Schweigens holte Stef tief Luft.

„Meinst du wirklich, ich schaffe das hier? Hier wird bestimmt viel erwartet von den Schülern. Ich habe doch schon so viel Unterricht versäumt. Wie soll das gehen?“

„Es ist keine normale Schule, hier ist jeder Schüler wichtig. Kein Schüler wird aufgegeben, wenn er selbst das Maximum aus sich herausholt. Du kennst die Geschichte von Benny?“

„Nein, nicht wirklich. Nur das, was du bisher erzählt hast.“

Daraufhin erzählte ich ihm die ganze Geschichte (nachzulesen in the race is over) und als ich fertig war, schaute mich Stef mit großen Augen an.

„Ist er immer noch hier?“

„Ja, er macht jetzt sein Abitur. Und das wird nicht das Schlechteste. Er hat ein neues Leben angefangen, als er hierher kam. Das kannst du auch, wenn du es willst.“

Jetzt schwieg er und ich hielt nur seine Hand. Er begann zu zittern und ich hielt ihn ganz fest.

„Ist alles in Ordnung?“

Er nickte und beruhigte sich auch wieder.

„Schon okay, ich habe nur Angst vor dem, was mich hier erwartet. Aber ich weiß auch, dass es nur besser werden kann, als es bisher war. Weißt du Luc, manchmal denke ich über unsere erste Begegnung nach. Was wäre gewesen, wenn du mich nicht im Park überredet hättest, mit in das Cafe zu kommen.“

„Vielleicht war es einfach so bestimmt. Meine Mama sagt immer wieder, das Leben hat eine gewisse Vorbestimmung. Manchmal spielt auch der Zufall Schicksal, aber meistens ist es einfach so bestimmt. Ob es so ist, weiß ich nicht. Ich glaube es eigentlich nicht, aber wer weiß.“

„Luc, wer ist dieser Tommy, der sich um mich kümmern soll? Ist er auch so nett wie du? Und warum kannst du nicht auf dem Internat sein?“

 

Ich musste lachen. Was für eine Frage. Ich erklärte ihm, wie ich Tommy kennengelernt hatte und dass ich mich sehr wohl auf meiner Schule fühlte. Meine Freunde, insbesondere Nico, hatten mich nie aufgegeben. Auch als eigentlich keine Hoffnung mehr war, dass ich meine Leukämie überwinden würde. Ich erzählte Stef jetzt alles. Es dauerte eine ganze Weile und ich bekam an einigen Stellen eine ganz schwere Stimme. Stef ließ mich einfach erzählen, aber er spürte, wie schwer es mir manchmal fiel. An diesen Stellen streichelte er mir über den Rücken. Gemeinsam schaffte ich es, ihm alles zu erzählen. Nach etwas mehr als einer Stunde standen wir wortlos immer noch auf dem Hügel. Irgendetwas war passiert. Ich fühlte einfach eine Nähe zu Stef, als wäre er mein Bruder.

Wir gingen wortlos zurück. Immer wieder nahm er meine Hand für einen Moment. Plötzlich sagte er etwas sehr Erstaunliches:

„Wenn du wieder gesund geworden bist, werde ich alles dafür tun, dass ich hier einen Neuanfang machen kann. Wirst du mir helfen, wenn ich mal nicht weiter weiß?“

Ich musste ihn wohl sehr erstaunt angesehen haben, denn er zuckte einen Moment zusammen.

„Jeder von uns wird dir helfen, wenn du mal Hilfe brauchen solltest. Versprich mir nur, dass du auch um Hilfe fragst, wenn du nicht mehr weiterwissen solltest.“

Wir lachten beide und in diesem Moment standen wir wieder vor unserem Haus. Ich schloss die Tür auf und wir zogen unsere Jacken aus. Meine Mutter hatte uns wohl schon vermisst, denn sie kam aus dem Wohnzimmer und schaute uns recht vorwurfsvoll an.

„Meine Güte, Luc. Wo seid ihr so lange gewesen? Ich habe mir schon ein wenig Sorgen gemacht. Hättest du …“

Weiter kam sie nicht, sie sah uns beiden ins Gesicht und dann lächelte sie nur. Sie sagte nichts mehr. Das hatte ich so noch nie bei ihr gesehen. Dann kam Papa auch noch hinzu und er brachte es auf den Punkt.

„Na, ihr beiden. Habt ihr ein wenig die Zeit verloren? Naja, ist ja alles im grünen Bereich, oder?“

Er grinste und ich hatte das Gefühl, ich wollte jetzt besser nicht wissen, was genau in Papas Kopf passierte. Er nahm meine Mutter einfach mit zurück ins Wohnzimmer. Ich schaute Stef an und musste lachen. Er verstand nicht ganz, warum ich lachen würde.

„Das erkläre ich dir irgendwann später mal. Jetzt lass uns in mein Zimmer gehen.“

Einige Zeit später hatten wir einige Spiele mit der Playstation und am PC gespielt. Ich wurde langsam müde und auch Stef war nicht mehr der Frischeste. Ich schaute auf die Uhr und erschrak ein wenig. Es war schon Mitternacht und das war doch die Zeit sich bettfertig zu machen. Stef wollte schon aus dem Zimmer gehen, um ins Bad zu gehen, als mir einfiel, dass ich ihm ja noch gar nicht mein eigenes kleines Bad gezeigt hatte.

„Hey, wo willst du hin?“

„Na, ins Bad. Zähneputzen und so.“

 

„Ach verdammt, ich habe dir noch gar nicht mein Bad gezeigt. Komm, ich zeige es dir.“

Er schaute verdutzt, als ich ihm die Tür zu meinem eigenen Bad öffnete.

„Wow, was für ein Luxus, du hast ein eigenes Bad. Ich glaube es ja nicht.“

„Ja, das ist echt der einzige wirkliche Luxus, den mir Papa damals hat einbauen lassen, bevor ich mit meiner Mama hier eingezogen bin. Das genieße ich auch sehr. Also fühl dich wie zu Hause, ich geh grad noch mal zu meinen Eltern.“

Damit ließ ich Stef allein im Bad und ging noch einmal ins Wohnzimmer zu meinen Eltern.

„Hallo Schatz, noch so spät wach?“, empfing mich Papa.

„Ja, wir wollten jetzt auch schlafen gehen. Wir haben doch etwas länger gezockt. Wo ist Mama denn?“

„Schon schlafen gegangen. Sie war müde. Was gibt’s denn noch, Kleiner?“

„Ach, eigentlich nichts Besonderes, nur die Frage, wann müssen wir morgen aufstehen? Ich habe keine Ahnung, was morgen genau ansteht.“

„Ach so, stimmt. Wir wollen um halb zehn frühstücken und dann zusammen ins Internat. Tommy wird uns erwarten und Stefan sein neues Zimmer zeigen. Er wird ihm auch das Internat schon einmal zeigen. Herr Steyrer wird dann am Montag die offizielle Begrüßung machen. Bis dahin kann er sich schon einmal ein wenig Tommy annähern. Wenn du möchtest, kannst du mit im Internat bleiben. Mittags werden wir gemeinsam zum Essen fahren, Tommy kommt auch mit. Ich möchte, dass die beiden sich kennenlernen. Was meinst du?“

„Toll, finde ich gut. Hoffentlich bekommt Stef hier einen guten Neuanfang. Ich glaube, dass er große Angst hat, hier zu versagen. Ich hoffe, Tommy wird ihm helfen, gerade am Anfang.“

„Schau mal, ich habe mit Tommy gesprochen. Er kennt im Wesentlichen Stefans Geschichte. Er wird sich um ihn kümmern. Tommy meinte auch, dass die neue Klasse sehr nett sei. Also von daher wird es für Stefan auch nicht so schwer sein. Du bist hier und wir sind ja auch noch da. Leif weiß auch Bescheid. Also das wird schon. Du musst deinem Bruder da auch mal etwas zutrauen. Er hat mir versprochen, sich um Stefan zu kümmern, wenn nötig.“

„Danke, Papa. Ich glaube, ich kann jetzt beruhigt schlafen gehen.“

Papa grinste und ich ging zurück in mein Zimmer. Stef war bereits aus dem Bad wieder heraus und lag schon unter meinem Hochbett im Gästebett. Er hatte sich sein Handy genommen und schrieb eine Nachricht.

„Hi, na schon fertig? Ich geh dann auch mal ins Bad. Bis gleich.“

„Viel Spaß“, grinste er mich an.

Dieses Grinsen war einfach schön. Es war nur viel zu selten zu sehen. Für mich war klar, dieses Lachen sollte in Zukunft wieder häufiger zu sehen sein. Ich beeilte mich im Bad und somit lagen wir beide kurze Zeit später jeder in seinem Bett. Ich begann noch etwas zu lesen, aber ich wurde doch sehr schnell müde. Ich schaute noch nach unten und sah, dass Stef bereits eingeschlafen war und so löschte ich auch mein Licht und schlief schnell und glücklich ein.

Das Internat

Leider war die Nachtruhe nicht von langer Dauer. Ich wurde wach, weil ich Geräusche vernahm, die von Stef zu kommen schienen. Er schlief sehr unruhig und hin und wieder begann er im Schlaf zu sprechen. Einige Male war es richtig laut und er schien mit irgendjemandem zu kämpfen. Ich kletterte aus meinem Bett nach unten, setzte mich auf sein Bett und nahm seine Hand. Da wachte er auf und schreckte hoch.

„Luc, was ist los? Warum sitzt du hier?“

„Du hast sehr unruhig geschlafen und sogar gesprochen im Schlaf. Ich hatte Sorge, dass du vielleicht einen Albtraum hattest.“

Stef wurde sehr still und ich wusste sofort, er hatte einen Albtraum gehabt. Es war ihm aber unangenehm. Ich nahm seine Hand und gab ihm Sicherheit. Dann erzählte er mir, dass er in den letzten Wochen immer wieder von den Geschehnissen träumte. Dabei wurde er sehr traurig. Er hatte Angst, Tommy würde das nicht aushalten, mit einem Psycho in einem Zimmer sein zu müssen. Er war sehr niedergeschlagen. Ich blieb noch eine ganze Zeit bei ihm, bis ich mich entschloss, einen Vorschlag zu machen.

„Sag mal Stef, ich habe oben genug Platz. Möchtest du vielleicht mit mir nach oben kommen und bei mir schlafen. Dann weißt du ganz sicher, dass du nicht allein bist.“

„Macht dir das denn nichts aus? Ich will dich nicht auch noch belasten.“

„So ein Unsinn. Wir sind Freunde. Also stell dich nicht so an und komm mit hoch.“

Gemeinsam standen wir von seinem Bett auf und ich ging zuerst die Leiter nach oben. Stef folgte mir und so legten wir uns gemeinsam in mein großes Bett. Innerhalb weniger Minuten hatte ich mich wieder beruhigt und wurde sehr müde.

„So, Stef, eine gute Nacht und schlaf gut. Wenn was ist, weck mich bitte.“

„Luc, danke. Ich bin froh, dass du mich verstehst.“

Wir schliefen schnell wieder ein. Leider war Stef immer noch sehr unruhig. Deshalb beschloss ich irgendwann, ihn einfach zu umarmen und ihm so ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Es funktionierte, Stef wurde sofort ruhiger und somit konnten wir den Rest der Nacht beide ruhig durchschlafen.

