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Second serve
Teil 12
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Informationen
- Story: Second serve
- Autor: cdwgrisu
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Lovestory
Inhaltsverzeichnis
- Chris: Willkommen in der Heimat
- Fynn: Endlich wieder zu Hause
- Chris: Teambesprechung mit Jan
- Dustin: Endlich vorbei
- Chris: Training und Wochenende in Langenfeld
- Fynn: Fahrt nach Hamburg
- Chris: Es geht los
- Fynn: Ein kurzer Abend und Carlo kommt auch
- Chris: Stress und die Folgen
- Fynn: Finale oder Heimfahrt
- Chris: Halbfinale winkt
Chris: Willkommen in der Heimat
Die letzten Kilometer Bahnfahrt lagen vor uns. Wir hatten heute noch eine sehr interessante Stadtrundfahrt in Berlin gemacht und sind anschließend in den ICE gestiegen. Meine Jungs waren, genau wie ich, ziemlich kaputt und müde. Ich war froh, wieder nach Hause zu kommen. Diese ständige Reiserei, wie sie mein Bruder machte, wäre auf Dauer nichts für mich.
Schön fand ich, dass Joachim Dustin und Fynn ein wenig den Alexanderplatz gezeigt hatte und sie so noch etwas von dem Nachtleben mitbekommen hatten.
Unsere Bahnfahrt war heute schon in Bielefeld zu Ende, denn dort wollte uns Thorsten mit dem Mannschaftsbus abholen. Insbesondere Tim war während der gesamten Fahrt sehr still gewesen. Nur Fynn und Dustin genossen die Fahrt in vollen Zügen, denn hier hatten sie endlich Zeit, in Ruhe miteinander über vieles zu reden und nicht mit anderen Terminen verplant zu sein. Ich freute mich auch für sie, denn es sah immer wieder niedlich aus, wie sie sich gegenseitig mit kleinen Zärtlichkeiten verwöhnten.
Thorsten hatte ich unsere Ankunftszeit mitgeteilt und wir standen jetzt in Hannover im Bahnhof. Dort hatten wir noch einige Minuten Aufenthalt. Ich hatte den Zug verlassen und stand auf dem Bahnsteig, als eine Durchsage kam. Der Zug konnte nicht pünktlich abfahren, weil ein anderer ICE Verspätung hatte und wir auf diesen warten mussten. Also hatte ich noch etwas Zeit, mich auf dem Bahnsteig umzusehen. Da tauchte Tim in der Zugtür auf und schaute sich um. Ich winkte ihm zu. Als er mich gesehen hatte, kam er zu mir.
„Kannst du mir bitte sagen, wie viel wir später ankommen? Meine Eltern wollten mich in Bielefeld abholen. Meine Mutter meinte, dass sie mich schon zu lange nicht mehr gesehen hätte.“
„Du weiß aber, dass morgen wieder Schule ist?“
„Klar, sie bringen mich heute Abend noch wieder zurück.“
Ich schaute auf die Anzeigetafel.
„Wenn das so stimmt, was dort steht, dann sind wir um kurz nach vier in Bielefeld.“
„Danke. Und ich fand es ein cooles Turnier. Du hast uns toll betreut. Das macht echt Spaß, mit dir unterwegs zu sein.“
Dann drehte er sich einfach wieder um und ging zurück in den Zug.
Es war ein schönes Gefühl, wenn die Jungs mir so ein Feedback gaben. Joachim schickte ich eine Nachricht, dass bei uns alles gut sei und stieg dann auch wieder in den Zug. Als ich mich auf meinen Platz gesetzt hatte, kam Dustin zu mir.
„Kann ich dich mal etwas fragen?“
„Klar.“
„Hast du gestern Abend keine Sorgen gehabt, wir könnten unseren Sieg vielleicht etwas mehr feiern?“
„Nein, wenn ich davor Angst gehabt hätte, dürfte ich euch nicht los schicken. Ich habe mir keine Sorgen gemacht, denn ich hatte darauf vertraut, dass ihr das nicht tun werdet. Aber sollte es passieren, werdet ihr vor dem nächsten Mal Angst haben. Ich werde davor keine Angst haben.“
Dustin schaute mich an, als ob ich ein Gespenst sei. Er überlegte, wie ich das gemeint haben könnte. Fynn hatte meine Antwort mitbekommen und lachte sich halb tot. Er kannte meine Haltung dazu bereits sehr gut. Er half seinem Freund auf die Sprünge.
„Chris hat deshalb keine Angst davor, weil er genau weiß, was er dann zu tun hätte. Es ist keine Situation, auf die er nicht vorbereitet ist. Allerdings wäre er schwer enttäuscht und das würdest du dann im Anschluss merken.“
Jetzt schaute Dustin zu Fynn und bekam große Augen. Dann machte es bei ihm Klick und er nickte.
„Ah, jetzt habe ich es verstanden. Cool, davon sollten sich meine Eltern auch mal etwas abschauen.“
„Nein, das sehe ich anders. Mütter können und dürfen damit anders umgehen. Sie sind anders von dem Fehlverhalten ihrer Kinder betroffen. Ich habe es da einfacher. Ich kann sagen, das machst du kein weiteres Mal oder ich kann mich zurückziehen. Eltern können das nicht so einfach. Es gibt eigentlich nur eine Möglichkeit, die für alle eine gute Lösung darstellen würde. Wenn Erwachsene und Jugendliche miteinander reden und sich gegenseitig vertrauen können. Dann geht es so wie bei euch. Ich kann euch laufen lassen und ihr wisst, was ihr besser nicht tun solltet.“
Mittlerweile fuhr der Zug langsam aus dem Bahnhof von Hannover heraus und Dustin hatte wirklich darüber nachzudenken. Er fragte mich:
„Warum sind eigentlich die meisten Lehrer oder auch Trainer nicht so wie du? Du kannst einem alles erklären und mir wird klar, warum du das gerne so oder so hättest. Meine Mutter würde einen tierischen Aufstand machen.“
„Und du könntest nicht mehr mit ihr reden, weil sie dir gar nicht mehr zuhört.“
Jetzt hatte ich ihn vollends überrumpelt. Tim und Fynn lachten. Dustin schüttelte den Kopf und erwiderte:
„So habe ich das noch gar nicht gesehen. Also wäre es besser in der Situation, gar nicht in eine Diskussion einzusteigen. Mama hört mir eh nicht zu.“
„Genau, entweder du lässt erst gar nicht so eine Situation entstehen und klärst das im Vorfeld oder du wartest bis sie sich beruhigt hat und redest dann erst mit ihr.“
„Ok, das habe ich verstanden. Cooler Ansatz. Danke.“
Ich konnte jetzt wieder etwas entspannen und nahm meinen Laptop, um ein wenig an meiner neuesten Geschichte für Nickstories zu schreiben. Tim beschäftigte sich mit seinem Handy und Dustin und Fynn dösten ein wenig vor sich hin. Es machte sich die allgemeine Erschöpfung breit.
In Bielefeld nahm jeder seine Taschen und wir verließen den Zug. Wir sprachen nicht viel auf dem Weg in die Eingangshalle. Dort nahm uns Thorsten in Empfang.
Auch Tims Mutter war gekommen. Sie begrüßte ihren Sohn überschwänglich und ich konnte Tim ansehen, dass ihm das unangenehm war. Er war halt kein kleiner Junge mehr.
Allerdings bedankte sich seine Mutter bei mir für die Begleitung und den Erfolg. Das war eine nette Geste und zeigte mir, dass immerhin so etwas wie Anerkennung vorhanden war. Ich war mir aber auch sicher, dass es hier noch die eine oder andere Auseinandersetzung geben würde.
Thorsten wartete geduldig, bis ich mit Tims Mutter fertig war. Anschließend gingen wir zum Auto und fuhren in Richtung Halle. Dustin und Fynn waren tatsächlich im Auto innerhalb weniger Minuten eingeschlafen. Thorsten lachte.
„Na, jetzt zeigt sich doch, dass unsere beiden Cracks auch Menschen sind. Sie sind müde.“
„Können sie auch wirklich sein. Es war anstrengend und ich freue mich ebenfalls auf mein Bett. Mein Rücken mag es nicht so gern in schlechten, fremden Betten schlafen zu müssen.“
„Ja, das kann ich mir vorstellen. Aber das lässt sich leider nicht immer vermeiden. Lass dir bei Kolja einen Massagetermin geben. Dann geht es dir wieder besser.“
„Das ist eine gute Idee. Am besten ich frage mal direkt, ob ich nicht gleich noch vorbeikommen kann. Für den Rücken wäre das sicher nicht schlecht.“
Thorsten nickte und wir fuhren zuerst die Jungs in die WG. Martina erwartete sie bereits und nahm sie in Empfang. Wir verabschiedeten uns recht schnell, denn jetzt sollten sie sich erholen.
Ich hatte Glück, denn Kolja hatte spontan Zeit für mich. Er nahm mich einfach zwischen zwei anderen Terminen rein.
Thorsten stellte den Bulli auf dem Parkplatz am Club ab und ich lud meine Taschen in mein Auto. Dann fragte mich Thorsten:
„Hast du schon etwas gegessen? Wenn du möchtest, lade ich dich nach der Massage im Sporthotel zum Essen ein.“
„Oh, das gefällt mir. Danke. Also bis gleich.“
Ich machte mich auf den Weg in die Physiotherapie. Dort wurde ich bereits erwartet und Kolja begrüßte mich.
„Hi Chris. Herzlichen Glückwunsch zu diesem tollen Erfolg. Deine Jungs waren wohl gut drauf.“
„Hi Kolja, danke. Allerdings ist das der Erfolg des ganzen Teams. Ich habe sie nur begleitet.“
„Jaja, das übliche Gerede von dir. Du hast dich kein Stück verändert. Warum stellst du deine Arbeit so in den Hintergrund? Kaum ein anderer Coach ist so beliebt wie du. Ich bekomme es ja oft genug zu hören von den Jungs. Du machst gute Arbeit.
So, jetzt zu deinem Rücken. Wo genau hast du Probleme?“
„Es ist wie immer im Lendenwirbelbereich. Ich vertrage diese Hotelbetten nicht besonders gut. Meine Matratze und Bett sind halt extra für mich angefertigt worden.“
„Ok, dann komm mal mit.“
Wir gingen in einen Behandlungsraum und im Wartebereich saßen einige Spieler und auch fremde Personen. Kolja hatte eine eigene Praxis, also nicht nur für die Spieler und Trainer, sondern auch für normale Patienten.
Als wir in einem der Behandlungsräume ankamen, bat er mich, meinen Oberkörper frei zu machen. Anschließend tastete er meine Wirbelsäule ab und machte mir klar:
„Ich glaube, du rostest langsam ein. Du solltest mehr für dich tun. Thorsten sagte mir, dass du auch selbst lange gespielt hast. Warum hast du aufgehört? Deine Verletzung scheint nicht so gravierend zu sein, dass gar nichts mehr möglich ist.“
„Ich habe Lähmungen bekommen und hatte immer Schmerzen bei jedem Ballkontakt. Das machte einfach keinen Sinn mehr.“
„Hm, ok. Lass uns mal schauen. Eines ist aber ganz klar. Du musst dich mehr bewegen und mehr für deinen Rücken tun. Also nicht nur deine Übungen machen, sondern richtigen Sport. Hättest du denn Lust, wieder mehr selbst den Schläger zu schwingen?“
„Klar, aber nur, wenn das Risiko nicht zu groß wird.“
„Das werden wir gemeinsam feststellen. Heute werde ich dich erst einmal nur so behandeln, dass du weniger Schmerzen hast. Morgen kommst du bitte vor dem Training vorbei und dann werden wir uns das genau anschauen.“
Ich legte mich jetzt auf die Massagebank und Kolja hatte einfach goldene Hände. Innerhalb von einer Viertelstunde hatte er es geschafft, dass ich vollkommen gelockert von der Pritsche aufstand und nicht einmal einen Druck mehr auf der Brust verspürte.
„Wow, das fühlt sich grandios an. Danke.“
„Gern, also du kommst morgen vor dem Training vorbei und ich möchte, dass du deine Schläger auch zum Training mitnimmst. Carlo fängt ja auch wieder an und ist bei mir in Behandlung. Da ist vielleicht ein gemeinsames Programm drin.“
Ich war leicht irritiert, denn mein Neurochirurg hatte immer gefordert, kein Tennis mehr zu spielen. Nun gut. Ich ließ das mal auf mich zukommen.
Als ich den Raum verließ und über den Flur ging, lief mir Carlo über den Weg. Er strahlte, als er mich sah.
„Hi Chris. Glückwunsch. Ihr habt ja ein super Ergebnis gespielt. Ich mache auch Fortschritte. Endlich kann ich wieder auf den Platz. Ist zwar noch lange nicht wieder so wie es war, aber es geht vorwärts.“
„Super, das freut mich. Es hat ja auch lange genug gedauert. Wie oft darfst du schon wieder auf den Platz?“
„Dreimal die Woche, aber immer nur eine halbe Stunde und noch lange nicht mit voller Intensität. Thomas achtet streng auf die Vorgaben von Kolja und Christoph.“
„Das ist auch gut so. Du würdest doch eh wieder mehr als angesagt machen. Also bitte an die Vorgaben halten.“
Er schlug meine Hand ab und damit verließ ich die Praxis in Richtung Restaurant. Dort wollte ich mich mit Thorsten treffen.
Thorsten saß natürlich noch im Büro und war schon wieder mit Planungen für die nächsten Turniere beschäftigt. Als ich eintrat, kam mir Burghard entgegen.
„Hi Chris, gratuliere. Das war ja eine tolle Aktion, gleich zwei Titel mitzubringen. Wow. Damit habe ich nicht gerechnet. Wie hat sich Tim so angestellt? Gab es noch Probleme?“
„Danke, nein. Er hat sich wunderbar eingefügt. Ich bin sehr zufrieden und es gab keine Probleme mehr.“
„Ok, dann erhole dich mal etwas und wir sehen uns dann morgen zur Teambesprechung. Wir haben die extra von heute auf morgen verlegt. Thorsten wird dir sicher gleich noch was dazu erklären.“
„Danke und bis morgen dann.“
Er verließ das Clubhaus und ich setzte mich zu Thorsten an den Schreibtisch.
„Du brauchst dich gar nicht erst hinzusetzen. Für dich ist jetzt nicht mehr Arbeit angesagt. Lass uns hier verschwinden.“
Er fuhr den Rechner herunter und wir verließen anschließend das Büro.
„Wir gehen am besten zu Fuß rüber. Oder möchtest du mit dem Auto fahren?“
„Nein, nein. Laufen ist gut. Tut mir bestimmt gut nach der langen Bahnfahrt.“
„Wie geht es deinem Rücken? Hat Kolja dir helfen können?“
„Ja, wirklich sehr gut. Danke. Ich glaube, ich sollte mich vielleicht doch regelmäßig bei ihm behandeln lassen.“
„Warum denn auch nicht? Die anderen Coaches gehen auch regelmäßig dorthin. Hat er sonst noch etwas gesagt?“
„Ja, er ist der Meinung, ich sollte mich mehr bewegen. Allerdings ist das genau das Gegenteil von dem, was mein Neurochirurg sagt. Kolja möchte, dass ich wieder Tennis spiele. Ich habe aber Angst, dass es schwere Schäden gibt.“
Wir betraten das Sporthotelrestaurant und wurden sehr freundlich empfangen. Thorsten ging voran und führte mich direkt an einen schönen Tisch. Es war mittlerweile früher Abend und schon guter Betrieb.
Wir bekamen zwei Speisekarten und ich bestellte mir natürlich eine Fassbrause als Getränk.
Nachdem wir unsere Bestellung aufgegeben hatte, fragte Thorsten:
„Warum versuchen wir nicht einen Konsens mit deinem Neurochirurgen zu finden? Sprich mit Kolja, ob er nicht mal mit deinem Arzt Kontakt aufnehmen kann. Vielleicht gibt es ja eine Lösung. Würdest du denn überhaupt wieder spielen wollen?“
„Hallo? Na klar, aber eben nur, wenn es wirklich vertretbar ist.“
„Na sicher, aber ich bin überzeugt, dass Kolja niemals ein Risiko eingehen würde. Lass dich von ihm behandeln und bleibt im Gespräch. Dann schauen wir mal, ob wir den alten Drachen nicht wieder in Bewegung bringen können.“
Als er das gesagt hatte, musste ich lachen.
„Ok, ich werde mich nicht dagegen wehren, wenn es wirklich sicher ist. Noch einmal in den Rollstuhl will ich nicht.“
„Schon klar. Was anderes. Erzähl mir doch mal ein bisschen von dem Finaltag. Ich weiß bislang nur, dass Tim und Fynn gewonnen haben.“
Ich gab ihm einen ausführlichen Bericht und er hörte sich alles ganz genau an. Erst als ich fertig war, fragte er nach:
„Wie siehst du Tims Entwicklung? Er war in Berlin ja richtig gut und motiviert. Über Fynn und Dustin muss ich nicht mehr reden. Die haben beide so einen gewaltigen Sprung nach vorn gemacht, seit du mit ihnen arbeitest. Das ist schon fast unheimlich.“
„In Berlin hat sich Tim sehr angenehm gezeigt. Er hat sich für das Team eingesetzt und ich konnte ein paar gute Gespräche mit ihm führen. Ich denke, wir sollten in der Trainerbesprechung mal darüber mit den anderen diskutieren. Bei Tim wird es nicht reichen, nur mit ihm zu trainieren. Er braucht mehr Anleitung, auch für außerhalb des Platzes. Ich glaube, er würde mit Carlo ein gutes Team abgeben. Die beiden verstehen sich bestens und sind doch so total verschieden. Tim fehlt einfach nur die persönliche Anbindung.“
Thorsten nickte und ich wusste sofort, dass bereits über das Thema gesprochen wurde. Mal abwarten, was sich dort entwickeln würde.
Wir bekamen unser Essen und während des Essens redeten wir nicht über Tennis. Eigentlich sprachen wir über sehr persönliche Dinge. Ich fühlte mich wohl bei diesem Beisammensein. Erst, als wir den Nachtisch bekamen, ging es wieder über das Thema Tennis und Planung.
„Burghard hat uns schon seinen Bericht gegeben und auch wir haben uns bereits ein paar Gedanken gemacht. Fynn und Maxi sind die beiden Spieler, die schon am weitesten entwickelt sind. Ich möchte die beiden Jungs gern in den erweiterten Bundesligakader stecken. Was denkst du darüber?“
„Hm, ich weiß nicht. Spielerisch ist das sicher eine Herausforderung und eine Belohnung. Nur weiß ich nicht, wie Dustin damit umgehen wird. Das sollten wir im Vorfeld vorsichtig abklären. Und Fynn würde niemals über eine längere Zeit ohne seinen Freund sein wollen. Jedenfalls im Moment nicht.“
Thorsten lachte und beruhigte mich sofort:
„Keine Sorge, er kann sicher jederzeit mit der Mannschaft mitfahren und wäre ein guter Trainingspartner. Da finden wir sicher eine Lösung. Sportlich wärst du einverstanden?“
„Ja, wie schon gesagt, es wäre eine Herausforderung und eine Belohnung. Dass sie Teamplayer sind, haben sie gerade wieder deutlich unter Beweis gestellt. Was sagt denn Gerry dazu? Oder weiß er noch nichts von euren Plänen?“
„Zum Ersten sind das unsere Pläne und zum Zweiten kam dieser Vorschlag von ihm. Er hat mich sofort nach dem Titelerfolg angerufen und gefragt, ob wir das schon für richtig halten würden. Ich glaube, Gerry mag die Jungs und findet ihre Arbeitsmoral gut.“
Wow, damit hatte ich nun überhaupt nicht gerechnet.
„Gut, damit ist alles gesagt. Dann meldet sie im erweiterten Kader. Was ganz anderes, wann genau sind die deutschen Mannschaftsmeisterschaften in Hamburg?“
„In der kommenden Woche. Das heißt also, diese Woche Schule und dann wieder eine Woche nur Tennis. Wenn wir weit genug kommen sollten.“
„Wer soll denn zum Kader gehören, außer Fynn, Dustin und Maxi?“
Thorsten überlegte kurz und antwortete dann:
„Marek als Stammspieler und Tim soll als Ersatz mitfahren. Er hat es sich verdient, meinte Burghard. Thomas findet ihn zwar noch zu jung, aber ich bin Burghards Meinung. Er soll dort Erfahrungen sammeln und vor allem kennt er bereits die anderen gut. Er hat ein tolles Doppel mit Fynn gespielt. Das wäre immer eine Alternative. Dass er manchmal schwierig ist, weiß ich auch. Allerdings werde ich das Gefühl nicht los, dass Thomas nicht ganz unbeteiligt an diesen Problemen ist.“
„Es gibt für mich auch noch einen wichtigen Grund, er hat schließlich die Mannschaft dorthin gebracht. Er hat im Halbfinale gut gespielt.“
„Das stimmt. Danke. Daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Also Tim fährt mit.“
Unser Gespräch entwickelte sich noch zu einem interessanten Austausch von Ideen. Allerdings spürte ich langsam, dass meine Kräfte schwanden. Ich war müde und Thorsten bemerkte das.
