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Second serve
Teil 10
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Informationen
- Story: Second serve
- Autor: cdwgrisu
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Lovestory
Inhaltsverzeichnis
- Chris: Ein weiteres Turnier
- Fynn: Es geht weiter voran
- Chris: Eine Überraschung und die Zukunft wird spannend
- Dustin: Zweifel
- Chris: Treffen mit Frank und Überraschungstermin
- Fynn: Familiennachmittag und Abfahrt nach Berlin
- Chris: Berlin, eine Weltstadt präsentiert sich
Chris: Ein weiteres Turnier
Die Woche nach unserem ersten gemeinsamen Freizeitabend verlief ohne Probleme oder besondere Ereignisse. Lediglich sollte ich etwas zu dem Brief sagen, den mir Dustin und Fynn gegeben hatten.
In diesem Brief beschrieben sie mir ihre Sicht der Entwicklung. Sie waren glücklich über unsere Freundschaft und dass sie wieder ein Ziel hatten. Es war ein sehr persönlicher Brief und ich war beeindruckt von ihren Worten. Mir wurde bewusst, dass es gelungen war, eine Katastrophe zu verhindern und beide wieder auf eine gute Basis zu stellen. Dieser Brief gab mir aber auch viel neue Kraft, diesen Weg weiter zu gehen, um sie noch weiter nach vorn zu bringen. Sowohl spielerisch, als auch menschlich.
Jetzt wird möglicherweise die Frage auftauchen, warum sie mir das nicht persönlich gesagt hatten. Für mich gab es dazu eine klare Erklärung. Es waren sehr persönliche Dinge, die sie mir offenbarten und ich konnte mir sehr gut vorstellen, dass es für sie zu schwer gewesen wäre, dies in einem Gespräch zu äußern. Jedenfalls war das für mich als Therapeuten nichts Ungewöhnliches, dass gerade Kinder und Jugendliche so etwas lieber aufschrieben oder in Bildern zum Ausdruck brachten.
Genau das ist auch der Grund, warum ich diesen Brief hier nur inhaltlich darlegen möchte. Es war ein sehr persönlicher Brief.
In der letzten Trainerbesprechung hatten wir beschlossen, mit den drei großen Jungs mehr Turniere im Future- und Challenger-Bereich zu spielen. Sie sollten sich dort entwickeln können und mit den größeren Aufgaben wachsen. Das bedeutete auch, dass wir mehr und längere Abschnitte unterwegs sein würden. Für die drei bedeutete das zwar mehr Fehlzeiten in der Schule, aber da ihre Noten allesamt sehr gut waren, war das Team auch bereit, ihnen das zu ermöglichen. Für mich hatte es allerdings auch Folgen. Ich sollte sie als Coach ständig begleiten. Das wiederum bedeutete, ich musste mich endgültig für ein Jahr aus meinem Beruf beurlauben lassen. Beides zu vereinbaren war nicht möglich und auch nicht sinnvoll.
Ich hatte mit meinem Bruder noch ein langes Gespräch, denn ich wollte die volle Unterstützung des Teams haben. Ich war schließlich kein A-Lizenz Trainer. Jan hatte mir bei dem Telefonat klar gesagt, dass er mir diese Aufgabe nur anvertrauen würde, wenn er persönlich auch davon überzeugt wäre, dass ich der richtige dafür sei. Diese Unterstützung tat mir sehr gut. Es war die Anerkennung meiner Arbeit von meinem größten ehemaligen Feind. Da konnte ich nicht nein sagen. Insbesondere, weil es sich die Jungs auch verdient hatten.
Der neue Turnierplan beinhaltete auch Turniere im Ausland und entsprechend aufwendig musste das geplant werden. Für das nächste halbe Jahr war für sie die Teilnahme an allen wichtigen Turnieren vorgesehen und es gab nur sehr wenig Luft noch für spontane Sachen. Ebenso waren auch die freien Zeiten geplant worden. Anders ließ sich so eine Aufgabe nicht stemmen. Hoffentlich würden wir vier das gut miteinander überstehen.
Heute war das Abschlusstraining vor unserer ersten Turnierreise angesetzt. Ich hatte mich erneut mit Thorsten verabredet, um auch die finanziellen Dinge auf diesen Reisen zu regeln. Da wir nun viel mehr unterwegs sein würden, auch im Ausland, wollte Thorsten mit mir eine andere Regelung treffen.
„Hi Chris, wie geht es dir?“
„Hi Thorsten, danke soweit alles in Ordnung.“
„Eine Fassbrause oder lieber einen Kaffee?“
Lachend erwiderte ich: „Fassbrause ist ok, danke.“
Er gab eine Bestellung bei der Wirtin ab und ich setzte mich an den Besprechungstisch. Wenige Augenblicke später kam er zurück und setzte sich mit dem Laptop zu mir an den Tisch.
„So, dann lass uns jetzt mal schauen, was wir für eine Planung haben.“
Er öffnete eine Datei und dort erschien der komplette Plan für unsere Gruppe. Das war eine ordentliche Herausforderung und ich hatte etwas Sorge, dass die Regeneration zu kurz kommen könnte.
„Nein, keine Sorge. Sollte es erforderlich sein und du den Eindruck haben, dass eine Pause richtig ist, dann sag einfach Bescheid. Dies sind die möglichen Turniere und dafür sind die Meldungen bereits getätigt. Aber du entscheidest, wer eine längere Pause braucht und wer spielen kann.“
Ich schaute noch einmal über den Plan und sah auch zwei Turniere in England. Das waren Rasenturniere. So etwas hatten wir noch gar nicht gespielt. Entsprechend verwundert schaute ich ihn an.
„Wieso zweifelst du? Wir haben hier doch auch Rasenplätze und ihr könnt euch bei uns gut darauf vorbereiten. Jan hatte die Idee und ich finde es richtig, dass ihr dies auch mal spielt.“
Ich fand es zwar recht mutig, aber auch konsequent. Dennoch hatte ich ein ganz persönliches Problem noch zu klären.
„Thorsten, jetzt mal ganz ernst, denkst du auch, ich bin der richtige Coach dafür? Ich habe nur eine C-Lizenz und habe eigentlich noch einen Beruf, den ich sehr mag. Ich habe zwar mit meinem Arbeitgeber besprochen, dass ich ein Jahr unbezahlten Urlaub nehmen kann, aber ich weiß noch nicht, ob ich das genau wie Jan auf Dauer durchhalten werde.“
Er fing an zu lachen und grinste mich an.
„Komisch, warum hatte ich das erwartet. Jan hat mich vorgewarnt. Du bist sehr mit deinem Beruf verwachsen und möchtest mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Ich sehe nur folgendes Problem. Momentan sind sowohl Dustin als auch Fynn sehr auf dich fixiert. Kein anderer Trainer würde das erreichen, was du hier bislang geschafft hast. Auch Jan ist restlos davon überzeugt, es gibt keinen besseren als dich. Wenn die Jungs älter sind und viel gelernt haben, dann schauen wir neu. Das Projekt ist auf ein Jahr befristet und dann schauen wir, wo wir stehen. Oder glaubst du, einer der beiden würde einem von uns mehr vertrauen als dir?“
„Was sagen denn die Jungs dazu? Was sagen Maxis Eltern denn? Sie müssen damit ja auch einverstanden sein.“
„Ja, Maxis Vater hat sogar gesagt, dass du auf Maxi ebenfalls einen sehr positiven Einfluss hast. Er hat sich verändert, seit dem du ihn trainierst. Zum Positiven.“
„Hm. Ok, eigentlich freue ich mich auch auf diese Herausforderung. Allerdings habe ich auch ein wenig Bedenken wegen des Erfolgsdrucks. Was erwartet ihr denn eigentlich von mir an Ergebnissen?“
„Ergebnisse erwartet niemand von euch. Wir erwarten nur maximalen Einsatz und den Willen, besser zu werden. Was dann passiert, kann keiner vorhersehen. Ich weiß von dir, dass bei dir das Wohl der Jungs im Vordergrund steht. Egal, welche Ergebnisse kommen. Jan hat gesagt, an dieser Stelle gibt es keinen besseren Nachwuchscoach. Wir dürfen nicht vergessen, Fynn und Dustin haben eine sehr schwere Zeit gehabt und sind damit noch lange nicht fertig. Du kennst sie am besten und von daher ist das nur die logische Konsequenz.“
„Gut, ich möchte aber einen Vorschlag machen. Ich möchte mit den Eltern und den Jungs gemeinsam einen Termin haben, wo ich ihnen diesen Plan vorstelle. Ich möchte, dass sie das unterstützen und mir ihr Vertrauen geben.“
Wieder begann Thorsten zu lachen und grinste mich dann an.
„Also eines musst du deinem Bruder schon lassen. Er kennt dich besser, als du denkst.“
„Hä? Warum das denn?“
„Nun, wir haben die Eltern bereits eingeladen für morgen Abend. Und du wirst es nicht glauben, sogar Fynns Vater wird mitkommen. Er hat mir bereits signalisiert, dass er das nur unterstützt, wenn du die Jungs als verantwortlicher Coach weiter begleitest.“
Jetzt war ich platt. Damit hatte ich nun überhaupt nicht gerechnet.
Ich blickte erneut auf den Plan und wunderte mich über das nächste Turnier. Das waren die deutschen Juniorenmeisterschaften. Die wurden in Berlin beim TC Rot-Weiß ausgetragen. Dort sollte unser nächstes Turnier stattfinden.
„Da du ja schon alles vorausschauend geplant hast, wer wird dort außer den dreien spielen?“
„Wir werden dort mit einem recht großen Team auftreten. Burghard fährt auch mit und geplant waren, zusätzlich zu deinen drei Jungs, Tim und Carlo, Marek und Stefan. Carlo fällt aus, dafür wird Markus nachrücken.“
„Ui, das wird aber ein großes Team. Hoffentlich wird uns das nicht zu viel. Naja, Burghard ist so lange dabei, er wird das sicher im Griff haben. Aber warum soll Tim auch mitfahren? Das ist doch eigentlich eine Belohnung für sein momentan schwieriges Auftreten?“
„Nun, er hat sich ausschließlich sportlich qualifiziert. In seinem Jahrgang steht er unter den besten zwanzig in Deutschland. Da können wir schlecht sagen, du spielst nicht. Zumindest noch nicht.“
Ich schaute Thorsten fragend an. Eigentlich widersprach das unseren Absprachen. Wer sich nicht an unsere Regeln hielt, wurde vom Turnierbetrieb ausgeschlossen. Egal wie gut er war.
„Ja, ich weiß, das ist gegen unsere eigentliche Vorgabe, dass die Schule passen muss. Burghard ist der Meinung, dass du derjenige bist, der ihn auf Linie bringen kann. Das geht aber nur, wenn du auch Zugriff auf ihn hast.“
„Also noch mehr Arbeit.“
Dabei mussten wir beide lachen. Gut, Tim war momentan schwierig, aber ich wusste schon, wo ich ansetzen wollte. Also vereinbarten wir, dieses Turnier gemeinsam zu stemmen.
„Habe ich das richtig verstanden? Maxi, Dustin, Fynn und Marek spielen U21 und die anderen in ihren Jahrgängen.“
„Richtig. So ist es geplant. Hast du von Carlo schon eine Information, wann er wieder in das Training einsteigen kann?“
„Nein, ich weiß nur, dass die Fäden heute gezogen werden und dann der Arzt eine Entscheidung für die weiteren Maßnahmen trifft. Das werden wir wohl abwarten müssen.“
„Gut, dann hab ich noch eine Sache. Du wirst ja in Zukunft viel im Ausland sein und da müssen wir eine andere Regelung der Finanzen finden. Ich habe hier eine Kreditkarte für dich. Damit kannst du alle Kosten und Spesen für die Reisen und Turniere bezahlen. Und damit meine ich auch alle. Du bekommst also sozusagen den gleichen Status wie dein Bruder. Ich weiß, du wirst damit gut umgehen. Also keine Widerrede, Widerstand ist zwecklos.“
„Ok, bevor die Borg mich assimilieren, werde ich das wohl so akzeptieren.“
Das war der lustige Schlusspunkt unserer Besprechung. Es wurde auch höchste Zeit, denn das Training stand noch an. Die zukünftigen Reisen würde Thorsten weiterhin planen und auch Flüge buchen. Damit hatte ich nicht auch noch zu kämpfen.
Was mir jetzt noch einfiel war leider eine etwas unangenehme Sache. Es gab eine Verhandlung gegen Dustins Eltern. Dort musste er erscheinen und als Zeuge aussagen. Ich gab Thorsten den Termin und er schaute gleich in den Plan. Nach Berlin würden wir also einen Tag später als dort geplant, zum nächsten Turnier starten.
Damit hofften wir, das Kapitel auch für Dustin in eine klare und stabile Lage zu bringen. Die Ungewissheit musste aufhören.
Ich bedankte mich bei Thorsten für seine Unterstützung und machte mich auf den Weg zum Trainingsplatz. Ich war heute tatsächlich fünf Minuten zu spät. Entsprechend wurde ich empfangen.
„Hi Chris, bist du krank oder ist deine Uhr stehen geblieben?“, frotzelte Maxi.
„Sorry, aber Thorsten und ich hatten etwas Wichtiges zu besprechen.“
„Na gut, ausnahmsweise sind wir gnädig. Zuspätkommen wird ja sonst bei uns immer gleich bestraft.“
„Maxi“, sagte ich todernst und angesäuert, „ich kann mich nicht erinnern, dass ich bis heute einmal einen von euch wegen Zuspätkommens bestraft hätte. Auch wenn ich es gekonnt hätte. Also lass die Laberei.“
Maxi zuckte zusammen. Er hatte nicht mit dieser Antwort gerechnet. Dustin und Fynn hingegen lachten sich halb tot und Fynn setzte sogar noch einen obendrauf:
„Siehst du Maxi, wir haben dich gewarnt. Damit hast du ein Eigentor geschossen.“
„Na gut. Ich gebe mich geschlagen. Aber es war auch nicht so ernst gemeint. Sorry, Chris.“
„Schon ok, du solltest allerdings besser überlegen, ob ein Scherz gerade richtig oder besser zu lassen ist. Ich fand es jedenfalls gerade völlig unpassend, weil ich euretwegen zu spät gekommen bin.“
Fynn hakte da sofort ein: „Also stimmt das doch, dass meine Eltern morgen Abend zu einem Gespräch herkommen sollen?“
„Ja, das ist richtig. Dort stellen wir unsere Pläne für die nächsten Wochen vor. Wir haben gemeinsam im Team eine Veränderung beschlossen und möchten da aber eure Eltern vorher informieren und ins Boot ziehen.“
Erstaunen war in den Gesichtern meiner drei Jungs zu sehen. Ich wollte jetzt aber nicht noch mehr Trainingszeit opfern und begann mit klaren Ansagen auf dem Platz.
Zwei Stunden später und nach einem sehr guten Training beendete ich die Einheit auf dem Platz. Für die Jungs standen noch eine Krafteinheit und eine Massage an. Ich hatte für heute Feierabend auf dem Platz und wollte mir nun noch eine Einheit bei Thomas ansehen. Es ging um Tim. Ich wollte mir ein aktuelles Bild seiner Trainingsleistung machen.
Ich packte also meine Sachen zusammen und die Jungs zogen den Platz ab. Als ich zum Schluss die Bälle wegbringen wollte, wartete Dustin immer noch am Platz.
„Hey, was ist denn los? Du musst noch zum Krafttraining. Charles wartet nicht gern.“
„Ich weiß, aber ich habe eine Frage und die möchte ich dir nur allein stellen.“
„Ok, um was geht es denn?“
Er druckste herum und wurde rot. Ich dachte, eigentlich sollte er doch wissen, dass er mit mir über alles reden konnte.
„Also, es geht um Fynn und unsere Beziehung.“
„Komm, lass uns dort hinten auf die Bank setzen. Da haben wir unsere Ruhe.“
Wir saßen nebeneinander und er hatte wirklich Schwierigkeiten, sein Anliegen zu formulieren.
„Dustin, versuch dich zu beruhigen. Wir können über alles reden. Was versetzt dich so in Panik?“
„Es ist …, ach, ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll. Es ist mir etwas peinlich. Fynn möchte gern mit mir schlafen und ich habe Angst davor. Aber ich möchte ihn auch nicht enttäuschen, denn ich liebe ihn immer noch genauso wie zu Beginn. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll.“
Eigentlich hätte ich jetzt lachen können. Denn dieses Thema war auch heute immer noch ein Problem und obwohl es das Internet gibt, können sich viele Jugendliche gerade über dieses Thema nicht mit ihren Eltern oder anderen Erwachsenen vertraulich unterhalten. In der Schule wird das sowieso ausgespart. Homosexuelle Sexualpraktiken wurden im Unterricht komplett ignoriert.
„Ok, ich verstehe. Du hast Angst mit Fynn darüber zu sprechen?“
Er nickte stumm. Er war total niedergeschlagen.
„Hm, also zuerst einmal: Es ist überhaupt nicht ungewöhnlich, was du gerade erlebst. Das erste Mal ist immer etwas Besonderes. Jeder erlebt das anders und hat eigene Ängste und Vorstellungen. Hat Fynn dich unter Druck gesetzt, dass du mit ihm schlafen sollst?“
„Nein, überhaupt nicht. Er hat es mir nur gesagt, dass er das möchte. Aber ich habe Angst, dass das weh tun könnte.“
„Gut. Denkst du, dass du mit Fynn über deine Angst nicht sprechen kannst? Er macht auf mich nicht den Eindruck, dass er dafür kein Verständnis hätte. Oder ist es dir generell unangenehm zu sagen, dass du Angst davor hast?“
Seine Reaktion war ein leichtes Kopfnicken. Damit waren weitere Fragen erst einmal überflüssig.
„Was möchtest du denn jetzt von mir? Was kann ich für dich tun?“
Er zuckte mit den Schultern und war sehr angespannt und traurig. Ich hatte für mich eine Idee, aber dafür brauchte ich seine Zustimmung.