Am nächsten Morgen allerdings wurde ich mir bewusst, in welcher Lage wir waren. Falls Leif uns finden würde, hätten wir bestimmt einige Kommentare zu hören bekommen. Egal, Stef lag immer noch schlafend und eng an mich gekuschelt in meinem Bett und ich schaute mir den Jungen genau an. Einfach niedlich. Ich wurde sehr nachdenklich, wer würde einem solchen Jungen Schmerzen zufügen, ihn misshandeln und im Stich lassen. Was für Eltern es doch auf dieser Welt gibt. Ich wurde wütend, aber auch mitfühlend. Ich begann Stef ganz behutsam über das Gesicht zu streicheln und ihn zu wecken. Ich wollte nicht, dass er sich erschreckt. Bald zeigte er erste Reaktionen und er öffnete erst ein Auge und dann das zweite.

„Hmmm, weitermachen bitte“, flüsterte er.

Ich machte noch einen Moment weiter und dann war er richtig wach. Er schaute mich aus seinen strahlenden Augen an und umarmte mich sehr zärtlich. Sein Gesicht kam meiner Nase immer näher. Plötzlich berührte sein Mund meine Nase. Ich hatte das Gefühl, ein Stromstoß durchzuckte mich.

„Ich möchte dich küssen.“

Ich dachte, ich hätte mich verhört. Meinte er das ernst? Ich nickte wortlos. Was dann geschah, war einfach nur schön und unbeschreiblich. Seine Lippen berührten meine und wir umarmten uns sehr innig. Ein gewaltiges Gefühl durchströmte meinen Körper. Das führte leider auch zu einer spontanen Erektion in meiner Schlafanzughose. Ich wollte nicht, dass er es bemerkt und wollte mich etwas wegdrehen. Er hielt mich jedoch fest und als seine Lippen sich von meinen lösten, grinste er mich an.

„Lass es doch einfach geschehen. Meinst du, bei mir ist das anders?“

Ich musste ziemlich rot geworden sein, denn Stef fing an zu lachen und er steckte mich damit an. Kurze Zeit später lagen wir lachend in meinem Bett und die Situation löste sich schnell auf. Richtig gut gelaunt stieg ich aus dem Bett und verschwand im Bad. Stef blieb noch einen Moment liegen.

Nach der Dusche stand ich vor dem Spiegel und schaute mich an. Was war vor wenigen Minuten passiert? Das war weit mehr als bei einer normalen Freundschaft üblich, aber es fühlte sich großartig an. Diese Nähe war einfach überwältigend, diese Wärme und Vertrautheit. Das Einzige, was mich wirklich nachdenklich machte, war unsere Erregung, als wir uns ganz nahe waren. Ich musste mir eingestehen, so weit war ich noch nie zuvor mit einem anderen Menschen gekommen. Ich war erregt in einer Situation, in der ich mit jemandem zusammen war. Und dieser Person schien es genauso zu gehen. Was bedeutete das für mich? War das vielleicht doch mehr als nur eine Freundschaft? Ich musste mir eingestehen, dass ich dieses Gefühl wieder haben wollte. Stef war mir als Mensch ganz wichtig und sehr nahe gekommen. War das vielleicht Liebe? Unruhe breitete sich bei mir aus. Wenn das Liebe war, war ich dann auch schwul? Meine Güte, was für eine Situation. Ich bekam einerseits ein Angstgefühl, andererseits flossen aber auch wunderschöne Wellen von Wärme durch meinen Körper bei dem Gedanken, Stef ganz nahe zu sein.

Ich öffnete die Badezimmertür und ging zurück in mein Zimmer. Stef war mittlerweile auch aufgestanden und schaute mich mit seinen tollen Augen an. Er ging wortlos ins Bad. Ich zog mich an und rief ihm durch die geschlossene Tür zu, dass ich bereits zum Frühstück gehen und dort auf ihn warten würde.

Mama stand bereits in der Küche und bereitete unser Frühstück vor. Ich war etwas zu früh und das führte zu einer gewissen Frotzelei. Denn ich war dafür bekannt, morgens nicht immer bester Laune zu sein. Allerdings fühlte ich mich heute großartig und wusste nicht einmal warum, aber mein Gefühl sagte mir, dass ich etwas Besonderes erlebt hatte. Leider schien Mama dafür einen Spürsinn zu haben.

„Na, was ist denn bei dir passiert, dass du schon da bist? Hat Stefan dich etwa früher geweckt? Oder habt ihr euch mit anderen Dingen beschäftigt?“

Dabei grinste sie mich richtig fies an. Erst wollte ich alles leugnen, aber ich erinnerte mich daran, dass ich bislang meinen Eltern alles erzählen konnte, ohne jemals richtigen Ärger bekommen zu haben. In diesem Moment kam Stef durch die Tür. Er begrüßte meine Mutter mit einem freundlichen „Guten Morgen“ und wollte noch etwas helfen. Mama hingegen bat ihn nur, sich schon einmal zu setzen. Schließlich sei er ja Gast. Das war natürlich nicht ganz ernst gemeint und ich musste leicht lachen. Stef bat mich, dass ich sofort neben ihm Platz nehmen sollte. Mama schaute uns beiden ins Gesicht und ihr Blick sagte mir, dass sie begriffen hatte, dass etwas Außergewöhnliches passiert sein musste.

„Na ihr beiden, habt ihr euer Wiedersehen gefeiert?“

Wir wurden beide rot und ich ahnte, Mama hatte irgendetwas bemerkt. Naja, jetzt konnte ich mit ihr nicht in Ruhe reden, aber ich würde sehr bald mit meinen Eltern reden müssen. Das war mir mittlerweile klar. Ich wollte kein Verstecken spielen.

Das Frühstück war toll und Stef hatte richtig gute Laune, bis zu dem Moment, wo wir Richtung Internat aufbrechen mussten. Stef wurde richtig nervös und ich hatte reichlich zu tun, ihn zu beruhigen. Wir hatten noch ein paar Minuten Zeit und waren in den Keller gegangen eine Partie Billard zu spielen.

Plötzlich kam Papa hinzu und meinte: „Hier seid ihr. Hallo Stefan, hast du die erste Nacht in der Schweiz gut überstanden?“

„Guten Morgen Herr Steevens, ja ich habe richtig gut geschlafen. Allerdings bin ich jetzt doch etwas aufgeregt.“

„Kann ich verstehen, aber ich kann dich beruhigen. Tommy ist ein richtig netter Junge. Du wirst mit ihm gut klarkommen. Bevor wir los fahren, wollte ich dir noch die Auswahl des Fortbewegungsmittels überlassen. Ich dachte, das könnte dir gefallen. Wollen wir mal schauen gehen?“

Stef schaute etwas irritiert, ich musste lachen.

„Papa, du verwirrst ihn. Er hat unsere Garage mit deinen Spielzeugen noch nicht gesehen. Soweit waren wir noch nicht gekommen.“

Papa lachte auch und er nahm Stef am Arm und somit gingen wir in die Garage. Papa öffnete dir Tür und das Licht ging an. Stef bekam große Augen. Ok, mir war das ein wenig zu viel Show, aber warum nicht mal ein wenig Spaß haben. Da standen also unsere Alltagsautos. Der Cadillac Eldorado und der CTS und natürlich Papas 458 Italia. Hinzu kamen die beiden Motorräder von Mama und Papa. Die anderen Oldtimer standen in der Werkstatthalle.

„Nun, Stefan. Was meinst du, womit möchtest du ins Internat gefahren werden?“

„Wow, auf jeden Fall in dem alten Cadillac. Das Teil ist ja richtig geil.“

„Alles klar, eine gute Wahl. Dann steigt schon mal ein. Ich hole gerade noch deine Taschen.“

Papa ging nach oben und Stef und ich nahmen hinten auf der Sitzbank Platz. Stef kuschelte sich eng an mich und flüsterte mir ins Ohr.

„Dein Vater ist so cool. Ich würde auch gerne so einen Vater haben. Ich bin so froh, dass wir Freunde geworden sind.“

Dann gab er mir einen Kuss auf die Wange. Wieder bekam ich dieses Kribbeln im Bauch und ich genoss jede Sekunde. Papa kam wieder in die Garage und Stef rückte schnell auf normale Entfernung von mir weg. Ich bedauerte das zwar, aber akzeptierte es. Stef wollte anscheinend noch nicht mit offenen Karten spielen. Das war mir auch ganz recht, denn ich wollte es zuerst mit meinen Eltern besprechen. Papa legte die Taschen in den Kofferraum und stieg ein. Er startete den Motor und der Achtzylinder blubberte sofort vor sich hin. Langsam rollten wir durch das Tor nach draußen. Die Fahrt dauerte etwa eine Viertelstunde und als wir auf dem leeren Parkplatz am Internat ankamen, war Stef verdächtig still. Ich nahm eine Tasche und Papa die andere, dann gingen wir drei in Richtung Eingang. Papa und ich kannten den Weg und somit waren wir zügig vor Tommys Zimmer angekommen. Dr. Steyrer hatte sogar schon ein Namensschild für Stef anbringen lassen. Wir klopften an und Tommy öffnete die Tür.

„Hi Tommy, schön, dass du dir Zeit nimmst.“

„Hi Luc, hallo Marc. Und du musst Stefan sein?“

Er gab uns allen die Hand und bat uns ins Zimmer. Wir stellten die Taschen ab und ich setzte mich in seinen Sessel. Papa, Stef und Tommy standen noch im Zimmer. Papa wollte gleich wieder fahren, er meinte, es wäre sicher sinnvoller, wenn Tommy und Stef sich allein kennenlernen würden. Ich hingegen wollte auf jeden Fall bleiben. Also verabschiedete sich Papa, nicht ohne uns daran zu erinnern, dass wir um halb zwei zum Essen auf dem Parkplatz sein sollten.

Wir drei unterhielten uns ein wenig über das, was Stef bislang erlebt hatte, allerdings ohne auf Details einzugehen. Tommy war wirklich sehr vorsichtig und schon bald meinte er, dass wir uns mal auf den Weg durch das Internat machen sollten. Immer wieder zeigte Tommy auf die Besonderheiten und welche Bereiche wo lagen. Der Rundgang dauerte etwas mehr als eine halbe Stunde. Stef war am Schluss sichtlich beeindruckt.

„Boah, wie soll ich mir das alles merken. Morgen finde ich davon nicht mal die Hälfte mehr wieder.“

Tommy und ich mussten lachen und Tommy beruhigte ihn.