„Lass uns für heute Schluss machen. Du bist bestimmt nach so einer Woche müde. Wir machen morgen weiter. Du denkst an die Teamsitzung nach dem Training?“
„Klar, ich werde wohl einen Bericht abgeben müssen.“
Thorsten erwiderte grinsend:
„Das könnte wohl passieren. Bevor du dich morgen erschreckst, Jan wird auch dabei sein. Er hat extra seinen Abflug nach Paris verschoben.“
„Nanu, so wichtig wird diese Besprechung doch nicht sein, oder habe ich etwas versäumt?“
„Es ist eine normale Sitzung. Keine Panik.“
Ich war nicht sonderlich beruhigt. Jan würde seinen Abflug zu einem großen Turnier wie Paris nicht einfach so verschieben. Allerdings wollte Thorsten mir jetzt nicht mehr sagen. Deshalb beschloss ich, auch nicht weiter zu fragen, sondern müde nach Hause zu fahren.
Ich bedankte mich für die Einladung und das sehr gute Gespräch und damit war das Kapitel Berlin für mich erfolgreich abgeschlossen.
Fynn: Endlich wieder zu Hause
Als wir unser kleines Appartement betraten, fühlte ich mich wirklich wieder zu Hause angekommen. Zum ersten Mal sind wir eine Woche weg gewesen und ich hatte das Empfinden nach Hause zu kommen. Meine Tasche stellte ich ab und auch Dustin stellte seine Sachen ab. Martina stand in der Tür und fragte:
„Möchtet ihr noch etwas essen? Dann mache ich euch schnell eine Kleinigkeit.“
„Oh ja, gerne. Ich habe Hunger“, antwortete Dustin sofort.
Mein Magen meldete sich ebenfalls und es war toll, dass Martina so aufmerksam war. Ich hatte das früher bei mir zu Hause immer vermisst. Hier jedoch hatte ich das Gefühl von erwünscht sein.
„Komm, lass uns die Taschen gleich auspacken, sonst habe ich später keine Lust mehr dazu.“
Dustin verzog seinen Mund und antwortete: „Du alter Antreiber, nicht mal Luftholen kann man hier. Aber du hast ja recht. Lass uns gleich die Sachen auch in die Waschmaschine stecken.“
So füllten wir mit unseren benutzten Sachen die Waschmaschine und gingen anschließend in die Küche, wo uns Martina mit ihren leckeren Bratkartoffeln erwartete.
„Setzt euch, ist gleich alles fertig. Wie geht es euch?“
„Danke, eigentlich nur müde, aber sonst gut. Es war ganz schön anstrengend. Dafür ist es aber toll, von dir so empfangen zu werden, danke.“
„Gerne Fynn. Ich habe es von Carlo schon gehört, dass ihr richtig erfolgreich gewesen seid. Außerdem sollt ihr euch hier auch zu Hause fühlen. Ich mache es gern für euch. Ihr tut ja auch immer für die anderen etwas.“
Wir berichteten Martina von unseren Erlebnissen und sie hörte aufmerksam zu. Das war genau das, was mir so gut tat. Ich konnte erzählen, was ich erlebt hatte. Das war bei mir in der Familie nicht möglich. Auch Dustin hatte irgendwann seine Zurückhaltung aufgeben. Seine Erzählungen standen den meinen in nichts nach. Martina nahm sich viel Zeit für uns und plötzlich ging die Tür auf und Carlo stand vor uns. Er grinste uns an:
„Hab ich doch richtig gehört. Unsere Meistertruppe ist wieder da.“
„Hi Carlo, wie geht es dir? Du bist wieder auf dem Platz?“
Martina war natürlich nicht so begeistert, dass Carlo noch bei uns blieb, weil es schon spät war, aber sie ließ ihn gewähren und so hatten wir noch über eine Stunde zusammen gesessen, bevor Dustin und ich nur noch ins Bett wollten.
„Lasst uns morgen weiter reden. Ich bin einfach nur müde“, sagte ich.
Dustin schien ich damit aus der Seele gesprochen zu haben, denn er schaute mich dankbar an. Carlo hingegen musste noch eine schnippische Bemerkung machen:
„Ja, ja, Müdigkeit nennt ihr das. Ihr wollt doch nur endlich auch euren Spaß im Bett haben.“
Das führte dazu, dass Dustin sich Carlo griff und ihn durchkitzelte. Er quietschte und kreischte, bis Dustin Mitleid hatte und ihn wieder frei ließ. Martina lachte und ich musste auch grinsen. Carlo hatte einen Kopf so rot wie eine Tomate, als er die Küche verließ.
Wir räumten noch die Küche auf und verabschiedeten uns in unser Appartement.
Bevor wir ins Bett gingen, sprangen wir noch gemeinsam unter die Dusche. Was eigentlich nur als Erfrischung gedacht war, endete in einer sehr entspannenden Massage mit einem nahezu gleichzeitigen Höhepunkt. Das hatte mir einfach in der ganzen Woche gefehlt. Die ungestörte Zweisamkeit mit allen Zärtlichkeiten. Dustin schien das genauso zu gehen, denn wir setzten uns noch für einen Augenblick eng aneinander gekuschelt aufs Sofa.
„Morgen geht es wieder in die Schule. Ich könnte mich auch daran gewöhnen, nur Tennis zu spielen.“
Dabei grinste Dustin mich frech an. Ich wusste, das war nicht ernst gemeint. Dennoch war die Woche ohne Schule ganz nett. Das lag vermutlich auch an dem großen Erfolg.
„Wir werden sicherlich dafür bluten müssen. Schließlich müssen wir den Stoff ja nachholen. Aber irgendwie freue ich mich auch auf die Freunde und etwas Abwechslung. Am liebsten würde ich morgen mal einen Tag ohne Tennis haben.“
„Ja, ich auch, aber Chris wird uns schon passend trainieren. Er weiß auch, dass das anstrengend war. Lassen wir uns mal überraschen, aber jetzt gehen wir schlafen. Ich bin einfach nur müde.“
Dustin stand vom Sofa auf und zog mich hinter sich her. Es dauerte auch nur wenige Minuten bis wir eingeschlafen waren.
Am nächsten Morgen hatte ich große Probleme aus dem Bett zu kommen. Ich hatte in allen Bereichen Schmerzen und fühlte mich um Jahrzehnte gealtert. Mein Freund hatte leider überhaupt kein Mitleid mit mir und begann mich zu kitzeln. Ich hatte also keine andere Alternative, als doch aufzustehen.
Beim Frühstück saßen wir alle zusammen. Auch Carlo und Tim waren dabei. Wir hatten mittlerweile die getrennten Bereiche nahezu aufgegeben. Wir waren ein Team und verstanden uns bestens. Nur die Wohnbereiche waren weiterhin getrennt, obwohl auch hier jeder bei jedem sein konnte. Für Martina erleichterte das auch erheblich ihre Arbeit.
Carlo und Tim waren natürlich schon hellwach und hielten alle auf Trab. Maxi kam wie immer als letzter aus dem Bad und alles schien wie immer. Erst, als wir den Tagesablauf besprachen, wurde mir deutlich, wir waren wieder im Alltag angekommen. Schule stand auf dem Hauptprogramm.
Als ich in meiner Klasse ankam, wurde ich sehr freundlich empfangen. Viele wollten wissen, wie es uns ergangen ist und erstaunlicherweise wusste Frank schon genauestens Bescheid. Er gratulierte mir zu meinem Titel.
„Woher weißt du das denn schon? So schnell spricht sich das hier herum?“
Er lachte.
„Nein, aber ich habe im Internet recherchiert und das Turnier verfolgt. Dort wurden immer die Ergebnisse aktuell eingegeben. Ich finde es richtig klasse, dass ihr so erfolgreich gewesen seid. Eigentlich sollte das mal gefeiert werden. Immerhin haben wir jetzt einen deutschen Meister in unserer Klasse.“
Er hatte das laut genug gesagt, so dass einige aus meiner Klasse lautstark zustimmten.
„Hey, langsam. Wie stellt ihr euch das vor? Wir können bei uns in der WG nicht einfach eine Party machen. Außerdem muss das warten, denn wir sind nächste Woche in Hamburg zu den Finals der Mannschaften.“
Frank ließ sich nicht beeindrucken.
„Nix da, ist schon alles organisiert. Freitagabend treffen wir uns alle bei Nico. Er hat einen tollen Partyraum und einen großen Garten. Dort wird gefeiert. Und bevor du dir noch andere Ausreden einfallen lässt, Dustin ist natürlich auch eingeladen. Also, Widerstand ist zwecklos.“
Damit hatte ich absolut nicht gerechnet. Meine Klasse machte meinetwegen eine Grillparty und lud auch Dustin mit ein. Naja, ein wenig mulmig war mir schon, denn es gab auch ein paar Blödmänner, die uns immer wieder dumm anmachten. Egal, ich freute mich schon, dass sie so etwas für mich organisierten.
„Also gut, überredet. Was sollen wir mitbringen?“
„Nichts, es gibt ein Organisationskomitee, die alles regeln. Jeder bringt aber fünf Euro in die Kasse mit. Davon werden die Unkosten bestritten.“
„Das ist cool, machen wir. Sonst noch was?“
Jetzt grinste Frank und Nico kam zu uns hinzu, der sagte:
„Ja, eine Sache gibt es da noch, die du mitbringen musst. Deinen Pokal für den Titel. Schließlich soll aus dem auch standesgemäß getrunken werden.“
Jetzt fingen alle an zu lachen und ich musste einfach mit lachen. So eine Begrüßung hatte ich wirklich nicht erwartet. Hoffentlich hatte Dustin nichts gegen diese Idee einzuwenden.
In diesem Moment betrat unser Englischlehrer den Raum. Es wurde still und jeder ging auf seinen Platz.
Eine normale Begrüßung in Englisch folgte und dann gratulierte er mir zu meinem Erfolg. Das war ein tolles Gefühl, dass auch ein Lehrer meine Leistung anerkannte. Das hatte ich so noch nicht erlebt. In keiner anderen Schule von mir.
Der Unterricht verlief normal. Ich war etwas beruhigt, weil ich nicht so viel Stoff verpasst hatte, wie erwartet. Das sollte ich schnell aufholen können.
In der Pause traf ich mich natürlich mit Dustin und erzählte ihm von meinen Erlebnissen aus der Klasse. Er freute sich für mich und fand die Idee mit der Party total lustig. Allerdings konnte ich auch wieder seine Unsicherheit spüren. Nicht mehr so stark, aber sie war da.
„Du kommst aber am Freitag mit zur Party. Nicht, dass du denkst, du könntest dich da herausreden.“
Dabei gab ich ihm einen Kuss und er legte seine Arme um mich und antwortete:
„Ok, ok. Ich gebe mich geschlagen. Wir sollten aber Chris fragen, ob er einverstanden ist. Immerhin haben wir in der nächsten Woche die Finals der Mannschaftsmeisterschaften. Die sind für den Verein und das Team sehr wichtig.“
„Klar fragen wir Chris, aber ich würde eher sagen, wir fragen nicht, sondern sagen ihm nur Bescheid. Er wird nichts dagegen haben, weil er uns vertraut, dass wir nicht zu viel trinken.“
Damit hatten wir das auch geklärt und ich war sehr froh darüber, dass Dustin nicht mehr so ablehnend und ängstlich war.
Chris: Teambesprechung mit Jan
Der Vormittag verlief in meiner Dienststelle recht ruhig und die Planungsgespräche waren schnell abgearbeitet. Nach einem kurzen Mittagessen ging es direkt nach Halle zum Training mit meinen Jungs. Heute hatte ich ein leichtes Regenerationstraining geplant. Die Woche war anstrengend und einen Tag ruhiges Training war wichtig.
Die Stimmung war gut und es wurde auch viel auf dem Platz gelacht. Erst zum Ende der Einheit wollte ich noch etwas Leistung abfordern.
„Einmal zusammenkommen, bitte.“
Die Bälle wurden angehalten und alle kamen bei mir zusammen. Maxi hatte wie immer als erster etwas zu sagen:
„Lässt du uns heute etwa schon Feierabend machen?“
Ich schaute Maxi streng an und er wusste direkt, dass sein Kommentar unpassend war. Ich reagierte nicht weiter darauf, sondern machte eine Ansage:
„Zum Abschluss gibt es noch eine Aufgabe. Ihr spielt Punkte aus und es kann nur mit dem Aufschlag ein Punkt gemacht werden. D.h., macht der Rückschläger einen Punkt, bekommt er das Recht, aufschlagen zu dürfen und kann dann mit dem nächsten Punkt einen zählbaren Erfolg verbuchen. Wer zuerst fünfzehn Punkte macht, hat gewonnen. Der Letzte muss den Platz abziehen und macht noch zehn Liegestütze.“
Damit war natürlich der Ehrgeiz eines jeden geweckt und entsprechend motiviert spielten sie auch. Keiner wollte sich die Blöße geben Letzter zu werden. Diesmal spielten aber Dustin und Fynn ein wenig unfair, denn sie hatten sich wohl abgesprochen und entsprechend hatte Maxi kaum eine Chance, Punkte zu machen. Ich bemerkte dies schnell, ließ es aber laufen, weil ich die Reaktion von Maxi sehen wollte. Erst als klar wurde, dass er nicht gewinnen konnte und zum Schluss den Platz abziehen musste, kam von ihm eine Bemerkung:
„Ich beantrage für das nächste Spiel einen Partner. Zwei gegen einen spielen zu lassen, macht nicht so viel Sinn.“
Allerdings fügte er sich ohne weiteres Meckern und zog den Platz ab. Fynn grinste, aber Dustin schien sich nicht so wohl zu fühlen in seiner Rolle. Fynn setzte noch einen drauf und fing an, die Liegestütze einzufordern. Jetzt wurde es mir zu heftig und ich reagierte:
„Bevor du noch weiter lästerst, entscheide ich jetzt anders. Du machst zwanzig Stütze und zwar wegen unlauteren Wettbewerbs. Ich könnte auch sagen du hast beschissen und das mag ich gar nicht. Ihr habt euch abgesprochen und geglaubt, ich merke es nicht. Ich habe es bemerkt und finde es unfair. Du weißt ja, wie ich mit unfairen Spielern umgehe. Die zwanzig Stütze bitte jetzt und zwar zügig.“
Die Reaktion war eindeutig, denn sein Gesicht wurde rot und auch Dustin fühlte sich ertappt und machte ohne Aufforderung gleich mit. Maxi freute sich. Sollte ich noch etwas dazu sagen? Nein, ich beschloss, es damit bewenden zu lassen.
Ich räumte die Sachen ein und brachte sie weg. Ich hatte noch ein Treffen mit Thomas, Tim und Carlo auf dem Nebenplatz. Dort ging ich jetzt hin. Maxi, Fynn und Dustin schickte ich zu Charles zur Konditionseinheit.
Ich hatte meine Schläger dabei und kam an den Platz. Dort ließ Thomas die Jungs ganz schön schwitzen. Natürlich hatte Carlo noch ein reduziertes Programm, aber für ihn war es genauso anstrengend, da er ja einen großen Rückstand aufholen musste.
„Hi Chris, du kannst dich gleich mal zu Carlo auf die Seite stellen und ihn etwas unterstützen. Sonst ist Tim nicht gefordert.“
Tim hielt den Ball an und schaute überrascht, als ich meinen Schläger aus der Tasche nahm und mich zu Carlo stellte.
„Chris spielt mit? Das ist unfair, der scheucht mich doch überall hin.“
Thomas gab trocken zurück: „Besser für dich, dass Chris mitspielt, als dass ich mitspiele. Dann müsstest du viel mehr laufen.“
Tim traute sich nicht, darauf etwas zu sagen, denn Thomas ließ nicht erkennen, ob das eher flapsig oder ernst gemeint war. Das fand ich unglücklich. Ich konnte jetzt aber sehr gut nachempfinden, was mir Tim in Berlin erzählt hatte.
Ich machte noch etwa eine halbe Stunde mit und bemerkte überhaupt nicht, dass ich mittlerweile beobachtet wurde. Neben Thorsten stand auch mein Bruder auf dem Hügel an den Plätzen und schaute uns zu.
Als wir fertig waren, hatte ich es ziemlich eilig, denn es wehte ein frischer Wind und ich hatte Sorge, meinen Rücken zu verkühlen. Deshalb bat ich bei Thomas um eine schnelle Entlassung zum Duschen.
Außerdem hatte ich noch vor der Besprechung einen Termin bei Kolja.
Dort war ich mittlerweile nach dem Duschen angekommen und Carlo saß auch schon im Wartebereich.
„Hi Chris, bist du jetzt auch häufiger hier? Du bist immer noch recht gut auf dem Platz. Spielst du jetzt häufiger mit?“
„Kolja soll meinen Rücken behandeln und dann sehen wir mal weiter, ob ich wieder häufiger spielen darf. Mit euch werde ich sicherlich nicht mithalten können. Mir würde es schon reichen, überhaupt wieder etwas spielen zu dürfen.“
„Ja, ich kann mir auch nicht vorstellen, auf Tennis ganz verzichten zu müssen. Ich bin so froh, dass ich wieder trainieren kann. Dann hoffe ich für dich, dass du wirklich spielen darfst. Ich drücke dir die Daumen.“
In diesem Moment wurde Carlo in den Behandlungsbereich gebeten und unsere Wege trennten sich. Ich nahm noch einen Moment Platz, bevor mich Kolja persönlich abholte.
„Wie war denn die Trainingseinheit heute? Hast du Probleme beim Spielen gehabt?“
„Ach, das werde ich eh erst morgen merken. Die Probleme tauchen nach so kurzen Einheiten immer erst am nächsten Tag auf.“
„Sagtest du nicht, dass dir jeder Ballkontakt wehgetan hatte?“
„Ja, zum Schluss war das so, jetzt habe ich aber eine lange Pause gemacht.“
„Gut, dann komm mal bitte auf die Pritsche. Ich werde mal testen, wo deine genauen Problemzonen liegen.“
Er begann mit vorsichtigen Druckbewegungen auf meinem Rücken, immer entlang der Wirbelsäule, niemals auf der Wirbelsäule. Plötzlich spürte ich an einer Stelle einen bösen Schmerz und stöhnte auf. Kolja bemerkte es sofort.
„Ah, hier ist also eine Problemzone.“
Er tastete kurz darauf meine rechte Wade ab und kniff mir sogar leicht in den Muskel. Ich verspürte nichts.
„Tut das nicht weh?“
„Nein, ich spüre gar nichts. Der rechte Unterschenkel ist eh nahezu taub. Die Hautnerven sind alle durchtrennt worden.“
Er schaute sich die große Narbe entlang des Schienbeins an und schüttelte den Kopf.
„Ich glaube nicht, dass diese Taubheit in der Wade von dieser Narbe kommt. Pass mal auf, ich machen mal einen Versuch.“
Er legte mich auf die Seite und drückte hier und dort und ich spürte den Schmerz sofort im Rücken. Er brach das ab und bat mich auf den Schlingentisch. Dort hängte er mich ein und bewegte mich hin und her. Der Vorteil war, ich hatte einzelne Bereiche mit viel weniger Gewichtsbelastung. Nach einigen Minuten wurde mir schlecht und schwindelig, bis ich sagte:
„Kolja, mir wird schwindelig. Kannst du bitte ...“
Das nächste woran ich mich erinnerte war, dass ich auf der Liege lag und ich Koljas Gesicht über mir hatte.
„Na, wieder unter den Lebenden?“
„Boah, was ist passiert? Ich kann mich nicht mehr richtig erinnern. Nur das mir schwindelig wurde.“
„Ja, richtig. Du bist für einen kurzen Moment bewusstlos gewesen. Das wundert mich auch nicht. Aber jetzt müsstest du dich viel besser bewegen können. Versuch mal vorsichtig aufzustehen.“
Ich stand von der Liege langsam auf und Kolja half mir dabei. Mein Rücken fühlte sich tatsächlich total entspannt an.
„Was hast du gemacht? Ich habe das Gefühl, als ob ich schwebe.“
Er lachte und erwiderte: „Cool, ein schwebender Chris. Nein, Spaß. Du hast ein gutes Gefühl dafür. Ich habe dir ein paar Blockaden entfernt und das hat auch zu der kurzen Benommenheit geführt. Jetzt müsste es aber deutlich besser gehen.“
„Ja, es fühlt sich gut an. Was schlägst du vor?“
„Ich würde dich gern jeden Tag nach dem Training hier sehen und ich möchte fragen, ob ich deine Unfallakte einsehen darf? Dann könnte ich mit deinem Neurochirurgen mal einen Termin machen, wo wir uns zusammensetzen und besprechen, was für dich sinnvoll ist.“
„Cooler Plan. So etwas Ähnliches hatte ich mir erhofft. Gern. Brauchst du eine schriftliche Vollmacht oder so etwas?“
„Nein, du sagst deinem Arzt, er möge mir die Unterlagen bitte mailen oder schicken. Das reicht. Ich bin davon überzeugt, dass du bei richtiger Therapie und vernünftigem Training wieder Tennis spielen kannst. Sicher nicht auf Profiniveau, aber als guter Freizeitspieler sicherlich. Das Nichtstun bekommt dir jedenfalls überhaupt nicht. Du rostest ein.“
„Ok, und was empfiehlst du als Rostlöser?“
Danach mussten wir beide lachen.