„Was hältst du davon, wenn du jetzt zum Training gehst und wir uns zu dritt bei euch in der WG zusammensetzen und darüber sprechen. Nur wir drei.“
„Du findest das also nicht albern? Ich habe gelesen, dass es eigentlich normal ist, dass man miteinander schläft und es zu einer Beziehung dazugehört.“
„Albern ist das überhaupt nicht. Du hast Angst. Angst ist nie albern. Angst ist gut und kann aber auch gefährlich werden. Egal was für eine Angst es ist. Das einzige, was gegen Angst wirklich hilft, ist darüber zu reden. Dann ist man nicht mehr allein mit der Angst. Ich verspreche dir, Fynn wird sehr erstaunt sein. Er rechnet nicht damit, dass du Angst hast. Sollen wir das so machen?“
„Danke, Chris. Ich weiß nicht, was ich ohne deine Hilfe immer machen würde. Du hast mir schon so oft geholfen.“
„Und ich werde es noch oft tun. Das gehört doch dazu. Freunde sind doch genau dann gefragt, wenn sie wirklich gebraucht werden. Also mach dir keinen Kopf darüber. Das werden wir auch hinbekommen. Ganz sicher. Dafür seid ihr ein viel zu festes Paar mittlerweile.“
„Ok, dann gehe ich jetzt zum Krafttraining. Hast du schon eine Idee, wann du kommen kannst?“
„Willst du nicht zuerst versuchen, allein mit Fynn zu reden oder soll ich gleich dabei sein?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht wäre es doch besser, ich würde erst mit ihm allein sprechen, oder was denkst du?“
„Ich würde es auf jeden Fall besser finden, ihr redet allein miteinander. Das ist ein sehr persönliches Thema. Aber wenn du merkst, dass du es nicht hinbekommst, dann komm noch einmal zu mir. Wir werden dann schauen, wie wir das gemeinsam lösen.“
Er nickte nur und anschließend verabschiedete er sich von mir mit einer Umarmung. Jetzt konnte er auch wieder lächeln.
Fynn: Es geht weiter voran
Wir quälten uns unter Charles Aufsicht. Seine Trainingseinheiten waren gefürchtet, aber sie hatten uns auch nach vorn gebracht. Ich hatte eine viel bessere Fitness bekommen und konnte so auch längere Turniere durchstehen. Dustin hatte in den letzten Wochen drei Kilo abgenommen, aber deutlich an Kraft hinzugewonnen. Es würde nicht mehr lange dauern und er hatte mein Leistungsniveau erreicht.
Maxi stöhnte unter der Belastung, aber auch er hielt bis zum Schluss durch.
Ausgerechnet Dustin schien heute überhaupt keine Probleme mit den Übungen zu haben. Er arbeitete alles ab und sah so aus, als ob er noch mehr könnte. Ich war sehr verblüfft. Mir ging es nämlich ganz anders. Mir schmerzte der ganze Körper. Ich war total ausgepumpt und froh, dass es vorbei war.
„Genug für heute. Geht duschen und dann ab zur Massage“, sagte Charles und entließ uns für heute.
Ich musste mich für einen Moment in der Umkleide auf die Bank setzen, so fertig war ich. Maxi erging es nicht anders. Dustin war putzmunter und wir staunten nur.
„Sag mal, bist du heute der Duracel-Hase?“, fragte Maxi.
„Nö, wieso? Ich fühle mich heute nur fit.“
„Krass. Ich glaube, wir werden schon alt. Oder wie geht es dir, Fynn?“
Ich war total fertig und Maxi musste das wissen.
„Kein Kommentar. Komm, lass uns duschen gehen, sonst wird es noch peinlicher für uns.“
Allerdings war Dustins gute Stimmung immer mehr verschwunden, je näher wir unserer WG kamen. Er wurde richtig still. Was ging gerade in ihm vor? Wir hatten keinen Streit und die Verhandlung gegen seine Eltern würde Chris mit uns vorbereiten. Es gab eigentlich für seine Stimmung keinen Grund.
Mir war aber auch klar, dass er, solange Maxi dabei war, nichts erzählen würde. Also ließ ich ihn in Ruhe und sogar beim Abendessen wirkte er abwesend. Erst, als wir in unserer Wohnung waren und ich uns etwas zu trinken gemacht hatte, wollte ich mit ihm reden. Aber da er immer noch abweisend erschien beschloss ich, zuerst mit ihm über die kommenden Pläne zu sprechen.
„Hast du schon eine Ahnung, wie sich unser Turnierplan ändert?“
„Nee, ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, warum sich jetzt wieder etwas ändern sollte. Wir haben doch gute Leistungen gebracht. Warum wollen sie das jetzt wieder ändern?“
„Ich weiß es nicht, aber eines weiß ich auch mittlerweile. Chris würde nie etwas planen oder zustimmen, was zu unserem Nachteil sein würde. Oder zweifelst du daran?“
Jetzt schaute er mich wieder so an, als ob nichts gewesen wäre und lächelte.
„Nein, ganz sicher nicht. Du hast schon recht. Aber warum dann jetzt eine erneute Änderung?“
„Wir müssen einfach bis morgen abwarten und dann sehen wir es ja. Es wird schon wichtig sein, denn sonst würde er nicht diesen großen Aufwand betreiben und sogar unsere Eltern einladen.“
Bei dem Wort Eltern wurde Dustin sehr still. Er schaute aus dem Fenster und schwieg.
Ich stand von der Couch auf und stellte mich hinter ihn, legte meine Hände um ihn und mein Kinn auf seine rechte Schulter.
„Das wird Chris schon regeln mit deinen blöden Eltern. Ich vertraue ihm da total. Aber ich verstehe deine Angst.“
Er lehnte seinen Kopf an meinen und wir blieben noch einen Augenblick ganz still so stehen.
„Ich weiß, aber es tut einfach weh zu wissen, dass ich keine Familie mehr habe, wie andere Jungs in meinem Alter.“
„Du hast doch mit uns eine Familie. Ich weiß, dass Mama dich sofort adoptieren würde, wenn Papa wieder gesund ist.“
Jetzt drehte er sich plötzlich zu mir um und schaute mich mit großen Augen an.
„Woher weißt du das denn? Hat sie das gesagt?“
„Ja, hat sie. Sie mag dich sehr und sie weiß, was du für mich bedeutest. Und meinen Vater werden wir auch noch davon überzeugen. Er hat nur gerade einfach andere Dinge im Kopf.“
„Das stimmt. Ich finde es auch richtig klasse, dass er in der Therapie ernst macht. Hoffentlich bekommt er das auch in den Griff.“
„Wieso auch? Wer denn noch?“, fragte ich irritiert.
„Na Chris. Er hat es doch auch geschafft. Und er hat noch viel Schlimmeres erlebt. Denk an den Unfall mit seiner Freundin. Ich weiß nicht, ob ich das so verkraftet hätte wie er. Ich bewundere ihn.“
„Das stimmt allerdings. Das muss grausam gewesen sein. Ich rege mich heute noch über diese blöden Polizisten auf. Weißt du, was ich mich manchmal frage?“
Er legte seinen Kopf leicht schräg und lächelte mich an.
„Sprich, ich habe keine Ahnung.“
„Wo wären wir heute, wenn Chris sich damals tatsächlich das Leben genommen und den Unfall nicht überlebt hätte?“
Dustin schüttelte sich bei diesem Gedanken und ich beschloss, diese Frage nicht weiter zu vertiefen. Dennoch gab Dustin eine Antwort.
„Keine Ahnung, aber ganz sicher nicht da, wo wir jetzt stehen. Er hat so viel für uns getan.“
Wohl wahr. Ich umarmte meinen Freund und wir setzten uns gemeinsam wieder auf die Couch. Mir taten die Beine von unserem harten Training weh. Deshalb hatte ich uns ein Elektrolytgetränk gemixt.
Nachdem wir auf der Couch zur Ruhe gekommen waren, spürte ich sehr bald eine Anspannung bei Dustin. Irgendetwas beschäftigte ihn. Mein Problem war jetzt, dass ich nicht wusste, ob ich ihn fragen sollte oder nicht. Dustin musste bei persönlichen Dingen bereit sein, darüber zu sprechen. Ansonsten blockte er nur noch mehr und wurde noch abweisender. Das hatte mir Chris schon mehrfach versucht zu erklären. Ich wollte noch ein wenig Tennis im Fernsehen schauen und Dustin saß neben mir auf der Couch. Erst, als ich richtig müde wurde, hatte sich Dustin entschieden mir doch etwas von seinen Gedanken mitzuteilen.
„Schatz, ich muss dich etwas fragen.“
Bei diesem Satz war mir sofort klar, dass ich jetzt aufpassen musste, was ich antworte. Auch wenn ich bereits hundemüde war.
„Was gibt es denn?“
„Versprichst du mir, nicht beleidigt oder sauer zu sein?“
Auch das hatte ich schon so oft gehört und manchmal nervte es mich nur noch. Er sollte wirklich mittlerweile wissen, dass ich ihm gegenüber nicht wirklich sauer werden konnte.
„Ja, versprochen. Was liegt dir auf der Seele? Ich habe es schon den ganzen Tag gespürt, dass du über etwas nachdenkst.“
„Ich habe Angst. Angst davor, mit dir zu schlafen. Ich …, ich weiß, dass du es gerne möchtest, aber ich … habe einfach Angst davor. Es hat nichts damit zu tun, dass ich dich nicht liebe, es ist einfach so, dass ich das noch nie gemacht habe und …“
Das war es also. Meine Güte, warum macht er sich das immer so schwer. Ich legte meinen Arm um ihn und spürte, dass er bereits zitterte.
„Schatz, ich verstehe deine Angst und es ist auch vollkommen in Ordnung, wenn du noch nicht bereit bist. Du musst es doch nur sagen. Wenn ich dir meinen Wunsch sage, musst du mir den nicht sofort erfüllen.“
Er traute sich nicht mehr, darauf etwas zu sagen, er nickte nur. Ich zog ihn ganz eng an mich heran und wir blieben noch eine ganze Weile schweigend auf der Couch sitzend. Erst, als mir fast die Augen zu fielen, fragte ich:
„Kommst du mit ins Bett oder möchtest du noch etwas Fernsehen schauen? Ich bin so müde, dass ich hier gleich einschlafe.“
Seine Antwort war wieder für mich eine Überraschung. Er gab mir nur einen Kuss und machte den Fernseher aus. So gingen wir gemeinsam nach einem ereignisreichen Tag schlafen. - Leider gingen mir noch einige Gedanken durch den Kopf und so konnte ich trotz meiner Müdigkeit nicht einschlafen.
Es machte mir zu schaffen, dass mein Freund immer noch so große Schwierigkeiten hatte, mit mir über Probleme zu reden, die nur uns beide betrafen. Dazu fand ich allerdings keine befriedigende Antwort, aber schlief dann schließlich doch bald ein.
Der nächste Tag stand ganz im Zeichen des bevorstehenden Gespräches am Abend. In der Schule spekulierten Dustin und ich über die möglichen Veränderungen.
„Hoffentlich ist nicht ein Trainerwechsel die Veränderung. Chris hat doch mal gesagt, dass er nur eine C-Lizenz hat. Vielleicht reicht das Jan ja nicht mehr, um uns bei allen Turnieren zu betreuen.“
Ich war total überrascht über diese Vermutung.
„Wie kommst du ausgerechnet auf diesen Gedanken? Das hätte Chris uns doch schon längst gesagt. Nein, ganz sicher nicht. Es ist etwas anderes. Vielleicht bekommen wir noch einen neuen Spieler dazu oder wir spielen mehr größere Turniere. Aber Chris wird uns weiterhin trainieren und betreuen. Ganz sicher.“
„Hoffentlich, ich möchte nicht schon wieder einen Wechsel haben, gerade wo wir so gut sind.“
Wir trennten uns nach der Pause wieder und jeder ging in seinen Unterricht. Aber irgendwie fehlte mir heute die Konzentration. Ich war müde und mir taten die Beine von gestern noch weh. Ich spürte die höhere Belastung und machte mir Gedanken darüber. War ich überhaupt in der Lage, diese Belastungen auf Dauer zu halten oder würde mir mein Körper Grenzen aufzeigen?
Jedenfalls war der Schultag heute nicht meiner. Dazu gab es auch noch einen ganzen Berg an Hausaufgaben und ich hatte überdies noch einen Termin für die Nachhilfe mit Franks kleinem Bruder. Also volles Programm. Das normale Training stand natürlich auch an. Heute würde also ein sehr langer Tag werden.
Dustin war bereits zu Hause, als ich unsere WG betrat. Er hatte sich mit Martina dem Mittagessen gewidmet, also den Vorbereitungen dazu, nicht dem Essen. Es roch wie immer sehr lecker. Was mich allerdings erstaunte, Carlo saß ebenfalls mit in der Küche und half. Er hatte keine Krücken mehr.
„Hallo zusammen“, sagte ich, als ich die Küche betrat.
Dustin freute sich sehr, als er mich sah und gab mir zur Begrüßung einen Kuss.
Martina lachte und Carlo maulte: „Warum bekomme ich eigentlich nie einen Kuss zur Begrüßung? Das ist ungerecht.“
Dustin schaute mich grinsend an und zwinkerte mir zu. Mir ging spontan ein genialer Gedanke durch den Kopf, drehte mich zu Carlo um, umarmte ihn und gab ihm auch einen Kuss auf die Wange.
„Hallo Carlo“, sagte ich dann noch.
Martina und Dustin brachen in schallendes Gelächter aus. Carlo war rot wie eine Tomate, fing dann aber auch an zu lachen.
„Überlege dir vorher, worum du wann bittest, du könntest es bekommen“, sagte Martina nur.
Carlo schüttelte den Kopf und antwortete sehr locker. „Ok, ok. Aber so schlecht fühlte sich das gar nicht an. Könnte mich daran gewöhnen.“
„Dann musst du dir aber jemand anderes suchen. Fynn ist mein Kussspender.“
Dustin nahm mich dann ganz fest in die Arme und küsste mich erneut. Wieder mussten alle lachen. So eine Stimmung tat nach einem harten Schultag richtig gut.
„So, genug herumgealbert. Was gibt es leckeres zu essen?“
Ich schaute auf den Herd und in den Ofen. Heute ging es uns wieder richtig gut. Cordon bleu stand auf dem Speiseplan. Mit Salat und Pasta.
Wir saßen gut gesättigt eine halbe Stunde später am Tisch und jeder hatte sein Programm mit Martina besprochen. Carlo ging zu Charles und Kolja in die Reha. Also auch da ging es voran.
„Kannst du eigentlich schon wieder richtig gehen, so ganz ohne Krücken?“, fragte ich Carlo.
„Nein, draußen soll ich sie noch benutzen. Aber im Haus soll ich wieder ohne laufen.“
„Und klappt das schon ohne Schmerzen?“
„Nein, nicht immer. Manchmal passe ich nicht richtig auf, dann tut es noch weh.“
„Na, aber es ist doch gut, dass es vorwärts geht. Bald kannst du bestimmt wieder mit dem Training beginnen.“
„Ich hoffe es. So langsam nervt es nur noch. Ihr macht hier die große Karriere und ich muss zuschauen.“
„Geduld, du wirst das schnell wieder aufholen. Burghard wird dir sicher ein spezielles Programm machen. Aber du musst erst richtig gesund werden.“
Damit war meine Zeit auch schon abgelaufen. Ich musste mit den Hausaufgaben beginnen, sonst würde ich nie rechtzeitig fertig werden. Ich bat Martina, mich heute von der Küchenarbeit zu befreien. Da ich gute Gründe hatte, war das auch kein Problem und somit machte ich mich auf, der Schule gerecht zu werden.
Zwei Stunden später waren wir auf dem Weg zum Training. Chris wartete heute schon auf der Terrasse auf uns.
Chris: Eine Überraschung und die Zukunft wird spannend
„Hallo Jungs, wie ist die Lage?“
„Bis auf zu wenig Zeit für zu viele Termine geht es uns gut.“
Das konnte ich gut nachvollziehen.
„Ok, manchmal ist es echt viel, was ihr so auf dem Plan habt. Heute dann noch die Besprechung. Dafür hab ich eine kleine Überraschung für das Training heute. Maxi bringt einen Freund aus der Schule mit. Der spielt auch schon sehr lange Tennis und ist nicht schlecht. Also wird heute mal nur Matchtraining gemacht.“
Fynns Gesicht wurde gleich wieder freundlicher und er lachte sogar.
„Dann ab mit euch in die Umkleide. Dustin, kannst du bitte noch einen Augenblick hier bleiben?“
„Klar, was liegt denn an?“
„Ich habe eine Email von deinem Onkel erhalten. Er kommt wieder zurück nach Deutschland.“
„Was? Echt? Das ist ja cool. Ich habe ihn oft vermisst. Hat er dir gesagt, wann?“
„Jap, Ende des Jahres. Ab Januar arbeitet er wieder in Deutschland.“
Dustin schien enttäuscht zu sein, dass es noch so lange dauerte.
„Warum schreibt er eigentlich dir und nicht mir?“
„Ich nehme an, weil er dich nicht unnötig beunruhigen möchte und er weiß, wie ungeduldig du sein kannst.“
Dabei zwinkerte ich ihm zu und er grinste.
„Na gut, akzeptiert. Aber ich bin doch längst nicht mehr so ungeduldig wie früher, oder nicht?“
„Das weiß er aber nicht. Es gibt aber noch eine Überraschung. Er wird morgen hier sein. Er möchte mit euch zu Fynn nach Hause fahren und dort einen Besuch machen.“
„Äh, wie kommt das denn jetzt so plötzlich?“
„Er hat beruflich in Deutschland zu tun und morgen ist bei ihm ein Termin ausgefallen. Deshalb hat er mich gefragt, ob ich euch für morgen frei geben kann. Wenn du einverstanden bist, dann gebe ich euch frei. Das wollte ich aber erst mit dir alleine klären.“
„Weiß denn Fynns Mutter schon Bescheid?“
„Davon gehe ich mal aus, dass sich dein Onkel darum gekümmert hat. Was meinst du, soll ich euch morgen frei geben oder wollt ihr lieber trainieren?“
Er lächelte und entspannte sich.
„Ich freu mich echt auf Frank. Er hat sich nur ganz selten bei mir gemeldet. Das wäre echt cool, wenn das gehen würde.“
„Kein Problem. Ihr arbeitet so hart und ich weiß, dass ihr dadurch keinen Nachteil für Berlin haben werdet.“
„Berlin?“, fragte Dustin verdutzt.
„Ja, aber das erkläre ich heute Abend. Sonst muss ich alles doppelt erzählen. Also ab in die Umkleide mit dir und bis gleich auf dem Platz.“
Ich machte mich auf den Weg zum Trainingsplatz und dort wartete Maxi bereits mit seinem Freund.