„Keine Angst, ich habe auch einige Tage gebraucht, bis ich einigermaßen zurechtkam. Morgen bist du ja auch eigentlich nicht allein unterwegs. Entweder sind Leif oder ich da, oder jemand aus deiner Klasse. Du bekommst morgen auch einen Schüler aus deiner Klasse zugeteilt, der dich die ersten Tage immer begleiten wird. Also keine Sorge, hier wird niemand allein gelassen. Nach ein paar Tagen weißt du dann das Wichtigste und kannst dich allein bewegen. Das wird schon.“

„Danke, Tommy. Ich bin echt überwältigt. Hier hat man ja wirklich tolle Möglichkeiten. Hoffentlich schaffe ich das alles. Mir fehlt doch einiges an Stoff.“

„Ach das klappt schon, du bekommst ja auch Unterstützung. Warte in Ruhe ab. Morgen wird dir Dr. Steyrer das alles ganz genau erklären. So, jetzt lasst uns zurück in unser Zimmer gehen.“

 

Auf dem Weg dorthin gingen wir nebeneinander her und Stef nahm zwischendurch immer wieder meine Hand. Tommy musste das bemerkt haben, aber er sagte nichts dazu. Im Zimmer bot er uns etwas zu trinken an und wir redeten noch über einige Regeln, die es im Internat gab. So ging die Zeit wirklich sehr schnell vorüber, und bevor wir uns auf den Weg zum Parkplatz machten, bezog Stef noch sein Bett und packte seine Sachen aus. Dann machten wir uns auf den Weg. Tommy gab noch ein paar Erklärungen und schon war die Zeit gekommen, zusammen zum Essen zu fahren.

„Danke Tommy, dass du mir heute schon alles gezeigt hast. Ich hoffe, wir kommen gut miteinander klar. Ich muss dir aber noch etwas sagen.“

Jetzt wurde ich ein wenig nervös. Tommy schaute genauso fragend und Stef fuhr dann fort:

„Ähm, also momentan habe ich nachts ein paar Probleme. Luc meinte, ich hätte im Schlaf gesprochen. Ich kann das nicht beeinflussen und hoffe, du wirst mich nicht auslachen, wenn das passieren sollte.“

Sein Blick ging ängstlich zu mir, Tommy hingegen nahm ihn in den Arm und meinte:

„Ganz bestimmt nicht. Ich kann mir schon vorstellen, dass du viel erlebt hast. Du kannst mir alles erzählen und wir werden das schon gemeinsam schaffen. Mach dir nicht zu viele Gedanken darüber.“

Das fand ich ganz toll, wie Tommy das sagte. Er vermittelte Stef ein Gefühl von Sicherheit. Das war für mich eine erneute Bestätigung, dass ich die richtigen Freunde hatte. Es dauerte auch nicht mehr lange, das bog Papa mit dem CTS auf den Parkplatz ein. Leif war jetzt auch dabei und somit wurde es etwas eng im Auto. Aber für die kurze Strecke sollte das kein Problem sein. Nur wo war Mama? Papa schien meine Frage zu erahnen und erklärte uns:

„Mama ist schon vorgefahren. Sie wollte noch etwas vorbereiten. Also auf geht’s, Leute.“

Wenige Minuten später fuhren wir bei Salvatori vor und betraten das Restaurant. Mama saß bereits an unserem Stammtisch und winkte uns zu. Was mich allerdings schon auf dem Parkplatz erstaunt hatte, Papas Ferrari stand dort. Sollte Mama etwa mit Papas Auto gefahren sein? Sie hatte das bislang immer verweigert. Sie meinte immer, sie sei nicht für so ein Auto geeignet. Auch hier schien sich einiges zu verändern, was ich gar nicht so schlecht fand.

Das Essen war wie immer ganz vorzüglich und auch Stef hatte einen gesunden Appetit gezeigt. Das freute mich doch, denn in der letzten Zeit war das nicht immer so. Tommy erzählte von einigen aktuellen Ereignissen im Internat und dass sich Stef auch sportlich betätigen müsste. Tommy zählte die verschiedenen Sportarten auf, die zur Wahl standen. Stef schien nicht abgeneigt zu sein. Er berichtete uns, dass er als kleiner Junge mal Leichtathletik gemacht hatte. Das konnte er dann später nicht weiter machen, weil er sich schämte, seinen Körper beim Umziehen zeigen zu müssen. Bei dieser Schilderung kam mir fast das Essen wieder hoch. Stef blieb recht gelassen, ich hatte fast das Gefühl, er hatte das abgehakt. Ein Irrtum, wie sich noch später herausstellen sollte.

Die Unterhaltung wurde danach wieder sehr locker und lustig. Irgendwann meinte mein Vater dann, er müsste noch in die Werkstatt und er möchte gerne, dass ich mit ihm kommen würde. Stef wollte natürlich auch mit. Also fuhren Leif und meine Mutter nach Hause und wir brachten Tommy zurück. Von dort fuhren wir zu dritt in die Werkstatt. Stef bekam jetzt auch die anderen Fahrzeuge zu sehen. Unter anderem den Lancia und die Cobra. Außerdem stand in der Werkstatt eine große Holzkiste aus den USA.

„Luc, hier sind ein paar Teile für deinen alten Camaro gekommen. Die sollten eigentlich direkt nach München geschickt werden, doch nun sind sie hier. Wir werden sie bei der nächsten Gelegenheit nach München bringen. Was ich aber mit dir und auch mit Stef besprechen will, ist folgendes. Am nächsten Wochenende werde ich an einer Youngtimer- Rallye teilnehmen. Dort soll der Delta seine Feuertaufe erhalten. Ich möchte euch beide gerne dabei haben. Hättet ihr Lust dazu?“

Für mich eine große Überraschung, denn bislang hatte Mama jedes Mal ein Veto eingelegt, wenn es um Motorsport ging. Ich hatte allerdings keine Ahnung, was Papa diesmal vor hatte. Also stimmte ich begeistert zu und Stef war auch nicht abgeneigt. Papa erklärte uns, dass es sich dabei um eine echte Rallye handelte. Cool, also durfte auch schnell gefahren werden und nicht immer nur eine gleichmäßige Geschwindigkeit, wie bei den meisten Oldtimerrallyes. Als wir mit allen Erklärungen und Besichtigungen der anderen Autos fertig waren, standen wir mitten in der Werkstatt und schauten uns den Lancia genauer an. Ich stutzte, denn normalerweise standen immer zwei Namen auf den hinteren Scheiben. Also vom Fahrer und vom Beifahrer. Jetzt stand dort nur Papas Name. Ich nahm das nicht weiter ernst. Jedenfalls wollte ich langsam nach Hause, um mit Stef noch den Abend gemeinsam zu verbringen.

Stef und ich saßen in meinem Zimmer und unterhielten uns über den abgelaufenen Tag. Dabei wurde sehr schnell deutlich, ich würde ihn vermissen. Morgen war wieder Montag und für Stef begann ein neuer Abschnitt. Stef bedankte sich noch einmal bei meinem Vater für die Unterstützung. Papa fragte mich noch, ob er Stef ins Internat bringen sollte, aber wir hatten beschlossen, dass ich ihn mit dem Fahrrad begleiten würde. Ich wollte so viel Zeit wie nur möglich mit ihm verbringen. Leif hatte Stef sein Fahrrad für die erste Zeit zur Verfügung gestellt, somit war das also kein Problem. Papa war damit einverstanden und bat mich nur darum, nicht mehr mit ins Internat zu gehen. Ich sollte direkt wieder nach Hause fahren.

Wir waren unterwegs und kamen durch den kleinen Wald mit der Lichtung. Von dort konnte man über den Ort blicken. Ich stoppte und stieg vom Rad. Stef hielt ebenfalls an und fragte mich:

„Was ist los, Luc. Warum hältst du an?“

„Komm mal her, dann zeige ich dir den Grund.“

Einen Augenblick später standen wir eng nebeneinander und schauten über unseren Ort. Wir sagten nichts. Jeder wusste, was der andere dachte. Luc legte seinen Arm um meine Hüfte und wir drehten uns zueinander. Wir schauten uns für einen Moment in die Augen und dann küssten wir uns. Erst ganz vorsichtig und Stef wollte sich vergewissern, dass ich es auch wirklich wollte.

„Möchtest du wirklich …“

Weiter ließ ich ihn nicht kommen, denn meine Lippen waren auf seinen gelandet und somit beendete ich jedes Gespräch. Das sich bei mir in der Hose eine Reaktion einstellte, war mir komischerweise jetzt überhaupt nicht mehr unangenehm. Ich konnte bei ihm das Gleiche feststellen. Wir genossen es einfach wortlos.

Leider mussten wir weiterfahren. So kamen wir einige Minuten später vor dem Internat an. Ich wollte noch nicht wieder fahren, aber ich hatte es versprochen. Stef gab mir noch einen schnellen Kuss und verabschiedete sich mit einem tollen Satz.

„Es war wunderschön, Luc. Ich möchte, dass du weißt, wie sehr ich das genossen habe. Können wir das wiederholen?“

Ich konnte nur noch nicken, meine Stimme versagte und ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu weinen.

„Bis morgen und viel Glück bei deinem ersten Tag im neuen Leben.“

Ich wusste nicht, warum ich diesen Satz so gesagt hatte, aber ich fühlte es so. Stef gab mir noch eine schnelle Umarmung und dann trennten wir uns.

Wir hatten noch vereinbart, dass ich ihn morgen nach der Schule besuchen würde.

Auf dem Rückweg fühlte ich mich seltsam. Es waren noch keine fünf Minuten her, dass wir uns gesehen hatten, dennoch vermisste ich ihn bereits.

Diesmal heile angekommen, ging ich auf direktem Wege zu meinen Eltern. Ich wollte mit ihnen über meine Erfahrungen und Gefühle sprechen. Es wurde einfach Zeit dafür.

Ich betrat das Wohnzimmer und Papa schaute zu mir und sagte gar nichts. Mama lächelte nur und meinte:

„Schön, dass du wieder zurück bist. Ist es dir sehr schwer gefallen, ihn dort zu lassen?“

Ich musste nicken.

„Komm, Schatz, setz dich zu uns und erzähle mal, was dich so bewegt. Wir sehen es dir seit Tagen an, dass dich irgendetwas sehr beschäftigt.“

Jetzt gab es für mich kein zurück. Ich holte tief Luft und erzählte ihnen alles, was mich in den letzten Tagen und Wochen bewegt hatte und ich begann auch von den letzten Ereignissen zu berichten. Irgendwann übermannten mich meine Gefühle und Papa setzte sich neben mich.

„Hey Luc, ist doch alles gar nicht schlimm. Du brauchst dich nicht aufzuregen. Im Gegenteil, sei doch glücklich, dass Stef es anscheinend genauso empfindet wie du. Genieße diese Zeit.“

Ich schaute ihn aus meinen tränenden Augen an und verstand nicht ganz, was er meinte. Hieß das, meine Eltern würden es eigentlich schon wissen, dass ich mich in Stef verliebt hatte?

„Ihr wisst es … schon?“

„Nein, wissen nicht, aber wir haben es geahnt. So wie ihr euch immer mehr angenähert habt. Aber es ist in Ordnung.“

Er legte seinen Arm um mich und beruhigte mich. Ich brauchte einige Minuten, mich zu sammeln und wieder klar denken zu können. Dann redeten wir noch den ganzen Abend über Stef und mich und was ich in den letzten Tagen erlebt hatte. Papa berichtete mir von der Geschichte, wie sich Mick und Lukas angenähert hatten. Und welche Schwierigkeiten sich da zeigten. Es war für mich sehr beeindruckend, dass Papa mir von seinen Problemen erzählte, damit umzugehen. Er musste noch mal die Geschichte erzählen im Restaurant. Als er Mick mit Tim und Manuel überraschte und sich dort die ganze Geschichte aufklärte. Danach lagen wir uns beide lachend in den Armen. Meine Angst war wie weggeblasen. Ich konnte wieder lachen und Mama meinte nur zum Schluss.