„Am besten machst du jeden Tag etwas auf dem Platz. Die ersten Tage nur ein paar Minuten, bis wir genau wissen, wie es weitergeht. Allerdings möchte ich dich jeden Tag nach dem Training hier sehen und behandeln.“
„Ok, mache ich. Soll ich mir immer einen Termin geben lassen oder einfach nach dem Training reinkommen?“
„Komm einfach vorbei. Ich weiß ja, dass du kommst. Kann mal sein, dass du ein paar Minuten warten musst.“
„Danke, es wäre schon geil, wenn ich wieder ein wenig auf den Platz könnte.“
„Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Und ich glaube, das bekommen wir auch hin.“
Ich bedankte mich für seine Hilfe und verabschiedete mich bis morgen.
Auf dem Weg ins Clubhaus, wo unsere Besprechung stattfinden sollte, gingen mir viele Gedanken durch den Kopf. Sollte es doch noch eine Möglichkeit geben, wieder Tennis spielen zu können? Das wäre natürlich ein Traum. So in Gedanken bemerkte ich gar nicht, dass mich Gerry Weber vor dem Clubhaus angesprochen hatte. Erst einige Sekunden später konnte ich reagieren:
„Oh, sorry Gerry. Ich war gerade ganz weit weg in meinen Gedanken. Tut mir leid. Wie geht es dir?“
Er lachte und antwortete: „Hi Chris, danke der Nachfrage. Noch einmal Gratulation zu dem tollen Erfolg in Berlin. Du hast vor einigen Monaten einen enormen Weitblick gehabt und jetzt sehen wir, wozu deine Jungs fähig sind. Ich finde das klasse.“
So ein Lob tat mir natürlich sehr gut, aber es war mir schon fast peinlich. In diesem Moment tauchte Jan bei uns auf. Er begrüßte Gerry ebenfalls und blieb bei uns für einen Moment stehen.
„Na, Bruderherz. Was macht dein Rücken? Hat dir das Mitspielen gut getan?“
„Ja, es hat Spaß gemacht. Kolja will mit mir gemeinsam versuchen, ob ich nicht doch wieder regelmäßig auf den Platz gehen kann. Nur so zum Spaß.“
„Da bist du auf jeden Fall in den besten Händen. Versucht das. Thorsten würde sich sehr freuen, denn was ich vorhin gesehen habe, sah immer noch recht ordentlich aus.“
Gerry hatte aufmerksam zugehört und fragte nach: „Warum spielst du denn nicht mehr? Gibt es ein Problem?“
„Oh, das ist eine ziemlich lange Geschichte und ja, ich habe jetzt fast zwei Jahre nicht mehr spielen dürfen.“
„Ah ja, das wusste ich gar nicht. Würdest du mir diese Geschichte mal erzählen?“
„Wenn du dir dafür Zeit nehmen möchtest, können wir das machen.“
Er schaute in sein Smartphone und sagte dann: „Ok, wie wäre es übermorgen um vier im Golfclub. Wenn du magst, können wir auch erst ein paar Bahnen spielen.“
Ich musste lachen.
„Ich komme gern dorthin, aber ich habe erst einmal mit Andreij Pavel, das war ein ehemaliger Weltklassespieler, der von Jan lange Jahre betreut wurde, auf dem Golfplatz gestanden. Ich glaube, das wäre für den Platz nicht gut, wenn wir ein paar Bahnen spielen würden.“
„Na, das wollen wir doch einmal sehen. Komm um vier dorthin, dann sehen wir weiter. Jetzt gehen wir aber mal rein. Wir kommen sonst zu spät und das mag ich nicht.“
„Ich auch nicht“, sagte ich. Gerry lachte und wir gingen hinein.
Thorsten und Thomas saßen bereits am großen Besprechungstisch im Geschäftszimmer. Es standen ein paar Getränke auf dem Tisch und ich nahm mir ein Wasser, setzte mich auf einen Stuhl nachdem ich Thorsten begrüßt hatte. Thomas hatte ich ja eben schon auf dem Platz gesehen. Als letzter kam noch Burghard hinzu. Ich staunte über die Tatsache, dass Gerry auch an unserer Teambesprechung teilnahm. Das war sonst nicht der Fall.
Thorsten begrüßte Gerry noch einmal offiziell und begann mit der Besprechung.
„Also fangen wir mal mit dem Punkt Bundesliga an. Deshalb ist Gerry heute auch dabei. Wir wollen über die beginnende Liga in vier Wochen sprechen. Nachdem unsere Berlinfahrer wieder zurück sind und das sehr erfolgreich, haben Jan und ich uns etwas überlegt. Jan, erklärst du es bitte.“
„Gern, also folgendes: Maxi und Fynn haben in den letzten Wochen wirklich herausragende Leistungen gezeigt. Die Entwicklung verläuft viel schneller, als wir erwartet haben und deshalb sollen die beiden mit dem Bundesligakader trainieren und auch zu den Spielen kommen. Vielleicht können sie auch den einen oder anderen Einsatz bekommen. Aber sie sollen dort Erfahrungen sammeln und dazu gehören.“
Ich schaute ziemlich erstaunt zu Gerry, denn Bundesliga war eigentlich sein Bereich. Er bezahlte die Spieler und das war der einzige Bereich, in dem er sportlichen Einfluss auf die Entscheidungen hatte. Gerry lächelte und nickte dabei. Also war das mit ihm bereits abgesprochen. Dennoch übernahm er jetzt das Wort:
„Richtig, Jan. Ich bin absolut dafür, dass ein deutscher Meistertitel belohnt werden muss. Was die drei Jungs, ich beziehe bewusst Dustin mit ein, hier in den letzten Wochen gezeigt haben, hat mich beeindruckt. Da wären wir wirklich gut beraten, sie an die Bundesliga heranzuführen. Diese Aufgabe soll Chris mit Thomas übernehmen. Thomas hat ja die Bundesliga verantwortlich betreut und soll das auch weiterhin machen. Chris soll ihn aber unterstützen, schließlich kennt er die drei ja am besten von allen.“
Jetzt waren alle Augen auf mich gerichtet. Sollte ich dazu etwas sagen? Ich wusste es nicht, bis Jan mich ansprach:
„Was ist? Könntest du dir das vorstellen? Mir gefällt das gut. Dann weiß ich nämlich, dass die drei gut ankommen werden. Du hast das voll im Griff, was ja nicht so einfach ist, mit drei Jungs immer den Fokus auf alles zu haben.“
Danach mussten Thorsten und Thomas lachen und auch Gerry schmunzelte. Ich glaube, ich wurde sogar etwas rot.
„Wenn ihr das so wollt, warum nicht? Es gibt nur ein Problem mit meiner Zeit. Ich habe jetzt schon Schwierigkeiten meine Zeiten einzuhalten. Wenn das jetzt auch noch hinzukommt, wird das sehr eng.“
Jan und Gerry schauten sich an, Thorsten grinste verdächtig und dann sagte Jan:
„Gut, das klären wir noch. Ich habe eh vorgehabt, dir einen Vollzeitvertrag anzubieten. Dieses ständige Hin und Her zwischen deinem anderen Job und hier kostet so viel Zeit und Energie. Kannst du dir das vorstellen? Mach dir mal Gedanken dazu. Aber du solltest dir auch klar machen, dass sowohl Fynn, als auch Maxi bald viel auf der Challengertour unterwegs sein werden und du sollst sie trainieren. Vielleicht kommt Dustin auch dazu. Dann hast du eigentlich auch gar keine Zeit mehr für deinen anderen Job.“
Das war jetzt natürlich für mich fast eine Bombe, die Jan platzen ließ. Darüber hatte er bislang noch kein Wort mit mir gesprochen. Auch Thorsten nicht. Wollte ich das wirklich? Ich brauchte Zeit, um mir das in Ruhe zu überlegen. Thorsten reagiert sofort:
„Du musst das nicht jetzt sofort entscheiden. Lass dir das in Ruhe durch den Kopf gehen, aber wir würden das sehr begrüßen, denn du scheinst auch Maxi total im Griff zu haben. So diszipliniert haben wir ihn schon lange nicht mehr erlebt.“
„Ok, ich werde mir Gedanken dazu machen. Sollen die Jungs eigentlich darüber Bescheid wissen oder sollte ich besser nicht mit ihnen darüber sprechen?“
Jan erwiderte sofort: „Also, dass sie zum Bundesligakader gehören, kannst du ihnen sagen. Das ist beschlossen. Auch dass du sie dort betreust. Über die Challengertour noch nicht und auch nicht über deine Position. Das möchten wir erst nur intern behandeln.“
„Ok, kann ich verstehen. Bis wann braucht ihr eine Entscheidung von mir?“
Jan schaute Thorsten an und der sagte dann: „Sagen wir in drei Wochen? Nach den Mannschaftsmeisterschaften setzen wir uns wieder zusammen und dann sprechen wir noch einmal darüber. Ist das ok?“
Damit war dieser Punkt abgehakt und Gerry verließ uns wieder. Nicht, ohne mich an den Termin auf dem Golfplatz zu erinnern. Auf was hatte ich mich da nur eingelassen?
Jan fuhr mit den einzelnen Spielern fort und jeder bekam eine Beurteilung der Trainer. Anschließend wurde über die weitere Trainingsplanung gesprochen, so dass für jeden eine Planung gemacht wurde, welche Turniere gespielt werden und wo noch Defizite aufzuarbeiten waren.
Erst zum Schluss kamen wir zu Carlo und Tim. Thomas sollte eine Standortbestimmung machen. Er berichtete von den letzten Erfolgen in Berlin und von Carlos Fortschritten. Dann passierte etwas Ungewöhnliches. Thorsten fragte nach dem Verhalten der beiden.
„Wie macht sich Tim denn in seinem Verhalten? Er war ja eine Zeit lang sehr schwierig und du hast dich oft über sein schlechtes Sozialverhalten beschwert.“
„Das ist etwas besser geworden, aber immer, wenn er etwas machen soll, was ihm nicht passt, meckert er rum und manchmal zeigt er auch beim Training, dass er dazu keine Lust hat. Es ist nicht immer einfach, gerade wo jetzt Carlo ein wenig mehr Aufmerksamkeit braucht, weil er seinen Rückstand aufholen muss.“
Thorsten schaute zu Jan und dann zu mir. Ich wunderte mich schon über diese Aussagen, denn in Berlin hatte ich ganz andere Eindrücke gewonnen. Plötzlich meldete sich Burghard zu Wort:
„Ich möchte dazu etwas sagen. Tim war in Berlin vollkommen problemlos und hat sich für das Team eingesetzt. Ich meine, er ist dreizehn und mitten in der Pubertät, da sollten wir nicht erwarten, dass er alles kommentarlos hinnimmt und gleich macht, was Thomas möchte. Tim hat mir in Berlin einige Andeutungen gemacht und ich glaube, dass es nicht die beste Konstellation für ihn ist, mit Thomas zu trainieren. Vielleicht sollte auch Chris sich dazu mal äußern. Du hast doch am meisten mit ihm zu tun gehabt.“
„Ja, das ist korrekt. Ich habe auch die Gelegenheit gehabt, mit ihm zwei längere Gespräche zu führen. Dort hat er mir von seinen Schwierigkeiten berichtet. Er hat immer das Gefühl, es keinem Recht machen zu können. Weder seine Eltern noch Thomas würden überhaupt auf ihn als Person eingehen. Sie wollten immer nur sehen, dass er funktioniere. Über dich, Thomas, hat er sich beschwert, dass du nur Befehle gibst, aber nichts erklärst. Wenn er dich mal fragt, warum er dieses oder jenes tun soll, würdest du immer nur sagen, er soll das machen, schließlich wärst du der Trainer. Er möchte halt gern verstehen, warum eine Übung, die keinen Spaß macht, trotzdem gemacht werden soll. Ich finde, dass ist nachvollziehbar. Außerdem bemängelte er, dass du dir nie Zeit nimmst, auch einmal ein Gespräch über persönliche Probleme zu führen. Tim ist dreizehn und kein Erwachsener. Er braucht momentan viel Zuspruch, aber dann bringt er auch top Leistungen. So wie in Berlin. Er hat dort seine Klasse gewonnen und ist deutscher Meister geworden. Also kann das so schlecht nicht sein, was er macht.“
„Ich habe den Bericht über Berlin gelesen, den Chris und Burghard gemacht haben. Das war eindeutig eine ganz hervorragende Leistung von Tim. Chris hat mir noch zusätzlich etwas über die Gespräche mit ihm geschrieben. Ich möchte diese Situation verändern.“
Jan hatte hier klar für mich Position ergriffen und das freute mich sehr. Es war bislang in der Vergangenheit nicht oft vorgekommen, dass mein Bruder meine Haltung oder Handlungen offen unterstützt hatte.
Alle Augen waren auf Jan gerichtet, denn mir war sofort klar, dass er bereits eine Entscheidung getroffen hatte.
Thorsten schien auch schon etwas geahnt zu haben, denn er hatte ein Lächeln im Gesicht und nickte mir zu. Jan fuhr mit seiner Entscheidung fort:
„Ich habe mich mit Thorsten und auch mit Thomas beraten. Die Situation mit Tim ist für alle unbefriedigend. Tim hat Frust und fühlt sich nicht gut, Thomas ist auch unzufrieden mit Tims Haltung und Leistung. Vielleicht ist eine Trainingsveränderung sinnvoll. Ich habe mir Gedanken gemacht und möchte folgende Veränderung vornehmen. Thomas wird Tim und Carlo an Chris abgeben. Ich möchte wissen, ob es an der Trainersituation lag oder an Tims Arbeitshaltung. Dass er Talent mitbringt und ein sehr guter Spieler werden kann ist unbestritten. Ich möchte das ausprobieren. Carlo und Tim trainieren ab morgen bei Chris und dafür wird Chris auch mehr Zeit bekommen. Die ganze Situation wird sich verändern und ich möchte, dass Chris von allen unterstützt wird. Das gilt auch für dich, Thomas. Nur weil er keine A-Lizenz besitzt, macht er keine schlechtere Arbeit. Er hat jetzt oft genug unter Beweis gestellt, dass er weiß was er tut. Ich möchte, dass du aufhörst, seine Arbeit in Frage zu stellen. Mach deine Arbeit und unterstütze ihn. Ich möchte, dass wir als Team arbeiten und Erfolg haben. Chris hat so viele gute neue Ideen mitgebracht, die ich nicht verpuffen lassen möchte. Nur weil es dir manchmal widerspricht, heißt das nicht, dass du alles was Chris macht, schlecht redest. Ich sehe, dass er Erfolg hat mit seiner Art, die Kids zu motivieren und zu fördern. Also hör auf, das in Frage zu stellen.“
Jan wurde sogar etwas ärgerlich. Ich hatte das Gefühl, dass er diesbezüglich schon länger Probleme mit Thomas hatte. Thomas war zwar sehr engagiert und erfolgreich, hatte allerdings seine Schwierigkeiten mit den jüngeren Spielern. In der Bundesliga war er unbestritten ein exzellenter Coach. Drei Meistertitel waren genug Bestätigung dafür.
Thomas schien für einen Moment darauf etwas erwidern zu wollen, überlegte es sich aber anders und schwieg.
Thorsten übernahm nun wieder die Gesprächsführung und wir diskutierten noch die nächsten Turniere und Veränderungen im Trainingsplan. Nach einer weiteren Stunde beendeten wir das Meeting.
Es war ein langer Tag für mich und ich war hundemüde, wollte nur noch schnell nach Hause, aber Thomas wartete im Clubraum noch auf mich.
„Kann ich dich noch kurz sprechen?“, fragte er freundlich.
„Klar, was gibt es denn?“
„Ich möchte dir kurz etwas erklären. Ich bin nicht gegen dich, auch wenn das vielleicht manchmal so aussieht. Vielleicht hat Jan recht. Es ist für mich schwierig, mit Tim und Carlo zu arbeiten. Sie nerven einfach nur oft. Ich mag das nicht, alles immer lang und breit erklären zu müssen. Warum machen sie nicht einfach das, was ich sage? Da geht so viel Zeit verloren, die auf dem Platz wichtig wäre.“
„Es sind Kinder. Du arbeitest sonst mit Erwachsenen oder zumindest älteren Jugendlichen. Da ist das vielleicht anders. Die brauchen nicht mehr so viel Anleitung und Begleitung. Ich habe vielleicht einen anderen Zugang zu der Trainingsarbeit. Für mich zählen die menschlichen Dinge mehr. Die Wahrscheinlichkeit, dass einer der Jungs ein guter Profi wird, ist vielleicht eher gering. Deshalb sollen sie gut vorbereitet sein für das normale Leben. Weißt du, was ich mir wünschen würde? Lass uns besser zusammenarbeiten. Wir sollten einfach mehr miteinander reden und uns abstimmen. Ich fand es zum Beispiel schade, dass Tim mir in Berlin viel erzählt hatte, aber mit dir nicht reden konnte. Ich weiß, dass du ein toller Coach bist, der sich auch kümmert. Nur eben anders, als es die jungen Spieler brauchen.“
Thomas hatte aufmerksam zugehört.
„Vielleicht hast du ja recht. Ich habe keine pädagogische Ausbildung wie du. Du kommst aus der Jugendarbeit. Ich bin Sportler. Das war ja auch der Grund, weshalb Jan und Thorsten dich unbedingt ins Boot holen wollten. Es tut mir leid, wenn du den Eindruck hattest, ich hätte etwas gegen dich. Und ich stimme dir zu, lass uns mehr miteinander reden als übereinander.“
Er streckte mir die Hand entgegen und ich schlug sofort ein. Außerdem lud ich ihn noch zu einer kalten Fassbrause an der Theke ein.
„Du hast die Fassbrause zu einem echten Kultgetränk hier gemacht“, lachte Thomas und prostete mir zu.
Wir sprachen noch einige Minuten sehr entspannt auch über persönliche Dinge. Als ich später in mein Auto stieg, hatte ich viel über Thomas gelernt und konnte auch seine Philosophie besser verstehen. Ich war davon überzeugt, dass unsere Arbeit in Zukunft viel besser sein würde.
Auf der Heimfahrt gingen mir aber ganz andere Gedanken durch den Kopf. Sollte ich wirklich voll bei meinem Bruder einsteigen und mich um Dustins, Maxis und Fynns Zukunft kümmern? Mit wem könnte ich darüber mal in Ruhe reden? Ich überlegte eine Weile und dann fällte ich eine Entscheidung. Ich wollte eh schon lange mal einen Freund aus der NiSt Community kennenlernen. Er wäre unbelastet und könnte sich eine neutrale Meinung machen. Mit Fiete, sein richtiger Name ist Patric, hatte ich schon viele Gespräche geführt. Auch über meine Arbeit und die Probleme dabei. Er lebte in der Nähe von Wuppertal. Das war eine noch recht gut zu erreichende Entfernung. Ich beschloss, das am Wochenende zu versuchen und schrieb ihm von zu Hause eine Nachricht, dass ich ihn endlich besuchen wollte. Bislang hatte ich das immer vor mir hergeschoben und jetzt wollte ich einiges verändern. Damit würde ich anfangen. Es dauerte auch keine zehn Minuten und ich bekam eine Antwort. Damit wir das genau besprechen konnten, telefonierten wir. Es dauerte dann doch ein wenig länger, weil wir uns festgequatscht hatten. Er war leider schwer erkältet und hatte außerdem noch ein Problem mit seinen Weisheitszähnen. Dennoch freute er sich sehr, als ich ihm die Zusage gab, am Wochenende zu ihm zu fahren.
Für mich stand nur die Überlegung an, ob per Motorrad oder mit dem Auto. Das würde ich kurzfristig entscheiden.
Die Nacht war unruhig und ich ahnte auch warum. Die anstehenden Ereignisse und Entscheidungen zeigten Wirkung. Heute Nachmittag ging es zur Verhandlung mit Dustin gegen seine Eltern. Einerseits war es gut, dass das ausreichend vor den Mannschaftsfinals geschah, andererseits stand auch einiges auf dem Spiel.
Ich hatte wenig Zeit, mich mit dem Jugendamtsbetreuer abzustimmen und das gut vorzubereiten. Deshalb hatte ich mich in Absprache mit Thorsten und Dustin entschieden, unseren Anwalt mit der Vorbereitung zu beauftragen. Ich musste mir eingestehen, dass es mir langsam zu viel wurde, auf allen Schauplätzen gleichzeitig zu sein. So konnte es nicht weitergehen.
Ich hatte mich entschieden, das Angebot vom Team mit meinem Chef zu besprechen. Ich brauchte eine Veränderung. Mir war klar geworden, dass ich diese hohe Belastung auf Dauer nicht schaffen würde. Diese neue Herausforderung reizte mich und es machte mir auch viel Freude, meine Energie für meine Jungs einzusetzen. Aber ich wollte keine spontane Entscheidung treffen, sondern das in Ruhe überdenken.
Ich frühstückte sehr entspannt und gut gelaunt. Aus den Lautsprechern tönten die Scorpions mit „Rock you like a hurricane“ und das spiegelte meine Stimmung wieder. Heute war ein Tag der Entscheidungen und Veränderungen.
Meinen Chef hatte ich bereits angerufen und um ein Gespräch gebeten. Es entstand für mich der Eindruck, dass er schon darauf gewartet hatte, denn er hatte mich direkt gefragt und ich habe es ihm auch offen gesagt, dass ich über einen Jobwechsel nachdenken würde. Wir vereinbarten einen Termin zum Gespräch in der Woche nach Hamburg.