„Hallo Maxi, und wer bist du?“, fragte ich seinen Freund.
„Hallo, ich bin Mario. Maxi hatte mich für heute eingeladen. Meine Eltern sind zu einer Beerdigung nach Süddeutschland gefahren. Da hat Maxi gesagt, ich könnte bei ihm bleiben.“
„Hast du das mit Martina abgeklärt?“, fragte ich verwundert.
„Klar, denkst du ich will mit Martina Stress haben? Ich heiße nicht Tim.“
„Guter Konter. Gefällt mir.“
„Ok, Mario. Dann macht euch ruhig schon warm. Die anderen beiden sind gleich da. Ich habe sie eben etwas aufgehalten.“
Die Jungs spielten richtig gut und die Stimmung war bestens. Dennoch ging der nötige Ernst nicht verloren. Mir imponierte ihre schon fast professionelle Einstellung. Ich brauchte kaum einzugreifen. Ich machte ein paar Filmaufnahmen zur Videoanalyse, mehr nicht.
Nach einer Stunde tauchte Burghard bei uns am Platz auf. Er stellte sich zu mir an die Seite und schaute meinen Jungs zu. Wir belegten zwei Plätze und so stand ich momentan nur an dem vorderen Platz.
„Kommst du mit zwischen die Plätze. Ich will noch von Maxi ein paar Aufnahmen machen.“
Burghard und ich überquerten den vorderen Platz, als Dustin und Mario einen Ballwechsel beendet hatten.
Fynn und Maxi spielten ein richtig gutes Match. Es war nicht zu erkennen, dass es nur ein Training war. Das beeindruckte auch Burghard.
Wir redeten leise über die Situation mit Tim.
„Wie schaffst du das nur immer, die Jungs so im Griff zu haben?“
„Keine Ahnung“, antwortete ich, „ich versuche, sie davon zu überzeugen, dass ich das Beste für sie möchte und ihre Situation berücksichtige. Ich nehme sie ernst. Immer.“
„Das würde ich mir bei Tim auch mal wünschen. Aber momentan gibt es eigentlich jedes mal Stress, weil er nicht einsieht, dass ich ansage, was zu tun ist.“
„Ich habe mir ja das eine oder andere angesehen. Ich habe eine Idee, wie du vielleicht besser mit ihm umgehen kannst. Momentan habe ich den Eindruck, dass du immer mehr Druck ausübst und ihn zwingen willst. Er hingegen geht immer mehr auf Abwehrhaltung. So werdet ihr nicht mehr viel miteinander reden können. Das ist aber Bedingung, sonst kann er ja nicht verstehen, was du eigentlich von ihm willst.“
„Soll ich einfach nachgeben? Dann denkt er doch erst recht, dass er der Größte ist.“
„Nein, nicht nachgeben, aber einen Schritt zurück machen und etwas auf Abstand gehen. Er fühlt sich doch von dir sofort angegriffen. Auch wenn wir beide wissen, dass es nicht so ist. Er empfindet das so.“
„Hm, ok. Was schlägst du vor?“
„Ihr seht euch immer nur auf dem Platz als Trainer und Spieler, oder?“
„Äh, ja. Sicher, ich bin ja nicht sein Vater. In der WG ist Martina für ihn verantwortlich. Sie hat mit ihm übrigens auch so ihre Probleme.“
„Ich weiß, wir haben schon mehrfach darüber gesprochen.“
„Mal eine Frage, du hörst dich so an, als ob du keine Probleme mit ihm hast. Oder täuscht das?“
Ich musste lächeln.
„Keine Probleme wäre sicher falsch, aber nichts, was ich ungewöhnlich finde. Er ist mitten in der Pubertät und ohne Eltern hier. Er braucht Reibungspunkte und da sind wir Trainer natürlich willkommene Ziele. Ich biete ihm einfach kein Angriffsziel. Ich sage ganz deutlich, bis hier und keinen Zentimeter weiter. Schon bevor er anfängt zu provozieren. Klare Linien und schnelle Reglementierungen. Er weiß sofort, jetzt wird es eng.“
„Also du denkst, wir sollten weiter mit ihm zusammenarbeiten?“
„Ja, aber vielleicht unter anderen Bedingungen. Er muss spüren, dass er so nicht mehr lange hier sein kann. Das ist für ein Team nicht zu stemmen auf Dauer. Er muss merken, dass es anders mehr Spaß macht.“
„Hm, ok. Was schlägst du konkret vor? Wie soll ich mich verhalten?“
„Geh einfach mal etwas auf Abstand. Lass ihn in Berlin mal laufen und lass uns schauen, wo er hinläuft. Er wird bei meinen Jungs sehen, dass sie viel besser geworden sind und dennoch ganz viel Spaß haben. Wenn er wirklich besser werden will und immer noch die Einstellung hat, wird er sich das anschauen. Wenn nicht, wird er ausbrechen und komplett abdriften. Dann müssen wir sicher neu überlegen, aber ich glaube, er wird sich an meinen Jungs orientieren. Vor allem auch, weil Carlo bei Maxi, Dustin und Fynn so akzeptiert ist.“
„Ok, finde ich interessant, deinen Ansatz. Ich fänd es nämlich schade, wenn er sein Talent so wegwerfen würde.“
„Ja, absolut. - Was ich auch etwas schwierig finde, er trainiert sowohl bei Thomas als auch bei dir. Da sind ihm natürlich Tür und Tor geöffnet, euch auszutricksen. Vielleicht sollte er mal eine Zeit nur noch bei einem von euch trainieren und der ist dann auch der Ansprechpartner.“
„Ok, da müsste ich mit Thorsten mal sprechen, wie das organisatorisch zu machen ist. Du fährst ja mit nach Berlin. Da sehen wir ja dann, wie er Verantwortung zeigt.“
„Genau, da ...“
In diesem Moment hörte ich nur noch ein lautes „Achtung“ und spürte im gleichen Moment einen Schlag an der Schläfe. Danach wurde es dunkel.
Als ich die ersten Dinge wieder wahrnehmen konnte, schaute ich in zwei sehr besorgte Gesichter, die sich über mich beugten. Ich lag auf dem Boden.
„Da, er wacht wieder auf.“
Eine Stimme, die sehr weit weg war.
Einige Sekunden später fühlte ich mich schon viel besser und die Lebensgeister kehrten in meinen Körper zurück.
„Was ist passiert? Ist eine Dampflok über mich hinweg gefahren?“
„Ha, er macht schon wieder Scherze. Das ist ein gutes Zeichen.“
Maxi half mir, vom Boden aufzustehen und obwohl mir noch etwas schwindelig war und ich Kopfweh hatte, ging es wieder besser.
Um mich herum hatte sich ein kleiner Kreis gebildet und alles bekannte Gesichter. Maxi, Fynn, Dustin, Burghard und auch Mario schauten mich besorgt an.
„Kann mir einer erklären was gerade passiert ist?“
„Aber ja“, grinste Burghard.
Ich schaute ihn fragend an und er zeigte auf Mario.
„Er ist der Verursacher. Er hat dich mit dem Ball hier umgehauen.“
Dabei hielt er einen Tennisball in der Hand und Mario bekam eine rote Gesichtsfarbe.
„Ähm, sorry. Aber ich habe einen Ball nicht sauber getroffen und der hat dich am Kopf getroffen. Ich habe zwar noch „Achtung“ gerufen, aber der Ball war zu schnell.“
Dustin und Fynn waren besorgt, denn sie schauten gar nicht so gut aus. Erst als sie merkten, dass bei mir alles in Ordnung war, lächelten sie wieder.
„Ok, dann kann es ja weitergehen. Ich hatte mich schon gefragt, was mich so umgehauen hat. Ich vermute Dustin hat zu hart aufgeschlagen und du warst zu spät.“
Dabei musste ich lachen, denn mittlerweile ging es mir wieder gut und die Jungs sollten sich nicht zu sehr aufregen. Das konnte schon mal passieren, dass ein Querschläger kam. Ich stand halt mit dem Rücken zu ihnen und konnte den Ball nicht kommen sehen.
„Es tut mir wirklich leid, es ging alles so schnell“, sagte Mario sehr leise.
„Mach dir keinen Kopf. Es ist ja alles wieder in Ordnung. Außerdem hättest du vermutlich mit den Jungs richtig Ärger bekommen, wenn ich morgen nicht mitfahren kann.“
„Auf jeden Fall. Das ginge überhaupt nicht. Schließlich wollen wir Meister werden. Zumindest in der Teamwertung“, grinste Maxi schon wieder.
Dustin und Fynn waren deutlich ruhiger. Ich zwinkerte ihnen zu und schickte sie wieder auf den Platz.
„Los, spielt noch ein wenig weiter. Ich möchte noch ein paar schöne Sachen sehen. So hören wir nicht auf.“
Zwei Stunden später saß ich vor meinem Laptop und studierte erneut den Turnierplan. Das war schon eine Herausforderung für uns. Allerdings war ich mir auch sicher, es würde die Jungs enorm weiterbringen. Entweder sie würden hier den Einstieg in den Profisport schaffen oder wir wüssten, dass es vermutlich nicht reichen würde, ein Profispieler zu werden. Thorsten hatte deshalb in den Konferenzraum im Sport-Hotel geladen.
Ich schaute auf die Uhr und hatte noch zehn Minuten Zeit, bevor ich aufbrechen musste. Trotzdem wollte ich jetzt schon aufbrechen. Irgendwie verspürte ich eine Unruhe in mir. Auch wenn ich es eigentlich nicht glauben wollte, aber ich war etwas nervös. So nahm ich meinen Helm, Jacke und Rucksack und schwang mich auf die Panigale.
Auf dem Gelände des Gerry-Weber-Stadions war kein Verkehr und dort hatten nur Teammitglieder und Mitarbeiter Zutritt. Ich wollte auf dem Gelände dort ein paar Beschleunigungsübungen zu machen, bevor ich zum Hotel fuhr. Das beruhigte mich wieder. Es war einfach unfassbar, welche Kraft dieses Biest entwickelte. Als ich vor dem Hotel den Motor abstellte, stand Thorsten bereits grinsend auf der Treppe.
„Na, hast du deinem Biest noch mal die Sporen gegeben?“
„Hi Thorsten. Ja, ich musste meine Nervosität etwas abbauen.“
Er lachte und sagte: „Ja, das war nicht zu überhören. Also dezent ist anders.“
„Aber es macht Spaß und manchmal muss ich das haben. Erst recht, wenn ich mal wieder Zeit habe, auf die Nordschleife zu fahren.“
„Du fährst mit dem Motorrad auf der Rennstrecke?“
„Ja, ab und zu. Einmal im Jahr versuche ich das hinzubekommen.“
„Hast du nicht Angst, es könnte etwas passieren?“
„Nein, dort eigentlich nicht. Im Straßenverkehr ist es auf dem Motorrad viel gefährlicher. Aber ich fahre dort auch nicht am Limit. Dennoch, es macht Spaß, wenn du nicht auf den anderen Verkehr achten musst.“
Mittlerweile waren wir bereits ins Hotel gegangen und auf dem Weg in den Besprechungsraum.
„Thorsten, da taucht bei mir eine Frage auf. Alle Trainer sind doch oft mit unseren Spielern im Auto unterwegs. Macht ihr eigentlich auch Fahrertrainings? So ein Sicherheitsfahrtraining würde doch sinnvoll sein.“
„Äh, da erwischt du mich auf dem falschen Fuß. Darüber haben wir noch nie nachgedacht. Dein Hinweis ist aber berechtigt. Ich finde das eine gute Idee. Hast du vielleicht sogar Verbindungen, die du nutzen kannst? Ich würde das gerne im Team ansprechen. Was kostet so etwas denn?“
„Das kommt drauf an, was man machen möchte und in welchem Umfang. Allerdings honorieren die Versicherungen das auch mit günstigeren Prämien. Ich mache das mindestens alle zwei Jahre einmal.“
„Ich werde das besprechen. Finde das aber wirklich eine gute Idee.“
Thorsten betrat den Besprechungsraum und ich folgte ihm. Wir legten unsere Taschen bzw. Rucksack ab und warteten auf die anderen.
Wenige Minuten später tauchten Burghard und Thomas auf. Christian folgte und damit waren wir vom Team zumindest komplett. Hatte ich jedenfalls so gedacht.
Christian begrüßte mich und sagte: „Wie immer ist dein Bruder der letzte, der kommt. Naja, ein paar Minuten hat er ja noch Zeit.“
„Wie? Jan kommt auch? Ich dachte, er ist unterwegs mit Gilles.“
„Ja, sie spielen gerade in Montpellier ein Turnier. Er wollte aber unbedingt bei dieser Besprechung dabei sein. Deshalb ist er heute Mittag ins Flugzeug und her geflogen.“
Oha, das bedeutete, dass dieses Meeting wohl doch wichtiger war, als Thorsten mir mitgeteilt hatte. Jan war nur bei wirklich wichtigen Entscheidungen persönlich anwesend. Jetzt stieg meine Nervosität natürlich erst richtig an.
Und dann kam mein Bruder durch die Tür. Irgendwie kam ich mir komisch vor. Jan schaute in den Raum, begrüßte alle mit einem allgemeinen „Hallo“ und kam direkt auf mich zu.
„Hallo Bruder. Na, wie geht es dir? Läuft ja gut mit deinen drei Jungs.“
„Hi Jan. Danke, wir bemühen uns jedenfalls.“
„Na komm, die Ergebnisse sind klasse und wenn ich sehe, wie groß die Schritte sind, dann kannst du nicht so schlechte Arbeit machen. Ich habe die Berichte gelesen und finde es gut, wie du hier Ideen einbringst und auch neue Wege vorschlägst und durchsetzt.“
Ein solches Lob von meinem Bruder hatte ich schon Ewigkeiten nicht mehr vernommen. Entsprechend seltsam kam ich mir vor. Ich hatte das Gefühl, irgendwo stand die versteckte Kamera oder so. Bevor wir weitersprechen konnten, betrat Maxi mit seinen Eltern den Raum. Diesmal war auch seine Mutter wieder dabei. Das freute mich sehr. Sie sah zwar immer noch blass aus, aber sie strahlte wieder ihre Lebendigkeit aus. Maxi schien über Jans Anwesenheit genauso irritiert zu sein wie ich zuvor.
„Hi Chris, was macht der Kopf? Wieder alles in Ordnung?“, fragte mich Maxi.
Seine Eltern stutzten und Stefan fragte direkt nach: „Was ist denn mit deinem Kopf? War etwas nicht in Ordnung?“
„Passt schon. Mario, also Maxis Freund, hatte mich im Training etwas unglücklich am Kopf getroffen.“
„Ach, da hat Maxi ja gar nichts von erzählt.“
Dabei schaute er seinen Sohn an und Maxi wurde leicht rot. Ich wollte das jetzt nicht weiter vertiefen.
„Ist eigentlich auch nicht der Rede wert. Es war ein Versehen und ich stand halt auf dem Platz und da hat mich der Ball an der Schläfe getroffen. Jetzt ist aber wieder alles gut.“
Glücklicherweise traf jetzt Fynns Familie mit Dustin und Fynn ein. Damit wurde es lebendiger im Raum. Das lag vielleicht auch daran, dass sich die drei großen Jungs sofort zusammenfanden und lebhaft zu diskutieren begannen.
Fynns Vater war tatsächlich mitgekommen und er sah deutlich besser aus als bei meinem letzten Treffen mit ihm. Jan begrüßte alle per Handschlag und dann bat Thorsten darum, Platz zu nehmen.
„Ich sage auch noch einmal allen ein herzliches Willkommen. Vielen Dank für das vollständige Erscheinen. Der Anlass ist die Änderung der Planung. Aufgrund der sehr positiven Entwicklung haben wir uns eine andere Turnier- und Trainingsplanung überlegt und möchten diese mit Ihnen besprechen und abstimmen.“
Thorsten nahm nun den Beamer in Betrieb und begann, unsere Überlegungen zu präsentieren. Nach wenigen Minuten baute sich allerdings eine gewisse Unruhe bei den drei Jungs auf.
„Was habt ihr für ein Problem?“, fragte ich deshalb in die Runde und Thorsten hörte für einen Moment auf zu reden. Alle Augen richteten sich auf Fynn.
„Ihr wollt uns aber nicht Chris als Trainer wegnehmen, oder?“
Thorsten und ich schauten uns an und bevor Thorsten reagieren konnte, mischte sich Jan jetzt ein.
„Wie kommt ihr darauf? Davon war bislang doch gar nicht die Rede.“
Fynn fragte nach: „Nun, es hieß ja immer, dass das Team im Profi-Bereich nur A-Lizenz Trainer einsetzen würde. Chris ist aber kein A-Lizenztrainer.“
Thorsten fing an zu grinsen und Jan hatte verstanden, um was es den Jungs ging. Allerdings wusste ich genau, dass er die Jungs jetzt aus der Reserve locken würde.
„Nun, das ist korrekt. Also wollt ihr einen A-Lizenztrainer anstelle von Chris? Oder wie habe ich den Einwand zu verstehen.“
„Nein!“, kam unisono sofort als Antwort.
Maxi setzte sogar einen oben drauf.
„Diese Sache mache ich nur mit, wenn Chris unser Coach bleibt. Wir haben so viel von Chris gelernt und ich glaube auch sagen zu können, ohne Chris wären wir nicht in so kurzer Zeit dahin gekommen, wo wir heute sind.“
„Soll das eine Drohung sein?“, fragte Jan wieder provokant.
Oha, das würde nicht gut ausgehen. Ich kannte vor allem Dustin in so einer Situation. Hoffentlich würde das jetzt nicht eskalieren, nur weil mein Bruder wieder mal seine Position ausloten wollte.
„Nein, aber ich habe keine Lust noch einen Trainerwechsel machen zu müssen, vor allem, wo wir gerade gemeinsam so erfolgreich vorankommen. Ich schließe mich also Maxi an. Diese Änderung nur mit Chris als Trainer.“
„Ok“, erwiderte Jan, „damit sind ja die Fronten geklärt. Leute, habt ihr jetzt ernsthaft geglaubt, wir würden das machen? Chris hat euch gerade dahin gebracht, wo wir noch gar nicht gedacht hatten, dass ihr dorthin kommen könnt. Also, keine Panik und lasst Thorsten mal seine Vorstellungen präsentieren. Dann reden wir weiter, ok?“
Thorsten zwinkerte mir zu und fuhr mit seiner Präsentation fort.