„Luc, du bist ein Junge, der ganz viel aus dem Bauch heraus tut. Behalte dir das bei. Du wirst damit immer richtig liegen. Wir werden dich immer unterstützen, solange du uns um Rat fragst.“

„Es ist also für euch nicht schlimm, wenn ich auch auf Jungs stehe?“

„Nein, aber lass das doch einfach auf dich zukommen und lege dich nicht so fest. Momentan ist das so mit Stefan, aber du bist noch sehr jung. Also genieße die Zeit mit Stefan und dann schauen wir mal weiter.“

„Danke, Papa. Ich bin sehr froh, dass ich es jetzt erzählt habe. Ich will mich nicht verstecken müssen.“

„Sehr gute Einstellung. Du kannst dir sicher sein, wir als Familie werden da zusammenhalten. Wie wir das immer getan haben und auch weiterhin tun werden.“

Nach diesem Gespräch ging ich so gut gelaunt, wie schon ganz lange nicht mehr, ins Bett. Es wurde zwar eine kurze, aber sehr erholsame Nacht.

Am nächsten Morgen hieß das Thema wieder Schule. Allerdings war ich nicht so wirklich in meinem Unterricht anwesend. Meine Gedanken waren häufig bei Stef im Internat und wie es ihm dort ergehen würde. Gut, ich wusste, Dr. Steyrer würde ihm den Einstieg sicher so leicht wie möglich machen, aber wie wird seine Klasse reagieren. Nico saß wie immer neben mir und er hatte schnell bemerkt, dass ich mit den Gedanken nicht ganz bei der Sache war.

In der ersten großen Pause stand ich etwas abseits der anderen und schrieb Stef eine Nachricht. Ich wollte einfach wissen, wie es ihm ging. Nico stand plötzlich neben mir.

„Na, wo bist du denn heute mit deinen Gedanken? Ist bei dir irgendwas passiert?“

Ich schaute von meinem Handy auf und sah in das besorgte Gesicht von Nico.

„Nein, aber du weißt ja, heute ist doch der erste Tag von Stef im Internat. Ich mache mir halt Gedanken, ob er alles gut hinbekommt.“

„Ganz bestimmt, du weißt doch, dass sich Tommy und Leif auch um ihn kümmern werden. Warte ab, nachher wird er dir bestimmt erzählen, wie gut alles gelaufen ist. Du musst dir keine Sorgen machen. Das klappt schon.“

„Du hast sicher Recht, aber ich bin dennoch aufgeregt, ob es alles klappt und ob Stef sich hier einleben wird.“

Nico schaute mich genau an, er schien zu ahnen, was sich zwischen Stef und mir anbahnte. Er lächelte und legte mir seinen Arm auf die Schulter.

„Komm, lass uns mal wieder in den Unterricht gehen. Es hat schon geklingelt.“

 

„Echt? Das habe ich überhaupt nicht mitbekommen.“

Er lachte und wir gingen wieder in unsere Klasse zurück, setzten uns auf unsere Plätze und warteten auf den Lehrer.

„Du magst Stefan sehr, oder?“

Ich bekam ein flaues Gefühl im Magen, obwohl Nico sicher der Erste sein würde, der mich verstand.

„Ja, Nico. Wir verstehen uns schon sehr gut und ich gebe es zu, ich mag ihn. Wir sind uns immer näher gekommen in den letzten Wochen, aber es ist eine neue Situation für mich. Ich weiß nicht, wie das weitergehen kann.“

„Warum? Wenn ihr euch doch mögt, ist es doch toll. Dann werdet ihr schon merken, was ihr wollt. Ich denke, du musst hier keine Angst haben. Tommy und ich sind hier doch auch anerkannt. Gut, Michael ist schwierig, aber die anderen haben ihm klar gemacht, dass er ziemlich allein da steht.“

In diesem Moment betrat unser Lehrer den Raum und der Unterricht begann. Ich versuchte mich so gut es ging zu konzentrieren. Ich konnte mich sogar am Unterricht beteiligen. Nico gab mir zwischendurch immer wieder Sicherheit. Kurz vor Ende der Stunde bekam ich eine Nachricht von Stef.

Hi, Luc. Hier ist alles in Ordnung. Ich weiß zwar nicht, ob ich alles behalten habe, aber Tommy ist echt nett. Sehen wir uns nachher? Ich vermisse dich.

Ich war erleichtert. Nach dem der Lehrer den Raum verlassen hatte, zeigte ich Nico die Nachricht. Er lachte und grinste.

„Na, was habe ich dir gesagt. Mein Tommy ist eben ein ganz lieber. Und ich denke, du solltest Stefan nicht so lange warten lassen. Fahr einfach später ins Internat.“

Wir lachten beide und ich fühlte mich gleich besser. So konnte ich den Rest des Schultages auch gut aushalten, und als Nico und ich aus dem Schulgebäude zu unseren Fahrrädern gingen, klopfte er mir nur lächelnd auf die Schulter und meinte:

„Was meinst du? Sollen wir uns heute zum Billard treffen? Tommy und ich wollten mal wieder zusammen los.“

„Stören wir dann nicht?“

„Unsinn, Tommy wird ja wissen, wie es ist, neu ins Internat zu kommen. Frag doch Stefan einfach und dann meldest du dich bei mir. Tommy wird dann schon bei mir sein. Wir treffen uns nämlich nachher schon. Meine Eltern haben zum Kaffee eingeladen. Wir sollen dabei sein.“

„Ok, und nochmal danke für deine Hilfe. Ich melde mich bei dir.“

Damit verabschiedeten wir uns voneinander und ich fuhr nach Hause. Ich hatte richtig Hunger. Komisch, in den letzten Tagen hatte ich kaum Appetit. Ob das wohl ein gutes Zeichen sein würde?

„Hallo Mama, ich bin wieder da“, rief ich durch die Wohnung, als ich hereinkam.

„Ich bin in der Küche, Schatz.“

 

Ich betrat die Küche und umarmte meine Mama erst einmal ganz lieb. Sie schaute mich an und grinste.

„Hallo, was ist das denn für eine tolle Begrüßung? Habe ich etwas verpasst?“

„Nein, ich habe nur Hunger und ich freue mich auf Stef. Ich fahre gleich zu ihm.“

Mama lachte nur und stellte mir ein tolles Mittagessen auf den Tisch. Dann bat sie mich noch, ein paar Kleinigkeiten zu machen, bevor ich zu Stef fahren würde. Das versprach ich ihr und schon war sie wieder verschwunden. Sie hatte sich mit einer der Nachbarn verabredet. Papa war wie so oft in der Werkstatt und bastelte am Lancia.

Ich saß noch beim Essen, als mein Handy vibrierte. Eine Nachricht kam an, von Stef.

Wann kommst du? Ich habe viel zu erzählen. Wie war dein Tag?

Lächelnd aß ich weiter, spürte aber eine Unruhe in mir aufkommen. Ich beeilte mich und packte noch schnell meine Schulsachen aus. Setzte mich aufs Fahrrad und schon war ich auf dem Weg ins Internat. Ich hatte bewusst nicht geantwortet, ich wollte ihn überraschen. Bevor ich das Internat erreichte, kaufte ich uns noch ein Eis.

Den Weg kannte ich ja zu seinem Zimmer. Ich betrat das Internat und stürmte die Treppe hinauf. Vor der Zimmertür musste ich einen Moment durchatmen, ich war aufgeregt und wollte gerade anklopfen, als die Tür aufging und Tommy vor mir stand.

„Luc, was machst du denn hier? Hast du mich jetzt erschreckt.“

„Hi Tommy, ich wollte Stef besuchen und fragen, wie sein erster Tag hier war.“

„Stef ist grade nicht da, aber er wird gleich zurück sein. Ich muss zu Nico, kann also nicht mit dir warten. Am besten kommst du rein und wartest einfach hier. Sehen wir uns nachher noch? Wir wollen Billard spielen.“

„Danke Tommy, sehr nett von dir. Also ich hoffe, dass Stef mitkommen möchte. Also bis nachher dann.“

Tommy ging aus dem Zimmer hinaus und ich hinein, legte das Eis in den kleinen Kühlschrank und setzte mich auf die Couch. Hoffentlich würde Stef nicht zu lange unterwegs sein. Ich wurde mit jeder weiteren Minute immer aufgeregter. Es waren Schritte auf dem Flur zu hören und ein Schlüssel wurde in die Tür gesteckt. Die Tür wurde geöffnet und Stef betrat das Zimmer. Er erschrak, als er mich sah.

„Boah, Luc, hast du mich vielleicht erschreckt. Wie kommst du hier herein?“

„Tommy hatte mich hereingelassen und meinte ich könnte hier warten. Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.“

 

Er schaute mir in die Augen, kam auf mich zu und was für eine Umarmung. Genau das hatte mir heute gefehlt.

„Luc, ich freue mich wirklich, dass du gekommen bist. War dein Tag gut?“

„Ach geht so. Ganz ehrlich, ich habe immer wieder an dich gedacht und mich gefragt, ob alles für dich gut läuft. Nico hat es gemerkt. Das war erst einmal peinlich. Ich glaube, Nico ahnt auch etwas.“

Stef kam auf mich zu, umarmte mich und flüsterte mir ins Ohr: „Ich habe dich vermisst. Schön, dass wir wieder zusammen sind.“

Ein wohliger Schauer durchfloss meinen Körper. Ich löste mich, um das Eis aus dem Kühlschrank zu nehmen.

„Schau mal, ich habe uns eine Kleinigkeit mitgebracht.“

Ich gab ihm sein Eis und wir öffneten die Verpackung. Ich setzte mich wieder auf die Couch und Stef folgte mir und setzte sich direkt neben mich. Wir aßen unser Eis und schwiegen. Stef war etwas eher fertig als ich und das nutzte er, um seinen Kopf auf meine Schulter zu legen. Dabei berührten seine Haare mein Gesicht. Ich bekam eine Gänsehaut.

„Danke für das Eis, aber das war nicht nötig. Ich bin glücklich, wenn du in meiner Nähe bist und wir gemeinsam Zeit füreinander haben.“

Ich nickte wortlos. Sollte ich ihm sagen, dass meine Eltern Bescheid wussten? Mein Gefühl sagte mir, noch nicht. Also kuschelten wir uns eng aneinander und genossen die gemeinsame Zeit. Stef berichtete mir von seinem ersten Tag im Internat und dass er begeistert war, wie nett die Lehrer und die meisten in seiner Klasse waren. Auch Leif hatte sich zweimal bei ihm erkundigt, ob alles in Ordnung war. Das hörte sich wirklich toll an. Viel schöner war allerdings, dass wir zusammengekuschelt auf dem Sofa saßen.

„Sag mal, Nico hat uns gefragt, ob wir gleich mit ihnen Billard spielen wollen. Ich hätte wohl Lust dazu. Wie ist das mit dir?“

Er hob den Kopf von meiner Schulter und schaute mir in die Augen.