Nachdem ich im Büro noch einige Dinge geregelt hatte, machte ich mich auf den Weg nach Halle. Dort wollte ich mich mit Dustin, Fynn und Martina zum Mittagessen treffen und anschließend mit den beiden Jungs zum Gericht fahren.
Lustigerweise wurde ich vor der WG schon in Empfang genommen, denn Fynn wartete im Vorgarten auf mich. Als ich aus dem Auto ausgestiegen war, kam er auf mich zu.
„Hi Chris. Gut, dass du kommst. Dustin ist schon völlig im Stress. Er macht sich total verrückt. Was können wir dagegen machen?“
„Nichts. Hi Fynn. Wo ist er denn jetzt?“
„Martina hat ihn einkaufen geschickt, weil er so unruhig war. Er müsste jeden Augenblick zurück sein.“
„Ok, dann lass uns mal reingehen und Martina begrüßen. Dann schauen wir weiter.“
Martina hatte extra für heute Bratkartoffeln gemacht. Das war Dustins Lieblingsessen. Sie lachte schon, als ich die Küche betrat.
„Hi Chris. Ich hoffe, du hast Hunger mitgebracht.“
Dabei zeigte sie auf die große Pfanne auf dem Herd. Ich musste lachen, denn das sollte für eine halbe Kompanie reichen.
„Bei deinen Bratkartoffeln habe ich immer Hunger. Hm, das riecht auch schon so lecker. Wie geht es dir und wie ist die Stimmung?“
„Danke, mir geht es gut. Die Stimmung ist gut bis sehr gut, nur Dustin ist heute in einem Ausnahmezustand. Er macht sich völlig verrückt und schiebt Panik. Ich schlage vor, dass du noch einmal mit ihm allein sprichst, bevor ihr losfahrt.“
„Klar, kein Problem. Du hast ihm aber schon gesagt, dass er nur als Zeuge aussagen muss?“
„Aber sicher doch. Dennoch hat er Angst vor der Begegnung mit seinem Vater.“
„Das ist doch auch normal. Na, schauen wir mal, was ich machen kann.“
Martina schaute mich an und er fing an zu lächeln.
„Ich bin mir sicher, du wirst ihn schon beruhigen und mit den Jungs erfolgreich zurückkehren. Du hast doch bestimmt schon eine Strategie.“
„Was denkst du denn wohl? Ich fahre doch nicht unvorbereitet in eine Verhandlung.“
In diesem Augenblick hörten wir Dustin zurückkommen. Er betrat die Küche und freute sich, mich zu sehen.
„Hi Chris. Schön, dass du da bist. Jetzt geht es mir schon etwas besser.“
„Hi Dustin, setz dich mal zu uns. Du hast doch nicht etwa gezweifelt, dass ich komme?“
„Heute weiß ich eigentlich gar nichts mehr. Ich bin so aufgeregt und angespannt. Ich habe einfach Schiss vor meinem Vater und was er im Gericht erzählen wird.“
„Damit das klar wird. Dein Vater kann erzählen, was er möchte. Du sagst genau das, was aus deiner Sicht passiert ist. Dann wird er nicht mehr viel zu sagen haben. Mach dir nicht ins Hemd. Dein Vater ist heute dran und er wird die Rechnung bekommen. Ich bin mir ganz sicher, dass er dich nie wieder bedrohen oder anderes mit dir anstellen kann.“
Ich war innerlich schon im Gefechtsmodus. So eine Wut hatte ich auf diesen Vater. Das sollten die Jungs auch merken. Entsprechend reagierte Fynn:
„Wow, Chris hat heute das Kriegsbeil ausgepackt. Oha, das wird böse für deinen Vater. So, jetzt habe ich aber genug gewartet, können wir essen?“
Dieser Gedankensprung löste bei Martina und mir Heiterkeit und Lachen aus. Das steckte auch Dustin an und es löste die Spannung spürbar.
Eine Stunde später waren wir auf dem Weg ins Gericht. Heute sollte Dustins Vater die Quittung bekommen für die schlimmen Dinge, die er ihm angetan hatte. Dustin saß die ganze Fahrt schweigend auf dem Beifahrersitz und schaute aus dem Fenster. Ich ließ ihn in Ruhe und auch Fynn hatte sich entschieden, seinen Freund in Ruhe zu lassen.
Als wir auf dem Parkplatz vor dem Gericht ankamen, erwartete uns bereits unser Anwalt mit dem Jugendamtsbetreuer. Dustin wurde immer unruhiger und Fynn hatte alle Hände voll zu tun, seinen Freund zu beruhigen.
Der Anwalt kam Dustin entgegen und begrüßte zuerst ihn und dann Fynn. Ich hatte mich bereits mit dem Jugendamtsbetreuer kurz verständigt und dann standen wir alle zusammen auf dem Parkplatz. Der Anwalt erklärte uns den Ablauf und was auf Dustin zukommen würde:
„Du darfst nicht an der Verhandlung teilnehmen, weil du als Zeuge geladen bist. Du wirst erst hereingerufen, wenn es um deine Aussage geht und du die Fragen der Richter zu beantworten hast. Danach kannst du bleiben oder aber auch wieder hinausgehen. Ich würde vorschlagen, dass Fynn die Zeit bei dir bleibt und wir in die Verhandlung gehen. Dich wird dein Betreuer vertreten. Chris wird möglicherweise auch befragt werden, aber das ist noch unklar. Da du noch minderjährig bist, kannst du deine Aussage auch in einem Nebenraum machen und musst nicht deinem Vater gegenübertreten. Das kannst du dir noch überlegen, aber wenn die Verhandlung beginnt, solltest du dich dazu äußern. Hast du noch Fragen?“
Dustin schaute unsicher zu mir und dann zu Fynn, der demonstrativ seinen Arm um seinen Freund gelegt hatte. Ich nickte Dustin ermutigend zu und Dustin sagte:
„Nein, im Moment nicht. Ich hoffe, dass das hier schnell vorbei ist. Ich habe einfach keine Lust mehr auf meinen Vater. Er soll bestraft werden für das, was er gemacht hat.“
Wir machten uns auf den Weg in das Gericht und sofort überkam mich ein mulmiges Gefühl. Gerichte hatten auch für mich einen negativen Einfluss. Ich hatte bereits einige Verhandlungen sowohl beruflich, als auch privat wegen des Unfalls von Sabine gehabt. Die Erfahrungen waren nicht nur positiv.
Unser Anwalt ging voraus und vor dem Verhandlungssaal drehte er sich noch einmal um:
„Du kannst hier warten bis du aufgerufen wirst. Fynn, bleibst du bei Dustin?“
„Auf jeden Fall. Ich werde meinen Freund jetzt nicht allein lassen, auch wenn ich gern sehen möchte, was für ein Arschloch sein Vater ist.“
Ich räusperte mich auffallend. Fynn hatte mich verstanden.
„Sorry Chris, aber ist doch wahr. Das musste ich mal gesagt haben.“
„Schon gut, ich versteh dich ja, aber hier im Gericht ist das nicht so angebracht. Dustin, wie möchtest du deine Aussage machen? Im Verhandlungssaal oder lieber in einem Nebenraum?“
Dustin schaute mich aus zusammengekniffenen Augen an und erwiderte:
„Ich gehe rein. Das soll er von mir persönlich zu hören bekommen, was er mir angetan hat.“
„Also gut, dann gehen wir jetzt hinein und ihr wartet hier. Und reg dich nicht so auf. Wenn der Richter oder der andere Anwalt dich etwas fragt, sag wahrheitsgemäß aus. Wenn du dich nicht mehr an etwas erinnern kannst, dann sage es. Du bist hier Zeuge und nichts anderes. Alles klar für dich?“
Dustin nickte zwar, aber ich konnte die Angst und das Unwohlsein sofort spüren.
„Gut, du bist hier nie allein. Wir werden für dich kämpfen und auch Erfolg haben. Also, auf in den Kampf.“
Dann betraten wir zu dritt den Saal. Ich begrüßte die anwesenden Personen allgemein und nahm auf den Zuschauerplätzen Platz. Dustins Anwalt und sein Betreuer gingen auf die Klägerposition und dann betraten die Richter den Saal. Wir erhoben uns kurz und der vorsitzende Richter begrüßte alle Anwesenden und stellte sich und sein Team kurz vor. Dann nahmen wir wieder Platz und die Verhandlung begann.
Die Vorwürfe wurden erläutert und mir wurde sofort bewusst, welche Strategie der gegnerische Anwalt verfolgte. Er argumentierte mit dem Alkohol- und Tablettenproblem der Eltern von Dustin. Dadurch sei ihre Schuldfähigkeit stark eingeschränkt und deshalb könnte hier auch kein volles Strafrecht angewendet werden. Außerdem betonte er immer wieder, dass Dustin sich ja freiwillig aus der Familie entfernt hätte und somit auch seine Vorwürfe mit Vorsicht zu bewerten seien. Es fehlte nicht viel und ich hätte hier dem Anwalt schon gezeigt, was für einen Unsinn er uns hier präsentierte, aber das durfte ich als Zuschauer nicht.
Unser Anwalt machte sich Notizen und ich war sehr beruhigt, dass sich Dustin diesen Schwachsinn nicht antun musste. Nachdem der gegnerische Anwalt seine Schilderungen beendet hatte, durfte unser Anwalt seine Stellungnahme abgeben. Das hörte sich aus meiner Sicht schon gleich ganz anders an und er widersprach der Gegenseite energisch. Es gab auch ein medizinisches Gutachten über Verletzungen, die Dustin einmal davongetragen hatte. Der Richter stellte einige Fragen, die von unserem Anwalt sehr souverän beantwortet wurden.
Jetzt wurden die Zeugen der Reihe nach aufgerufen und als Dustin den Saal betrat, konnte ich auch das erste Mal eine Regung bei seiner Mutter bemerken. Dustin würdigte sie allerdings keines Blickes.
Der Richter bat ihn Platz zu nehmen und sich mit Namen und Geburtstag vorzustellen. Dann durfte Dustin seine Sicht schildern und diese Schilderungen waren schon erschütternd. Der Richter fragte wirklich behutsam nach und ließ Dustin auch genug Zeit, sich zu erinnern. Ich hatte den Eindruck, Dustin konzentrierte sich sehr stark darauf, keine Emotionen zu zeigen. Erst als der Richter ihn fragte:
„Hast du manchmal daran gedacht, deinen Vater anzugreifen, als er dich so misshandelt hat?“
Dustin drehte sich zu mir um. Er wusste nicht, wie er antworten sollte. Der Richter griff direkt ein:
„Bitte, du musst hier keine Angst haben. Aber beantworte meine Frage bitte wahrheitsgemäß.“
„Ich habe es mir oft genug vorgestellt, ihn zu verprügeln, aber ich war damals zu klein und zu ängstlich. Heute würde er so eine Tat nicht mehr überleben.“
Dustin fing an zu zittern und ich hatte Sorge, er könnte hier zusammenbrechen. Der Richter erkannte sofort seinen Zustand und unterbrach die Verhandlung. So konnte ich zu ihm gehen und ihn beruhigen. Wir verließen den Saal und draußen auf dem Flur wartete Fynn sehr angespannt.
„Geht einen Augenblick nach draußen. Dustin braucht etwas frische Luft. Und keine Angst, Dustin. Du hast dich bis hier toll geschlagen. Ich bin sehr stolz auf dich.“
Das tat ihm sichtlich gut und die beiden verschwanden nach draußen. Unser Anwalt und Dustins Betreuer kamen zu mir und der Anwalt fragte mich:
„Wie geht es Dustin? Kann er seine Aussage gleich fortsetzen oder müssen wir ihn schützen?“
„Ich denke, er wird sich jetzt von niemandem mehr aufhalten lassen. Das zieht er durch und es wäre auch falsch, ihn jetzt zu bremsen. Das wird hinterher unsere Aufgabe sein, ihn wieder aufzubauen und zu stabilisieren.“
Ein Gerichtsmitarbeiter bat uns, Dustin wieder hereinzuholen, denn der Prozess sollte fortgesetzt werden. Ich ging nach draußen und fand die beiden unter einem Baum im Garten des Gerichts.
„Na, wie geht es dir? Der Richter möchte gern weitermachen. Schaffst du das?“
Mit sehr hartem Gesicht und eiskalt sagte er: „Ja, jetzt soll er auch dafür bezahlen, was er getan hat. Ich will, dass alles herauskommt.“
Fynn nahm die Hand seines Freundes und wir gingen wieder hinein.
Den weiteren Verlauf seiner Aussagen zu ertragen, fiel mir sehr schwer. Er berichtete von weiteren Misshandlungen und Demütigungen. Er redete sich in einen Rausch und der Richter ließ ihn erzählen. Die Stimmung im Saal kippte. Sogar der gegnerische Anwalt wurde immer stiller und als Dustin geendet hatte, sagte der Richter nur noch:
„Vielen Dank für deine Schilderungen. Ich möchte dich hiermit entlassen. Wir brauchen dich heute nicht mehr.“
Dustin drehte sich um und schaute mir mit Tränen in den Augen ins Gesicht. Ich nickte ihm zu und er verließ den Saal. Wie gut, dass Fynn draußen auf ihn warten würde.
Damit war für den Richter die Beweisaufnahme beendet und er zog sich mit seinen Schöffen zur Beratung zurück. Dustins Eltern waren sichtlich aufgebracht über die Aussagen ihres Sohnes. Ich musste wieder einmal feststellen, dass Eltern durch massiven Alkoholmissbrauch, ihre Wahrnehmung derart veränderten, dass sie nicht einmal ein Schuldbewusstsein entwickelten. Darüber kam in mir Wut auf. Wut über die Tatsache, dass alle Menschen, die mit Kindern arbeiteten oder im Freizeitbereich zu tun hatten, eine Qualifizierung nachweisen müssen. Eltern hingegen brauchten keinen Nachweis über ihre Fähigkeiten zu erbringen und es gab auch keine bindenden Kontrollmechanismen. Das regte mich immer wieder auf. Kinder waren ihren Eltern schutzlos ausgeliefert, denn die wenigen Fälle, die an die Oberfläche kamen, waren, wie eben schon gesagt, nur ein ganz kleiner Teil.
Dustin: Endlich vorbei
Was für eine Erlösung, als mich der Richter aus dem Zeugenstand entließ. Ich schloss die Tür des Saales und Fynn nahm mich in Empfang. Wortlos fiel ich ihm um den Hals und er hielt mich einfach ganz fest. Das tat so gut. Er führte mich wortlos nach draußen wieder in den Garten. Erst dort konnte ich mich beruhigen, dass ich wieder sprechen konnte. Dennoch ließ mir Fynn Zeit. Er fragte nicht nach, sondern ließ mich durchatmen.
„Danke, dass du mitgekommen bist. Das war echt heftig. Kannst du dir vorstellen, sie haben nicht einmal ein Wort mit mir gesprochen. Da ist mir klar geworden, ich werde alles erzählen. Mein Vater soll dafür bezahlen.“
Obwohl ich mir vorgenommen hatte, keine Gefühlsausbrüche zu bekommen, konnte ich mich jetzt nicht mehr zurückhalten. Tränen liefen und ich war so enttäuscht von meiner Mutter. Wenigstens von ihr hatte ich eine Reaktion erhofft.
Fynn ließ mich gewähren und hielt mich weiterhin fest. So bemerkte ich gar nicht, dass Chris mittlerweile zu uns in den Garten gekommen war. Erst Minuten später realisierten Fynn und ich seine Anwesenheit. Er hatte sich einfach auf die Bank neben uns gesetzt und ließ uns allein. Dennoch war er bei uns. Als ich das realisiert hatte, freute ich mich über so viel Verständnis und Freundschaft. Ich beruhigte mich langsam wieder und Chris kam zu uns herüber.
„Wie geht es dir, Dustin?“
„Ganz ehrlich, bescheiden. Ich bin so enttäuscht von meinen Eltern, insbesondere von meiner Mutter. Kein Wort hat sie mit mir geredet. Kein einziges Wort.“
„Ja, das verstehe ich. Ich fand das auch sehr enttäuschend, aber vielleicht hatte sie auch Angst. Also wohlgefühlt hatte sie sich nicht, da bin ich mir sehr sicher. Ich glaube, dass dein Vater sie eingeschüchtert hatte.“
Ich nickte in Gedanken, bis Fynn fragte: „Und? Hat es ein Urteil gegeben oder was hat der Richter gesagt?“
Da wurde mir richtig bewusst, dass ich ja vom Prozess selbst gar nichts mitbekommen hatte.
„Sorry, Chris. Ich bin noch etwas durcheinander, aber Fynn hat recht. Ist er bestraft worden?“
Chris bewegte seinen Kopf hin und her und sagte dann sehr bedacht:
„Ja, ich denke schon. Der Richter hat sehr weise entschieden und deinem Peiniger sehr klar die Grenzen aufgezeigt. Das Schlimme ist, wenn dir ein Fremder genau das Gleiche angetan hätte, dann würde er dafür mindestens zwei Jahre ins Gefängnis wandern. Aber da er dein Vater ist, sieht die deutsche Rechtsprechung da anderes vor. Jedenfalls darf er sich dir nicht mehr nähern und auch keine Kontaktversuche unternehmen. Es sei denn, du möchtest das. Zusätzlich hat er eine Haftstrafe von einem Jahr auf drei Jahren zur Bewährung bekommen. Eine Therapieauflage hat er ebenfalls bekommen. Ich denke, damit hast du das Wichtigste erreicht, er kann dir in der Zukunft nicht mehr gefährlich werden.“
Das war zu viel für mich. Ich bekam einen Weinkrampf, ohne dass ich mich dagegen wehren konnte.
Erst Minuten später konnte ich mich beruhigen und stellte fest, dass sowohl Chris als auch Fynn bei mir geblieben waren. Das war ein gutes Gefühl. Sicher, ich wusste auch vorher schon, dass ich mich auf beide verlassen konnte, aber dieses Gefühl war einfach schön, es tatsächlich erleben zu können. Als ich mich etwas erholt hatte, fragte mich Chris:
„Was möchtest du jetzt? Sollen wir noch ein wenig durch die Stadt laufen oder lieber direkt nach Hause fahren?“
„Nach Hause, bitte. Ich will hier einfach nur weg.“
„Dann kommt. Lasst uns aufbrechen. Unsere Aufgabe hier ist getan. Lasst uns in die Zukunft schauen.“
Auf der Heimfahrt wurde mir erst so richtig bewusst, dass ich ja jetzt endgültig ohne Eltern weiter machen musste. Chris war großartig, denn er schien sich bestens darauf vorbereitet zu haben. Er erklärte mir, dass sich nichts für mich verändern würde und dass mein Betreuer nun rechtlich mein Vormund und ich nicht mehr abhängig von meinen Eltern sei. Außerdem würden jetzt auch die Gelder, die mir zustanden, an meinen Betreuer gehen. Es war also sogar eine Verbesserung.
Fynn versuchte auch immer wieder, mir klarzumachen, dass seine Eltern mich ja auch akzeptiert hatten und wir dort sicher in Zukunft auch willkommen sein würden.
Erstaunlich, dass Fynn davon so überzeugt war, nachdem sein Vater ja auch nicht gerade toll mit ihm umgegangen war. Chris hatte aber keine Zweifel daran und bestärkte uns darin, mit Fynns Familie weiter zu arbeiten.
„Du glaubst also, dass Fynns Vater tatsächlich verstanden hat, dass er derjenige ist, der die meiste Verantwortung trägt?“
Chris gab sofort eine klare Antwort: „Ja, absolut. Er macht auf mich den Eindruck, dass er es wirklich mit seinen Bemühungen ernst meint. Ich denke, in einigen Monaten wird das Verhältnis deutlich besser sein.“
Damit wollte ich am liebsten das Thema abschließen und ein wenig ablenken. Denn die Vorbereitungen auf die Mannschaftsmeisterschaften standen an. Ich wollte auf jeden Fall in Hamburg eine gute Leistung abliefern.
„Trainieren wir morgen wieder normal?“, fragte ich deshalb Chris.
Er schaute mich fragend an und lachte: „Na klar, wir sind mitten in der Vorbereitung für Hamburg. Aber mir fällt da gerade noch etwas ein. Wir hatten gestern ja unsere Teambesprechung und Gerry Weber war auch dabei, da es um die Bundesligaplanung ging.“
„Was haben wir damit zu tun?“, fragte Fynn neugierig.
„Nun, ihr seid davon auch betroffen, deshalb sollte ich euch das erzählen.“
„Du wirst uns als Trainer nicht zur Verfügung stehen, weil du Thomas unterstützen sollst.“
Fynn hatte meine Gedanken wohl gelesen, denn genau das war auch meine Vermutung. Chris lachte und erwiderte:
„Ja, ich soll Thomas unterstützen, aber ich stehe euch weiterhin voll als Coach zur Verfügung. Ihr seid schließlich mit dabei.“
Jetzt schaute ich Fynn aber total verwundert an und er schüttelte auch den Kopf.