„Diese Besprechung ist notwendig geworden, weil wir der Meinung sind, dass der besprochene Plan für Ihre Kinder nicht mehr sinnvoll erscheint. Wir haben uns daher, nach der Schilderung von Chris über die Entwicklung, entschlossen, eine neue Planung zu erstellen.“
Jetzt tauchte auf der Leinwand ein Schaubild auf, dass die Turnierplanung der nächsten Wochen zeigte.
Für einen Moment herrschte Stille, bis zu dem Augenblick wo die Jungs realisierten was alles auf dem Plan stand. Sofort begann ein unruhiges Gemurmel. Jan und ich schauten uns an und Jan grinste. Thorsten fuhr mit seinen Ausführungen fort:
„Bevor ich auf Ihre Fragen antworten werde, möchte ich das kurz erläutern. Die drei Jungs haben einen so schnellen und großen Schritt getan, dass wir uns entschlossen haben, ihnen einige Turniere auf der Future- und Challenger-Tour zu ermöglichen. Das sind alles Turniere, die für die Weltrangliste gewertet werden. Also die unterste Ebene der Profiturniere. Dort sollen die drei die Möglichkeit bekommen, Erfahrungen zu sammeln und ihre Grenzen ausloten. Wir haben keinerlei Erwartungen an die Ergebnisse und werden uns im Anschluss erneut hier treffen und das weitere Vorgehen besprechen. Wir sind davon überzeugt, dass sie dadurch die Möglichkeit haben, eine erfolgreiche Karriere zu starten.“
Maxis Eltern studierten den Turnierplan und Stefan blickte zu mir und nickte anerkennend. Fynns Eltern waren eher ratlos. Was mich aber nicht überraschte. Maxis Eltern kannten sich gut in der Tennisszene aus, im Gegensatz zu Fynns Eltern.
„Wie wird das mit der Schule zu vereinbaren sein?“, fragte Herr Grehl.
„Sie werden weiterhin zur Schule gehen wie bislang auch. Nur wird die Schule sie häufiger beurlauben und die Jungs müssen unterwegs den Stoff bearbeiten und in erster Linie ihre Klausuren schreiben. Die Schule kooperiert mit uns seit vielen Jahren und wir haben gute Erfahrungen damit gemacht. Das größte Risiko wäre, ein Schuljahr zu verlieren. Allerdings sehe ich das bei unseren drei Kandidaten momentan überhaupt nicht. Sie haben gute Noten und auch Dustin hat seinen Schnitt deutlich verbessert.“
Für mich war es besonders spannend, die Reaktionen der Jungs zu beobachten. Fynn hatte große Augen und staunte über unseren Plan, Maxi schien eher überrascht und Dustin freute sich einfach über unsere Einschätzung. Ich hatte das Gefühl, er hatte die Ausmaße dieses Planes noch nicht richtig begriffen.
„Haben Sie weitere Fragen, dann sollten wir darüber jetzt sprechen.“
Fynns Mutter meldete sich.
„Ja, wie sieht das mit der Finanzierung dieser neuen Planung aus? Wir haben ja einen Teil des Trainings bezahlt, aber diese vielen Reisen und die Hotels kosten ja viel mehr, als wir bezahlt haben und als wir uns vermutlich auch leisten können. Wie stellen Sie sich da unseren Anteil vor?“
Jetzt übernahm Christian, unser Finanz- und Rechtsexperte.
„Für Sie ändert sich finanziell erst einmal gar nichts. Das Team wird dieses Projekt über Sponsoren und die möglichen Preisgelder abdecken. Sollte einer der drei dann eine Profilaufbahn einschlagen, werden wir die nötigen Anpassungen dann besprechen. Die drei sollen sich ausschließlich auf die Schule und das Tennis konzentrieren können. Wir haben diese Idee und wir werden sie auch finanzieren.“
„Das heißt, wir bezahlen weiter unsere monatlichen Beträge wie bisher, nur die Jungs machen einen anderen Job. Und wer wird die Jungs auf ihren Reisen begleiten? Wir hatten ja eben schon die Diskussion mit Jan und ich möchte hier deutlich sagen, dieser Erfolg ist zu großen Anteilen Chris zu verdanken.“
„Das ist sicher richtig. Wir freuen uns auch, dass Jans Bruder hier so eingeschlagen ist. Er musste ja erst überzeugt werden, dass er der richtige für die drei Jungs ist. Wir wollen daran auch nichts ändern. Chris wird der verantwortliche Coach bleiben und auch alle Reisen begleiten. Er wird alle Schritte mit uns abstimmen und vor Ort die Entscheidungen treffen. Das bedeutet aber auch, dass sie für diese Zeit Chris eine Vollmacht erteilen müssten. Gerade bei den Auslandsreisen ist das wichtig. Keiner der Jungs ist bereits volljährig.“
Es herrschte eine Stille im Raum als Thorsten das gesagt hatte. Die Jungs spürten, dass hier heute eine Veränderung stattfand. Interessanterweise stellte ausgerechnet Fynns Vater jetzt eine Frage, mit der ich so nicht gerechnet hatte.
„Sehen Sie Probleme mit der Tatsache, dass Fynn und Dustin ein Paar sind? Homosexualität ist auch in der Tennisszene nicht unbedingt ein offenes Thema. Gerade im Herrenbereich.“
Fynn schaute seinen Vater mit großen Augen an und auch Dustin war sehr überrascht. Ich fand diese Frage hervorragend. So konnten wir offen diskutieren und die Position der Eltern dazu klar herausarbeiten. Ich war jetzt gefragt und bat um das Wort.
„Chris, du möchtest etwas dazu sagen?“
„Danke, ja. Ich finde die Frage von Herrn Grehl wirklich gut und berechtigt. Sicher ist es so, dass es meines Wissens noch keinen geouteten Spieler im Herrentennis gibt. Aber dann sind wir bald die ersten. Ein schwuler Coach mit zwei schwulen Spielern. Das ist doch mal etwas Neues auf der Tour.“
Als ich das gesagt hatte, spendete Maxi spontan Beifall und auch Jan fing an zu klatschen. Dabei lachte er mich an und Thorsten grinste. Bei den Eltern erntete das erst Staunen und Ratlosigkeit, aber dann auch große Zustimmung.
Ich hatte mich jetzt also vor den Eltern und dem Team offiziell geoutet. Es wurde Zeit. Ich fühlte mich wie befreit und beschloss, in Zukunft damit offener und freier umzugehen. Die Zeit des Versteckens war endgültig vorbei.
„Ihr habt das schon gewusst?“, fragte Fynns Mutter ihren Sohn.
„Natürlich, Mama. Chris hat uns das schon vor einiger Zeit gesagt. Wir sind ein tolles Team und gemeinsam werden wir das schon schaffen. Ich freue mich jedenfalls tierisch über diese Chance. Darf ich aber eine Frage an Jan stellen?“
„Du hast die größte Erfahrung auf der Profitour. Traust du uns das wirklich zu, dort bestehen zu können?“
Jan lächelte und gab eine klare Antwort.
„Ja. - Allerdings vor vier Wochen hätte ich mir das nicht vorstellen können. Chris hat mich aber total überzeugt mit eurer Entwicklung und der Art und Weise, wie ihr die gestellten Aufgaben gemeinsam bewältigt habt. Also von daher, ein absolutes und uneingeschränktes JA auf deine Frage.“
„Wenn ich das richtig sehe, geht das ja schon übermorgen mit den deutschen Junioren Meisterschaften los. Also heißt das auch, dass ihr ab morgen Abend für die nächsten Wochen wenig hier sein werdet?“
Frau Freise schien jetzt doch zu realisieren, dass ihr Sohn wenig zu Hause sein würde und auch im Ausland unterwegs sein wird.
„Das ist richtig, alle Tickets sind bereits gebucht und morgen Abend um sieben geht es mit dem Zug nach Berlin.“
Damit hatte Thorsten die Erkenntnis von Frau Freise bestätigt und löste nach einigen weiteren organisatorischen Fragen die Besprechung auf. Die Jungs hingegen stürmten auf mich zu.
„Man, Chris. Wann hast du davon erfahren?“
„Noch nicht lange her. Ich wusste auch erst seit zwei Tagen, was sich ändern sollte. Wie ist das für euch?“
„Cool, einfach mega. Ich hätte nie gedacht, dass wir das erreichen könnten. Der Plan sieht echt gut aus. Sogar zwei Turniere in England auf Rasen. Wow.“
Maxi war richtig euphorisch. Das hatte ich nicht oft bei ihm erlebt.
Dustin: Zweifel
Auch wenn sich alle auf dieses Abenteuer freuten. Ich bekam Zweifel. Zweifel, ob ich das ebenfalls schaffen würde. Besonders die Schule machte mir Sorgen. Ich hatte in den letzten Wochen immer wieder Lücken in meinem Wissen bemerkt. Die konnte ich zwar mit Fynn immer wieder schließen, aber es kostete mich viel zusätzliche Energie, über das normale Programm hinaus noch zu lernen.
Als Thorsten und Chris die neuen Pläne vorstellten, wurde mir deutlich bewusst, was wir schon erreicht hatten. Auch das Team hatte Vertrauen in unsere Fähigkeiten. Aber hatte ich auch Vertrauen in meine Fähigkeiten? Hier hatte ich meine Zweifel, ob ich dieser Sache gewachsen war.
Nun, ich wollte es aber versuchen und bislang hatte Chris mir immer gezeigt, dass vieles möglich ist, wenn man nur wirklich will und an sich glaubt.
Die Besprechung war zu Ende, Fynn und ich sprachen noch kurz mit Chris und Fynns Mutter fragte mich:
„Dustin, dein Onkel hat sich für Morgen angekündigt. Hast du mit Chris schon gesprochen?“
„Ja, er hat es mir ja mitgeteilt. Warum fragst du?“
Fynn schien überrascht. „Davon hast du mir ja noch gar nichts erzählt. Das ist ja cool.“
Das stimmte. Ich hatte einfach vergessen Fynn zu informieren. Es war zu viel anderes los.
„Ja, sorry. Ich habe in dem ganzen Trubel da nicht mehr dran gedacht. Chris hat es mir aber auch erst vorhin gesagt.“
„Ist ja schon etwas schade, dass ihr eigentlich gar nicht dabei seid. Erst habt ihr Training und abends geht es dann schon nach Berlin“, sagte Fynns Vater.
„Äh, Chris hat uns morgen frei gegeben. Wir können also nach der Schule mit Frank etwas unternehmen. Es geht dann ja erst abends nach Berlin. Das ist richtig.“
Fynns Vater lächelte und auch Fynn schien zufrieden, denn er umarmte mich und gab mir einen Kuss.
„Ich sollte dich als Manager einstellen. Du bist ein Schatz.“
„Hey, er soll Tennis spielen und nicht organisieren. Das ist mein Job.“
Ich hatte nicht mitbekommen, dass Chris zu uns gekommen war und alle fingen an zu lachen. Ich drehte mich zu Chris.
„Vielen Dank noch einmal für diese Überraschung und dein Angebot, uns morgen trainingsfrei zu geben.“
„Passt schon. Dein Onkel ist in letzter Zeit gar nicht hier gewesen, da wäre das echt blöd. Außerdem macht es eh keinen Sinn noch zu trainieren, wenn wir abends schon fahren.“
„So, haben wir alle Dinge besprochen?“, fragte Fynns Vater.
„Äh ja, ich denke schon, Papa. Warum fragst du?“
„Na, schau mal auf die Uhr. Ich würde gern nach Hause fahren. Ich muss morgen ja auch wieder in die Klinik zurück.“
Wir wollten uns von Chris verabschieden, aber da Fynns Vater noch einmal zu Jan, der mit Thorsten zusammen etwas besprach, ging, nutzten wir das, um Chris schnell noch zu fragen:
„Müssen wir für morgen eigentlich irgendetwas Besonderes mitnehmen? Ich war noch nie in Berlin.“
Chris lachte und antwortete: „Nein, alles wie bei einem normalen Turnier halt. Und macht euch morgen einen schönen Tag mit deinem Onkel und bestellt ihm bitte schöne Grüße.“
„Danke, das werde ich machen. Was machst du morgen mit deinem freien Tag. Training wird ja nicht stattfinden.“
„Ich habe vor, mit dem Motorrad eine Tour zu machen. Und ich werde jemanden überraschen, der damit noch nicht rechnet.“
Chris zwinkerte mir zu und ich wusste, er würde mir nicht mehr verraten. Fynns Vater kam zu uns zurück und was jetzt folgte, fand ich sehr schön.
„Haben Sie morgen Mittag schon etwas vor? Dustins Onkel hat gefragt, ob wir nicht gemeinsam zu Mittag essen können.“
„Oh, das ist nett. Ja, können wir gern machen. Es gibt nur ein Problem. Ich wollte eine Tour mit dem Motorrad machen und jemanden überraschen. Ich habe also nicht so ganz lange Zeit. Wann und wo soll ich denn sein?“
„Kommen Sie bitte um halb zwei bei uns zu Hause vorbei. Ich weiß auch noch nicht, wo uns Dustins Onkel hinführen möchte.“
Chris bestätigte das und endlich konnten wir nach Hause fahren. Wir verabschiedeten uns von Fynns Familie bis morgen, bestiegen unsere Räder und fuhren nach Hause. Auf dem Heimweg kamen die Gedanken zurück an die neue Situation. War das alles so richtig, was ich hier tat? Was wäre, wenn ich nicht so gut sein würde wie Fynn? Dieser Gedanke machte mir schon etwas Angst.
Etwas später waren wir damit beschäftigt, unsere Taschen für den nächsten Tag zu packen. Ich war gerade dabei, die Trainingsanzüge zusammenzulegen und in die Tasche zu stecken, als Fynn fragte:
„Was geht dir eigentlich schon die ganze Zeit durch den Kopf? Über was denkst du nach?“
Ich fühlte mich ertappt und schaute in die Augen meines Freundes.
„Versuch erst gar nicht, dich herauszureden. Ich bin nicht blöd und kenne dich lange genug. Also was ist los?“
„Naja, ich mache mir halt Gedanken über die Situation. Was ist, wenn ich das nicht schaffe und du dann allein unterwegs bist. Dann sehen wir uns doch nur noch selten. Ich habe Angst, dass ich dann wieder allein sein werde.“
„Spinnst du? Wer sagt denn, dass ich das schaffe? Mensch, Dustin, wir haben jetzt jeder die Möglichkeit bekommen, unsere Grenzen auszuloten. Was dabei herauskommt, weiß doch keiner im Voraus. Aber eines weiß ich ganz sicher: Allein wirst du nie wieder sein. Egal, wo wir gerade sind.“
Er umarmte mich und wir küssten uns. Es fühlte sich so gut an, zu spüren, dass Fynn bei mir war und ich eben nicht allein war.
Der heutige Tag versprach spannend zu werden. In der Schule stand eine Prüfung in Sport an und am Mittag kam mein Onkel Frank uns abholen.
Ich hatte den ganzen Schultag keine Zeit, mich mit Fynn zu treffen. Deshalb war ich sehr froh, dass mein Unterricht endlich vorbei war und ich unter der großen Linde auf Fynn warten konnte.
Dort hing ich meinen Gedanken nach, als ich plötzlich eine Stimme vernahm, die mir sehr vertraut war.
„Hallo Dustin, genießt du die Sonne?“
Ich schaute hoch und vor mir stand mein Onkel. Das war eine Überraschung.
„Frank? Was machst du denn hier? Woher wusstest du, dass wir uns immer hier treffen?“
Ich war so perplex, dass ich vergaß aufzustehen und meinen Onkel passend zu begrüßen.
„Na, was ist das denn für eine Begrüßung? Komm, steh bitte auf, ich möchte dich gern richtig begrüßen.“
Dabei lachte er. Genau, wie ich es in Erinnerung hatte. Ich sprang auf und wir umarmten uns. Lange. Er war genauso ergriffen wie ich. Wir hatten uns ja seit der Entscheidung nach Halle zu gehen, nicht mehr gesehen.
„Mensch, Dustin, ich freue mich wirklich, endlich mal wieder in Deutschland zu sein und dich wiederzusehen. Wie geht es dir?“
„Uns geht es gut. Es war die beste Entscheidung meines Lebens, nach Halle zu ziehen und nicht in die Hölle zurück zu müssen.“
Beim letzten Satz überkam mich ein kalter Schauer. Frank bemerkte das sofort und wechselte schnell das Thema.
„Nicht zurückschauen. Der Blick geht nach vorn. Wo ist denn Fynn? Ich dachte, ich könnte euch beide mitnehmen.“
„Er müsste jeden Moment kommen. Er hat noch etwas länger Unterricht. Woher kanntest du unseren Treffpunkt?“
„Na, ich hab halt gute Informanten. Fynns Mutter und Chris sind immer bestens informiert. Da war es nicht schwer, dass herauszufinden.“
Ich schaute meinen Onkel an und in mir war ein unglaublich großes Glücksgefühl. Endlich hatte ich wieder einen lieben und netten Menschen aus meiner Familie um mich. Er war der letzte, der übrig geblieben war und dem ich so viel zu verdanken hatte.
Er setzte sich zu mir auf die Bank, die Sonne schien und mich überkam ein nicht zu beschreibendes Glücksgefühl, als ich realisierte, dass Frank extra einen Umweg gemacht hatte, um mich zu besuchen. Er war ja nur für einen kurzen Besuch in Deutschland. Erst Ende des Jahres würde er wieder nach Deutschland ziehen.
„Ich freue mich wirklich ganz doll, dass du extra meinetwegen einen Umweg gemacht hast und glaube, Fynn wird sich ebenso freuen, dich zu sehen. Ach, schau mal, dort kommt er schon.“
Fynn kam aus dem Schulgebäude auf uns zu und hatte ein Lachen im Gesicht. Als er bei uns war, umarmte er dennoch mich zuerst und gab mir einen langen Kuss. Dann löste er sich von mir und begrüßte Frank herzlich.
„Das ist ja eine Überraschung. Woher wusstest du, dass wir uns immer hier treffen?“
Frank lachte und erklärte es Fynn genauso, wie mir kurz zuvor.
„Habt ihr noch etwas zu erledigen? Oder können wir von hier aus gleich zu Fynns Familie starten?“
Wir schauten ihn fragend an.