„Warum nicht, ich habe zwar keine Ahnung von dem Spiel, aber wenn du gerne möchtest, komme ich mit.“

Ich schaute auf die Uhr. Es war noch einen Moment Zeit. Ich nahm ihn wieder in den Arm und sagte:

„Du sollst nicht nur mitkommen, sondern auch mitspielen. Es macht bestimmt Spaß und ich bin auch kein guter Spieler. Mick und Lukas sind richtig gut im Billard.“

Die Minuten vergingen und wir machten uns auf den Weg. Mit den Rädern waren wir recht zügig im Billardcafé angekommen. Erst jetzt bemerkte Stef, dass wir nicht bei uns spielen würden, sondern hier im Café. Das behagte ihm nicht sonderlich. Ich bemerkte es, als ich mein Rad abschloss und er zögerte mit hineinzugehen.

„Was ist, Stef? Warum zögerst du?“

 

„Ähmm, das kostet doch bestimmt Geld. Ich habe kein Geld eingesteckt. Ich habe gedacht, wir spielen bei euch im Keller an dem Tisch.“

„Das macht nichts, ich habe genug Geld dabei. Ich kann es dir leihen. Hier spielen oft auch noch andere Jungs aus dem Verein. Deshalb macht das mehr Spaß. Außerdem habe ich hier auch schon einiges gelernt. Die Mannschaftsspieler erklären einem gerne mal etwas. Mick und Lukas haben hier auch in der Mannschaft mitgespielt, bevor sie mit dem Studium begonnen haben.“

Ich hätte ihn natürlich gerne eingeladen, aber ich wusste, dass er das gar nicht gerne wollte. Er wollte nicht immer auf meine Kosten etwas machen. Also bot ich ihm das Auslegen des Geldes an. Meine Strategie hatte Erfolg. Er folgte mir hinein und dort trafen wir Nico und Tommy, die bereits an einem Tisch begonnen hatten. Wir begrüßten die beiden und sehr schnell waren wir im Spiel vertieft. Stef war für einen Anfänger sogar recht gut. Wir hatten immer wieder viel Spaß und auch Tommy und Nico gelangen nicht alle Stöße. Ich hatte den Eindruck, Stef würde sich in unserer Mitte sehr wohlfühlen. Immer wieder zeigten Nico und Tommy auch offen, dass sie ein festes Paar waren. Ganz offen küssten sie sich immer wieder. Stef beobachtete die beiden genau. Irgendwann stand ich am Tisch und hatte einen schweren Ball zu spielen. Leider gelang mir dieser Stoß überhaupt nicht und ich war enttäuscht darüber, denn das hatte zur Folge, dass wir diese Partie verloren hatten.

Plötzlich stand Stef vor mir und gab mir einen Kuss. Ich war derart überrascht, dass ich zurückzuckte. Im ersten Moment war Stef erschrocken über meine Reaktion und wollte sich schon zurückziehen. Ich hielt ihn fest und zog ihn wieder heran. Dann erwiderte ich seine Annäherung und gab ihm ebenfalls einen Kuss. Tommy und Nico schauten sprachlos und mit offenem Mund zu uns. Einige Augenblicke später fand Tommy als Erster die Sprache wieder.

„Hey, haben wir etwas verpasst? Luc, das hast du uns aber noch nicht gesagt, oder täusche ich mich?“

Nico stieg ebenfalls schnell mit ein:

„Genau, mir ist das auch noch nicht bekannt, dass ihr beide zusammen seid.“

Stef war das sichtlich peinlich und ich war auch nicht so begeistert, dass die beiden so ein Aufsehen davon machten. Ich versuchte es locker zu nehmen.

„Nun, dann wisst ihr es eben jetzt. Ja, Stef und ich sind gute Freunde geworden. Ist das ein Problem?“

Nico lachte plötzlich ganz laut.

„Gute Freunde geworden? Coole Bezeichnung für sowas. Ich würde eher sagen, ihr seid das nächste tolle Paar bei uns. Glückwunsch! Ich freue mich.“

Ich nahm Stefs Hand und legte meinen Arm um ihn, um zu zeigen, dass ich offen damit umgehen wollte. Stef beruhigte sich auch wieder, allerdings hatte er darum gebeten, es noch unter uns zu belassen. Er wollte noch nicht, dass unsere Beziehung öffentlich würde. Er hatte noch Angst, sich in der Klasse zu outen. Das war für mich absolut in Ordnung. Tommy und Nico versprachen, es ebenfalls nicht weiter zu erzählen, bis wir das offen legen würden.

 

Der Abend wurde noch sehr lustig und Stef immer lockerer. Eigentlich saßen wir immer häufiger auf einem Stuhl als nebeneinander auf zwei Stühlen. Wir mussten irgendwann gegen sieben Uhr aufhören, weil ich Mama gesagt hatte, ich würde zum Essen zurück sein. Vor dem Café verabschiedeten wir uns. Tommy fuhr mit Stef zurück ins Internat und Nico und ich nach Hause. Wir hatten noch ein ganzes Stück gemeinsamen Weg.

Unterwegs fragte mich Nico: „Sag mal, ist das eigentlich schon länger so, dass ihr beide zusammen seid?“

„Nein, eigentlich haben wir auch noch nicht vorher darüber gesprochen. Wir verstehen uns aber sehr gut und … Naja, es fühlt sich einfach toll an, wenn wir miteinander kuscheln oder eben nur zusammen etwas unternehmen. Mehr ist auch noch nicht passiert. Ich will auch noch nicht mehr. Mir reicht es vollkommen, nur mit Stef zusammen sein zu können.“

Nico schaute zu mir, obwohl wir auf den Verkehr achten mussten, lächelte und meinte dann:

„Es war nicht zu übersehen, ich freue mich für dich und hoffe, Stef wird sich bei uns wohlfühlen. Meine Unterstützung habt ihr jedenfalls und Tommys auch. Aber du kennst ja auch unsere Problemfälle. Tommy meinte vorhin, er wollte mit Stef noch sprechen, auf wen er aufpassen sollte.“

„Danke Nico, ich bin froh, dass du mich verstehst. Ich wollte euch das auch nicht verheimlichen, aber für mich war es einfach noch nicht soweit, dass ich euch offen sagen konnte, ich mag Stef.“

„Passt schon, Luc. Wir kennen uns schon so lange. Ich weiß, dass du es mir irgendwann schon gesagt hättest, aber so ist es doch auch ok.“

Der Punkt, an dem sich unser Weg trennte, war gekommen und ich umarmte meinen Freund noch einmal und dann fuhren wir auf getrennten Wegen nach Hause.

Zu Hause angekommen überlegte ich einen Moment, ob ich direkt mit meinen Eltern sprechen sollte, oder nicht. Ich stand unten in der Garage und war mir absolut nicht sicher, was eigentlich genau passiert war. Über eines war ich mir allerdings sehr sicher, Stef sollte mein Freund sein. Mir wurde bewusst, dass ich meinen Eltern die neue Situation erklären sollte. Sie hatten mir ja auch bereits signalisiert, dass es in Ordnung sei. Also auf ins Wohnzimmer.

Meine Eltern saßen vor dem Fernseher und schauten sich eine Dokumentation an.

„Hallo Schatz, hast du einen schönen Nachmittag gehabt? Möchtest du dich zu uns setzen?“

Ich zögerte, es war mir etwas unangenehm, sie beim Fernsehschauen zu stören.

„Ähmm, ja. Aber ich möchte euch etwas erzählen und dann auch etwas fragen.“

Papa schaltete sofort den Fernseher aus und bat mich, Platz zu nehmen. Mama schaute etwas skeptisch, sagte aber nichts weiter. Nachdem ich mich meinen Eltern gegenüber hingesetzt hatte, begann ich zu erzählen. Ich ließ nichts aus und sowohl Mama als auch Papa hörten die ganze Zeit zu. Erst als ich fertig war, wartete Papa noch einen Moment, bevor er fragte:

„Und was wolltest du uns noch für eine Frage stellen?“

 

Ich verstand erst nicht, was er damit gemeint haben könnte, aber dann begriff ich doch.

„Ja, also, ist es für euch in Ordnung, wenn Stef mein Freund ist? Wir möchten ausprobieren, ob wir zusammenpassen.“

Mama musste lachen, Papa legte seinen Arm um Mama und ich war total aufgeregt. Eigentlich unbegründet, aber es war einfach so.

„Luc, warum sollten wir etwas dagegen haben? Wir haben außerdem ja schon damit gerechnet. Also schaut für euch, was ihr möchtet. Du weißt, dass wir über alles reden können. Wenn du mal nicht zuerst mit uns reden möchtest, sprich mit deinen älteren Brüdern. Wir wünschen euch beiden jedenfalls alles Gute und viel Glück.“

Das tat so gut und ich hatte spontan das Bedürfnis, meine Eltern zu umarmen. Damit war es auch zu Hause offiziell und wir mussten uns nicht mehr verstecken. Wie das für Stef im Internat sein würde, mussten wir abwarten.

Die Rallye

Die nächsten Tage verliefen leider nicht so, wie ich das erhofft hatte. Stef hatte nicht viel Zeit für mich und das frustrierte mich sehr. Ich hatte zu Hause alles geklärt und konnte es dennoch nicht genießen, weil Stef und ich kaum gemeinsam Zeit hatten. Er musste viel lernen und sich im Internat einleben. Allerdings telefonierten wir jeden Tag abends. Meist sahen wir uns kurz bei uns oder ich half ihm beim Lernen. Für Kuscheln oder mehr blieb keine Zeit.

Erst am Donnerstag sollte sich das Blatt wenden. Stef hatte den Nachmittag überraschenderweise frei und ich hatte nur bis halb drei Schule. Wir wollten uns bei Salvatori auf einen heißen Kakao treffen und anschließend hatte Papa mich gebeten, bei ihm in der Werkstatt vorbeizuschauen. Er wollte mit mir etwas besprechen. Komischerweise wollte er unbedingt, dass Stef mit dabei sein würde.

Ein wenig zu spät kam ich bei Salvatori an, Stef wartete natürlich wieder davor. Er war immer noch zu ängstlich, allein hinein zu gehen.

„Hi Stef, sorry, dass ich ein paar Minuten zu spät bin. Warum stehst du draußen?“

Ich schloss mein Rad an seines an und anschließend standen wir voreinander. Er umarmte mich und ich gab ihm einen Kuss. Stef zuckte erst zusammen und verspannte sich total, aber sehr schnell ließ er sich fallen und wir beide genossen den Moment. Die ganzen Tage hatte ich das vermisst. Als wir uns wieder getrennt hatten, schaute mich Stef fragend an.

„Was ist? Durfte ich das jetzt nicht?“

Einen Moment zögerte er, dann fiel er mir erneut um den Hals.

„Doch, endlich. Ich habe es mir so gewünscht, aber ich habe nicht gedacht, dass du es so schnell tun würdest.“

Jetzt mussten wir beide lachen. Ich nahm ihn bei der Hand und schob ihn zu Salvatori hinein. Wir wurden freundlich begrüßt und bekamen wie immer unseren Tisch. Heute war der Chef persönlich schon im Dienst. Er kam an unseren Tisch und fragte nach unseren Wünschen. Als er sah, dass Stef meine Hand ganz fest hielt, musste er lächeln. Ich bestellte uns zwei heiße Schokoladen. Salvatori drehte sich mit einem breiten Lächeln um und ging wieder hinter die Theke um die Schokolade zu machen. Allerdings gab er auch auf Italienisch ein paar Anweisungen, die wir nicht verstanden hatten. Papa hätte sicher verstanden, was er gesagt hatte. Wir konnten nur von seiner Frau ein lautes Lachen hören.