„Wie meinst du das? Wir sind auch mit dabei? Als Balljungen oder wie?“
„Blödsinn, dafür seid ihr schon zu alt. Nein, ihr gehört ab sofort mit zum Bundesligakader und werdet den Stammspielern als Trainingspartner zur Verfügung stehen. Vielleicht bekommt ihr auch einen Einsatz, das wird man dann noch sehen. Für Maxi gilt das auch.“
Für einen Augenblick herrschte im Auto ungläubiges Schweigen. Ich konnte das überhaupt nicht begreifen. Ich hatte immer gedacht, dass Gerry Weber den Kader der Bundesliga zusammenstellt.
„Was sagt Gerry dazu?“, hakte Fynn entsprechend sofort nach.
„Er hat es vorgeschlagen. Also von daher macht euch Gedanken darüber, dass ihr den Terminplan der Bundesliga schnell auswendig lernt oder in euer Smartphone eintragt.“
„Wie geil“, sagte Fynn und gab mir einen Kuss.
Ich war noch total gebannt von dieser Information.
„Irgendwie wird mir das langsam unheimlich. Innerhalb von Wochen sind wir in der Rangliste nach oben geschossen, sind in das Finale der Manschaftsmeisterschaften gezogen, Fynn ist deutscher Meister und hat eine Wild Card für das ATP 500 in Hamburg bekommen. Wohin soll das noch führen?“
„Das stimmt so ja auch nicht“, unterbrach mich Chris.
„Warum das denn nicht?“
„Weil dein Freund keine Wildcard für das Turnier in Hamburg bekommen hat, sondern eine Wildcard für die Qualifikation dazu.“
„Boah, Blödmann. Das meinte ich doch. Es ist dennoch mega geil.“
„Das stimmt“, sagte Chris und grinste.
Fynn lachte sich tot über unseren Disput und das führte dazu, dass Chris ihn verdonnerte: „Bevor du auf weitere dumme Ideen kommst, wir fahren jetzt mal bei einer Eisdiele vorbei und gönnen uns ein schönes Eis und Fynn bezahlt.“
„Ok, du hast gewonnen. Ich gebe mich geschlagen. Wir gehen Eis essen.“
Fynn lachte zwar nicht mehr, aber es war dennoch eine tolle Stimmung im Auto. Chris war es wieder einmal gelungen, meine Stimmung zu drehen. Wie schaffte er das nur immer?
Eine Viertelstunde später saßen wir zu dritt in einem kleinen Eiscafé und schaufelten uns das Eis rein. Es war lecker und auch Chris schien die Verhandlung abgehakt zu haben. Dennoch machte er einen nachdenklichen Eindruck. Als ob er über etwas nachdenken würde. Ich traute mich aber nicht, ihn direkt zu fragen.
Es wurde auch schnell wieder über die nächsten Trainingstage gesprochen und Chris teilte uns mit, dass er am Freitag nicht da sein würde. Er wollte das Wochenende zu einem Freund fahren. Er müsste mal etwas andere Luft atmen, wie er sagte.
„Und wie lang bist du dahin unterwegs? Oder fährst du nicht mit deiner Panigale?“, fragte ich.
„Kommt auf das Wetter an. Das werde ich kurzfristig entscheiden, aber so zweieinhalb Stunden rechne ich schon.“
Chris erzählte uns dann von seinem Freund und wie er ihn bei Nickstories kennengelernt hatte. Das war eine lustige Geschichte und ich konnte mir Chris gut vorstellen, wie er immer wieder neue Ideen für seine Geschichten entwickelte. Ich hatte sie mittlerweile alle gelesen und musste zugeben, als Autor hatte er Talent. Er sah das zwar nicht so hochtrabend, aber Fynn war genauso begeistert wie ich und hatte sogar schon mal einige Ideen für die neueste Story vorgeschlagen.
„Haben wir dann am Freitag eigentlich einen freien Tag? Oder sollen wir allein trainieren?“, fragte Fynn.
„Nein, keinen freien Tag, aber ihr könnt frei spielen. Außerdem wird es noch eine Veränderung geben.“
Oha, jetzt wurde es aber doch noch spannend. Was hatten sie sich noch ausgedacht?
„Erzähl, du machst es heute aber wieder spannend.“
„Schon gut, Dustin. Also, Carlo und Tim wechseln den Trainer und werden ab sofort von mir trainiert. Das hat sich gestern in unserer Teambesprechung ergeben. Deshalb möchte ich euch bitten, dass die beiden von euch am Freitag beschäftigt werden. Ihr seid meine Vertretung und gebe die beiden hiermit in eure Hände. Klappt das?“
„Klar“, erwiderte Fynn sofort, „das wird bestimmt lustig. Aber du wirst doch den beiden vorher noch sagen, was du vorhast?“
„Sicher doch. Wir trainieren morgen ja noch einmal vorher.“
„Äh, Chris. Da fällt mir noch etwas ein“, sagte Fynn. „Wir sind am Freitag zu einer Siegerparty eingeladen worden. Also, meine Klasse hat sich sehr für mich gefreut, dass ich deutscher Meister geworden bin und sie wollen das mit uns beiden feiern. Ist das ok, wenn wir am Freitag ein wenig feiern?“
Hoffentlich würde Chris jetzt nicht dagegen sein, weil wir ja direkt danach nach Hamburg fahren würden.
„Klar, habt Spaß mit euren Freunden. Aber Dustin muss mitgehen und dass ihr nicht viel trinken solltet, muss ich nicht extra erwähnen. Hamburg ist schon wichtig für uns.“
„Geht klar, wir trinken eh kaum Alkohol, aber ein wenig Spaß haben mit der Klasse, das finde ich schon toll.“
Damit war das auch abgehakt. Chris machte überhaupt keine große Sache daraus. Fynn wollte jetzt unser Eis bezahlen, denn Chris hatte ja gesagt, dass Fynn heute bezahlt, aber Chris unterband das dann doch und bezahlte alles zusammen.
Wir bedankten uns dafür und waren froh, eine halbe Stunde später wieder zu Hause zu sein. Diesen Tag werde ich wohl so schnell nicht vergessen können. Aber nun hatte ich endlich Ruhe vor meinem tyrannischen Vater. Chris hatte uns erneut zu diesem Erfolg verholfen. Dafür war ich ihm schon sehr dankbar und wieder konnten wir ihm eigentlich nichts dafür anbieten. Er tat es einfach für uns. Das war schon ein tolles Gefühl.
Chris: Training und Wochenende in Langenfeld
Nachdem ich für Hamburg alles organisiert und meine Mannschaft gut vorbereitet hatte, war ich am heutigen Freitag dabei, meine Tasche zu packen und mich auf den Weg zu Fiete und nach Langenfeld zu machen. Ich war in großer Vorfreude, denn dieses Treffen hatten wir schon so lange geplant gehabt und immer wieder verschieben müssen.
Aber ich fühlte mich momentan einfach müde und manchmal auch überfordert mit der Doppelbelastung. Ich brauchte einmal eine Abwechslung und andere Leute um mich herum, um auf neue Gedanken und Ideen zu kommen und meinen Akku neu aufzuladen.
Den Jungs gefiel das zwar gar nicht, dass ich ausgerechnet vor der wichtigen Woche in Hamburg das Wochenende nicht mit ihnen trainieren würde, aber ich hatte klar gesagt, dass ich das unbedingt für mich brauchte. Fynn bemerkte meine Freude auf das Wochenende und er war derjenige, der dann klar sagte, dass sie auch ohne mich sich weiter vorbereiten würden. Ich hatte ihnen für heute Abend viel Spaß auf der Siegesfeier für Fynns Meistertitel gewünscht und mich gestern von ihnen verabschiedet. Am Sonntag wollte ich ja auch schon zurück sein, so dass ich das Abschlusstraining wieder übernehmen konnte.
Ich goss noch einmal meine Blumen und überprüfte die Fenster und dann nahm ich meine Tasche und verließ die Wohnung. Mein Dienstwagen war heute nicht der normale Wiesmann BMW sondern ich hatte von meinem Bruder seinen Wiesmann MF 5 bekommen. Er war der Meinung, ich sollte mir etwas Spaß gönnen. Das ließ ich mir natürlich nicht zweimal sagen und so tauschte wir gestern noch die Autos.
Ich schloss das Auto auf und als erstes öffnete ich das Verdeck, dann legte ich die Tasche in den Kofferraum. Nach dem Einsteigen war das Navi mein Ziel. Ich programmierte das Ziel ein und startete den Achtzylinder. Immer wieder war ich von diesem bildschönen Auto fasziniert und der Klang des Motors war atemberaubend. Ich wusste, diese Reise würde sehr viel Spaß machen.
Ich hatte großes Glück, am Kamener Kreuz war heute Vormittag kein Stau. Ich verließ die A2 um auf die A1 zu wechseln und dort wurde der Verkehr dichter. Ich hatte aber keinen Zeitdruck und aus dem Soundsystem kam Santiano, die bei mir für noch bessere Laune sorgten.
Als ich eine halbe Stunde später auf die A3 wechseln musste, wurde der Verkehr so dicht, dass es auch zu leichtem Stop and Go kam. Meiner Anspannung und Freude tat das keinen Abbruch, denn ich würde in etwa einer Viertelstunde mein Ziel erreicht haben.
Dass ich tatsächlich losgefahren war, überraschte mich doch etwas. Ich war in den letzten Jahren eigentlich nie irgendwohin gefahren, um nur für mich etwas zu tun. Immer war das mit Arbeit oder Tennis verbunden. Mal sehen, ob ich es genießen konnte, nur für mich etwas zu unternehmen und nette Menschen zu treffen.
Als ich von der Autobahn herunter fuhr und an der Ampelkreuzung stand, wo ich rechts abbiegen musste, hielt neben mir ein schwarzer M3 BMW mit lautem Auspuff. Der Fahrer war ein typisch junger Mann mit Sonnenbrille und forderte mich auf zu einem Ampelrennen. Ich schüttelte den Kopf und bog ab. So einen Schwachsinn hatte ich schon Ewigkeiten nicht mehr gemacht.
Mein Navi zeigte mir jetzt an, ich sei am Ziel. Leider stand ich vor einer verschlossenen Schranke auf einem Industriegelände. Patric hatte mir gesagt, dass es dort aber richtig sei. Ich sollte also an der richtigen Straße sein. Ich nahm mein Handy und rief bei ihm an. Er musste lachen und wollte sofort herunterkommen.
Es dauerte auch nur Sekunden und Fiete sprang aus einer Haustür und kam mir lachend entgegen. Er öffnete die Schranke und wies mir einen Parkplatz zu. Ich stellte den Wiesmann dort ab und stieg aus dem Wagen.
Patric kam zu mir und wir begrüßten uns sehr herzlich. Ich fragte ihn: „Kann ich das Verdeck offen lassen oder soll ich es besser schließen?“
„Nein, lass offen. Wir können es später zu machen, sollten wir nicht noch einmal wegfahren.“
Ich nahm meine Tasche aus dem Kofferraum und folgte ihm nach oben in die Wohnung. Dort wurde ich von einem kleinen Wirbelwind empfangen. Ein achtjähriger Junge fegte durch die Wohnung und dessen Mutter schien nicht begeistert über dieses Verhalten zu sein. Ich musste lachen, denn Patric hatte mir Ben genauso beschrieben.
Als Anja richtig bestimmt wurde, hörte er auf seine Mutter und begrüßte mich auch. Er gab mir die Hand und schon war er wieder verschwunden. Jetzt konnte ich auch Anja richtig begrüßen. Ich schaute mich ein wenig in der Wohnung um und musste feststellen, wie war sehr wohnlich eingerichtet.
Standesgemäß hatte Fiete natürlich ausreichend Fassbrause kaltgestellt. Das ließen wir uns auch nicht nehmen und stießen demonstrativ damit an.
„Das sollten wir auf einem Bild für die NiSt-Familie festhalten. Die wollen ja auch ihren Spaß haben“, sagte ich lachend.
Kaum hatte ich das gesagt, zückte Fiete sein Handy und bat Anja um ein Foto von uns beiden. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen und wurde umgehend an die 'Familie' geschickt.
Die Reaktion ließ auch nicht lange auf sich warten. Das liebte ich so an der NiSt-Familie. Sie hatten mir geholfen aus meiner Isolation herauszugehen. Meine Homosexualität endlich offen zu leben und entsprechend damit umzugehen.
Wir saßen am Esstisch und unterhielten uns über die aktuellen Ereignisse. Ich berichtete von meinem Job und den Entwicklungen in Halle, während Fiete mir von seinen Schwierigkeiten in seiner Firma erzählte.
Draußen war ein wunderschöner Tag und deshalb fragte ich ihn:
„Wie sieht das mit deiner Erkältung aus? Können wir vielleicht einen Spaziergang um den benachbarten See machen?“
„Es geht so. Also richtig fit fühle ich mich nicht. Wir müssen auch gleich noch einkaufen fahren, wenn wir heute wie geplant gemeinsam kochen wollen.“
Wir redeten noch ein wenig über die aktuelle Situation bei Nickstories und immer wieder wirbelte der Sohn von Anja durch das Zimmer und sorgte für Aufmerksamkeit. Interessant wurde es dann, als wir einkaufen fahren wollten. Eigentlich wollte Fiete natürlich gern mit dem Wiesmann los, aber da hatten wir die Rechnung ohne Ben gemacht. Er wollte unbedingt mit. Das bedeutete, der Wiesmann blieb stehen und wir mussten Fietes Auto nehmen, da das ein Auto mit genug Platz war.
Das Einkaufen wurde auch ein lustiges Ereignis. Fiete stellte sich als nicht der erfahrenste Koch heraus und somit blieb das Einkaufen der Zutaten mehr oder minder bei mir. Fiete fragte auch schon mal nach, wenn ich etwas in den Wagen legte, was er sich nicht so vorstellen konnte zur Lasagne. Ich hingegen hatte sehr konkrete Vorstellungen und ließ mich nicht beirren. Zwischendurch forderte Ben auch immer Aufmerksamkeit und zum Abschluss des Einkaufs stand natürlich noch ein Abstecher in die Spielzeugabteilung an.
Ben hatte einen Faible für LEGO. Das war in meinen Augen eher positiv zu sehen, denn LEGO erforderte Kreativität und Phantasie. Das Problem war jetzt nur, dass die LEGO-Bausätze wirklich sehr kostspielig sind und so spontan Fiete auch keine Lust hatte, dem Jungen diesen Wunsch zu erfüllen. Das führte wiederum zu einer kleinen verbalen Auseinandersetzung zwischen den beiden, die zum Schluss einen tränenreichen Protest von Ben als Resultat hatte.
Ich hatte sofort für mich beschlossen, diesem Disput nicht beiwohnen zu wollen, damit es nicht zusätzlich zu Stress für beide würde. So beruhigte sich das Ganze auch recht schnell wieder. Fiete ließ sich glücklicherweise nicht auf diese Geschichte ein und im Auto war dann auch wieder alles in bester Ordnung. Dieses Spiel hatte Fiete erfolgreich gewonnen.
Zu Hause begannen wir mit den Vorbereitungen zum Kochen. Ich erklärte die Abläufe und wir hatten sehr viel Spaß in der Küche. So hatten wir nach einer guten dreiviertel Stunde einen leckeren Salat und als Hauptgang eine Lasagne nach meinen Vorstellungen für uns bereitet.
Obwohl uns Anja vorgewarnt hatte, dass Ben keinen Salat essen würde, fragte er von sich aus, ob er den Salat probieren dürfe. Die erstaunten Gesichter waren sehr lustig. Fiete und Anja konnte es kaum glauben, aber der Kurze nahm sich eine Schale voll Salat und aß diesen auch auf.
So hatte ich natürlich bei Anja gleich ein paar Bonuspunkte gesammelt. Zu ihrem großen Erstaunen probierte Ben auch unsere Lasagne. Auch diese wurde von ihm gegessen. Er nahm zwar mehr als er essen konnte, aber er hatte sie von sich aus probiert und für gut befunden. Das ist für Kinder in dem Alter nicht immer selbstverständlich.
Leider hatte Anja ein wenig andere Vorstellungen und hatte immer wieder auf dem Aufessen des Tellers bestanden. Ich konnte das nicht so ganz nachvollziehen, hatte jetzt aber keine Möglichkeiten einzugreifen. Das musste ich auf später verschieben. Leider führte das zu einer weniger entspannten Situation beim Essen. Erst als Ben vom Tisch entlassen wurde, beruhigte sich das wieder.
Verdammt, da wollte ich doch eigentlich nur ein wenig Entspannung und Spaß haben und schon war ich wieder in meinem Job gelandet.
Wir blieben interessanterweise am Tisch sitzen und kamen sehr intensiv ins plaudern. Fiete und Anja erzählten von ihren aktuellen Dingen und der Abend war sehr kurzweilig. Erst im weiteren Verlauf des Abends kam ich erneut auf die Situation vom Essen zurück. Ich hatte das Problem, dass ich keinen kritisieren wollte, sondern nur meine Wahrnehmungen schildern wollte. Bei dieser Situation wurden beide sehr hellhörig und hörten mir genau zu.
Es entstand eine gute Diskussion und ich hatte das Gefühl, ich konnte einige Situationen erklären und verdeutlichen. Beide schienen mir auch nicht böse zu sein, dass ich nicht unbedingt mit ihrem Verhalten dem Jungen gegenüber einverstanden war.
Dann berichtete ich von meinem Versuch mit Gerry Weber auf dem Golfplatz. Wie ich schon befürchtet hatte, war Gerry natürlich um Welten besser und ich war froh, dass ich den Ball überhaupt ein oder zweimal gut getroffen hatte. Fiete und Anja amüsierten sich köstlich über meine Erzählungen. Das Highlight für mich war allerdings, als ich tatsächlich einmal durch einen Glückstreffer einen Ball früher als Gerry einlochen konnte. Das Gespräch mit Gerry während der Runde war sehr gut und gab mir ein gutes Gefühl für die Entscheidungsfindung. Das wollte ich hier aber noch nicht zum Thema machen.
Erst gegen Mitternacht gingen wir alle ermüdet schlafen. Es war ein schöner Abend und obwohl es nicht mein gewohntes Bett war, konnte ich erstaunlich gut einschlafen. Auch wenn es erneut um meinen Beruf gegangen war, hatte ich das Gefühl, etwas bewegt zu haben.
Der nächste Morgen bestand in einem ausgiebigen Frühstück und der Planung des Tages. Für Fiete und Anja stand am Nachmittag eine Familienfeier an und ich hatte deshalb geplant, bereits am späten Vormittag abzureisen.
Auch jetzt gab es eine entspannte Gesprächsrunde und Fiete erzählte aus seiner Firma und seiner Familie ein paar Geschichten. Ich lernte ihn persönlich viel besser kennen und je mehr wir miteinander sprachen, desto deutlicher wurde mir, wie wichtig es für mich war, dorthin gefahren zu sein. Wir verstanden uns sehr gut und hatten viele Ansichten, die sehr ähnlich waren.
Ben war natürlich auch schon wieder voll dabei und sorgte dafür, dass er immer genug Aufmerksamkeit bekam. Das war nicht unangenehm, aber eben lebendig.
Natürlich mussten wir noch eine Ausfahrt im Wiesmann machen. Darum hatte mich Fiete gebeten und den Wunsch erfüllte ich ihm gern. Die Sonne lachte vom Himmel und ich öffnete das Verdeck. Als ich den Achtzylinder startete, konnte man das Brabbeln von den Wänden verstärkt hören. Ich fuhr sehr behutsam aus der Hofeinfahrt und dann ging es einmal aus dem Ort heraus. Jetzt konnte ich den über 600 PS freien Lauf lassen und der Spaßfaktor war auch zu seinem Recht gekommen. Spaß hatten wir reichlich.
Bevor wir zurück zur Wohnung fuhren, lud ich Fiete zu einem Eis ein. Wir hielten vor einer kleinen Eisdiele und setzten uns nach draußen. Ein Klingelton verriet mir, dass ich von meinen Jungs eine Nachricht erhalten hatte. Ich holte mein Handy hervor und schaute nach.
„Hi Chris, bei uns ist alles bestens und wir gehen jetzt trainieren. Party gestern war gut, nur sind wir noch etwas müde. Hab viel Spaß und bis morgen.“
Fynn hatte mir das geschrieben und ich freute mich über diese Information. Es zeigte mir erneut, wie sehr wir mittlerweile verbunden waren.
Ich zeigte sie Fiete und er staunte schon ein wenig.
„Du hast die Jungs aber gut im Griff. Ich weiß nicht, ob ich so diszipliniert wäre. Oder haben sie Angst vor deiner Reaktion, wenn sie Blödsinn gemacht haben?“
Ich musste lachen.