„Wir haben doch unsere Räder noch hier, die können wir nicht hier stehen lassen. Wir müssen erst zu uns nach Hause fahren.“
Wieder lachte Frank und erwiderte: „Nein, die Räder packen wir ins Auto und ich bringe euch später dann auch nach Hause. Los, lasst uns aufbrechen, Fynns Vater muss ja nach dem Essen wieder in die Klinik. Da ist die Zeit knapp.“
Ok, das war ein Argument, aber ich wunderte mich. Früher hatte er immer kleine Sportwagen. Wo hatte er jetzt einen Kombi her? Oder war das ein Leihwagen?
Wir holten unsere Räder und tatsächlich war Frank mit einem großen Skoda Superb Kombi gekommen. Die Räder passten ohne Probleme dort hinein. Lediglich die Vorderräder nahmen wir heraus, so konnte ein Sitz auf der Rückbank stehen bleiben.
Die Fahrt dauerte nur Minuten und schon standen wir vor Fynns Elternhaus.
Wir stiegen aus dem Auto und ich merkte es meinem Freund sofort an, er war angespannt. Es war das erste Mal seit unserem Einzug in Halle, dass er wieder hier war.
Frank hingegen nahm uns in die Arme und wir marschierten nebeneinander auf die Haustür zu. Fynn klingelte und schloss dann die Tür auf. In diesem Moment kam auch schon Christine aus dem Wohnzimmer und begrüßte uns mit einem Strahlen im Gesicht. Auch Patrick kam nach vorn, um uns zu begrüßen. Erst danach erschien auch Fynns Vater zur Begrüßung, die aber nicht weniger freundlich ausfiel. Er war nur etwas zurückhaltender. Christine übernahm die Führung durch das Haus für Frank und wir begleiteten sie dabei. Als wir im Garten angekommen waren, staunte ich nicht schlecht. Fynns Vater hatte kalte Getränke vorbereitet und wir nahmen auf der Terrasse Platz.
Frank erzählte von seinem Projekt, eine Fachklinik in den USA aufzubauen und dass er dort gut vorangekommen ist und jetzt zum Ende des Jahres wieder nach Deutschland zurückkehren könne. Bevor wir aber in längere Gespräche eintauchten, meinte Christine:
„Wie sieht das bei den Herrschaften aus? Sollen wir uns nicht langsam auf den Weg zum Essen machen? Wir kommen sonst zu spät.“
Das war ein guter Einwand, denn ich hatte Hunger. Frank war einverstanden und somit fuhren wir mit zwei Autos los. Fynn und ich bei Frank und Fynns Familie fuhr mit dem eigenen Auto hinter uns her.
„Was hast du eigentlich geplant? Wo fahren wir hin?“, fragte Fynn.
„Ich möchte mir einen Eindruck verschaffen, wie das jetzt bei euch aussieht und habe Chris ebenfalls eingeladen. Wir treffen uns im Sportpark-Hotel. Dort soll auch gegessen werden.“
Das war sehr nobel. Allerdings hätte ich mir das auch denken können, dass sich Frank alles genau erklären lassen wollte. Er hatte mich ja damals als einziger aus der Familie unterstützt. Dass er auch Chris eingeladen hat, fand ich klasse. Chris und er waren sich damals auch gleich sehr sympathisch gewesen und näher gekommen. Sie hatten gemeinsam den Plan ausgearbeitet.
Jetzt war ich auf den weiteren Verlauf des Tages sehr gespannt.
Chris: Treffen mit Frank und Überraschungstermin
Mein heutiges Programm war nicht weniger gefüllt und dies, obwohl ich heute den Jungs trainingsfrei gegeben hatte. Ich hatte mich mit Thorsten getroffen und noch ein paar Details für unsere Reise nach Berlin geklärt. Da ich mittags mit Dustins Onkel verabredet war, lohnte es sich für mich nicht, wieder nach Hause zu fahren. Ich beschloss schon einmal die Strecke für den Nachmittag herauszusuchen.
Ich saß also mit dem Laptop auf der Terrasse und war ziemlich vertieft. Das führte dazu, dass ich nicht bemerkte, wie Gerry Weber auf mich zugekommen war und mich ansprach.
„Hallo Chris, heute nicht mit den Jungs trainieren?“
„Oh, hallo Gerry. Ich habe dich gar nicht bemerkt. Nein, die Jungs haben heute frei. Dustins Onkel ist zu Besuch und wir treffen uns gleich im Sport-Park zum Essen.“
„Oh, das ist ja schön. Ist das der Onkel, der Dustin damals aufgenommen hatte, bevor er zu uns kam?“
„Ja, richtig. Er ist für ein Projekt im Ausland und kommt zurück nach Deutschland. Sag mal, möchtest du dich nicht setzen?“
Gerry setzte sich zu mir an den Tisch und bestellte sich einen Kaffee. Ich nahm einen Cappuccino und wir redeten noch eine ganze Weile über die Jungs und ihre Entwicklung. Ich war wirklich beeindruckt, wie gut er informiert war.
„Du engagierst dich immer noch genauso stark für die Jungs wie zu Beginn. Da hast du etwas von deinem Bruder. Er ist genauso zielstrebig wie du.“
Dieser Vergleich gefiel mir zwar nicht besonders, aber es war als Lob gemeint und er kannte ja meine Geschichte nicht.
„Nun, die Jungs arbeiten sehr gut und ich finde, wir haben die Aufgabe, ihnen dabei zu helfen. Gerade weil sie so talentiert sind.“
Wir saßen bereits schon etliche Minuten am Tisch und ich wunderte mich über Gerry. Normalerweise hatte er nie Zeit für solche spontanen Gespräche.
„Wir haben sicher damals die richtige Entscheidung getroffen. Das, was wir damals investiert haben, um die beiden aufzunehmen, hat sich längst bezahlt gemacht. Dustin hat eine Zukunft und auch Fynn scheint sich mit seiner Familie wieder zu finden. Das ist doch ein tolles Ergebnis. Dass sie auch noch für uns gute Ergebnisse bringen, ist nur die Konsequenz der guten Bedingungen und das wiederum ist dein Verdienst und deine Arbeit, die hier deutliche Früchte trägt. Thorsten hat mir viel berichtet über deine Veränderungen, auch im ganzen Team. Ich möchte mit dir und Thomas in der nächsten Zeit ein Gespräch führen. Kannst du dir dafür Zeit nehmen? Es soll um die kommende Bundesligasaison gehen.“
Das war jetzt auch für mich total überraschend, denn bislang hatte ich damit überhaupt nichts zu tun.
„Äh, wenn wir aus Berlin zurück sind, dann können wir das gerne machen. Ich schlage vor, ich melde mich von dort bei Thorsten und informiere ihn, wann wir zurück sein werden, um dann mit dir und Thomas einen Termin machen zu können.“
„Sehr schön. Dann wünsche ich euch viel Erfolg und wir sehen uns dann.“
Er stand auf und verabschiedete sich von mir. Ich blieb etwas ratlos am Tisch zurück, hatte aber leider keine Zeit mehr, lange darüber nachzudenken. Ich nahm meine Sachen, packte sie in meinen Schrank und nahm meine Motorradjacke und die beiden Helme. Mein Ziel sollte das Sport-Hotel werden.
Die Panigale stellte ich dort in der Tiefgarage ab und fuhr mit dem Lift nach oben. Ich sah bestimmt etwas unpassend gekleidet aus, als ich das Restaurant betrat. Es war immerhin ein Sternerestaurant. Das hatte mich allerdings noch nie wirklich interessiert, dass sich andere durch meinem Auftreten gestört fühlen könnten.
Ich war mittlerweile hier eine bekannte Person und entsprechend ging man miteinander um. Ich schaute einmal durch den Raum und erkannte, dass Fynn und Dustin noch nicht da waren. Also ging ich in die Lobby zurück und wartete dort in einem sehr bequemen Ledersessel auf sie. Es dauerte auch nicht lange und schon kam Leben in die Lobby. Die helle Stimme von Patrick war nicht zu überhören, als sie den großen Raum betraten. Durch den dicken Teppich wurde es aber gut gedämpft und entsprechend kehrte schnell wieder Ruhe ein. Ich stand aus dem Sessel auf und ging der Gruppe entgegen.
Fynn und Dustin begrüßten mich mit einer festen Umarmung. Den anderen gab ich die Hand und auch Patrick wurde jetzt ruhiger.
„Hallo zusammen“, sagte ich, „ich freue mich über eure Einladung und bin sehr gespannt, was Frank alles zu erzählen hat.“
Frank begann zu lachen und erwiderte: „Na, die Freude und Neugier ist ganz auf meiner Seite. Du sollst mir ja auch etwas erzählen. Ich bin gespannt, was sich so alles im Tennis getan hat.“
Sogar Fynns Vater lachte nach dieser Antwort und ich musste feststellen, Fynns Mutter war viel entspannter als noch vor einigen Wochen. Patrick war wie immer, aber Fynn hatte sich am deutlichsten verändert. Er war nicht mehr so sehr auf Abstand zu seinem Vater bedacht. Sie redeten noch nicht viel miteinander, aber sie standen wieder nebeneinander. Das war doch auffällig und gefiel mir gut.
„So, bevor die Jungs einen Schwächeanfall bekommen und nicht nach Berlin fahren können, sollten wir uns zum Essen begeben.“
Frank hatte seinen Humor nicht verloren. Wieder fiel mir auf, dass wir uns in einigen Dingen sehr ähnlich waren.
Es dauerte nicht lange und alle saßen an einem großen Tisch, der extra für uns vorbereitet worden war. Nachdem wir die Getränke bestellt hatten, bekamen wir auch jeder eine in Leder gebundene Karte. Das war hier schon sehr edel.
Als die Bedienung kam, um die Bestellungen aufzunehmen, gab ausgerechnet mein Handy einen Ton von sich. Ich hatte vergessen, es auf lautlos zu stellen. Ich nahm es aus der Tasche, schaute auf das Display und gab meine Bestellung auf. Anschließend stellte ich es auf lautlos. Es war eine Email eingegangen aus Berlin. Ich hatte Joachim geschrieben, dass ich nach Berlin komme. Auch er war einer der Nickstories Freunde. Wir schrieben uns schon viele Monate regelmäßig und er bekam auch meine Stories in der Regel vorab zum Lesen. Ich hatte mir schon oft gewünscht, ihn mal in Berlin persönlich kennenzulernen. Vielleicht hatte er ja Zeit und wir konnten uns in der Woche dort treffen.
Patrick beschwerte sich natürlich sofort, weil ich am Tisch mein Handy benutzte, um die Mail zu lesen. Er hatte von seiner Mutter das grundsätzliche Verbot, damit beim Essen zu hantieren.
„Das ist doch total fies. Ich darf es nicht mal auf den Tisch legen und Chris schreibt sogar am Tisch.“
Ich schaute von meinem Handy hoch und Christine wollte schon reagieren, auch der Vater war kurz davor, Patrick zurechtzuweisen. Ich legte das Handy weg und blieb ganz ruhig.
„Eigentlich hast du schon recht, Patrick. Es gibt aber einen Unterschied, ob ich das Handy dienstlich benutze oder wie du zum daddeln. Außerdem würde ich an deiner Stelle den Ball flach halten, weil es nämlich um Dinge der Berlinfahrt ging. Also wenn du keine Ahnung hast, einfach mal den Mund halten.“
Patrick bekam große Augen, als er das von mir zu hören bekam. Fynn kriegte das Grinsen ins Gesicht und Christine lachte. Patrick war sofort ruhig und auch Frank nickte anerkennend.
„Jetzt weiß ich ja, wie das läuft. Chris sagt kurz und knapp an, was geht und was nicht und schon läuft das.“
Er hatte das natürlich nicht ernst gemeint, aber die Jungs spielten cool mit. Dustin ergänzte: „Stimmt genau. Wir bekommen immer nur klare Befehle und führen die aus. Dann klappt das auch. Wir sind wie Marionetten, die seine Befehle ausführen.“
Das führte dazu, dass Herr Grehl in lautes Gelächter ausbrach. So eine Reaktion hatte ich noch nie von ihm erlebt. Es war ein richtig befreites Lachen und auch Fynn schien sehr überrascht, aber freute sich darüber. Innerhalb kurzer Zeit herrschte eine gelöste Stimmung am Tisch, wenn auch auf Patricks Kosten. Das musste er wohl mal aushalten.
Wir redeten noch über die letzten Wochen und Frank bekam dadurch einen Eindruck von den Ereignissen. Es war irgendwie schade, denn ich hatte noch einen anderen Termin und musste nach dem Dessert und einem Othello aufbrechen. Ich verabschiedete mich am Tisch, nahm meine Sachen und verließ den Raum.
In der Tiefgarage hatte ich gerade meine Jacke angezogen und wollte den Helm aufsetzen, als ich jemanden meinen Namen rufen hörte. Ich drehte mich um und sah Frank, wie er auf mich zugelaufen kam.
„Warte bitte einen Augenblick. Ich möchte dir noch etwas geben und dir etwas sagen.“
„Na, jetzt machst du es aber spannend. Dann geh ich mal davon aus, dass die Jungs davon nichts mitbekommen sollen.“
„Gut kombiniert. Ich habe hier etwas für euch. Es ist für das Team gedacht. Da ich jetzt weiß, wie viel du hier bereits geleistet hast, möchte ich dir danken. Du hast aus Dustin wieder einen fröhlichen Jungen gemacht. Wenn ich am Ende des Jahres wieder in Deutschland bin, werde ich mich auch wieder verstärkt kümmern. Es ist überragend, was ihr hier geleistet habt. Dass es jetzt auch noch so scheint, dass Fynns Vater wieder einen Weg in die Familie finden kann, dann ist dies das Sahnehäubchen. Ganz vielen Dank und Respekt für deine Arbeit und deine Freundschaft zu den Jungs.“
Er reichte mir die Hand und bevor ich endgültig den Motor startete, sagte er mir noch:
„Ich melde mich bei dir und vielleicht treffen wir uns bei einem der Turniere. Ich habe da eine Idee, aber das besprechen wir beide dann, wenn es soweit ist. Viel Spaß mit deinem Spielzeug.“
Dabei zeigte er auf meine Panigale und lachte. Dann legte ich den ersten Gang ein und fuhr los. Ich winkte noch kurz und verließ die Tiefgarage. Als ich auf der Straße das Visier schloss, war ich erneut von Frank sehr angetan. Trotz seines extrem anstrengenden Jobs, hatte er seinen Neffen und dessen Freund immer im Kopf.
Jetzt musste ich mich aber auf den Verkehr konzentrieren und hatte noch ein Treffen. Allerdings wusste der betreffende noch nichts von seinem Glück. Das hatten Martina und ich ganz allein ausgeheckt. Carlo sollte als Motivationsunterstützung eine Tour mit mir auf der Panigale machen. Mal schauen, wie er das finden würde. Jetzt war er auch soweit, dass er sein Bein wieder benutzen konnte. Da sollte das kein Problem mehr darstellen.
Ich betrat die WG in meiner Motorradkombi und Martina empfing mich mit einem Grinsen.
„Hallo Chris, du siehst gleich doppelt so gefährlich aus. Carlo ist oben. Er hat noch keine Ahnung, was ihm gleich passiert.“
„Hi Martina. Na, das will ich doch hoffen, sonst hat ja keiner mehr vor mir Respekt.“
Wir mussten lachen und ich ließ mir noch einmal genau erklären, wo das Restaurant von Carlos Eltern lag. Dort wollte ich nämlich mit ihm hinfahren. Seine Eltern arbeiteten sehr viel und hatten dadurch selten die Gelegenheit, Carlo zu besuchen. Nur wenn sie Betriebsferien hatten, konnten sie gemeinsam in den Urlaub fahren. Carlo hatte mir das erklärt und auch gesagt, dass er seine Eltern manchmal sehr vermissen würde.
Carlos Vater war Italiener und die hatten eine besondere Beziehung zu ihren Fahrzeugen. Ferrari, Lamborghini und auch Ducati waren nationale Heiligtümer für die Motorsportfans.
Deshalb hatte Carlo auch so heftigen Ärger mit seinem Vater gehabt, als er meine Ducati umgelegt hatte. Da verstanden die Italiener keinen Spaß. Heute wollte ich mit Carlo gemeinsam beiden einen Wunsch erfüllen. Carlo sollte seine Eltern besuchen, mit mir auf der Panigale Spaß haben und ich wollte seinem Vater die Panigale vorführen.
Ich betrat Carlos Zimmer. Er saß an seinem Schreibtisch und machte Hausaufgaben.
„Hallo Carlo, was macht die Wade?“
Er drehte sich auf seinem Stuhl zu mir um und schaute erstaunt.
„Chris? Was machst du denn hier? Habe ich etwas verpasst?“
„Das war keine Antwort auf meine Frage“, erwiderte ich lachend.
„Ja, ja, ok. Die Wade macht gute Fortschritte. Wenn es gut läuft, kann ich nächste Woche wieder mit leichtem Balltraining anfangen. Kolja ist sehr zufrieden und ich arbeite auch jeden Tag hier mit den Übungen.“
„Fein. Guter Junge. Hast du noch viele Hausaufgaben zu machen?“
„Äh, nein. Ich muss nur noch Chemie zu Ende machen. Dauert nicht mehr lang. Warum fragst du?“
„Ich habe die reparierte Panigale dabei. Die wollte ich dir mal zeigen und vorführen. Hast du Lust?“
„Wie vorführen? Ich verstehe grad nicht ...“
„Hast du Lust oder nicht?“
Ich musste lachen, denn sein fragendes Gesicht war niedlich. Er hatte überhaupt keine Ahnung, was ich vorhatte.
„Klar hab ich Lust, kannst du einen Moment warten, bis ich hier fertig bin?“
„Ok, mache ich. Ich geh schon mal nach unten.“
Martina stand bereits an der Treppe und konnte sich kaum vor Lachen halten. Ich bedeutete ihr, dass wir noch einen schnellen Tee trinken konnten. Also gingen wir in die Küche.