Wir saßen uns gegenüber, als wir die Schokolade bekamen. Stef erzählte von den Erlebnissen aus dem Internat und ich von meinen Prüfungen in der Schule. Einige Minuten später saß Stef neben mir auf der Bank und sein Kopf lag wie schon so oft auf meiner Schulter. Ein schönes Gefühl. Plötzlich kam Salvatori an unseren Tisch mit einem Tablett und einem riesigen Eisbecher darauf. In dem Becher steckten zwei Waffeln und es lagen zwei Löffel daneben. Wir schauten uns fragend an, als Salvatori meinte:

„Lucien, ich freue mich für dich und deinen Freund. Vielleicht weißt du ja auch, dass sich deine großen Brüder, Mick und Lukas hier zum ersten Mal sehr nahe gekommen sind. Damals haben sie auch diesen Becher bestellt. Heute sollt ihr den von mir bekommen, sozusagen als gutes Zeichen eurer Freundschaft. Macht was draus, ich freue mich für dich, Lucien.“

Vollkommen sprachlos schauten wir zu Salvatori auf, er stellte uns den riesigen Becher mit einem Lächeln auf den Tisch und sagte:

„Lasst es euch schmecken und genießt die Zeit.“

„Danke!“, kam es von uns wie im Chor.

Dieses Eis würde ich bestimmt nicht so schnell vergessen. Wir machten uns daraus einen Spaß und hin und wieder fütterten wir uns gegenseitig. Stef schaute zwar immer wieder ängstlich, ob uns nicht doch jemand beobachtete, aber es war ein tolles Erlebnis. Jetzt konnte ich endlich verstehen, was mir Mick und Lukas damals immer versucht hatten zu erklären. Dieses Gefühl war einfach unbeschreiblich.

Als wir es endlich geschafft hatten, den großen Becher aufzuessen, drängte ein wenig die Zeit. Papa wollte uns ja unbedingt noch in der Werkstatt sehen. Ich erklärte Stef die Situation und somit waren wir wenige Augenblicke später mit unseren Rädern in Richtung Werkstatt unterwegs.

„Man, Luc, dieser Eisbecher war echt der Hammer. Der kostet bestimmt viel Geld. Ich finde das toll, dass der Wirt das gemacht hat.“

„Stimmt, Salvatori ist ein toller Mensch. Wir kennen ihn schon einige Jahre und wir gehen immer wieder gerne dorthin. Er ist immer freundlich und hilfsbereit.“

Wir fuhren zügig weiter und daher konnten wir uns nicht weiter ausführlich unterhalten. Erst als wir unsere Räder vor dem großen Garagentor abstellten, meinte Stef: „Wo sind wir hier? Warum bist du mit mir hierher gefahren?“

„Kleinen Moment Geduld, du wirst gleich sehen, wo wir sind.“

Ich öffnete die Tür und wir gingen hinein. Nach einem kleinen Gang kamen wir in die große Halle. Stef schien überwältigt zu sein. Papa hatte uns sofort bemerkt und kam auf uns zu.

„Hallo ihr beiden. Schön, dass ihr gekommen seid. Stefan, willkommen in unserer Werkstatt. Ich nehme an, Luc hatte dir schon ein wenig davon erzählt.“

Stef schüttelte seinen Kopf und Papa schaute mich ein wenig verständnislos an. Er gab Stef eine kurze Erklärung und dann gingen wir zu dem in der Halle stehenden Lancia. Er war durch eine graue Plane abgedeckt.

„Warum wolltest du, dass ich mit Stef hierher kommen sollte. Gibt es schon wieder was zu schrauben?“

Papa schmunzelte und meinte dann:

„Nein, der Delta ist fertig für das Wochenende, aber ich wollte dir etwas zeigen und Stefan soll sich hier ein wenig umsehen. Ihr werdet sicher häufiger hier sein.“

Während er das sagte, hatte er ein paar Schritte zu der grauen Plane gemacht und bat Stef und mich an der anderen Seite anzufassen. Gemeinsam hoben wir die Plane an und der Delta stand frisch poliert im Licht.

„Also Luc, ich habe mit allen meinen Kindern bislang ein Rennen gefahren. Nur mit dir noch nicht. Das lag sicherlich auch an deiner Mutter, die das gar nicht gut gefunden hat.“

Ich stutzte, wieso gut gefunden hat? Sie fand es leider immer noch unmöglich und verbot es mir ohne Ausnahme mit Papa ein Rennen zu fahren.

„Allerdings ist es nun so, dass die Gelegenheit gerade sehr günstig ist und deshalb habe ich mit ihr einen Deal gemacht.“

Dabei zeigte er auf die beiden Namen, die im hinteren Seitenfenster aufgeklebt waren. Ich erschrak. Dort stand mein Name. Sollte das heißen, ich dürfte endlich mit Papa ein Rennen fahren.

„Du darfst mit mir am Wochenende die Rallye fahren, als Gegenleistung müssen wir dafür sorgen, dass sich Mario und Stefan am Wochenende gut beschäftigen werden. Sabine wird am Wochenende mit ihrer Canasta Runde wegfahren.“

Stef und ich waren jetzt völlig ratlos.

„Wie meinst du das? Was hat das mit Mario zu tun? Und wieso sollen wir dafür sorgen, dass sie sich nicht langweilen?“

Papa genoss es sichtlich, uns ein wenig zappeln zu lassen.

„Also gut, ich erkläre es euch. Wir beide werden die Rallye fahren. Aber wer im Motorsport etwas werden will, braucht auch eine Mechaniker-Crew. Thomas kann nicht, weil sein Vater Geburtstag hat. Stephan ist dabei, aber mit einem Mechaniker kommen wir nicht weit. Deshalb habe ich Mario gebeten, uns zu unterstützen. Das bedeutet, er wird sich morgen nach der Arbeit auf den Weg machen. Wir treffen uns dann am Startort. Karl hat ihm zur Belohnung für seine immer gute Arbeit für drei Tage frei gegeben. Er kommt im Anschluss dann mit zu uns und bleibt noch zwei Tage hier.“

Stef konnte genauso wenig glauben wie ich, was Papa gerade gesagt hatte. Er sprang vor Freude in der Werkstatt umher und Papa grinste. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich umarmte meinen Vater und war richtig glücklich.

Was jetzt folgte, war die Einweisung in das sogenannte Gebetbuch. Das war der Aufschrieb, den der Beifahrer dem Fahrer vorlesen musste, um die Strecke anzusagen. Ich hatte zwar schon ein wenig Grundkenntnisse, aber jetzt hatte ich nur einen Abend Zeit, das richtig zu lernen. Das war recht knapp. Dennoch war das etwas ganz Besonderes für mich. Papa fragte Stef natürlich noch, ob es für ihn in Ordnung sei, wenn er uns begleiten würde. Die klare Antwort von Stef ließ keine Sekunde auf sich warten. Damit war es also beschlossen, wie unser Wochenende aussehen würde.

Da ich nur diesen einen Abend Zeit hatte, mir den Aufschrieb anzusehen, bat ich Stef um Verständnis, nicht noch einmal mit zu uns zu kommen. Wir trennten uns an der Werkstatt. Ich nahm mir abends die Bücher mit dem Aufschrieb vor und merkte recht schnell, dass ein System in den Symbolen war. Als ich das verstanden hatte, wurde es recht einfach. Allerdings war es da bereits nach elf Uhr abends. Mama fand das nicht sonderlich witzig und gab mir mit einer ganz deutlichen Ansage zu verstehen, dass ich jetzt das Licht zu löschen hätte und schlafen angesagt war. Ich gab klugerweise nach und legte mich schlafen. Ich freute mich auf das Wochenende mit Papa, Mario und Stef. Hoffentlich würde es auch so viel Spaß machen, wie ich erhoffte.

Der nächste Morgen wurde unangenehm, denn ich hatte natürlich zu wenig Schlaf bekommen und entsprechend müde war ich. Der Unterricht wurde für mich nur deshalb erträglich, weil mich Stef immer wieder mit Nachrichten versorgte. Wir schrieben eigentlich in den Pausen mehr miteinander, als das ich mit meinen Klassenkameraden sprach. Nur Nico kam immer wieder mal grinsend vorbei. Je näher es Richtung Mittag ging, desto wacher und aufgeregter wurde ich. Deshalb konnte ich auch nur recht wenig essen. Ich war einfach zu aufgeregt. Meine allererste echte Rallye stand unmittelbar bevor.

Während des Essens erklärte ich Nico den Sachverhalt und er freute sich mit mir. Er wusste, wie sehr ich auf diesen Tag gewartet hatte. Er wünschte mir ganz viel Glück. In der letzten Stunde war Mathe angesagt. Da musste ich mich noch einmal auf den Unterricht konzentrieren, was mir allerdings nur manchmal gelang. Mein Lehrer wurde irgendwann ärgerlich, weil ich zum wiederholten Mal während des Unterrichtes mit Stef geschrieben hatte. Zum Schluss bekam ich meinen allerersten Eintrag im Klassenbuch, wegen ständigen Störens des Unterrichtes. Es war mir egal. Ich war gedanklich eh schon mit Papa unterwegs.

Endlich Schluss und ich stürmte zu meinem Rad, um schnell nach Hause zu kommen. Völlig außer Atem erreichte ich unser Haus. Papa hatte schon den Lancia mitgebracht und Stephan war auch schon da. Er verlud gerade das Werkzeug und einige Kisten mit Ersatzteilen in den Van von Papa. Stephan sollte den Van fahren und Papa und ich im Lancia. Ursprünglich sollte Mario ja direkt dorthin fahren, aber Papa hatte das noch geändert, da Mario noch ein paar Tage im Anschluss zu uns kommen würde. Also kam Mario mit dem Flugzeug und wir würden ihn dort abholen. Der Startort lag ungefähr zweihundert Kilometer von uns entfernt, das war für den Lancia ein willkommener Funktionstest, denn der neue Motor hatte bislang noch keine größeren Strecken zurückgelegt.

Erstaunlicherweise lief alles ohne Probleme und wir kamen pünktlich und gut gelaunt am Startort an. Das ist mit alten Autos ja nicht unbedingt selbstverständlich, aber der Lancia fuhr sich richtig gut, meinte Papa jedenfalls. Als wir im Fahrerlager eintrafen, herrschte dort schon reger Betrieb. Bei diesen Veranstaltungen war das Klima unter den Piloten immer recht entspannt. Wir wurden freundlich auf unseren Platz eingewiesen. Ich legte meinen Gurt ab und stieg aus. Papa ebenfalls, allerdings wurde er recht schnell von den anderen Teilnehmern und Helfern umringt. Auch wenn er schon fast drei Jahre nicht mehr im aktiven Rennsport tätig war, hatte seine Popularität kaum abgenommen. Jedenfalls in der Motorsportszene. Einige Autogramme und Fotos später kam Papa auch zu uns und half beim Aufbau des Pavillons. Dort sollte unser Service zwischen den Prüfungen stattfinden. Da wir recht gut in der Zeit lagen, hatte ich mit Stef noch einen Moment Zeit mich umzusehen. Es waren einige sehr schöne Autos am Start. Überwiegend Porsche, Opel und Lancia. Einige sehr seltene Fahrzeuge waren auch dabei. Ein originaler Audi Quattro war auch dabei. Dieses Fahrzeug zählte sicher zu den großen Favoriten mit unserem Lancia.