„Nein, ich muss eigentlich sehr selten mal klare Ansagen machen. Sie wollen sich verbessern und Erfolg haben. Daher sind sie von dem überzeugt, was wir für einen Weg besprochen haben. Es ist ja nicht so, dass ich autoritär sage, sie müssen dies oder jenes machen. Wir legen gemeinsam den Weg fest. Klar, manchmal muss ich ein paar Orientierungspunkte setzen, aber das klappt doch sehr gut. Ich bin sehr zufrieden mit meinen Jungs.“
„Wird dir das nicht zu viel? Du hast einen stressigen Beruf und dazu jetzt noch diese Tennisgeschichte. Es sieht für mich so aus, als ob das immer mehr Zeit in Anspruch nimmt. Manchmal habe ich das Gefühl, du übernimmst dich.“
„Ja, das macht mir gerade auch zu schaffen. Ich habe abends oft das Gefühl leer und ausgebrannt zu sein. Ständig pendele ich hin und her und muss immer auf beiden Seiten die ideale Lösung suchen. Ich habe ja meine Stundenzahl im Beruf auf die Hälfte reduziert, aber das ständige Wechseln ist anstrengend. Allein die Fahrerei und dann die Reisen zu den Turnieren. Das schlaucht mich doch ganz schön. Insbesondere, dass ich von meinem Beruf nicht abschalten kann. Ich habe ständig die aktuellen Fälle im Kopf und denke auch über weitere Maßnahmen nach.“
„Das hört sich aber nicht gut an. Wie lädst du denn dann deine Akkus wieder auf? Irgendwann musst du doch auch mal abschalten können.“
Ich musste schmunzeln. Diese Frage hatte ich nicht zum ersten Mal gestellt bekommen.
„Indem ich mehr solche Ausflüge machen will, wie den zu euch. Das ist seit Ewigkeiten mal wieder ein reiner Spaßbesuch. Einfach nur, um sich mit Freunden zu treffen oder sie besser kennenzulernen.“
„Und wie gefällt dir das?“
„Gut. Sehr gut. Werde ich in Zukunft auf jeden Fall häufiger machen.“
„Sehr vernünftig. Der alte Drache lernt noch dazu.“
Jetzt mussten wir beide lachen.
„Ok, du hast ja recht, aber es ist nicht so einfach. Zumal ich jetzt noch ein weiteres Problem bekomme. Mein Bruder möchte mich gern komplett in sein Team holen und dass ich in der Beratungsstelle aufhöre. Meine drei großen Jungs werden vermutlich in Zukunft noch mehr auf größeren Turnieren spielen und damit auch viel unterwegs sein. Da ich sie als Coach begleiten soll, würde das nur gehen, wenn ich auch ständig mitreisen kann. Das geht mit dem Job in der Beratungsstelle dann nicht mehr.“
Fiete schaute mich an und er überlegte laut:
„Gut, das ist ein Problem. So wie ich dich kennengelernt habe, hängst du sehr an deinem Job dort. Wie kommst du denn mit deinem Bruder als Chef klar? Das war doch früher sehr schwierig. Willst du das wirklich?“
„Damit hast du das große Fragezeichen genau beschrieben. Ich weiß es eben nicht. Momentan bemüht er sich wirklich, mir die Arbeit zu erleichtern und unterstützt mich sehr gut. Ich traue der Sache aber noch nicht komplett. Es sind zu viele Erinnerungen im Spiel.“
„Ja, das leuchtet mir ein. Aber die Arbeit mit den Jungs auf dem Tennisplatz macht dir Spaß?“
„Absolut. Wenn ich jetzt noch selbst wieder spielen könnte, würde es perfekt sein. Das ist auch so ein Punkt. Ich kann nicht mehr selbst spielen und soll drei Nachwuchsspieler trainieren und sie an die Weltklasse heranführen. Wie soll das gehen?“
„Es ging doch bis jetzt auch sehr gut. Wo ist das Problem?“
Da hatte er allerdings erneut einen wunden Punkt getroffen. Es war meine Vorstellung von Trainerarbeit.
„Ich glaube, es liegt eher an mir. Es fällt mir immer noch schwer zu akzeptieren, dass ich nicht mehr spielen kann.“
„Klar, das ist sicher nicht einfach, aber wer weiß, es gibt vielleicht bald neue Methoden und du kannst doch wieder spielen.“
Jetzt musste ich laut lachen. Fiete stutzte über meine Reaktion.
„Ach, genau das habe ich gestern noch von unserem Physio gehört. Er sagt, ich solle mich mehr bewegen und würde sonst einrosten. Jetzt will er sich mit meinem Neurochirurgen besprechen, ob es nicht doch eine Lösung geben kann.“
„Das finde ich gut. Mach das und vielleicht geht da ja doch was. Und ich bin der Meinung, du musst für dich eine Entscheidung treffen, was du machen möchtest. Die neue Herausforderung im Tennis würde dir bestimmt gut tun. In deinen Beruf kannst du doch sehr wahrscheinlich immer zurück. So viele gute Therapeuten mit deiner Erfahrung wird es nicht geben.“
Diese Vorstellung löste bei mir Unruhe aus. Eigentlich war dieser Vorschlag gar nicht schlecht und ich wusste es auch. Die Aufgabe reizte mich sehr. Ich hatte aber noch nicht das Selbstvertrauen, mir das zuzutrauen. Ich beschloss mich noch ernsthafter damit auseinanderzusetzen. Hier beendete ich das Thema und wir redeten noch einen Moment über Nickstories, bevor wir wieder aufbrachen.
„Hast du Bock mal das Biest zu fahren?“, fragte ich ihn.
„Du würdest mich echt fahren lassen?“
„Klar, los steig ein. Du fährst heim.“
Als wir zu Hause ankamen, wollte ich dann auch zurück nach Westfalen aufbrechen, denn sonst würde ich in den Rückreiseverkehr geraten. Ich packte noch meine Tasche zusammen und dann war auch schon dieser Ausflug beendet. Allerdings hatten wir vereinbart, uns in Zukunft häufiger zu besuchen. Es hatte mir richtig gut gefallen und auch gut getan. Fiete ging das genauso und er hatte diesen Besuch auch als sehr angenehm empfunden.
Die Rückfahrt nach Hause verlief sehr entspannt und ohne Staus und Stress. So war ich am frühen Nachmittag wieder zu Hause und genoss den freien Abend.
Ich war abends noch im Chat und hatte mich mit Thekla ausgetauscht. Thekla war ein Urgestein bei Nickstories und mit ihr konnte ich sehr gut Ideen austauschen. Wir waren oft mit den gleichen Vorstellungen an Probleme bei Nickstories herangegangen und so standen wir uns mittlerweile sehr nahe.
Ihr Rat sah auf jeden Fall eine Veränderung der Situation vor. So würde ich über Kurz oder Lang ausbrennen und mich nicht erholen können. Sie schlug vor, etwas Neues zu machen.
Meine Gedanken gingen genau dahin, aber konnte ich das auch wirklich umsetzen? So ganz viel Zeit hatte ich nicht mehr, eine Entscheidung zu finden. Klar war, diesen Aufwand in beiden Bereichen konnte ich so nicht weiter betreiben. Das würde ich nicht schaffen.
Am Sonntag hatte ich mich mit Thorsten in Halle verabredet. Wir wollten wieder eine Stunde gemütlich ein paar Bälle schlagen und anschließend über Hamburg sprechen. Meinen Jungs hatte ich den Sonntag frei gegeben.
Gegen elf Uhr traf ich an der Anlage in Halle ein. Der Parkplatz war gut gefüllt. Also herrschte bereits ein reger Spielbetrieb der Mitglieder. Das kannte ich aus meinem kleinen Verein von früher nicht. Dort waren die Sonntage eher ruhig.
Thorsten stand schon fertig umgezogen auf der Terrasse als wir uns begrüßten.
„Na, wie war dein Ausflug?“
„Woher weißt du denn das?“, fragte ich überrascht.
„Na, deine Jungs waren Freitag hier und du nicht. Da habe ich doch mal gefragt, wo du denn hin bist. Ich wusste zwar, dass du weg bist, aber was genau, wusste ich ja nicht.“
„Stimmt, hätte ich mir auch denken können. Also, es war sehr schön. Endlich mal was ganz anderes sehen und sich mit Leuten unterhalten, die mit Tennis oder Beruf gar nichts zu tun haben.“
„Ich ziehe mich schnell um und dann lass uns loslegen, bevor noch mehr Leute hier sind und mein dilettantisches Spiel sehen.“
Thorsten schüttelte lachend den Kopf und ich verschwand in der Umkleide.
Auf dem Platz hatte ich dann nicht mehr ganz so viel Angst wie ganz zu Anfang. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass der Rücken hält, wenn ich mich sehr vorsichtig bewegte und nicht nach jedem Ball laufen musste. Thorsten hatte aber auch die Fähigkeit mir den Ball gut zuspielen zu können. Dennoch hatte ich Spaß und musste keine Punkte mehr ausspielen.
Nach einer dreiviertel Stunde hörten wir auf und verließen gemeinsam den Platz.
„Du wirst immer sicherer in deinen Abläufen. Hoffentlich findet Kolja mit deinem Arzt einen Konsens. Es wäre echt zu schade, wenn du wirklich nicht mehr spielen kannst.“
„Ich hoffe das auch sehr. Ihr habt mich ja auch wieder aufgeweckt. Eigentlich hatte ich mich schon damit abgefunden.“
Thorsten lachte und wir verschwanden in der Dusche. Anschließend waren wir noch kurz in der Sauna und eine Massage gab es zum Abschluss auch noch. Fast wie in einem Wellness Hotel. Entsprechend gut gelaunt, betraten wir den Clubraum und bestellten uns etwas zu trinken. So eine frische Apfelschorle nach dem Sport tat richtig gut. Thorsten staunte über meine Wahl.
„Nanu, keine Fassbrause? Bist du krank?“
Ich lachte und erwiderte: „Keine Sorge, die trinke ich gleich hinterher, aber eine Apfelschorle nach dem Sport ist auch sehr schön.“
Wir saßen in entspannter Runde an der Theke. Überraschend betrat Christian den Raum und kam direkt auf uns zu. Christian war der Rechtsexperte und für die Finanzen zuständig. Er begrüßte uns herzlich und setzte sich mit an die Theke.
„Na, seid ihr für die kommende Woche gut vorbereitet? Deine Jungs haben Freitag und gestern noch mal richtig Gas gegeben beim Training. Und das, obwohl du nicht anwesend warst. Das hat mir richtig gut gefallen.“
„Ja, ich denke schon, dass wir gut im Soll liegen. Was als Ergebnis herauskommt, werden wir abwarten müssen. Ich finde es schon überraschend, dass wir im Finale sind. Jetzt sind die besten Mannschaften der Landesverbände dabei. Da wird die Luft schon dünn werden.“
„Ach, ich bin der Meinung, dass unsere Jungs dort vollkommen entspannt spielen können und für eine Überraschung sorgen werden. Ich habe ein gutes Gefühl. Vor allem, weil es dir gelungen ist, ein Team aufzustellen. Das wird eine große Stärke sein.“
Thorsten hatte mein Prinzip erkannt. Ich wollte keine reinen Individualisten haben und die Jungs hatten es begriffen, dass sie gemeinsam viel stärker sind.
„Warten wir ab, wann fahren wir eigentlich morgen los? Spielbeginn ist ja erst ab 15 Uhr am Nachmittag.“
Thorsten schaute in seinem Smartphone und antwortete: „Ihr fahrt um halb neun vom Bahnhof los und habt dann in Hamburg genug Zeit euch vorzubereiten. Das Hotel liegt in direkter Nähe zur Anlage. Es sind nur fünf Minuten zu Fuß.“
„Cool, du hast wieder alles perfekt geplant. Das ist schon schön, wenn ich mich nicht auch noch darum kümmern muss.“
Thorsten lachte und sofort kam die Reaktion:
„Das wäre auch zu viel. Du hast schon genug mit dem Kindergarten zu tun. Mal was anderes, wie haben die Jungs eigentlich auf die Bundesliga reagiert?“
„Sehr überrascht, aber ich glaube fast, sie haben es noch gar nicht wirklich verstanden. Das wird wohl erst noch kommen, genau wie die Wildcard für Hamburg im nächsten Jahr. Das ist alles so viel Neues für die drei, sie brauchen etwas Zeit, dass zu verstehen. Ich verstehe es ja selbst kaum, wie schnell sie sich dorthin entwickeln.“
„Ich verstehe es schon, denn das Talent haben sie allemal und jetzt hast du ihnen einen Weg gezeigt, den sie gehen können. Sie vertrauen dir und konzentrieren sich ganz auf ihre Aufgaben. Du hältst ihnen den Rücken frei und das gibt ihnen das Selbstvertrauen. Gerade bei Dustin und Fynn spürt man das sehr deutlich. Sie sind viel offener und sicherer im Auftreten geworden. Sie verheimlichen ihre Beziehung nicht mehr. Das gibt ihnen zusätzliche Kraft.“
Christian schien gut im Bilde zu sein, denn damit hatte er viel Wahres gesagt. Deshalb hatte ich auch so viel Freude an der Arbeit mit den dreien.
Thorsten ergänzte noch: „Auch Maxi ist erstaunlich. Du hast innerhalb weniger Wochen aus einem talentierten Laberkopf einen ernsthaften Spieler gemacht. Seine Wandlung ist erstaunlich. Damit habe ich so schnell nicht gerechnet. Jetzt ist er nicht nur mit dem Mund richtig gut.“
Darüber mussten wir alle lachen und dann gab mir Thorsten die Tickets für den Zug und die Hotelbuchungsbestätigung. Mir fiel noch etwas ganz anderes ein, über das ich mir schon lange Gedanken gemacht hatte.
„Ich habe mal eine Frage. Für mich ist es momentan sehr zeitaufwendig und anstrengend, jeden Tag in der Woche nach Halle zu fahren und abends wieder zurück. Jan hat mir ja geraten darüber nachzudenken, hier ganz einzusteigen. Wenn ich meinen jetzigen Job anders organisiere, wäre es für mich sinnvoll, hier eine kleine Wohnung zu suchen. Könntet ihr mir dabei behilflich sein? Ihr habt doch bestimmt Verbindungen.“
„Das sollte wirklich kein großes Problem werden. Eigentlich habe ich schon längst auf diese Frage gewartet. Wie siehst du denn deine Zukunft? Kannst du dir das vorstellen, mit den drei auf die Challengertour zu gehen?“
„Ja, ich finde es reizvoll. Es wäre etwas vollkommen Neues für mich. Allerdings habe ich immer noch die Unsicherheit, wie ich mit meinem Bruder klarkommen werde. Wir haben noch nicht lange einen so guten Umgang wie zurzeit. Es gibt noch einige Altlasten, die das Verhältnis belasten.“
„Das verstehe ich“, sagte Thorsten, „aber ich bin der Meinung, dass Jan sich deutlich auf dich zubewegt hat und erkannt hat, wie wichtig deine Arbeit ist. Er zeigt Respekt für dich. Das macht er nicht bei allen so deutlich. Ich glaube, ihr könnt beide davon profitieren, wenn ihr das wirklich versuchen wollt. Immerhin hat er dir das Angebot gemacht. Du kannst frei entscheiden.“
„Genau das ist mein Problem. Ich kann nicht so frei entscheiden. Ich müsste meinen geliebten Beruf aufgeben und mich auf das Abenteuer Tennis einlassen. Das fällt mir nicht so leicht, meine Familien zu verlassen und sie in die Hände eines Kollegen zu geben.“
Wir sprachen noch recht lange über das Thema und mir wurde immer deutlicher, dass ich mich entscheiden musste. Je länger ich das vor mir herschob, desto schwieriger wurde das Ganze. So fällte ich spontan eine Entscheidung.
„Leute, ich möchte zum Abschluss dieser Runde etwas sagen. Gebt mir die Woche in Hamburg noch Zeit. Wenn ich zurück bin, werden wir das entscheiden. Lust habe ich jedenfalls, mit euch dieses Abenteuer zu starten. Auch für die drei Jungs. Außerdem brauche ich für mich eine Veränderung, aber gebt mir diese Woche noch. Ich möchte es mit den Jungs noch einmal besprechen und schauen, wie sie das sehen.“
„Deal“, sagte Thorsten. Im Nachsatz kam überraschend noch: „Willkommen in unserem Team, ich bin mir sicher, wir werden in Zukunft hier gemeinsam viel bewegen. Ich kenne dich jetzt lange genug und spüre, dass deine Entscheidung schon gefallen ist. Du willst die Jungs aber nicht übergehen und das finde ich absolut fair. Mach das so.“
Thorsten kannte mich bereits sehr gut und ich konnte nicht widersprechen. Ich ließ das so stehen und fuhr auf dem Heimweg in der WG vorbei. Dort wollte ich mit den Jungs die Anfahrt besprechen und letzte Fragen abklären.
Als ich aus dem Wiesmann stieg, dauerte es nicht lange und Carlo stand mit Tim in der Haustür.
„Siehst du, ich hatte es doch gehört, dass hier ein besonderes Auto kommt. Ein fauchender Achtzylinder ist nicht alltäglich.“
Carlo hatte sein breitestes Grinsen im Gesicht und Tim schob hinterher:
„Hey Chris, wo hast du diese geile Karre her. Was ist das überhaupt für ein Auto?“
„Hallo ihr zwei. Das ist ein Wiesmann MF5 und den habe ich mir von Jan ausgeborgt.“
„Darf ich mir den mal genauer ansehen?“, fragte Carlo.
„Klar, aber erst muss ich mal mit den drei großen Jungs sprechen. Ich sage dir Bescheid, dann kannst du dir das gerne ansehen. Ok?“
„Cool, aber mach nicht so lange. Ich muss heute um halb zehn im Bett sein.“
Ich fing an zu lachen.
„Na, zu der Zeit wollte ich schon lange zu Hause sein. Das bekommen wir also hin.“
Ich schloss das Auto ab und ging ins Haus. Ich klopfte an Fynn und Dustins Tür, aber niemand öffnete. Sollten sie vielleicht gar nicht da sein? Ich hatte mich ja auch nicht angemeldet. Da kam Maxi um die Ecke und begrüßte mich:
„Chris? Was machst du denn hier? Haben wir einen Termin verpennt?“
„Hi Maxi. Nein, ich war nur in Halle und habe mich mit Thorsten getroffen. Ich dachte, wir sollten noch kurz die Details für morgen besprechen. Sind Dustin und Fynn nicht …“
„Doch, klar. Wir sitzen hinten im Garten. Das Wetter ist so schön. Komm mit.“
Er nahm noch einen Sixpack Fassbrause aus dem Kühlschrank und dann gingen wir nach hinten in den Garten.
„Hey, ich habe Besuch mitgebracht. Chris hatte Sehnsucht nach uns.“
Dustin und Fynn lachten und als ich mich gesetzt hatte, fragte mich Fynn:
„Was ist passiert? Gibt es eine Änderung im Plan?“
„Nein, aber ich wollte noch kurz mit euch den Ablauf besprechen.“
Es dauerte auch nicht sehr lange, bis wir alles besprochen hatten und Fynn zum Abschluss fragte:
„Wie ist das eigentlich mit der Bundesliga gemeint gewesen? Sollen wir wirklich mit den Spielern trainieren und zur Mannschaft gehören oder war das mehr ein kleiner Scherz?“
„Nein, damit scherze ich nicht. Ihr werdet in diesem Jahr zum Bundesligakader gehören und auch dafür gemeldet. Also seid ihr auch spielberechtigt, falls Thomas das für richtig hält.“
„Krass, damit hatten wir echt nicht gerechnet. Was hältst du davon? Sind wir wirklich schon so gut?“
„Ja, Maxi. Ich bin dafür, dass ihr die Chance bekommt. Ihr habt sie verdient. Selbst wenn ihr nicht zum Einsatz kommt, allein die Trainingseinheiten mit dem Kader werden euch viel geben. Außerdem werde ich auch bei den Spielen dabei sein, Gerry hat sich das ja gewünscht. Ich glaube, er hält sehr viel von euch dreien.“
Wir redeten noch über den Spielerkader und dann tauchte die Frage auf, die ich schon viel früher von Maxi erwartet hatte:
„Bekommen wir eigentlich auch, wie die anderen, Geld für die Bundesliga?“
„Ich gehe davon aus, dass ihr an den Siegprämien beteiligt werdet und Geld bekommt, solltet ihr tatsächlich auch spielen. Aber sonst sehe ich euch eher als Praktikanten. Aber wenn du das genau wissen möchtest, musst du mit Gerry sprechen, denn er macht die Verträge für die Bundesliga.“
Jetzt musste ich aber grinsen, denn ich stellte mir gerade vor, wie Maxi Gerry ansprechen würde, um nach den Finanzen zu fragen.
„Na sicher doch. Maxi fragt Gerry nach der Kohle und wir bekommen nie wieder die Chance, dort zu spielen. Ich vertraue Chris da völlig. Wenn wir Geld dafür bekommen, werden wir es ja sehen. Bislang haben wir unser Geld von den Turnieren immer sehr schnell auf dem Konto gehabt. Gerry wird das schon regeln.“
Ich konnte Fynns Erregung deutlich anmerken. Es war ihm absolut unangenehm über das Thema zu sprechen. Er freute sich einfach über diese Anerkennung.
„So, da wir alles aus meiner Sicht geklärt haben, meine Frage an euch. Habt ihr noch was oder sehen wir uns morgen früh? Thorsten bringt uns zum Bahnhof. Sollen wir euch hier wieder einladen oder wollt ihr zum Club kommen?“
Sie schauten sich an und waren sofort der Meinung, dass wir sie hier abholen sollten. Das machte eigentlich auch Sinn. Damit verabschiedete ich mich von den dreien und ging jetzt noch zu Carlo. Er sollte sich den Wiesmann noch anschauen dürfen.
Natürlich waren Carlo und Tim schon gespannt wie ein Flitzebogen auf das Auto. Wie die kleinen Kinder rannten sie vor die Tür und ich ließ sie nach einem Rundgang um das Auto einen Blick in den Motorraum werfen.