„Was hast du denn genau vor?“
„Ich werde mit ihm zu seinen Eltern fahren. Die wohnen ja nicht so weit von hier. Er sieht sie sehr selten, weil sie mit dem Restaurant so viel zu tun haben. Ich bin aber am späten Nachmittag wieder zurück. Wir fahren ja heute Abend schon nach Berlin.“
„Mensch, das ist eine tolle Idee. Und er hat keine Ahnung, wie cool. Damit wirst du ihm eine riesige Freude bereiten, ganz sicher. Weißt du, wo das Restaurant ist?“
„Ja, ich habe mir das aus dem Internet herausgesucht. Wir fahren etwa 45 Minuten.“
Jetzt konnten wir hören, wie Carlo die Treppe herunter kam. Er stellte sich in den Türrahmen und fragte:
„Ich bin soweit, können wir?“
Martina und ich standen auf und ich ging vor. Draußen lagen die beiden Helme auf der Maschine und Carlo schaute sie sich genau an.
„Man kann überhaupt nichts mehr von den Schäden sehen. Das haben sie gut hinbekommen. Oder was meinst du?“
„Ja, sie sieht wieder so aus wie vorher. Was meinst du, wollen wir mal schauen ob sie auch so gut fährt, wie sie aussieht?“
Carlos Kopf drehte sich schlagartig in meine Richtung. Seine Augen waren sehr groß geworden.
„Machst du Witze? Du würdest mich auf eine Runde mitnehmen? Geil. Klar, da bin ich dabei.“
„Gut, dann hol dir bitte eine winddichte Jacke und alles andere bekommst du von mir. Und bitte feste Schuhe anziehen.“
„Geht klar“, und wie ein geölter Blitz war er weg.
Martina lachte.
„Ich glaube du hast ins Schwarze getroffen. Damit hat er absolut nicht gerechnet.“
„Das war ja auch mein Plan. Also wir sind rechtzeitig zurück. Ich melde mich dann aus Berlin bei dir. Es tut mir echt leid, dass Carlo nicht mit dabei ist.“
„Du, vielleicht ist es ihm eine zusätzliche Erinnerung an seine Dummheit. Macht euch einen schönen Nachmittag.“
Carlo kam wieder nach draußen und fragte: „Geht das so?“
Ich schaute ihn mir an und sicher war das keine optimale Lösung. Er hatte keine Motorradsachen, aber eine gute Jacke und feste Schuhe. Nierengurt und Handschuhe bekam er genauso von mir wie den Helm.
„Bist du schon mal auf einem Motorrad mitgefahren?“
„Ne, nur einmal auf dem Roller von Papa.“
Also gab ich ihm noch eine Einweisung und zum Schluss ermahnte ich ihn noch.
„Ganz wichtig, du hältst dich bitte nur bei mir fest und nicht am Motorrad. Wenn es dir zu heftig wird oder du eine Pause brauchst, sag bitte Bescheid. Für den Beifahrer ist das nicht gerade bequem auf dem Gerät.“
Er nickte und setzte den Helm auf. Ich half ihm, den Kinnriemen richtig einzustellen und dann stiegen wir auf. Ich zuerst und dann Carlo. Vorsichtig hielt er sich an meiner Jacke fest. Ich nahm seine Hände und legte sie um meinen Bauch. So konnte er sich richtig entspannt festhalten. Er traute sich wohl nicht.
Ich nickte Martina noch einmal zum Abschied zu und dann ging es los. Ersten Gang einlegen und losfahren. Ich konnte sofort spüren wie angespannt Carlo war. Entsprechend vorsichtig fuhr ich die ersten Kilometer. Nach einigen Ampeln und Stadtverkehr, verließen wir Halle und kamen auf weitläufige Landstraßen. Hier rollten wir durch die ersten Kurven und Carlo entspannte sich etwas.
Auf den geraden Abschnitten beschleunigte ich dann etwas kräftiger, damit er merken konnte, die Maschine hat enorm Kraft und er muss sich weiter festhalten. Nach etwa zwanzig Minuten steuerte ich in einem Ort eine Tankstelle an. Carlo stieg ab und öffnete sein Visier. Ich nahm die Zapfpistole und tankte voll.
Zum Bezahlen nahm ich den Helm ab und ging hinein. Carlo blieb zurück und ich konnte erkennen, dass er sich die Maschine genau ansah. Als ich wieder zurück kam, fragte er:
„Du bist doch bis jetzt sehr vorsichtig gefahren, oder?“
„Ich fahre immer vorsichtig.“
Ich konnte unter dem Helm erkennen, dass er lachte.
Ich setzte meinen Helm wieder auf und zog die Handschuhe über. Als ich bereits wieder saß, setzte sich Carlo hinter mich und sagte zu mir:
„Das macht so viel Spaß, du kannst ruhig etwas mehr Gas geben.“
Ich nickte und fuhr los. Als wir aus der Ortschaft heraus waren, drehte ich etwas beherzter am Gas und entsprechend zügiger kamen wir von Kurve zu Kurve. Carlo wurde immer sicherer und ging sehr schön mit in die Kurve. Er war ein guter Sozius. Es war immerhin seine erste Ausfahrt.
Einige Zeit später steuerte ich einen Parkplatz an. Von dort konnte man wunderbar in die Landschaft schauen. Carlo schien den Platz zu kennen, denn er nahm seinen Helm ab und lachte.
„Boah, das macht echt Bock. Du kannst aber auch sehr gut fahren. Ich habe nie Angst gehabt. Woher kennst du diese Strecke? Wir sind nicht mehr weit von meinem Zuhause entfernt.“
„Na, ein Biker sucht immer nach schönen Straßen zum Fahren. Da ist so eine Strecke gern genommen. Und ich finde, du hast dich sehr gut angestellt. Für das erste Mal auf einem richtigen Motorrad war das für mich sehr angenehm zu fahren.“
Der Auspuff knackte und knisterte und wir schauten noch einen Moment in die Landschaft. Carlo stand neben mir und ich konnte doch merken, dass er etwas außer Atem war.
„Du atmest wie nach einem tausend Meter Lauf. War das so anstrengend?“
„Nein, aber manchmal habe ich beim Beschleunigen die Luft angehalten.“
„Das geht schon gut vorwärts. Aber versuch dich zu entspannen. Dann ist es auch nicht so anstrengend. Halt dich locker an mir fest und es kann nichts passieren.“
Er nickte und schaute wieder in die Landschaft.
„Wann hast du deine Familie das letzte Mal gesehen? Waren sie dich besuchen, als du verletzt warst?“
„Nein, leider nicht. Sie mussten arbeiten. Aber vielleicht war es auch gut so. Papa war nicht begeistert und sauer auf mich.“
„Also hast du sie wirklich seit den letzten Ferien nicht mehr gesehen?“
„Nein, ich skype nur manchmal mit Mama. Das ist dann schon schön.“
„Das glaube ich dir. Ich finde es übrigens sehr gut, dass deine Eltern immer bereit sind, dich und unsere Arbeit zu unterstützen. Sie vertrauen unserer Arbeit. Wann gehst du das erste Mal wieder auf den Platz? Oder ist das noch nicht klar?“
„Vielleicht in der nächsten Woche. Wenn Christoph grünes Licht gibt, darf ich wieder vorsichtig anfangen zu spielen. Es wird auch Zeit, ich finde das ätzend. Ihr fahrt nach Berlin und ich sitze wieder allein in der WG rum.“
„Kann ich verstehen, aber ...“
„Ja, ja. Sag es nicht. Ich weiß auch, dass ich selbst schuld bin. Dennoch nervt es einfach.“
Ich musste lachen. Carlo war einfach goldig. Das war auch ein Grund, warum ich ihm eigentlich nicht böse war. Seine offene Art damit umzugehen, hatte mir imponiert. Er hatte nicht eine Sekunde gezögert, zuzugeben was passiert war.
„Sollen wir weiterfahren? Oder möchtest du noch hier etwas schauen?“, fragte ich ihn.
„Lass uns weiterfahren. Ich versuche mal, weniger verkrampft zu sein.“
Wir machten unsere Jacken wieder zu und setzten die Helme auf. Dann ging es weiter. Ich fuhr die ersten Meter genauso vorsichtig wie zuvor, fing dann aber an, heftiger zu beschleunigen und die Kraft etwas mehr von der Kette zu lassen. Ich bremste auch härter und später vor den Kurven und beschleunigte stärker aus den Kurven heraus. Carlo wurde immer sicherer und entspannte sich spürbar. Wir hatten viel Freude beim Fahren.
Es dauerte nicht lange und wir rollten in seinen Heimatort hinein. Jetzt schien er zu ahnen, was ich vorhatte. Deshalb steuerte ich jetzt direkt das Restaurant seiner Eltern an. Auf dem Parkplatz stellte ich den Motor ab und Carlo stieg von der Maschine. Ich klappte den Ständer aus und stieg ebenfalls von meiner Panigale.
Es war nachmittags und eigentlich hatte das Restaurant geschlossen. Carlo wurde richtig unruhig.
„Woher kennst du unser Restaurant? Warst du schon einmal hier?“
„Nein, ich war noch nicht hier, aber ich hatte es schon geplant, mit dir herzufahren. Ich möchte, dass du deine Eltern mal wieder siehst. Hoffentlich sind sie auch da, denn das Lokal ist ja geschlossen.“
„Bestimmt sind sie da. Sie wohnen ja oben darüber. Komm, lass uns mal schauen gehen. Und danke, dass du mit mir hergefahren bist. Ich freu mich total.“
Er lachte befreit und genau das war mein Ziel. Ich hatte Carlo in letzter Zeit so selten lachen sehen. Und das bei seinem positiven Gemüt. Er hatte sich das sehr zu Herzen genommen, dass er Blödsinn gemacht hatte. Ich legte meinen Arm um ihn.
„Dann ist es ja gut. Lass uns mal schauen, ob deine Eltern zu Hause sind. Ich denke, sie werden genauso überrascht sein wie du.“
„Bestimmt. Mama wird hoffentlich keinen Herzkasper bekommen.“
Dabei waren wir um das Haus gegangen und standen vor einem Seiteneingang. Carlo klingelte und es dauerte nicht lange, da hörte man eine Stimme aus der Sprechanlage: „Ja? Wer ist da?“
„Mama, hier ist Carlo. Können wir reinkommen?“
Es kam keine Antwort. Wir standen etwas ratlos für einige Sekunden vor der Tür, bis wir eine Reaktion im Haus hören konnten. Eine Tür ging auf und eine Stimme rief etwas auf Italienisch. Carlo fing an zu grinsen. Er hatte offensichtlich verstanden was gerufen wurde. Dann öffnete sich die Tür und seine Mutter stand vor uns. Sie strahlte und umarmte Carlo sofort. Ich ließ sie für einen Moment in Ruhe und blieb etwas auf Abstand vor der Tür stehen.
Nachdem sich Mutter und Sohn ausgiebig begrüßt hatten, bemerkte mich Carlos Mutter. Sie entschuldigte sich, dass sie mich noch nicht begrüßt hatte. Wir wurden herein gebeten und gingen die Treppe nach oben. Ich hatte meine Motorradjacke bereits draußen ausgezogen und die Helme unten auf die Treppe gelegt. Die Jacke nahm mir Carlo ab und hing sie an die Garderobe. Erst jetzt bemerkte ich, dass auch sein Vater in den Flur gekommen war. Er war mindestens genauso überrascht wie Carlo selbst. Und obwohl mir Carlo ja erzählt hatte, dass sein Vater sehr ärgerlich über seine Aktion war, begrüßte er seinen Sohn sehr warm und herzlich. Es war ehrliche Freude über diesen spontanen Besuch.
„Möchten Sie mit uns einen Cappuccino trinken?“, fragte mich Carlos Mutter.
„Sehr gern. Da sage ich nicht nein.“
Carlo wurde mit mir auf die Dachterrasse geschickt und wir sollten dort schon einmal Platz nehmen. Es war fast wie in einem Straßencafé eingerichtet. Sehr gemütlich.
„Ich glaube, deine Eltern freuen sich sehr über deinen Besuch, oder?“
„Oh ja, Mama wäre fast ausgeflippt. Du musst dich jetzt aber auf einiges gefasst machen. Meine Eltern freuen sich sehr, dass du mit mir hergekommen bist. Meistens werden solche Gäste ziemlich verwöhnt.“
Dabei lachte er wieder so offen, dass es eine Freude war, ihm ins Gesicht zu schauen. Seine Augen leuchteten und ich wusste jetzt, dass es die richtige Entscheidung war hierher zu fahren.
„Ich habe gedacht, deine Mutter ist Deutsche? Sie spricht aber mit deinem Vater Italienisch?“
„Ja, Mama ist Deutsche. Papa kommt aus Sizilien. Er sagt immer, sein Deutsch sei so schlecht. Mama hat dann ihm zuliebe Italienisch gelernt. Mit mir reden sie aber beide Deutsch. Ich kann aber auch ein wenig Italienisch.“
„Das stimmt so nicht. Du kannst sehr gut Italienisch mein Sohn.“
Seine Mutter stand plötzlich hinter uns und ich hatte mich sogar etwas erschrocken, weil ich sie nicht bemerkt hatte.
Sie stellte ein großes Tablett mit zwei Kannen und reichlich Kuchen auf den Tisch und ging wieder hinein. Sie rief etwas auf Italienisch und Carlo lachte.
„Was habe ich dir gesagt? Wir werden verwöhnt. Hoffentlich hast du etwas Hunger mitgebracht. Du musst ja morgen nicht spielen.“
„Schauen wir mal, sieht jedenfalls lecker aus. Kommt dein Vater auch zu uns oder hat er keine Zeit?“
„Doch, sicher kommt er auch. Mama hat ja auch gerade mit ihm geschimpft. Er soll endlich zu uns kommen und die Arbeit ruhen lassen.“
In diesem Moment kamen beide Eltern zu uns nach draußen. Der Vater gab mir freundlich aber etwas reserviert die Hand. Carlo wunderte sich darüber. Das konnte ich an seinem Gesicht erkennen. Carlo sprach seinen Vater auf Italienisch an und seine Mutter hatte recht. Er sprach exzellentes Italienisch. Sein Vater schaute danach zu mir und ich hatte eine Ahnung, über was sie sprachen. Carlos Mutter erklärte es mir.
„Sie müssen meinen Mann entschuldigen. Er ist es nicht gewohnt, dass Sie mit Carlo herkommen und uns besuchen. Immerhin hat Carlo ja ihr geliebtes Motorrad beschädigt. In Sizilien ist das unüblich. Eigentlich hätten wir Sie besuchen müssen. Es ist ihm etwas unangenehm.“
„Mama, Chris ist sogar mit mir mit dem Motorrad gekommen. Wir haben den ganzen Nachmittag schon eine Tour damit gemacht. Chris ist glücklicherweise nicht mehr sauer auf mich. Er hat das nur für mich gemacht, dass ich euch besuchen kann.“
Dieser Besuch machte mir sehr deutlich, wie schwer es für Carlo sein musste, seine Eltern nur so selten zu sehen. Darüber musste ich mir noch einmal Gedanken machen. Gerade jetzt war es für Carlo so wichtig.
Die Eltern machten einen offenen und herzlichen Eindruck auf mich. Wir redeten auch über Carlos Entwicklung und sein Talent, aber ich lernte auch viel über seinen Hintergrund und erst, als es darum ging, warum Carlo in der WG lebte, wurde er etwas stiller. Carlo schien das etwas unangenehm zu sein, aber ich erfuhr, dass er in seiner alten Klasse immer Probleme hatte. Seine Lehrer sahen in ihm immer nur den Störenfried. Er war halt sehr unruhig. Auch, nachdem er an sich gearbeitet hatte, wurde immer er gleich als Urheber jeder Störung angenommen.
Carlo wurde richtig rot, als die Mutter mir immer mehr Details erzählte. Ich wechselte irgendwann das Thema auf die Zukunft und es wurde wieder viel lustiger. Ich fragte Carlo dann:
„Arbeitest du eigentlich auch hier in deinen Ferien? Oder ist das gar nicht so dein Ding?“
„Doch, seit den letzten Ferien darf ich sogar im Service helfen. Das macht Spaß.“
„Das finde ich gut. Weißt du was, Carlo? Ich möchte deine Eltern zu uns nach Halle einladen. Beim nächsten Bundesligaspiel lade ich sie ein, uns zu besuchen. Dann können sie sich mal alles in Ruhe ansehen und auch schauen, was du für Fortschritte gemacht hast. Das wäre nämlich in der Zeit, wo deine Eltern zwei Wochen Betriebsferien haben.“
Carlo war begeistert und auch seine Eltern fanden das gut. Sie waren schon lange nicht mehr in Halle gewesen und freuten sich über die Einladung. Irgendwann fragte Carlos Vater, ob er mit seinem Sohn ein wenig in die Küche gehen könnte, weil sie noch für den Abend Vorbereitungen machen müssten. Der Besuch hatte die Planung ja auch etwas durcheinander gebracht. Das führte dazu, dass ich mit seiner Mutter bald allein auf der Terrasse saß.
„Ich finde das von Ihnen eine ganz tolle Geste, dass sie mit Carlo hergekommen sind. Er hat uns schon viel von Ihnen und den anderen Jungs in der WG erzählt. Da konnten wir uns schon ein Bild machen, aber dass sie tatsächlich mit Carlo herkommen und ihm einen ganz großen Wunsch erfüllen, damit hatten wir nicht gerechnet. Gerade nachdem Carlo diese Dummheit gemacht hatte.“
„Naja, Sie sagen es ja. Es war eine Dummheit. Und mit der Verletzung hat er sich genug selbst bestraft. Außerdem hat er keine Sekunde versucht, seinen Fehler zu beschönigen. Er ist einsichtig und das hat mich sehr schnell den Ärger vergessen lassen. Ich mag ihn eben auch. Er hat die richtige Einstellung und ist ehrgeizig. Auch jetzt in der Reha arbeitet er hart und sehr selbständig. Ich glaube, wenn wir aus Berlin zurück sind, steht er wieder auf dem Platz.“
Es war eine angenehme Atmosphäre und wir sprachen auch noch über die Angst vor seinem Vater. Da musste sie sogar erst einmal lachen.