Stephan und Mario hatten den Aufbau des Werkzeugs und der mobilen Werkstatt abgeschlossen. Plötzlich rief mich Papa zu sich. Er war bereits umgezogen und hatte seinen Rennoverall an. Da wurde mir bewusst, ich hatte ja gar keine Rennkleidung. Bei diesen richtigen Rennveranstaltungen, wo auch auf Geschwindigkeit gefahren wurde, war es natürlich Vorschrift, einen feuerfesten Overall zu tragen.

„Luc, ich habe dir einen Overall und die andere Ausrüstung machen lassen, du musst das jetzt aber auch mal anziehen. In einer halben Stunde ist die technische Abnahme. Dann werden die Kontrolleure auch die Kleidung prüfen.“

Dabei hielt er mir einen Overall hin, der genauso aussah wie seiner, nur ein wenig kleiner. Sogar mein Name stand darauf eingestickt. Stef schien beeindruckt, als ich wenige Minuten später umgezogen wieder zu ihm kam.

„Wow, Luc, du siehst jetzt genauso professionell aus wie dein Vater.“

„Sehr witzig. Leider hilft das Aussehen nicht, wenn es um schnelle Zeiten geht. Da hat Papa doch deutlichen Vorsprung.“

Alle mussten lachen, sogar Stephan fand meinen Kommentar richtig gut. Bis zur Abnahme waren es noch ein paar Minuten, die ich nutzte, um mit Mario in Ruhe ein paar Worte zu wechseln. Ich freute mich, dass er uns half. Außerdem war es für Stef auch die Möglichkeit, Mario unser Zuhause zeigen zu können. Er würde ja noch ein paar Tage bei uns bleiben. Erst als Stef für einen Moment meinem Vater helfen ging, fragte mich Mario dann:

„Sag mal Luc, stimmt das wirklich, dass du mit Stef zusammengekommen bist, also im Sinne einer Partnerschaft?“

„Ähm, ja, ich denke schon. Es hat sich so ergeben. Ist das ein Problem für dich, dass er eventuell schwul sein könnte?“

 

Er schaute mich fragend an.

„Nein, ganz ehrlich, ich hatte es eigentlich erhofft. Denn so, wie er von dir geschwärmt hatte, hast du ihm immer ein Ziel gegeben und ich bin so froh, dass er wieder lachen kann. Du sagst, dass er schwul sein könnte, seid ihr euch nicht sicher?“

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich nur auf Jungs stehe. Momentan bin ich mit Stef zusammen und genieße das sehr, aber wir haben noch nicht über das Thema gesprochen. Wir machen es einfach so, wie wir es fühlen.“

„Ah, ich verstehe. Finde ich gut. Also von mir aus kann ich nur gratulieren und ich freue mich sehr, dass es Stef schon so viel besser geht als vor zwei Monaten. Da hatte ich schon Sorge, dass er sich vielleicht sogar etwas antun könnte. Vor allem, als er plötzlich verschwunden war.“

Mich durchfuhr es eiskalt und ich musste mich schütteln. Mario bemerkte meine Reaktion und ich war sehr dankbar, dass er schnell das Thema wechselte und wir uns über das Rennen unterhielten. Ich wollte nicht mehr an diese Zeit zurückdenken. Es würde noch schwer genug werden, den Prozess gegen die Eltern zu führen.

Die technische Abnahme wurde kein Problem. Damit waren wir also startberechtigt und hatten unsere Startnummer erhalten. Wir bekamen die Nummer drei. Die ersten drei Sonderprüfungen würden heute noch zum Teil im Dunkeln gefahren werden. Ich wurde jetzt richtig nervös. Fragte Papa etliche Löcher in den Bauch. Erst als es ihm doch zu bunt wurde, meinte er:

„Luc, mach dich nicht so verrückt. Wir wollen hier in erster Linie Spaß haben. Ich bin mir bewusst, dass du noch nie als Beifahrer unterwegs warst. Also weiß ich, dass ich jederzeit nur auf Sicht fahren muss. Du machst deine Aufgabe so gut es geht, aber die Verantwortung liegt bei mir. Genieße es einfach.“

„Ich will aber keine Fehler machen, ich möchte, es gut machen. Ich habe mal in einem Buch von Walter Röhrl gelesen, dass er ohne seinen Copiloten vermutlich nie so erfolgreich gewesen wäre. Wenn Christian Geistdörfer einen Fehler gemacht hatte, wurde es in der Regel gefährlich.“

Papa lachte mich an. Er schien sich über diesen Vergleich köstlich zu amüsieren.

„Du hast doch nicht ernsthaft vorgehabt, mich mit Walter Röhrl zu vergleichen. Ich bin im Vergleich zu ihm ein blutiger Anfänger auf den Rallyepisten. Also bleib mal locker. Wir wollen alle keine Fehler machen, aber ich als Fahrer habe die Verantwortung für das Auto. Also entspann dich ein wenig mit Stefan. Geht noch ein wenig durchs Fahrerlager und lenk dich ab. Du wirst das schon gut machen.“

Dabei gab er mir einen Schlag auf den Rücken und schubste mich nach vorne. Ich musste grinsen. Mit einem Mal war meine Sorge verflogen und ich suchte Stef. Er saß mit Mario an unserem Auto und freute sich, mich zu sehen. Er sprang sofort von seinem Stuhl auf und umarmte mich. Ich erklärte ihm, was Papa mir zuvor aufgetragen hatte und somit schlenderten wir noch einmal los und schauten den anderen Teams bei ihren Vorbereitungen zu.

Stef legte seinen Arm um meine Schulter und plötzlich standen wir vor einem Auto, dass ich bislang immer nur auf Bildern oder im Fernsehen gesehen hatte. Einen Lancia Stratos, das Rallyeauto der siebziger Jahre und eines der erfolgreichsten aller Zeiten. Ich war sprachlos. Ich ging einmal um das Auto und war vollkommen auf dieses Auto fokussiert, so dass ich nicht bemerkt hatte, dass sich der Pilot zu mir gestellt hatte.

Ich erschrak ein wenig, als er mich ansprach:

„Hallo, junger Mann. Ich wundere mich, dass jemand, der so jung ist wie du, sich für einen Stratos begeistern kann.“

Ich drehte mich um und vor mir stand ein Mann, der um die fünfzig war. Er hatte ebenfalls einen Rennoverall an und er stellte sich als Hermann Gassmann vor. Ich gab ihm meine Hand und stellte Stef und mich ebenfalls vor. Es war wirklich interessant, was ich alles über dieses Auto erfuhr. Er hatte die Startnummer zehn und würde damit auf der ersten Prüfung hinter uns starten. Einige Minuten später fragte er mich, mit welchem Auto ich denn am Start sei.

Ich hatte mich ja mit dem Namen Maergener vorgestellt, also konnte er nicht wissen, wer mein Fahrer sein würde. Ich sagte ihm die Nummer drei und er schaute in seiner Starterliste nach. Dann schaute er noch mal zu mir und bekam große Augen.

„Du fährst mit Marc Steevens? Wow, woher kennst du den denn? Und euer Delta ist sicherlich auch ein tolles Auto, deutlich jünger und mit Allrad, da werde ich wohl keine Chancen haben.“

„Ich denke aber, Sie werden sicher einen erfahrenen Beifahrer haben. Ich bin heute das erste Mal dabei.“

Er schmunzelte und fing dann an zu lachen.

„Ok, das könnte stimmen. Aber schauen wir doch einfach, was am Schluss für ein Ergebnis steht.“

Er gab mir noch einmal die Hand und dann mussten wir auch wieder zurück. Unsere Startzeit rückte immer näher. Wir kamen an unserem Auto an und Papa hatte schon den Motor angewärmt. Es wurde langsam ernst.

Papa gab mir nun meinen Helm und ich holte die Unterlagen für die erste Prüfung. Ich legte alles auf den Beifahrersitz und Mario und Stephan hatten noch einmal alles gecheckt. Es schien alles in Ordnung zu sein, das Auto lief perfekt.

„Luc, ich möchte, dass du aufpasst. Ich brauche euch noch. Also mach keine dummen Sachen. Lieber etwas langsamer fahren.“

„Hey Stef, das musst du nicht mir sagen, das musst du Papa sagen. Er fährt doch.“

Dabei musste ich lachen, denn Stef hatte das so niedlich gesagt. Er hatte wirklich ein wenig Angst um uns. Entsprechend ging er direkt zu meinem Vater und gab ihm das Gleiche mit auf den Weg. Papa streichelte ihm behutsam durch die Haare. Ich konnte nicht hören, was Papa zu Stef sagte, aber es schien ihn jedenfalls zu beruhigen. Papa gab mir das Zeichen, den Helm aufzusetzen und einzusteigen. Das erste Fahrzeug war bereits zur Startrampe gefahren. Die Fahrzeuge wurden im Abstand von einer Minute auf die Strecke geschickt. Also würden wir zwei Minuten nach dem ersten Auto auf die Strecke gehen. Den Helm bereits auf dem Kopf, stieg ich ein. Stephan schnallte mich fest. Mario machte das bei Papa und dann rollten wir zur Rampe.

 

Ein kurzer Check der Gegensprechanlage und dann hieß es, drei, zwei, eins … und los. Papa ließ die Kupplung schnalzen und der Delta schoss, wie von einem Katapult abgeschossen, nach vorne. Der Turbolader pfiff bei jedem Gaswechsel und ich begann das Gebetbuch vorzulesen. Gar nicht so einfach, wenn man das noch nicht gemacht hat und eine Kurve die andere jagt. Aber nach einigen Kilometern hatten wir einen Rhythmus gefunden und es lief richtig gut. Allerdings musste ich feststellen, dass Papa sicherlich einiges schneller hätte fahren können. Ich fühlte mich gut und sicher.

Die erste Prüfung dauerte etwa zehn Minuten und ich war laut Gebetbuch an der vorletzten Kurve. Da ließ Papa es sich nicht nehmen für die Zuschauer einen gewaltigen Drift über alle vier Räder zu zeigen. Ich konnte durch mein Seitenfenster nach vorn schauen. Mein Puls stieg schlagartig auf gefühlte 150 Schläge an. Dann kam schon die Zielmarkierung. Papa bremste und ließ das Auto ausrollen.

An der Zeitkontrolle ließ ich unsere Bordkarte abstempeln und wir fuhren auf einen Parkplatz. Dort stellte Papa das Auto hin, ließ den Motor aber noch einige Minuten laufen, um den Turbolader abzukühlen. Wir waren bereits ausgestiegen und hatten unsere Helme abgenommen. Papa telefonierte mit Stephan, um Bescheid zu geben, dass das Auto perfekt gelaufen ist und es keine Probleme gäbe. Er vereinbarte, am nächsten Etappenziel den nächsten Service zu machen. Ich stand währenddessen am Auto und ließ das Erlebte auf mich wirken. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwierig sein würde. Aber ich war auch sehr glücklich, dass alles geklappt hatte. Papa hatte mittlerweile das Gespräch beendet und kam zu mir.