„Wow, ganz schön groß die Maschine. Die hat bestimmt ordentlich Dampf“, bemerkte Tim staunend.
„Das kannst du laut sagen. Serienmäßig hat der MF5 über 550 PS, aber ich vermute, dass da vorne ist ein Kompressor. Also hat der noch mehr Dampf, oder Chris?“ Typisch Carlo, er hatte einen Autotick.
„Stimmt, dieser hier hat über 650 Pferdchen. Das ist also ausreichend motorisiert. Möchten die Herrschaften einmal Platz nehmen?“
Das war eine rein rhetorische Frage, denn ich hatte es noch nicht ganz ausgesprochen, als die Jungs freudestrahlend im Auto saßen. Ich machte schnell ein Bild von den beiden und fragte Tim dann:
„Bist du für morgen fit? Was haben deine Lehrer gesagt, als du ihnen sagen musstest, dass du für eine Woche nach Hamburg fährst?“
„Klar bin ich fit. In der Schule läuft es dank deiner Hilfe gerade sehr gut. Mein Klassenlehrer hat mir viel Erfolg gewünscht. Allerdings musste ich versprechen, den Stoff nachzuarbeiten. Ich freue mich auf die Woche, denn das wird bestimmt spannend und lustig.“
„Glaubst du, dass ich bald wieder so gut bin, dass ich auch einmal bei den großen mitspielen kann?“
Carlo schaute dabei etwas niedergeschlagen aus. Seit die beiden bei mir trainierten war dieses Thema noch nicht aufgetaucht.
„Natürlich, aber du musst Geduld haben. Ich finde, du hast schon wieder eine gute Performance. Halte dich an die Vorgaben von Christoph und Kolja. Dann wirst du bald wieder voll im Saft stehen und auch Turniere gewinnen können. Dieses Mal wäre das zu früh.“
„Ja, ich weiß. Es ist aber nicht einfach hier zu bleiben, wenn die anderen nach Hamburg fahren können. Ich …“
„Carlo“, unterbrach ich ihn, „du hast den Blödsinn gemacht, also musst du das auch aushalten. Allerdings sehe ich das nicht so tragisch. Du bist noch jung und in drei Wochen geht es mit den Gerry Weber Junior Open los. Bis dahin bist du wieder fit.“
„Du versprichst mir, dass ich da spielen darf?“
„Wenn du bis dahin gut trainiert hast und richtig fit bist, ja.“
Damit hatte ich gewonnen, denn das war das einzige Rasenturnier auch für Jugendliche in Deutschland. Da hatten sie alle natürlich richtig Lust drauf.
„Bevor es zu spät wird, wir laden euch morgen früh hier ein. Also Tim, bitte sei rechtzeitig fertig und vor allem pack deine Sachen heute noch ein.“
„Schon fertig. Die Taschen sind bereits gepackt. Ich habe keine Lust, mich von dir abrauchen zu lassen, nur weil ich wieder mal etwas vergessen habe.“
Das sagte er so trocken, dass ich total überrascht war. Carlo lachte sich halb tot und ich zeigte Tim den Daumen hoch.
„Wow, dass ich das noch erleben darf. Tim wird vernünftig.“
Dann wuschelte ich ihm einmal durch die Haare und stieg in den Wiesmann und fuhr nach Hause.
Fynn: Fahrt nach Hamburg
Die Nacht vor unserer Abfahrt war unruhig. Obwohl wir ja mittlerweile wussten, wie der Ablauf sein würde, war ich aufgeregt. Dustin hatte sich wirklich Mühe gegeben mich zu beruhigen, aber so wirklich gelang ihm das nicht. Entsprechend unausgeschlafen war ich am frühen Morgen, als der Wecker klingelte. Das waren sicherlich keine guten Voraussetzungen für ein gutes Turnier.
Martina hatte uns ein tolles Frühstück vorbereitet und das hellte meine Laune gleich wieder auf. Frühstück war mir sehr wichtig. Da hatte ich mit Chris etwas gemeinsam, denn ohne Frühstück war Chris morgens auch nur mit Vorsicht zu genießen.
Wir saßen am Tisch und Tim hatte sich doch tatsächlich freiwillig zum Bäcker aufgemacht und frische Brötchen geholt. Damit hatten wir überhaupt nicht gerechnet. Er legte die große Tüte auf die Arbeitsplatte der Küche und verteilte sie im Brotkorb. Diesen stellte er auf den Tisch und setzte sich zu uns an den Tisch.
„Danke, damit habe ich ja überhaupt nicht gerechnet. Damit ist klar, beim nächsten Turnier ist einer von uns dran mit Brötchen holen.“
Tim grinste und lachte. Das hatte ich bislang sehr selten erlebt.
„Cool, dann haben wir uns ja darauf schon geeinigt. Wenn wir in Hamburg sind, bekommen wir die Dinger zum Frühstück ja wohl vom Hotel.“
Leider rannte die Zeit wieder viel zu schnell und Chris war schon mit Thorsten und dem Bus vorgefahren. Chris betrat die Küche mit einem fröhlichen „Guten Morgen“.
„Hi Chris, ist es schon Zeit?“, fragte ich.
„Ja und so wie du aussiehst, war deine Nacht nicht sonderlich erholsam.“
Woran konnte er das jetzt wieder sehen. Das war doch beängstigend, was er alles beobachten konnte.
„Geht so, ich bin aufgeregt und weiß gar nicht warum. Wir fahren doch nur wieder zu einem Turnier. Ich bin aber genauso aufgeregt wie beim ersten Mal.“
„Ach, das ist normal und bei dem Einen geht das schneller weg und der Andere braucht mehr Zeit dafür. Ist doch in Ordnung. Seid ihr soweit, dass wir die Taschen einpacken und losfahren können?“
Wir stellten unsere Teller noch in die Spülmaschine und holten dann unsere Taschen, stellten sie in den VW-Bus und als wir uns angeschnallt hatten, fuhr Thorsten los. Marek hatten sie vom Club mitgebracht und wir begrüßten uns im Auto.
Die Fahrt zum Bahnhof ging schnell und wir hatten auch keine großen Gespräche im Auto geführt. Jeder war mit seinen Gedanken allein. Lediglich Dustin kuschelte sich an mich und damit gab er mir ein gutes Gefühl. Seine Nähe wirkte sich beruhigend für mich aus. Fast wäre ich wieder eingeschlafen.
Thorsten hielt vor dem Bahnhof und wir stiegen schnell aus, damit er nicht einen Parkplatz suchen musste. Mit unseren Taschen bepackt, machten wir uns auf den Weg in die Bahnhofshalle. Für die Morgenstunden war schon reger Betrieb hier, auch wenn der Berufsverkehr schon vorbei war.
Chris ging zielstrebig auf die Aufgänge zu den Bahnsteigen zu. Er schien bereits zu wissen, auf welchem Gleis unser Zug fuhr. Wir folgten ihm einfach und tatsächlich, als wir den Bahnsteig betraten, war unser Zug bereits auf der Tafel angekündigt. Leider mit einem Zusatz, der uns gar nicht gefiel. Wegen Gleisbauarbeiten hatte unser ICE leider zwanzig Minuten Verspätung.
„Das fängt ja gut an. Die Bahn kommt. Die Frage ist nur, wann sie kommt.“ Typisch Maxi.
Chris seufzte einmal auf und sagte: „Leider hat er aber recht. Ok, ist nicht zu ändern. Also warten wir. Es ist genug Zeit in Reserve. Wir müssen erst um 15 Uhr auf dem Platz stehen.“
Dustin und ich setzten uns auf eine Bank direkt in der Nähe der zu erwartenden Position unseres Wagons. Tim hingegen lief über den Bahnsteig und schaute sich alle möglichen Schautafeln an. Marek saß mit seinem Kopfhörer auf einer anderen Bank und spielte mit seinem Tablet. Irgendwie konnte ich mich nicht so wirklich mit ihm anfreunden. Er war immer etwas unnahbar und sehr zurückgezogen. Klar, auf dem Tennisplatz war er richtig gut, aber für mich war er mir etwas eingebildet. Chris hatte uns erklärt, dass er momentan von einem persönlichen Sponsor alles bezahlt bekam und somit sich ausschließlich auf Tennis konzentrieren konnte.
Eine gute halbe Stunde später saßen wir in unserem Wagon und rauschten Hamburg entgegen. Dustin und ich mussten leider auch ein paar Dinge für die Schule machen. Entsprechend eifrig saßen wir am Tisch und arbeiteten uns durch die Aufgaben. Tim hatte sich seine Lektüre für Deutsch ebenfalls hervorgeholt. Chris beschäftigte sich mit seinem Tablet und als wir in Hannover den nächsten Halt hatten, fragte er uns:
„Wie weit seid ihr mit euren Schulsachen? Ich würde gerne mit euch über den Ablauf des Turniers und den ersten Gegner sprechen.“
Dustin und ich schauten vom Tisch hoch und ich antwortete: „Ja, können wir gleich machen. Wir brauchen noch fünf Minuten.“
Chris nickte und wir beeilten uns fertig zu werden. Chris hatte uns alle um den Tisch in der Mitte des Großraumwagens versammelt. Er hatte auch für jeden von uns ein paar Bögen Papier ausgedruckt, die er jetzt verteilte.
„Das ist unser Spielplan mit der Meldung der anderen Mannschaften. Es sind sechzehn Mannschaften dabei. Aus jedem Bundesland der jeweilige Landessieger. Es wird in vier Gruppen gespielt, jeder gegen jeden. Die Gruppensieger spielen im Halbfinale gegeneinander.“
Ich schaute auf die Auslosung und konnte mit den Vereinen nichts anfangen. Klar vom Iphitos München hatte ich schon gehört, aber die anderen Vereine aus Sachsen und Schleswig-Holstein waren für mich Neuland.
Chris gab uns für das erste Spiel sehr präzise Gegneranalysen und hatte für jeden einzelnen eine Strategie ausgearbeitet. Das war beeindruckend, mit welcher Perfektion sich Chris vorbereitet hatte. Ich wusste jedenfalls bereits sehr viel von meinem Gegner, bevor ich ihn auch nur einmal gesehen hatte.
Als alle ihre Vorbereitung abgeschlossen hatten, fragte Chris: „Hat von euch jetzt noch jemand Fragen? Sonst möchte ich gern noch etwas zum allgemeinen Ablauf sagen.“
Wir schauten uns an, aber keiner hatte noch Fragen.
„Gut, dann folgendes. Wir repräsentieren dort Nordrhein-Westfalen und den TC Blau-Weiß Halle, also nicht nur das Break-Point-Team. Ich erwarte ein vorbildliches Verhalten. Es werden vier Einzel und zwei Doppel pro Partie ausgespielt. Wenn das Wetter mitspielt sollte am Mittwochabend feststehen, wer im Halbfinale steht.
Wir sind in einer sehr schönen Pension untergebracht sein. Thorsten und ich haben bewusst kein Hotel gewählt, weil wir genug Zeit haben werden, die Stadt zu erkunden. Wir können sogar selbst dort kochen, wenn wir möchten.“
„Besser nicht, ich möchte ja am nächsten Tag noch spielen können. Bei meinen Kochkünsten dürfte das scheitern.“
Dustin und ich mussten lachen, als Tim das so trocken gesagt hatte. Komischerweise blieb Marek äußerlich immer regungslos. Als ob ihn das alles gar nicht interessierte. Ich konnte immer noch nicht viel mit ihm anfangen. Wenn wir in den letzten Wochen vielleicht zehn Sätze gesprochen hatten, war das viel.
Auch Chris hatte so seine Schwierigkeiten damit. Das wusste ich aus einem Gespräch, dass ich mit ihm mal geführt hatte.
Manchmal hatte ich den Gedanken, Marek würde uns aus dem Weg gehen. Mal sehen, wie sich das entwickeln würde.
Der Zug fuhr mittlerweile in den ersten Hamburger Bahnhof ein. Der nächste Halt war Hamburg Dammtor. Von dort fuhren wir mit dem Taxi die letzten Kilometer zu unserer Pension.
So langsam stieg meine Anspannung wieder und als wir aus dem Taxi gestiegen waren und vor einem Haus mit einem kleinen Vorgarten standen, jeder hatte seine Taschen über der Schulter hängen, konnte ich mir nicht vorstellen, dass das eine Pension sein würde. Es sah nach einem normalen Wohnhaus aus.
Chris ging voran und klingelte. Es dauerte nur wenige Augenblicke bis sich eine Stimme meldete. Chris stellte sich vor und der Türsummer ließ uns eintreten. Eine nette Frau begrüßte uns und stellte sich als Frau Stickdorn vor. Ihr gehörte diese Ferienwohnung. Sie wohnte mit ihrem Mann in der oberen Wohnung.
Wir bekamen unsere Zimmer zugewiesen und natürlich wollte ich mit Dustin ein Zimmer gemeinsam haben. Wir bekamen das sogenannte Elternschlafzimmer, während die anderen alle ein Einzelzimmer hatten.
Es dauerte auch nicht lange und wir hatten uns soweit eingerichtet. Es gab sogar einen Fernseher und Internetzugang über W-Lan in jedem Zimmer. Alles war akkurat, sauber und gemütlich eingerichtet.
Für die erste Einweisung trafen wir uns im Wohnzimmer und Frau Stickdorn erklärte uns die Besonderheiten. Wir konnten zwischen verschiedenen Paketen wählen, was die Verpflegung betraf. Da wir allerdings nur morgens und abends hier sein würden, hatte Chris nur Frühstück fest geordert. Alles andere wollten wir spontan und individuell lösen. Nach einigen kurzen Hinweisen von Frau Stickdorn verließ sie uns und wir blieben zurück im Wohnzimmer.
„Wow, schicke Unterkunft“, sagte Tim.
„Ja, hier könnte es mir gefallen. Gute Bedingungen für ein gutes Turnier.“
Marek hatte tatsächlich etwas gesagt. Wir stimmten zu und dann gab Chris uns eine klare Vorgabe.
„So Leute, mit einem Blick auf die Uhr, stelle ich fest, dass es Zeit wird, uns auf den Weg zur Anlage zu machen. Mittagessen nehmen wir dort ein und dann sollten wir uns auch ein wenig auf der Anlage umsehen.“
Jeder nahm seine Tasche mit den notwendigen Sachen mit und wir verließen das Haus. Wie gut, dass sich Chris so gut vorbereitet hatte. Wir waren nach wenigen Minuten Fußmarsch vor dem Tennisgelände des DTB am Rothenbaum angekommen. Es herrschte bereits viel Trubel als wir durch das Eingangstor marschierten.
Allerdings wurden wir sofort freundlich empfangen und bekamen jeder eine kleine Tüte mit Begrüßungsgeschenken. Dabei war auch eine Verzehrkarte. Dort konnte jeder Spieler seine Sachen vermerken lassen, was er brauchte. Chris sagte uns dann:
„Wenn ihr die Karten nicht selbst bezahlen wollt, nutzt sie nur für die notwendigen Sachen. Dann sammle ich die am Ende ein und werde sie bezahlen.“
Cool, das vereinfachte das Ganze erheblich. Jeder konnte für sich Sachen bestellen und auf der Karte speichern lassen. Wir mussten nicht immer Chris fragen.
Es war eine riesige Anlage und es dauerte etwas, bis Dustin und ich uns zurechtfanden. Chris hatte uns allen genug Zeit gegeben, sich einen Überblick zu verschaffen. Dann sollten wir uns um halb drei bei der Turnierleitung einfinden und das erste Match würde beginnen.
Chris: Es geht los
Wir hatten unsere Plätze zugewiesen bekommen und Maxi und Dustin sollten an den Positionen zwei und vier beginnen. Da es ein Mannschaftsspiel war, durfte von der Bank aus gecoacht werden. Ich wollte mich bei Maxi auf die Bank setzen und Fynn bei Dustin. Für mich neu war das Gefühl der steigenden Spannung. Eigentlich war ich als Coach vor dem Spiel bislang immer recht entspannt. Erst an den wichtigen Stellen wuchs meine Unruhe. Heute war das anders und ich hatte keine Ahnung warum. Ich ließ es aber auch zu und mich nicht davon aus der Ruhe bringen. Zumindest Maxi sollte nichts davon bemerken.
Die ersten Minuten verliefen normal. Beim Einschlagen herrschte eine lockere Atmosphäre. Ich machte mich mit dem gegnerischen Trainer bekannt und wir hatten ein entspanntes Gespräch. Mir gefiel das immer gut, wenn der andere Trainer ebenfalls umgänglich und nicht so abweisend oder gar arrogant war.
Für mich war es von Vorteil, dass wir gegen München erst im letzten Spiel antreten mussten. Aus meiner Sicht war das der stärkste Gegner. Heute musste daher ein Sieg her, wenn wir überhaupt eine Chance haben wollten.
Dustin schien das bereits zu ahnen, denn er war sehr verkrampft und das machte mir etwas Sorge. Hoffentlich würde es Fynn schnell gelingen, ihn zu beruhigen. Maxi trat gewohnt selbstbewusst auf und schlug sich entspannt mit seinem Gegner ein.
Ich stellte mein Handy auf lautlos und dann wurde es für uns ernst. Maxi hatte die Wahl gewonnen und sich für Rückschlag entschieden. Tim stand mir gegenüber hinter dem Zaun. So konnte er immer zwischen den beiden Spielen hin und her laufen.
Marek konnte ich nirgends sehen. Irgendwie kam er mir immer mehr als Einzelkämpfer vor. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, ihn hier spielen zu lassen. Auch wenn er ein exzellenter Spieler war. Mal abwarten.
Maxi startete wie die Feuerwehr. Schnell führte er 3:0 und hatte sich förmlich in einen Rausch gespielt. Sein Gegner hatte nicht den Hauch einer Chance und ich konnte mich sehr entspannt auf der Bank zurücklehnen und meine Gespräche mit ihm sehr locker führen. Ich musste nur darauf achten, dass er nicht übermütig oder nachlässig wurde. Ansonsten sollte dieses Spiel nicht mehr zu verlieren sein. Der erste Satz ging nach zwanzig Minuten mit 6:1 an uns.
In der Satzpause hatte ich nur eine Aufgabe, nämlich seine Spannung weiterhin aufrecht zu halten. Er musste direkt dort weiter machen wo er aufgehört hatte. Viele Spieler fallen in so einer Situation in ein Konzentrationsloch. Das musste ich verhindern. Allerdings machte Maxi einen sehr wachen und fokussierten Eindruck.
Tim kam zu uns an die Bank und berichtete:
„Dustin hat es deutlich schwerer. Sein Gegner bringt jeden Ball zurück und Dustin wird oft ungeduldig und sucht zu schnell die Entscheidung. Das wird ein ganz enges Match.“
„Wie steht es denn dort?“, fragte ich.
„Eben stand es 3:4, aber Dustin schlug auf. Das könnte also noch etwas länger dauern.“
„Ok. Kannst du Marek bitte sagen, er möge sich bereits warm machen. Ich möchte, dass er hier nach Maxis Spiel auf den Platz geht. Wenn Fynn spielen muss, bevor Dustin fertig ist, wird das Probleme geben. Ich werde das mit dem Gegner besprechen.“
Eigentlich hätte Fynn als nächster auf den Platz gehen müssen. Also ging ich zum Kapitän der gegnerischen Mannschaft, das war, wie bei uns auch, ihr Trainer. Er war sofort einverstanden. Das konnte man als sportliche Fairness bezeichnen. Er hatte sogar schon damit gerechnet. Denn er hatte ja mitbekommen, dass Fynn bei Dustin als Coach auf der Bank saß.
Maxi ließ im weiteren Verlauf seines Spieles nichts mehr anbrennen und gewann auch den zweiten Satz mit 6:1. Nach dem Matchball stand ich von der Bank auf und konnte durchatmen. Wir führten 1:0 und das war ein wirklich guter Start. Maxi hatte eine ganz starke Leistung gezeigt.
„Gratuliere, das war ein richtig gutes Match von dir.“
Ich hielt ihm die Hand hin und er schlug ein. Es folgte sogar eine kleine Umarmung.
„Ja, das war richtig cool. Ich habe echt alles getroffen. So kann es weitergehen. Weißt du wie es bei Dustin steht?“
„Nein, aktuell weiß ich es nicht. Es war aber sehr eng. Komm, zieh den Platz ab und geh duschen. Ich flitze jetzt mal zu Dustin rüber.“
„Ich komm gleich nach. Wer setzt sich eigentlich bei Marek auf die Bank?“
Ich wollte Dustin jetzt unterstützen. Außerdem würde es noch etwas dauern, bis das Spiel von Marek begann.
„Am besten machst du das. Zumindest bis Dustin fertig ist.“
Maxi nickte nur und begann den Platz abzuziehen. Ich ging die wenigen Meter zu Tim hinüber. Er war sehr angespannt. Das ließ vermuten, dass es sehr knapp bei Dustin war.
„Wie sieht es aus? Wie macht sich Dustin?“
Tim holte tief Luft und war sehr angespannt.
„Er spielt gut mit, aber lässt sich immer wieder zu unnötigen Fehlern verleiten. Das ist echt grausam hier.“
„Was ist grausam?“, fragte ich überrascht.
„Ach, hier zu stehen und nichts tun zu können.“
Da musste ich lachen.