„Mein Mann ist Italiener und entsprechend ist sein Temperament. Er ist dann immer sehr wütend zu Beginn. Allerdings würde er Carlo nie wirklich lange böse sein. Das weiß Carlo eigentlich auch. Sonst würden die beiden jetzt nicht unten gemeinsam in der Küche sein. Meinem Mann war es in erster Linie sehr unangenehm, dass er ausgerechnet Ihr Motorrad beschädigt hat. Allerdings haben Sie bei meinem Mann mit diesem Besuch heute etwas ganz besonderes erreicht. Sie haben den Respekt bekommen, den nur sehr wenige Menschen bekommen. Hier einfach herzukommen mit Carlo, das beeindruckte ihn sehr. Er hat mir eben noch gesagt, dass er das niemals erwartet hatte.“
„Dann habe ich ja das Richtige gemacht. Ich wollte Carlo nämlich zeigen, dass er ein toller Junge ist. Und ich bin der Ansicht, Kinder dürfen und müssen Fehler machen, um etwas zu lernen und zu begreifen, dass sie auch verantwortlich sind für das, was sie tun.“
„Sie haben eine Eigenschaft, die mein Mann und ich sehr hoch schätzen. Sie sind nicht nachtragend. Wenn etwas geklärt ist, dann ist das vorbei. Sie geben Carlo weiterhin ihre Freundschaft. Das ist sehr wichtig für unseren Sohn. Er schwärmt so oft von Ihnen. Sie können sich sicher vorstellen, dass es für ihn nicht immer so einfach ist. Gerade jetzt, wo er mit Tim nicht mehr so klarkommt.“
„Nun, da ist er nicht allein mit diesem Thema. Tim ist momentan in einer schwierigen Phase. Ich bin mir noch nicht so sicher, ob wir das im Team leisten können. Er soll Tim ruhig zeigen, dass er auf diese Eskapaden keinen Bock hat und sich von ihm distanzieren. Carlo hat bei Fynn und Dustin genug Rückhalt. Die beiden mögen ihn und werden ihm Hilfe geben, wenn Carlo mal durchhängt. Maxi sicher auch. Allerdings braucht Carlo auch Freunde in seinem Alter. Wir werden mal sehen, wo das hingeht.“
„Sie sind kein normaler Trainer. So ein Hintergrundwissen habe ich noch nie bei Thomas erlebt. Er hat nie in die Familie geschaut oder über das Verhalten nachgedacht. Er macht ein gutes Training, aber nicht mehr. Carlo hat uns von Ihnen oft berichtet. Umso bedauerlicher ist das jetzt, dass Carlo nicht mit Ihnen nach Berlin fahren kann.“
„Das ist sicher richtig. Allerdings ist seine Reha jetzt wichtiger. Ich hatte sogar daran gedacht, Carlo dennoch mitzunehmen. Er muss aber schnell wieder fit werden und deshalb soll er in Halle hart an sich arbeiten. Vielleicht kann er die Ruhe für sich nutzen. Ich habe vorhin ja gesagt, Sie nach Halle zu einer Bundesligapartie einzuladen. Carlo soll mir rechtzeitig sagen, wann Sie Zeit haben zu kommen und ich besorge ihnen die Karten dafür.“
Sie bedankte sich sehr erfreut und ich musste leider ein wenig auf die Uhr schauen. Der Rückweg dauerte doch ein wenig und die Abfahrt am Abend war festgelegt. Ich bat sie, Carlo zu holen. Allerdings schickte sie mich nach unten und dort in der Küche traf ich auf Vater und Sohn, die sehr intensiv miteinander redeten. Auf Italienisch. Nebenbei arbeiteten sie an den Vorbereitungen für den Abend. Ich klopfte an den Türrahmen und Carlo schaute lachend zu mir.
„Hi Chris, schön dass du noch herunterkommst.“
„Ja, ich wollte halt nicht stören bei der Arbeit. Und wir müssen leider wieder los. Du weißt ja, dass ich heute noch nach Berlin fahre.“
Sein Vater hatte mich verstanden und schickte Carlo zum Händewaschen.
„Es war eine tolle Geste von Ihnen, mit Carlo uns zu besuchen. Vielen Dank. Er hat viel erzählt und ich möchte Sie um etwas bitten.“
„Danke, aber ich habe es gern gemacht. Carlo hat sich das verdient und es ist halt schade, dass er so selten mit seiner Familie zusammen sein kann. Aber was kann ich für Sie tun?“
„Carlo hat ja jetzt einige Wochen Zeit verloren und muss viel aufholen. Würden Sie ein wenig auf ihn aufpassen? Er setzt sich sehr unter Druck. Wenn es nicht reichen sollte, dann sagen Sie es uns bitte ehrlich. Er soll sich nicht unnötig quälen.“
„Also eines verspreche ich Ihnen. Sollte er tatsächlich den Anschluss nicht schaffen, werde ich das offen mit Ihnen besprechen, aber gerade bei Carlo glaube ich das nicht. Das schafft er. Und ich werde natürlich weiterhin ein Auge auf ihn haben, auch wenn ich nicht sein Trainer bin. Das ist versprochen.“
Sein Vater umarmte mich dankbar. Damit hatte ich nicht gerechnet. Leider wurde es jetzt Zeit, wieder aufzubrechen und der Abschied fiel Carlo sichtlich schwer. Allerdings freute er sich auch auf die Heimfahrt auf der Panigale. Ich hatte wohl sein Herz für Motorräder richtig geweckt. Sein Vater kam mit nach draußen und stand fast ehrfurchtsvoll vor der Ducati.
„Mein lieber Sohn, so eine „bella macchina“ behandelt man vorsichtig und respektvoll. Die kostet ein kleines Vermögen. Bitte pass in Zukunft auf, was du tust.“
Carlo wurde sogar etwas rot, als sein Vater das gesagt hatte. Ich gab ihm deshalb schnell seinen Helm und wir machten uns auf den Heimweg.
Fynn: Familiennachmittag und Abfahrt nach Berlin
Nachdem Chris uns nach dem Essen verlassen hatte, spürte ich doch steigende Unruhe. Chris hatte mir Sicherheit gegeben und jetzt war ich mit meiner Familie allein. Nur Frank hatte das anscheinend geahnt. Er fragte uns, was wir so vor gehabt hatten und da meine Eltern sich nichts Konkretes überlegt hatten, nahm er das Zepter in die Hand.
„Dustin, was hältst du davon, wenn wir heute Nachmittag mal machen, was ihr auch schon in der Klinik gemacht habt. Hier in Halle gibt es einen Kletterpark. Nicht nur mit einer Wand, sondern mit ganz vielen verschiedenen Sachen. Wie sieht das aus? Habt ihr Lust?“
Ich schaute meinen Freund verwundert an, wusste aber auch, wie viel Spaß er in der Klinik hatte. Patrick brauchte ich eh nicht zu fragen, aber was war mit meinen Eltern? Ich blickte zu meinem Vater, der nickte nicht abgeneigt. Allerdings fand Mama das weniger spannend. Sie würde vermutlich nirgendwo hinaufklettern. Trotzdem war sie einverstanden. Ich war sehr neugierig, wie das wohl ausgehen würde. Hoffentlich langweilte sich Mama nicht nur. Als ich bei Frank wieder ins Auto stieg, lachte er.
„Du brauchst dich um deine Mutter nicht zu sorgen. Da gibt es so viele Möglichkeiten, da finden wir auch für sie das Passende.“
„Wenn du das hinbekommst, dass Mama irgendwo herum klettert, dann lade ich dich beim nächsten Mal zum Eis ein.“
Dustin verdrehte die Augen und Frank sagte sofort: „Deal.“
Eigentlich hätte ich mir schon denken können, dass Frank sich vorher schon genau überlegt hatte, was er mit uns anstellen würde. Er war dafür zu gut organisiert und Perfektionist. Der Weg führte uns in einen kleinen Wald. Dort tauchte ein großer Parkplatz auf. Ich hatte noch nie von so einem Gelände gehört und das obwohl wir hier ja in der Nähe wohnten.
Wir stiegen aus dem Auto und Patrick war schon wieder völlig aufgedreht. Es war erstaunlich, wie gelassen mein Vater das ertrug. Manchmal hatte ich das Gefühl, er würde Medikamente nehmen, um immer so gelassen bleiben zu können. Diese Ruhe hatte er früher nur selten.
Mama war es sogar etwas unangenehm, wie sich Patrick aufführte. Dustin nahm meine Hand und flüsterte mir ins Ohr: „Wir sollten Patrick mal etwas bremsen. Das ist ja schon fast peinlich.“
Ich nickte und ich ging zu meinem Bruder.
„Kannst du dich mal etwas beruhigen. Du benimmst dich ja wie ein Kleinkind.“
Das zeigte sofort Wirkung, denn mit einem Kleinkind wollte er nun wirklich nichts mehr zu tun haben. Natürlich nahm er das nicht kommentarlos hin, er streckte mir die Zunge raus und zeigte mir den Mittelfinger.
Leider tat ich ihm nicht den Gefallen, darauf zu reagieren. Ich drehte mich einfach um und ging wieder zurück zu meinem Freund. Frank schaute sich das Ganze mit einem Lächeln an und auch mein Vater fing an zu lachen.
„Fynn, du machst dich wirklich gut. Du solltest dich mit Chris zusammentun. Vielleicht bekommt ihr das ja noch hin, den Kleinen zu bändigen.“
Oh, mein Vater hatte richtig Humor und machte sich auf Kosten Patricks lustig. Denn der Begriff „Kleiner“ war die Höchststrafe. Komischerweise wurde dieser jetzt sehr still. Er hatte wohl einsehen müssen, dass alle gegen ihn waren.
„Na, geht doch“, sagte Dustin mit einem Grinsen.
Frank ging jetzt voraus und wir neben ihm. Der Rest folgte uns. Nach etwa hundert Metern kamen wir an den Eingang. Dort war ein kleines Häuschen und Frank löste für uns eine Familienkarte. Dann ging es hinein und ich war richtig erstaunt. Dort waren in den Bäumen verschiedenste Klettergeräte verbaut und sogar Seilbahnen gab es.
Es herrschte reges Treiben und überall sah man Leute mit Helmen und Klettergeschirr in den Bäumen.
„Wow, hast du gewusst, dass es hier so etwas gibt?“, fragte mich mein Freund.
Staunend schüttelte ich meinen Kopf.
„Los, ich will jetzt irgendwo rauf.“
War ja klar, Patrick wollte Action. Also gut, er hatte ja nicht unrecht. Und wir waren schließlich genau deswegen hergekommen.
„Wollen wir alle zusammenbleiben oder uns aufteilen?“, fragte Frank in die Runde.
Wir waren alle etwas ratlos, weil wir überhaupt keine Vorstellungen hatten, was uns hier erwartete und was wir alles machen konnten.
Frank spürte das und bat uns einen Augenblick zu warten. Er ging zurück zum Eingang und kam wenige Minuten später wieder zurück.
„Kommt mit, wir gehen jetzt mal zu einem der Guides hier. Der wird uns alles erklären und mit uns eine Einführung machen.“
Das war eine gute Entscheidung, denn wir erhielten eine professionelle Führung und durften wirklich vieles ausprobieren mit seiner Anleitung überwand sogar Mama ihre Angst und fuhr mit mir mit einer Seilbahn durch die Bäume. Aus etwa 10 m Höhe.
Innerhalb weniger Minuten hatten wir den Dreh raus und es machte riesigen Spaß hier herumzutollen. Es gab auch richtige Herausforderungen, die viel Kraft und Geschicklichkeit erforderten. Es war vor allem eine kluge Aktion von Frank, denn viele Aufgaben konnten nur gemeinsam gelöst werden. Man musste sich gegenseitig helfen. Unser Guide erklärte uns immer die Aufgabenstellungen, aber er gab keine Lösungen vor. Nur wenn es gefährlich werden konnte, warnte er uns.
An einer Station musste ich mit meinem Vater gemeinsam eine Aufgabe lösen. Ich musste ihn festhalten und er mich. So war die Aufgabe dann relativ sicher zu lösen. Erst als die Aufgabe bereits gelöst war und wir sicher auf der anderen Seite auf dem Podest standen, wurde mir bewusst, dass ich soeben mit meinem Vater gemeinsam diese Aufgabe bewältigt hatten.
„Weißt du, Fynn, es macht wieder richtig Spaß, mit dir etwas zusammen zu machen. Vielleicht schaffen wir ja auch die große Aufgabe, gemeinsam daran zu arbeiten, wieder eine Familie zu werden.“
Ich schaute ihm in die Augen. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten wich ich seinem Blick nicht aus. Es fühlte sich seltsam an. Aber es löste keine Wut mehr in mir aus. Eher Unsicherheit.
In diesem Moment kam Dustin mit Mama herüber. Sie hatten ebenfalls die Aufgabe gelöst. Patrick und Frank waren noch unterwegs und Patrick musste richtig kämpfen. Es dauerte etwas länger, aber sie kamen auch bei uns an. Aufgabe geschafft.
Wir lösten unsere Sicherungsleinen und kletterten hinab. Ich konnte meinem Vater keine Antwort geben. Ich war einfach unsicher, was ich hätte antworten sollen. Allerdings arbeitete das noch weiterhin in meinem Kopf.
Leider rannte die Zeit nur so und es kam der Moment, wo Dustin und ich sagen mussten, dass wir zurück müssen. Der Abfahrtzeitpunkt rückte näher. Auf dem Weg zum Auto lief ich neben Dustin her und mir wurde jetzt klar, dass ich meinem Vater noch etwas sagen wollte.
Am Auto angekommen, waren meine Eltern schon im Begriff einzusteigen.
„Wartet bitte. Ich möchte noch etwas sagen. Frank und Dustin, kommt ihr bitte auch.“
Mein Vater schloss die Autotür wieder und schaute mich fragend an. Auch Mama war sehr gespannt, aber sie hatte ein Lächeln auf ihren Lippen.
„Ich möchte mich bei Frank bedanken, der uns diesen schönen Nachmittag ermöglicht hat und ich möchte Papa etwas antworten. Du hast vorhin auf dem Kletterpodest gesagt, dass es dir wieder Spaß macht, mit mir etwas zu unternehmen und dass wir gemeinsam wieder eine Familie werden können. Ich konnte vorhin darauf nicht antworten, weil ich unsicher war, was ich sagen sollte. Jetzt, nach einiger Zeit des Nachdenkens, möchte ich antworten. Ja, es hat mich auch gefreut, einen harmonischen Nachmittag mit euch verbracht zu haben. Hoffentlich gelingt es dir, dein Alkoholproblem zu bearbeiten und dann wird es auch möglich sein, wieder zusammenzukommen. Ich werde mich nicht dagegen sperren, aber nicht um jeden Preis. Allerdings ist es auch mein Wunsch, mit Dustin gemeinsam in meine Familie zurückkehren zu können.“
Als ich das gesagt hatte, bekam ich das Gefühl, die Zeit würde stehen bleiben. Niemand sagte etwas, sogar Patrick schien überrumpelt zu sein. Lediglich Papa kam auf mich zu und umarmte mich wortlos. Es fühlte sich richtig an. Auch wenn es für mich komisch war. Dustin blieb etwas abseits stehen, aber Papa reagierte wirklich großartig. Als er sich von mir gelöst hatte, umarmte er Dustin genauso intensiv.
Vielleicht war heute ja der Start eines neuen Abschnittes in meinem Leben.
Wir stiegen danach in die Autos und ich brauchte einfach einige Minuten, mich zu sammeln. Auch Frank ließ mich in Ruhe. Wir fuhren zurück in die WG. Was mich wunderte, meine Eltern waren auch noch mitgekommen. So gingen wir gemeinsam hinein und Martina war ebenfalls sehr überrascht. Dennoch organisierte sie schnell einen Kaffee und schickte Dustin zum Bäcker.
Wir saßen bis zu dem Moment zusammen, wo Dustin und ich uns abholbereit machen mussten. Maxi war mittlerweile auch eingetrudelt. Chris würde uns gleich abholen und mit uns zum Bahnhof fahren.
Chris: Berlin, eine Weltstadt präsentiert sich
Nachdem ich mit Carlo zurückgekommen war, musste ich noch nach Hause fahren. Erst dort fiel mir der Umschlag wieder ein, den mir Frank gegeben hatte. Ich holte ihn aus der Motorradkombi und öffnete ihn. Dort fand ich einen Scheck über 1000 Euro. Das Geld sollte für die Jungs eingesetzt werden. Auch bei den Turnieren oder den Reisen.
Ich hatte mir überlegt, ob ich Thorsten gleich anrufen sollte oder ihm den Scheck geben sollte, wenn er uns zum Bahnhof brachte. Ich entschied mich für letzteres.
Nachdem ich mir noch eine Dusche und eine frische Tasse Tee gegönnt hatte, brach ich wieder nach Halle auf. Treffpunkt war der Club. Von dort wollte uns Thorsten mit dem Team-Bulli zum Bahnhof bringen. Ich hatte meine große Tennistasche gepackt und war auf eine Woche Berlin hoffentlich gut vorbereitet.
Heute war ich tatsächlich der letzte, der am Treffpunkt Parkplatz eintraf. Ich hatte allerdings Thorsten zwischendurch informiert, dass ich nicht so zeitig eintreffen würde.
Ich holte meine Tasche aus dem Kofferraum und schloss das Auto ab. Dustin und Fynn begrüßten mich mit einer freundlichen Umarmung. Das überraschte mich doch etwas, denn immerhin waren ein Haufen Leute um uns herum.
Thorsten hatte den Bulli bereitgestellt und ich legte meine Tasche auf die anderen bereits eingeräumten Taschen und Koffer.
„Sagt mal, sind wir eine Fußballmannschaft? So viele Taschen und Koffer?“
„Ne“, alberte Maxi, „aber Dustin und Fynn müssen ja Platz haben für ihre dort gekauften Klamotten.“
„Ach“, erwiderte ich, „du bist doch derjenige, der immer Stunden im Bad braucht für die Haare. Wer ist hier denn wohl die Diva?“
Alles brüllte vor Lachen, insbesondere Maxis Eltern, die zur Abfahrt ebenfalls gekommen waren.
„Los, alles einsteigen. Der Zug wartet nicht.“
Thorsten öffnete die Türen und wir stiegen in den VW Bus ein. Ich setzte mich in die letzte Reihe nach hinten und Burghard nach vorn. Es herrschte eine gewisse Spannung und sogar Maxi war verdächtig still. Thorsten brachte uns zügig zum Bahnhof und dort stiegen wir in den Zug nach Bielefeld, wo wir in den ICE nach Berlin-Spandau umsteigen mussten. Ein Großraumtaxi würde uns dort dann zum Hotel in Grunewald bringen. Gute drei Stunden Zugfahrt und die Taxifahrt würde es dauern. Das war mit dem Auto nicht zu machen. Außerdem konnten wir so alle gemeinsam fahren. Ein wenig schwierig war nur das Gepäck. Jeder hatte doch zwei große Taschen oder eine Tasche mit einem Koffer. Nur ich brauchte lediglich eine große Tennistasche, weil ich ja keine Schläger brauchte.