„Gute Arbeit, Luc. Das hast du wirklich toll gemacht. Ich hatte nie das Gefühl, du hättest Probleme gehabt. Hast du schon geschaut, wie unsere Platzierung ist?“

„Danke, Papa. Ich habe mir große Mühe gegeben, aber du hättest auch noch schneller fahren können, wenn ich ein besserer Copilot wäre.“

„Luc, das spielt doch keine Rolle. Ich möchte mir dir heile ankommen und dennoch Spaß haben. Genau das haben wir gemacht. Ich bin mir sicher, du wirst mit der Zeit noch viel sicherer werden. Also lass uns mal schauen, wo wir liegen. Ach ja, ich soll dir von Stefan schöne Grüße ausrichten. Du hast ja dein Handy am Service gelassen.“

„Danke. Ja, ich hatte Angst, dass es kaputtgehen könnte. Nach der nächsten Prüfung kommen wir ja zum Service.“

Wir waren bereits auf dem Weg zur Zeitnahme, um unsere vorläufige Platzierung zu erfahren. Einige Fahrzeuge waren ja noch nicht im Ziel. Wir erfuhren, dass wir auf Platz fünf lagen. Das war doch gar nicht so schlecht. Wir lagen nur fünf Sekunden hinter Platz drei. Die nächste Prüfung sollte ausschließlich auf Asphalt sein. Das kam uns entgegen, denn Papa hatte sich entschieden, auf geschnittenen Slicks die erste Prüfung zu fahren, obwohl einiges an Schotter vorhanden war. Das war auf der ersten Prüfung nicht optimal, aber auf der folgenden wären wir damit sicher deutlich schneller unterwegs.

Wir standen wieder an unserem Lancia, als ein anderer Pilot zu uns kam. Er war in etwa so alt wie Papa und hatte auch seine Familie dabei. Er sprach Papa an und bat ihn um ein Autogramm für seinen neben ihm stehenden Sohn. Ich musste schmunzeln. Der Sohn war etwa zehn, traute sich anscheinend aber nicht, Papa selbst zu fragen. Wir kamen recht schnell ins Gespräch und erfuhren, dass sie mit einem Porsche 911 RS unterwegs waren. Ein klassisches Auto mit viel Historie. Was ich richtig kurios fand, ich musste ebenfalls dem Jungen ein Autogramm geben. Mein allererstes Autogramm überhaupt. Papa amüsierte sich köstlich, mir war das peinlich.

Was ich allerdings sehr interessant fand, waren die vielen anderen alten Fahrzeuge. Ich kannte nur einige davon. Papa erklärte mir die Fahrzeuge und in welcher Zeit sie erfolgreich waren. Das gefiel mir, auch, dass die meisten Teilnehmer sehr nett waren. Es herrschte eine lockere freundliche Atmosphäre. Sicherlich ging es auch darum, einen Sieger zu finden, aber bei den Youngtimer Rallyes half man sich auch gegenseitig. Es machte mir viel Spaß mit Papa durch die Fahrzeuge zu laufen. Immer wieder musste Papa auch Autogramme geben. Allerdings wurde es für uns langsam Zeit, sich auf die nächste Prüfung vorzubereiten. Es wurde bereits dämmrig und somit waren die Bedingungen sicher nicht einfacher geworden.

Mittlerweile waren wir wieder an unserem Fahrzeug angelangt und Papa ließ den Motor warmlaufen. Wir besprachen kurz den Streckenverlauf. Es stellte sich heraus, dass es zwei sehr kritische Stellen gab, wo es gefährlich werden könnte. Die eine lag hinter einer Kuppe und ich hatte sie mir in meinen Aufzeichnungen schon markiert. Nach einer kurzen Besprechung legten wir unsere Helme an und stiegen wieder ein. Anschnallen und der Check der Funkanlage folgten, dann ging es an den Start.

Die Strecke war zuerst trocken und damit lief es für uns sehr gut. Papa ließ den Lancia richtig fliegen, bis zu dem Moment, wo die besagte Kuppe kam.

Ein paar Zuschauer kamen uns entgegen gelaufen. Sie winkten kräftig mit beiden Armen. Papa reagierte sofort und bremste stark ab. Als wir über die Kuppe kamen, sahen wir das Malheur. Das vor uns gestartete Fahrzeug hatte die Kuppe wohl unterschätzt und war mit voller Geschwindigkeit von der Strecke geflogen. Leider hatte er zuerst rechts und dann links einen Baum getroffen und war dann völlig zerstört auf dem Dach liegend, im Graben gelandet. Papa schaffte es, den meisten Trümmern auszuweichen. Es sah so aus, also ob die Piloten noch im Fahrzeug waren. Einige Zuschauer hatten sich bereits zum Fahrzeug gemacht. Für uns war vollkommen klar, hier mussten wir anhalten und helfen. Wenn noch Personen in Gefahr waren, war es klar, dass der Wettbewerb unterbrochen würde. Also hielt Papa unser Fahrzeug hinter dem verunfallten Fahrzeug an und wir stiegen aus. Papa gab mir kurze und klare Anweisungen:

„Schnell, nimm den Feuerlöscher mit und ich nehme die Verbandstasche mit. Und pass auf, wo du lang läufst. Es liegt viel Glas herum.“

Ich nickte nur und dann waren wir auch schon an dem anderen Fahrzeug heran. Papa schickte ein paar Zuschauer den anderen Autos entgegen. Glücklicherweise hatte das uns nachfolgende Auto bereits vor der Kuppe gestoppt und die Strecke gesichert. Es konnte kein weiterer mehr in die Unfallstelle rasen. Papa wies mich an, mit dem Feuerlöscher etwas abseits stehen zu bleiben. Damit konnte ich sofort eingreifen, falls erforderlich. Papa kroch an das Fahrzeug und konnte dem Fahrer den Gurt öffnen und ihn befreien. Für den Beifahrer sah es nicht ganz so gut aus. Er war ohne Bewusstsein und hing in seinem Sitz auf dem Kopf. Mittlerweile waren auch noch andere Rettungskräfte angekommen und wir versuchten, den Copiloten zu befreien. Ein Zuschauer berichtete, dass die Prüfung unterbrochen wurde und die Rettungswagen und die Feuerwehr bereits unterwegs seien. Ich konnte sehen, dass plötzlich aus dem Motorraum Qualm zu erkennen war. Sofort brach bei allen Zuschauern Panik aus.

Ich rief Papa zu: „Papa, Vorsicht, es beginnt zu brennen. Soll ich löschen?“

Papa schaute sich um und gab mir ein Zeichen, dass ich zu ihm kommen sollte. Ich lief sofort los und nach wenigen Augenblicken hockte ich bei ihm.

„Luc, noch nicht löschen. Du hast nur ein paar Kilo Pulver. Erst wenn richtig Flammen zu sehen sind. Und dann nur in kleinen Stößen löschen.“

„Geht klar.“

Ich kroch zurück und stand dann direkt vor dem Motorraum. Es qualmte und roch sehr nach verbranntem Kunststoff. Ein paar Flammen züngelten plötzlich hervor, ich hielt mit dem Feuerlöscher genau auf die Flammen und drückte ab. Eine große weiße Wolke stob auf. Ich musste husten und machte zwei Schritte zurück. Ich hatte den Wind nicht beachtet.

Die Sirenen der Rettungsfahrzeuge waren bereits zu hören, da zog Papa mit einem Zuschauer den verletzten Copiloten aus dem Wrack. Vorsichtig legten sie ihn neben das Fahrzeug. Allerdings erst als der Rettungsdienst vor Ort war, stand Papa auf und kam auf mich zu. Erst jetzt konnte ich mir das ganze etwas genauer ansehen. Die Trümmer waren über mehrere zig Meter verteilt und es sah in der Dunkelheit schon besorgniserregend aus. Papa stand jetzt neben mir.

„Alles in Ordnung mit dir?“

„Ja, danke. Es geht schon.“

Er legte seinen Arm auf meine Schulter und erst jetzt bemerkte ich, dass ich meinen Helm noch auf hatte. Ich wollte den Helmriemen öffnen, aber meine Hände zitterten derart stark, dass ich es nicht schaffte. Papa half mir und nahm mir den Helm ab. Die frische Luft tat mir gut. Ganz langsam gingen wir zu unserem Fahrzeug und legten die Helme hinein. Papa besprach sich mit dem Einsatzleiter der Feuerwehr und bat um Erlaubnis, langsam in Richtung Ziel zu fahren.

Wortlos saßen wir wenige Minuten später im Auto und fuhren Richtung Ziel. Dort angekommen, fuhren wir direkt in den Service Bereich. Die Prüfung wurde abgebrochen und damit war auch ein stempeln auf der Zeitkarte nicht erforderlich. Der Motor erstarb und meine Tür wurde aufgerissen. Ein völlig aufgelöster Stef sah mir in die Augen.

„Hey, wie siehst du denn aus?“

„Man, Luc, ich hatte so eine Angst, dass euch etwas passiert ist. Es hieß hier nur, dass ein schwerer Unfall passiert war. Und dann seid ihr auch nicht ins Ziel gekommen.“

„Ganz ruhig, Stef. Uns ist nichts passiert, wir kamen nur als Erste am Unfallort an und haben geholfen. Deshalb sind wir nicht ins Ziel gekommen.“

Mittlerweile war ich ausgestiegen und hatte ihn umarmt. Papa schaute zu uns hinüber und ich konnte sein Lächeln erkennen. Stef zitterte sogar ein wenig am ganzen Körper. Er hatte sich anscheinend große Sorgen gemacht. Um ihn wieder zu beruhigen, ging ich mit ihm ein paar Meter abseits. Dort berichtete ich ihm ganz genau, was geschehen war. Als ich fertig war, gab er mir einen Kuss und meinte:

„Also seid ihr gar nicht beteiligt gewesen? Ich habe mir also völlig unnötig Sorgen gemacht.“

„Ja, das ist schon richtig, aber woher solltest du das denn wissen. Also ich kann verstehen, dass das nicht schön für dich war. Hier warten zu müssen und keine genauen Informationen zu haben. Ich weiß ganz genau, wie das ist. Leif hat mir das erzählt, wie das war, als Papa in Le Mans so schwer verunglückt war. Es tut mir leid, dass du dir Sorgen gemacht hast.“

Wir gingen zurück zu Papa, der uns lächelnd erwartete.

„Na, ihr beiden. Alles wieder in Ordnung, Stefan? Ich hoffe, Luc hat dir alles erklärt.“

Stef nickte und damit war für mich dieser Fall erledigt. Die letzte Prüfung wurde abgesagt und damit war für heute Schluss. Wir stellten das Auto in den Parc Fermé und fuhren mit dem Van zusammen ins Hotel. Ich hatte mit Stef ein Doppelzimmer und Mario mit Stephan. Papa hatte sich ein Einzelzimmer genommen. Wir nahmen noch ein reichhaltiges Essen zu uns und anschließend war dieser aufregende Tag auch schon beendet. Morgen sollte es bereits um sieben Uhr weiter gehen.

Lesemodus deaktivieren (?)