Am Bahnhof stiegen wir aus dem VW-Bus und Thorsten wünschte uns viel Erfolg. Dann fuhr er wieder zurück. Wir standen alle auf dem Platz vor dem Bahnhof. Burghard holte alle zusammen.
„So, Leute. Jetzt mache ich mal kurz eine Reiseplanung. Wir steigen jetzt in den Regionalzug nach Bielefeld. Dort müssen wir auf Gleis 2 wechseln in den ICE nach Berlin. Beim Umsteigen bleiben wir bitte alle zusammen. Auch im ICE möchte ich darum bitten, dass wir möglichst nicht zu weit auseinander sind. Ansonsten kann es losgehen. Ankunft in Berlin wird gegen 21 Uhr sein.“
Ich nahm meine Tasche, genau wie alle anderen und wir marschierten zum Gleis. Ich entschied mich, am Ende der Gruppe zu bleiben, während Burghard vorweg ging. Er unterhielt sich mit Maxi, während Tim neben Stefan ging und sich mit ihm über neue Computerspiele unterhielt. Dustin und Fynn waren verdächtig still. Sie schienen in Gedanken schon in Berlin zu sein.
Die Fahrt nach Bielefeld dauerte nur wenige Minuten. Ich setzte mich erst gar nicht hin und blieb gleich am Ausgang stehen. Tim und Markus waren mit einem Thema beschäftigt, während Maxi, Marek und Stefan sich Kopfhörer aufgesetzt hatten. Dustin und Fynn saßen nebeneinander und schauten aus dem Fenster. Mit Fynn hatte ich zwischendurch Blickkontakt und spürte, dass er gut drauf war.
Marek war erst vor einigen Wochen zu uns gekommen. Er kam aus Hessen und hatte seine Schule mit der mittleren Reife beendet. Durch einen Sponsor konnte er sich ganz auf das Tennis konzentrieren. Er wohnte in Halle noch im Sportpark Hotel. Sollte aber bald zu uns in die WG umziehen. Lennart studierte mittlerweile und dafür sollte Marek dort einziehen.
Ich war kein Freund von diesem Weg. Mir war das zu einseitig auf Tennis gesetzt, aber Thorsten und Jan waren der Meinung, dass er gut genug war, das zu versuchen. Die Finanzierung war gesichert, also haben wir ihn aufgenommen.
Markus kannte ich nur flüchtig. Er war so alt wir Tim und damit unser jüngster Spieler. Er kam aus Halle und trainierte bei Burghard. Er war ebenfalls in der U15 Mannschaft gemeldet und spielte dort an Position vier. Für ihn war das sicher eine große Herausforderung, bei den deutschen Meisterschaften zu spielen, aber er hatte immer fleißig trainiert und da Carlo ausfiel, wollten wir ihm die Chance geben. Menschlich konnte ich noch nicht viel über ihn sagen.
Stefan spielte in der 2. Herrenmannschaft in der Westfalenliga. Er war gerade achtzehn geworden. Er wird im kommenden Jahr sein Abitur machen und wollte dann studieren. Für eine Tennislaufbahn als Profi fehlte ihm der letzte Ehrgeiz. In der Westfalenliga konnte er gut mithalten.
Alles in allem hatten wir eine homogene Truppe beisammen. Ich erwartete keine größeren Probleme. Burghard kam zu mir an den Ausgang.
„Du beobachtest unsere Jungs, oder?“
„Nein, Burghard. Ich habe nur gern immer einen gesamten Überblick. Nichts Außergewöhnliches also. Bislang läuft es doch gut.“
„Ja, hoffentlich hat der Zug nicht zu viel Verspätung. Sonst verpassen wir den ICE.“
Ich schaute zur Uhr und musste leider feststellen, dass wir tatsächlich schon fünf Minuten später als geplant waren. Erst jetzt fiel mir auf, dass der Zug auf freier Strecke zum Halten gekommen war.
„Hast du eine Ahnung, warum wir hier warten müssen?“, fragte ich.
In diesem Augenblick rauschte auch schon ein Zug an uns mit hoher Geschwindigkeit vorbei und wenige Augenblicke später rollte unser Zug wieder an und lief dann gleich in Bielefeld ein. Ich schulterte meine Tasche und stieg als erster mit Burghard aus.
Auf dem Bahnsteig schaute ich schnell, dass wir vollzählig waren und dann ging es zum Gleis zwei. Dort angekommen, stellten wir unsere Taschen alle zusammen und ich schaute am Wagenstandanzeiger, wo wir einsteigen müssten. Maxi kam zu mir.
„Sag den anderen bitte, wir müssen zum Bereich A. Dort sollen sich alle hinstellen und auf den Zug warten.“
„Geht klar, Chris.“
Ich schaute mir von meinem Standort das Treiben auf dem Bahnsteig an. Unsere Gruppe war optisch sofort als Gruppe erkennbar. Alle hatten Teamkleidung an. Das war mir vorhin noch gar nicht aufgefallen.
Es kam die Ansage, dass der Zug einfahren würde und entsprechend bewegte ich mich zu meiner Tasche und nahm Aufstellung. Knapp zehn Minuten später saßen wir in einem Großraumwagen des ICE nach Berlin. Die Taschen konnten wir gut verstauen und mit nur fünf Minuten Verspätung verließen wir Bielefeld.
An meinem Platz richtete ich mich gemütlich ein und holte dann mein Laptop aus der Tasche. Ich wollte die Zeit nutzen, um an meiner neuesten Geschichte weiter zu schreiben. So bekam ich gar nicht mit, dass sich Maxi zu mir gesetzt hatte. Er musste wohl schon einige Minuten bei mir gesessen haben, als er mich fragte:
„Worum geht es eigentlich in der Geschichte?“
„Bitte?“
Ich schreckte sogar etwas zusammen, als ich ihn bemerkte. Maxi grinste und machte sich sogar etwas über mich lustig.
„Man, dass muss aber ne spannende Geschichte sein, wenn du nichts mehr mitbekommst.“
„Ich bin halt nicht mehr der Jüngste und als Mann ist das mit dem Multitasking so eine Sache.“
Maxi bekam einen Lachflash nach dem anderen und so dauerte es eine Zeit, bis er sich wieder beruhigt hatte. Das hatten Dustin und Fynn natürlich mitbekommen und sich zu uns bewegt. Erst als ich ihnen alles erklärt hatte, mussten sie auch lachen. Aber sie lachten über Maxi. Mir war es etwas unangenehm, weil es ja auch noch andere Fahrgäste im Waggon gab. Also bat ich darum, dass wir uns wieder beruhigen sollten.
Dustin blieb noch einen Moment mit Fynn bei mir. Maxi hatte sich inzwischen auf seinen Platz zurückgesetzt.
„Schreibst du wieder für Nickstories oder etwas anderes?“
„Natürlich für Nickstories. Warum fragst du? Ich muss die begonnene Geschichte ja fertig schreiben.“
„Dürfen wir die vorab schon mal lesen? Es dauert immer so lange, bis die neuen Teile veröffentlicht werden.“
„Wenn ihr artig seid, können wir darüber sprechen.“
Ich schaute ihm in die Augen und versuchte dabei ernst zu bleiben, was mir aber nicht recht gelang. Ich begann zu lachen, denn sein Gesicht sprach für sich.
„Spaß beiseite. Wenn es euch interessiert, könnt ihr natürlich mal vorab lesen. Frag mich einfach danach. Dann geb ich euch das.“
„Cool, danke. Bislang waren die Storys immer mega spannend.“
Dustin ging zurück zu seinem Freund, der ihm einen Kuss gab. Leider hatte das zur Folge, dass zwei andere Zugreisende sich darüber aufregten und die Jungs anpöbelten. Erst konnte ich sie nur hören und dann auch sehen. Es waren zwei typische Jugendliche, die aus der rechten Szene kommen mussten. Äußerlich war das offensichtlich. Ich hielt mich noch einen Moment im Hintergrund und beobachtete das Geschehen.
Dustin und Fynn wurden immer mehr belästigt und jetzt auch geschubst. Maxi und auch Marek machten sich schon auf eine Auseinandersetzung gefasst. Das musste ich verhindern. Ich stand auf und ging zu meinen Jungs. Die beiden Typen pöbelten weiter und mit einem Blickkontakt schickte ich Tim los, den Zugbegleiter zu holen. Gleichzeitig wollte ich mich zwischen die Jungs und die Schwachmaten stellen. Bevor ich allerdings dort ankam, schubste der eine Dustin von seinem Sitz und dieser schlug mit dem Kopf gegen eine Haltestange. Jetzt war es genug. Ich ging resolut dazwischen und packte den einen der beiden und zog ihn energisch von Dustin weg. Es entstand ein Tumult und ich verlor leider den Überblick. Aber plötzlich war ein weiterer Fahrgast hinzugekommen, der den anderen Angreifer in Nullkommanichts auf dem Boden fixiert und ihn mit Kabelbindern gefesselt hatte. So hatte ich Zeit den anderen Angreifer abzuwehren. Der andere Fahrgast packte erneut zu und genauso schnell lag der Typ neben seinem Kumpel fixiert am Boden. Jetzt kehrte Ruhe ein und Tim kam mit dem Zugpersonal zu uns.
Dustin und Fynn saßen ziemlich verängstigt auf ihren Sitzen und ich wollte sie aus dem Bereich haben.
„Fynn, nimm dir Dustin und setzt euch bitte auf meinen Platz dahinten. Wir machen das hier.“
Die beiden Typen lagen immer noch auf dem Boden und beschwerten sich lautstark, als der Zugbegleiter mich fragte: „Können Sie mir bitte erklären, was genau vorgefallen ist?“
Ich berichtete, was vorgefallen war und zeigte auf Dustin und Fynn, als ich ihm erklärte, wer das Opfer gewesen war. Der Bahnmitarbeiter nahm sein Handy und telefonierte. Für mich war nicht ganz klar mit wem. Entweder mit dem Lokführer oder mit der Leitstelle. Jedenfalls bat er mich, die beiden Personen in sein Abteil zu bringen. Dort würden sie so lange bleiben, bis die Bahnpolizei am nächsten Bahnhof sie abholen würde.
Mein unbekannter Helfer stand immer noch bei Dustin und Fynn und sprach mit ihnen. Maxi hatte sich ebenfalls zu ihnen gesellt. Ich hob einen der beiden Täter vom Boden und stellte ihn auf die Beine. Da er sich nicht mehr wehren konnte, blieb es bei verbalen Attacken. Erst, als mein Helfer das registrierte, dass sie immer noch keine Ruhe gaben, kam er zu mir.
In einem trockenen Befehlston fuhr er die beiden Typen an und sofort herrschte Ruhe. Das beeindruckte mich enorm. Jetzt erst fiel mir sein Akzent auf. Wir verbrachten die beiden Unruhestifter in das Abteil des Zugbegleiters und erst danach blieb mir Zeit, mich mit meinem Helfer zu unterhalten.
„Vielen Dank für Ihre Hilfe. Allein wäre das sehr schwierig geworden.“
Er lächelte und erwiderte: „Nein, du hättest Hilfe von deinen Jungs bekommen. Aber ich wollte nicht, dass sie sich unnötig gefährden. Ich habe damit Erfahrung und solche Deppen darf man nicht laufen lassen.“
Sein Akzent verwirrte mich immer mehr. Es war kein englischer Akzent, aber er sprach sicherlich Englisch. Auch, dass er mich gleich duzte sprach dafür.
„Ich heiße übrigens Chris, meine Jungs hast du ja schon kennengelernt. Wie heißt du?“
Er gab mir die Hand und sagte: „Steven. Ja, deine Jungs habe ich bereits kennengelernt. Sehr nette Truppe. Du bist ihr Coach, sagten sie mir.“
Während wir miteinander sprachen, gingen wir zurück in unseren Waggon.
„Stimmt, wir sind auf dem Weg nach Berlin zu einem Tennisturnier.“
„Oh, ich fahre auch nach Berlin, allerdings zur Arbeit.“
„Ich bin immer noch sehr beeindruckt über deine schnelle Hilfe und wie du die beiden außer Gefecht gesetzt hast. Hast du immer Kabelbinder in der Tasche?“
Er fing an zu lachen und holte gleich noch ein paar dieser Plastikteile hervor.
„Ja, die habe ich immer dabei. Das habe ich mir in meinem Job angewöhnt. Sie sind sehr hilfreich in solchen Situationen.“
Mittlerweile waren wir bei Dustin und Fynn angekommen und es war schon klasse, was ich zu sehen bekam. Alle, wirklich alle Jungs kümmerten sich um die beiden und so war die Stimmung schon wieder sehr entspannt.
Steven nickte anerkennend.
„Sie wissen alle, dass die beiden zusammen sind?“
„Ja, mittlerweile ist es kein Geheimnis mehr. Glücklicherweise kommen damit alle sehr gut klar. Sag mal Steven, das hast du eben aber nicht zum ersten Mal gemacht. Was arbeitest du in Berlin?“
„Ich arbeite für die amerikanische Regierung. Ich bin Personenschützer beim Secret Service.“
Das führte zu seiner lustigen Reaktion bei den Jungs. Alle Köpfe drehten sich sofort zu ihm und schauten ihn staunend an.
„Ich habe es mir schon gedacht, dass du so was in der Art machst. Respekt, darf ich dich zu einem Kaffee im Speisewagen einladen?“
„Ja, gern. Da sage ich nicht nein. Kommen die Jungs auch mit? Oder kannst du die auch allein lassen?“, fragte er mit einem Augenzwinkern.
„Möchte jemand von euch mitkommen?“
Erstaunlicherweise meldeten sich nur Tim und Markus. Mit den beiden und Steven verließ ich unseren Waggon und nach wenigen Minuten saßen wir im Bordrestaurant und hatten uns einen heißen Kakao für Tim und Markus und eine Latte Macchiato für Steven und mich bestellt.
Steven erzählte uns ein wenig von seinem Werdegang und wie er nach Deutschland gekommen war. Für Tim und Markus war das natürlich sehr spannend. Es wurde eine sehr interessante Unterhaltung und so bemerkten wir nicht, dass es bereits halb acht war und wir noch kein Abendessen hatten.
„Tim, könntest du bitte die anderen fragen, ob sie auch etwas essen möchten? Wir haben noch eine gute Stunde Fahrt vor uns und ich habe Hunger.“
Tim stand sofort auf und ging die anderen fragen. Es dauerte auch nicht lange, da tauchte meine Truppe mit Burghard am Ende auf. Wenn jetzt vielleicht die Frage auftaucht, warum er mir nicht geholfen hatte, er hatte die ganze Szene verschlafen.
„Siehst du, da kommt meine Mannschaft. Habe ich doch gewusst, wenn es um Essen geht, sind alle sofort da.“
Wir hatten sehr viel Spaß beim Essen, denn Steven erzählte doch einiges aus seinem Beruf und das war natürlich spannend. Erst als ich bezahlt hatte und wir wieder an unserem Platz angekommen waren, hatte ich Zeit, mich einmal in Ruhe mit Dustin und Fynn zu unterhalten.
„Wie geht es euch? Habt ihr diesen Vorfall gut überstanden?“
„Ja“, sagte Dustin, „es ist alles ok. Ich habe nur noch leichte Kopfschmerzen von dem Sturz gegen die Stange. Sonst ist alles gut.“
Fynn regte sich doch mehr auf.
„Solche Typen sind einfach nur peinlich. Das Problem ist doch jetzt, sie werden eh wieder laufen gelassen und können damit weitermachen. Das finde ich scheiße.“
Er hatte nicht unrecht, vermutlich würde es genauso laufen. Egal, mit Steven hatte es jemanden gegeben, der sich sofort eingesetzt hatte. Das zählte für mich.
„Wir sollten versuchen, diesen Vorfall schnell zu vergessen. Wichtig war doch, dass Steven sofort geholfen hat und es zeigt, dass es Menschen gibt, die das nicht unterstützen. Wir müssen übrigens in zehn Minuten aussteigen. Der nächste Halt ist Spandau. Da müssen wir aussteigen.“
Burghard gab diese Information an alle weiter und so kam es, dass wir fünfzehn Minuten später vor dem Bahnhof in Spandau standen. Steven hatte sich von uns im Zug verabschiedet. Er musste noch zwei HALT weiter. Allerdings hatte er mir seine Adresse und Handynummer gegeben, falls es für eine Aussage notwendig wäre.
Ich hatte mich vorher schon erkundigt, wie wir zum Hotel kommen würden. Wenn wir nicht so viel Gepäck dabei hätten, wäre es sicher einfach gewesen, mit der S-Bahn weiterzufahren. Burghard hatte sich aber schon aus dem Zug um ein Großraumtaxi bemüht. Es würde etwa zehn Minuten dauern bis es uns in unser Hotel im Grunewald bringen würde.
Das Seehotel Grunewald war für uns eine ideale Unterkunft. Es lag in unmittelbarer Nähe zum Turnierort. Theoretisch mussten wir nur durch den Wald gehen und würden direkt auf die Anlage des LTTC Rot-Weiß Berlin kommen. Außerdem war es ein gutes, aber nicht luxuriöses Hotel. Schön ruhig an der Havel gelegen und für uns eh nur ein Rückzugsort. Die meiste Zeit würden wir auf der Anlage des LTTC verbringen.
Unser Taxifahrer machte dem Ruf der Berliner Taxifahrer alle Ehre. Er war sehr freundlich und hilfsbereit, seine Ortskenntnis hervorragend. Es dauerte nur wenige Minuten und wir konnten im Hotel einchecken. Selbst beim Ausladen der Taschen half unser Fahrer. Ich bezahlte die Fahrt und gab ihm auch ein Trinkgeld. Da konnten sich die Taxifahrer bei uns eine Scheibe von abschneiden. Berlin hatte uns positiv empfangen und ich war sehr gespannt, wie das weitergehen würde.
Das Einchecken ging auch sehr zügig und die Zimmer waren schnell verteilt. Mit einem Blick auf die Uhr war schnell klar, heute würden wir nicht mehr viel machen. Burghard und ich verabredeten uns noch zu einem Strategiegespräch in der Hotelbar und die Jungs hatten frei bis zum Frühstück. Wobei frei bedeutete, dass es kein Programm mehr gab. Sie durften allerdings das Hotel nicht mehr verlassen, was aber eh keiner vorhatte bei der Uhrzeit.
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