„Hey, was soll ich da sagen? Du kannst immerhin noch auf den Platz gehen, ich stehe immer draußen und muss zuschauen.“
„Ach komm, du bist doch die Ruhe in Person. Dir macht das doch bestimmt nichts mehr aus.“
„Wie kommst du denn darauf? Ich leide immer bei diesen Spielen. Ich spiele jeden Ball mit und muss immer mitdenken. Auch wenn ich körperlich nicht viel tun kann, bin ich abends genauso müde, als ob ich selbst gespielt hätte. Täusch dich also nicht, das ist anstrengend.“
„Ok, aber wenn es einer schafft uns auf dem Platz unter Kontrolle zu halten, dann du.“
„Schleimer“, sagte ich lachend und Tim grinste mich an.
Dieser Junge gefiel mir immer besser. Es gewann mit jedem Tag zusätzliches Selbstvertrauen und wurde immer offener.
Dustin quälte sich von Punkt zu Punkt, denn sein Gegner spielte wie eine Gummiwand. Er machte keinen eigenen aktiven Punkt. Immer wartete er darauf, dass Dustin entweder einen Punkt oder einen Fehler machte. Leider kam das seinem Selbstbewusstsein nicht zugute. Außerdem würde dieses Match sehr viel Kraft kosten. Das war mir bereits jetzt klar. Immerhin hatte Dustin mittlerweile den ersten Satz mit 7:5 gewonnen. Lag aber im zweiten Satz mit 1:3 zurück. Jetzt brach seine große Schwäche durch. Er fing an, an sich zu zweifeln und wurde unsicher. Seine Fehlerquote stieg immer mehr an und es wurde Zeit eine taktische Änderung vorzunehmen. Nach dem 2:5 holte ich Fynn zu mir.
„Wie ist die Stimmung bei euch? Warum will er es jetzt zwingen? Er baut seinen Gegner immer mehr auf. Was hast du mit ihm besprochen?“
„Ja, aber was soll ich denn machen. Er hat einfach keine Geduld mehr und ist nur noch genervt von dieser Schubserei. Ich kann ihn sogar verstehen. Er sagt, lieber mit Spaß verlieren, als verlieren und auch noch Frust haben.“
Oha, das hörte sich ja nach Resignation an. Er hatte sich bereits aufgegeben. Das war nicht gut. Jetzt musste ich schnell reagieren, sonst würde dieses Spiel schnell zu Ende gehen. Allerdings konnte ich jetzt schlecht selbst auf die Bank gehen. Das musste Fynn zu Ende bringen. Ich erklärte Fynn meine Gedanken und nahm Blickkontakt mit Dustin auf.
Ich versuchte ihn zu beruhigen und sich auf den dritten Satz zu konzentrieren. Gemeinsam mit Fynn ging ich zur Bank und Fynn setzte sich wieder hin. Ich blieb hinter ihm stehen und wir besprachen gemeinsam die weitere Strategie. Fynn sollte seinen Freund weiterhin betreuen. Ich war sozusagen nur der Ratgeber für Fynn.
Erstaunlicherweise funktionierte das recht gut, denn Dustin kämpfte sich grandios wieder heran und gestaltete das Match offen. Im dritten Satz wurde es ein absoluter Nervenkrimi, den leider sein Gegner für sich entschied. Dustin war sehr enttäuscht und verärgert. Er schmiss seinen Schläger auf die Tasche und ging wortlos den Platz abziehen. Fynn schaute unsicher zu mir. Ich konnte diese Reaktion absolut nachvollziehen und gab Fynn ein Zeichen, Dustin ein paar Minuten in Ruhe zu lassen.
Ich blieb auch am Zaun stehen, redete aber nicht mit ihm. Er setzte sich nach dem Abziehen auf die Bank und legte sich das Handtuch über den Kopf. Jetzt gab ich Fynn das Zeichen, dass er sich zu seinem Freund setzen sollte. Ich legte Dustin kurz die Hände auf die Schultern und sagte:
„Reg dich nicht so auf. Du hast alles gegeben und heute war es noch nicht gut genug. Du hast keinen Grund enttäuscht zu sein. Ich gehe jetzt mal zu Marek schauen. Ihr könnt noch einen Moment hier sitzen, aber Fynn muss sich fertig machen und du gehst dann bitte duschen.“
Dustin nickte nur stumm unter seinem Handtuch und ich verließ die beiden.
Das Spiel von Marek entwickelte sich wie erwartet sehr eigenartig. Er gewann sehr locker sein Match, aber ich hatte immer mehr das Gefühl, dass er nicht hier war, weil er das wollte, sondern weil er spielen musste. Er sprach nicht wirklich mit mir und machte sein Ding. Dieses Verhalten regte mich echt auf. Vorbildlich war definitiv etwas anderes.
Es stand jetzt also 2:1 für uns und Fynn war mitten in seinem Spiel. Ich hatte mich entschieden, Fynn auf der Bank zu unterstützen und Marek einfach in Ruhe zu lassen. So lange er gute Leistungen zeigte, hatte ich keinen Grund einzugreifen.
Fynn zeigte sich von seiner besten Seite und hatte seinen Gegner jederzeit im Griff. Der Spielstand war zwar relativ eng, aber Fynn hatte es vollkommen unter Kontrolle. Der erste Satz ging mit 6:3 an Fynn und auch jetzt im zweiten Satz führte er mit einem Break. Dustin hatte ich zu mir auf die Bank geholt. Er sollte seinem Freund zusätzlichen Halt geben und ich wollte auch, dass er in Zukunft seinen Freund auch ohne mich coachen konnte. Er sollte mitbekommen, wie ich mit Fynn umging und was ich ihm in welcher Situation sagte.
Maxi stand ebenfalls bei uns hinter dem Zaun, nur Marek war wieder einmal nicht zu sehen. Beim Stand von 4:3 und dem kommenden Aufschlag von Fynn fragte ich Maxi:
„Hast du Marek eigentlich einmal bei einem von uns am Platz gesehen? Und weißt du wo er jetzt ist?“
Maxi antwortete kopfschüttelnd: „Nein, aber es ist mir auch relativ egal. Er macht auch in Halle kaum etwas mit den anderen. Er zieht sein Training durch und verschwindet. Ich denke, er will nur für sich Erfolg haben und nicht für das Team spielen. Manchmal habe ich das Gefühl, er spielt hier nur, weil Thorsten es ihm gesagt hat.“
Genau das war auch mein Eindruck. Damit war ich nicht glücklich und ich musste mir überlegen, wie ich damit umgehen würde.
Wenig später hatte Fynn auch sein Einzel gewonnen und wir saßen noch auf der Bank.
„Das war ein richtig tolles Match von dir. Große klasse. Du hast deinen Gegner jederzeit kontrolliert und nichts anbrennen lassen.“
Fynn war sichtlich zufrieden und er ließ es sogar zu, dass ihm sein Freund auf der Bank einen Kuss geben durfte. Das wäre vor zwei Monaten unmöglich gewesen.
„Wie spielen wir Doppel?“, fragte Dustin ungeduldig.
Ich hatte mir schon ein paar Gedanken gemacht, aber das wollte ich mit allen besprechen.
„Wir treffen uns in zehn Minuten unter der großen Eiche vor Platz zehn. Jeder soll sich Gedanken machen, wie er sich das vorstellt. Dann besprechen wir das und entscheiden gemeinsam. Maxi, sagst du Marek Bescheid?“
Maxi nickte und wir lösten unsere Runde auf dem Platz auf. Ich suchte den gegnerischen Coach auf und wir sprachen uns ab, wie es weitergehen würde. Diese angenehme Atmosphäre mit dem Gegner mochte ich besonders. So machte die Arbeit auf dem Platz Spaß, trotz des Stresses und des Drucks, gewinnen zu wollen.
Ich war erstaunlicherweise der Letzte, der zu unserer Teambesprechung kam. Die anderen waren schon in Diskussionen vertieft und auch Tim brachte sich gut mit ein. Er sagte gerade: „Da ist ja Chris, fragen wir ihn doch, was er davon hält.“
Ich schaute Tim fragend an. Dustin musste lachen.
„Na, jetzt habt ihr mich aber neugierig gemacht. Was habt ihr euch ausgedacht?“
Tim wurde auserkoren, mir ihren Plan zu präsentieren.
„Nun ja, wir führen mit 3:1 und brauchen noch ein Doppel. Wie wäre es denn, wenn Maxi und Fynn zweites Doppel spielen und Marek und Dustin erstes Doppel? Damit sind wir auf der sicheren Seite, denn Fynn und Maxi werden sicher gewinnen.“
Alle Augen schauten jetzt auf mich, nur Marek schien überhaupt nicht begeistert, aber er sagte dazu gar nichts, nur seine Haltung verriet eher Ablehnung.
„Was sagst du dazu, Marek?“, fragte ich jetzt direkt.
Mir ging sein Verhalten immer mehr auf die Nerven. Warum war er überhaupt hier? Ich hätte auch jemand anderen mitnehmen können, der zwar nicht so gut war, aber Lust hatte zu spielen.
„Meinetwegen kann auch Tim für mich spielen. Ich habe keine Lust Doppel zu spielen. Schon gar nicht mit Dustin. Das geht gar nicht.“
Ups, das war ein klares Statement. Was sollte das jetzt? Gerade zu diesem Zeitpunkt? Entsprechend geschockt waren die anderen Jungs. Marek stand auf und ging einfach weg. Jetzt riss bei mir der Geduldsfaden und traf eine Entscheidung.
„Ok, das kläre ich gleich noch. Jetzt muss eine Lösung her. Ich würde jetzt vorschlagen Maxi mit Dustin erstes Doppel, das wären Position eins und vier. Maxi rückt auf eins vor, da Marek herausfällt. Fynn hat mit Tim bereits ein gutes Doppel gespielt und werden das zweite Doppel auch gewinnen. Was meint ihr?“
Die Jungs waren immer noch konsterniert über Mareks Entgleisung. Nachdem sie sich wieder gefangen hatten, herrschte sofortige Einigkeit, es so zu machen. Ich gab den Jungs den Auftrag, sich vorzubereiten und in einer Viertelstunde auf der Terrasse zu erscheinen.
Ich machte mich auf den Weg, unsere Entscheidung dem Oberschiedsrichter mitzuteilen. Der musste es dann in den Spielbericht eintragen.
Was machte ich jetzt mit Marek? Auf so eine Reaktion war ich nicht vorbereitet. Ich wollte ihn zur Rede stellen, aber er war schlicht nicht auffindbar. Ich beschloss daher mit Thorsten zu telefonieren.
Seine Überraschung, mich jetzt schon am Telefon zu haben, war deutlich.
„Chris? Was gibt es denn? Seid ihr schon durch mit dem ersten Spiel?“
„Nein, wir haben ein echtes Problem. Wir führen 3:1 gegen Sachsen nach den Einzeln, aber Marek verhält sich hier unmöglich.“
Ich erklärte ihm die Lage und was vorgefallen war. Thorsten hörte sich das genau an und wurde richtig ärgerlich. Das war für ihn absolut inakzeptabel.
„Gut, folgendes. Ich werde ihn mir vornehmen, wenn er wieder hier ist. Du kannst ihm jetzt sagen, dass er sich überlegen kann, entweder sich für das Team reinzuhängen oder er fährt direkt nach Hause. Darauf habe ich überhaupt keinen Bock. Mach ihm das klar, was jetzt angesagt ist.“
„Ok, was machen wir, wenn er nach Hause fährt? Wir haben dann keinen Ersatzmann mehr, falls sich jemand verletzt.“
Dass er außerdem eine spielerische Schwächung darstellte, interessierte mich nur zweitrangig. Individualisten konnte ich bei einem Mannschaftsspiel einfach nicht gebrauchen.
„Ich überlege mir etwas. Versuch erst einmal mit ihm zu reden. Aber keine Kompromisse, entweder er fügt sich ein oder er fährt nach Hause.“
Damit beendete ich das Gespräch und ging zu den Jungs zurück. Ich konnte die Aufregung spüren und nahm mir Fynn an die Seite.
„Ihr müsst euch beruhigen. Tim wird sehr aufgeregt sein, also bist du jetzt gefragt. Ich werde bei euch auf der Bank sitzen. Maxi und Dustin haben keinen Druck. Maxi wird das schon regeln.“
„Ja, geht klar. Verstehst du, warum Marek hier so eine Show abzieht? Ich finde das total nervig.“
„Ja, es ist nervig. Allerdings können wir es jetzt nicht ändern. Das kläre ich gleich. Ihr geht euch jetzt einschlagen. Dann sehen wir weiter.“
Ich hatte jetzt zwei Baustellen und eine war davon total überflüssig. Ich suchte nach Marek und konnte ihn dann auch finden. Er saß mit Kopfhörern auf dem Rasen und es schien ihn überhaupt nicht zu interessieren, was die anderen jetzt machten. Innerlich wurde ich richtig wütend über so viel Arroganz und Ignoranz.
„Was denkst du dir eigentlich dabei, hier so eine Show abzuziehen? Ich gebe dir jetzt einen Rat, entweder du stellst dich in den Dienst der Mannschaft oder du kannst direkt nach Halle zurückfahren.“
Ich war geladen und das musste er auch spüren, dennoch ließ ihn das total kalt. Seine Antwort war eindeutig.
„Ich habe keinen Bock mit zwei Schwuchteln in einem Team zu spielen. Außerdem kann ich keine Ranglistenpunkte machen. Also, warum sollte ich mich hier reinhängen und vielleicht eine Verletzung riskieren.“
Das war unfassbar, was er mir da präsentiert hatte. Ich kochte vor Wut, musste aber jetzt ruhig bleiben. Für mich war damit vollkommen klar, das war seine Disqualifizierung.
„Gut, wenn das deine Haltung ist, muss ich das hinnehmen, aber du wirst dann hinnehmen müssen, dass du für Halle keine Spiele mehr machen wirst. Du kannst direkt deine Sachen packen und nach Hause fahren. Thorsten wird dich am Bahnhof in Empfang nehmen. Der wird dir dann sagen, wie das weitergeht.“
Ich drehte mich um und ging direkt wieder zu den anderen. So etwas war mir in den vielen Jahren noch nicht passiert.
Ich konnte mir aber nicht leisten, lange darüber nachzudenken. Die anderen wollten gewinnen und für das Team alles geben. Da war ich jetzt gefordert. Schnell informierte ich noch Thorsten über das Resultat. Er unterstützte meine Entscheidung und wollte sich etwas überlegen. Vielleicht würde zumindest für das Spiel am Mittwoch ein Ersatzmann zur Verfügung stehen. Er wollte mit mir heute Abend noch einmal telefonieren.
Meine Jungs schlugen sich bereits warm. Allerdings herrschte eine andere Atmosphäre als bei den Einzeln. Besonders Tim schaute sofort zu mir, als ich an die Plätze zurückkehrte.
„Leute, kommt ihr bitte kurz hier zusammen. Dauert auch nicht lange.“
Meine Truppe stand gespannt um mich herum, als ich verkünden musste:
„Also, Marek habe ich direkt nach Hause geschickt. Er hat sich derart daneben benommen, dass ich nach Rücksprache mit Thorsten keine andere Wahl hatte. Das soll euch aber jetzt nicht weiter beschäftigen. Ich weiß, dass ihr auch so gewinnen könnt. Wir sind ein starkes Team und brauchen keine Egoisten, egal wie gut sie sind.“
Nachdem sich der erste Schock gelegt hatte, äußerte sich Tim sehr kritisch:
„Äh, aber ich bin bei weitem nicht so gut wie Marek. Hoffentlich enttäusche ich euch nicht.“
Es war mir schon vorher klar, dass das jetzt für Tim eine extrem hohe Belastung für die Psyche sein würde.
„Darüber machst du dir bitte keine Gedanken. Spiel einfach was du kannst. Das ist mehr als ausreichend, um hier zu gewinnen. Maxi, ich würde gern bei Fynn und Tim auf der Bank sitzen. Kommt ihr damit klar?“
„Aber sicher. Das machen wir schon. Wir werden laut rufen, wenn wir dich brauchen.“
Das war ein richtig guter Spruch zum richtigen Zeitpunkt, denn so konnten alle noch einmal laut lachen und wir klatschten uns ab. Die Entscheidung konnte beginnen.
Bevor ich mich auf die Bank setzte, ging ich noch einmal zur Toilette. Mir gingen etliche Gedanken durch den Kopf. War es richtig, Marek so direkt abzufertigen? Ihn nach Hause zu schicken? Disziplinarisch war es absolut richtig, aber war es für die Mannschaft auch richtig? Was würde sein, wenn wir jetzt verlieren und schnell aus dem Rennen wären? Auch wenn Thorsten mir Rückendeckung gab, was würde die Teamführung, was würde Jan dazu sagen? Thorsten würde ihn sicher informieren. Deshalb beschloss ich, Jan noch eine Email zu schicken, bevor ich mich auf die Bank setze.
Eine Stunde später war die Lage sehr spannend auf dem Platz. Beide Doppel waren ausgeglichen. Das größte Problem war Tims Angst, Fehler zu machen. Er konnte sich nicht frei spielen. Sie hatten glücklicherweise gerade den ersten Satz gewonnen. Vielleicht würde es jetzt für ihn einfacher werden. Fynn zeigte eine fantastische Leistung. Immer wieder baute er Tim auf, gerade wenn ihm etwas misslungen war. Ich brauchte nur taktische Hinweise geben. Jetzt in der Satzpause nutzte ich die Gelegenheit, mit Tim ein paar Sätze zu sprechen.
Er war sehr angespannt und ich musste einige Tricks anwenden, um ihn mal runter zu bekommen. Allerdings konnte ich es gut nachvollziehen. Es war für mich eine völlig normale Reaktion von ihm. Schließlich hatte er keine Zeit, sich auf die Situation vorzubereiten.
Das andere Doppel hatte den ersten Satz knapp 6:7 im Tie-Break verloren. Auch da war noch alles offen.
Der Gegner war trotz der großen Spannung weiterhin sehr fair. Es gab keine strittigen Entscheidungen oder gar große Diskussionen. So machte Tennis Spaß.
Es ging also in den zweiten Satz und wir hatten Aufschlag. Fynn schlug extrem gut auf und somit gingen wir mit 1:0 in Führung. Das könnte ein Vorteil sein, immer in Front zu liegen, wenn wir unseren Aufschlag halten würden.
Tim fing sich langsam und begann richtig stark zu spielen. Der Satzgewinn löste bei ihm die Blockade und somit war der zweite Satz bei weitem nicht so eng. Wir konnten einen klaren Sieg herausspielen und damit den vierten Punkt erzielen.
Nach dem Matchball war Tim extrem erleichtert und strahlte über das ganze Gesicht. Eine Zentnerlast war von ihm abgefallen. Er war mit Abstand der jüngste Spieler im ganzen Feld. Jetzt noch ohne Vorbereitung einspringen zu müssen und noch zu wissen, dass sie gewinnen mussten, das war grandios von ihm bewältigt worden.
Fynn lobte ihn auch immer wieder für gute Aktionen und das ließ mich zuversichtlich auf die nächsten Spiele schauen. Denn dort musste Tim ja auch Einzel spielen.
Das andere Doppel konnte sogar das Match noch drehen und hatte ebenfalls gewonnen. Das lag aber vielleicht auch daran, dass das Match ja nach dem Sieg von Fynn und Tim entschieden war. Egal, wir hatten den ersten Sieg in der Tasche und das teilte ich Thorsten auch sofort per Whatsapp mit.
Die Jungs hatte ich zum Auslaufen geschickt und somit hatte ich ein paar Minuten Zeit, allein über die kommenden Dinge nachzudenken. Tim sollte jetzt auf jeden Fall als Stammspieler nachrücken, egal wen Thorsten vielleicht noch als Ersatzspieler schicken würde. Mir fiel auch eigentlich niemand ein, der in Frage kommen würde. Viele der anderen Spieler hatten einfach nicht das Niveau meiner vier Jungs. Carlo würde ich das noch zutrauen, aber der war noch lange nicht wieder im Vollbesitz seiner Kräfte.
Ich konnte aber auch nicht lange weiter darüber nachdenken, denn mein Handy klingelte.
„Hi Thorsten. Ich nehme an, du hast meine Nachricht schon gelesen.“
„Klar, Glückwunsch. Das fängt gut an, abgesehen von dem unschönen Vorfall. Ich habe mit Jan bereits gesprochen. Er sagte, du hättest ihm schon eine Mail geschickt. Stimmt das?“
„Ja. Ich dachte, es wäre besser, ihm das sofort mitzuteilen.“
„Hihi, das kannte er gar nicht. Er war total überrascht von deiner direkten Info. Er ist schon in Paris und bereitet sich mit Gilles dort vor.“
„Ok, was sagt Jan? War es richtig, Marek nach Hause zu schicken?“
Ich war jetzt wirklich etwas nervös.
„Na, aber sicher doch. Das wird auch hier noch ein Nachspiel haben. Thomas war eh schon nicht gut auf ihn zu sprechen. Ich denke, das Thema hat sich für uns erledigt. Derartige Egoisten können wir nicht gebrauchen. Das darf aber jetzt nicht dein Problem sein. Morgen spielt ihr gegen wen?“
„Morgen geht es gegen Schleswig-Holstein, also den Verein aus der Nähe von Kiel. Am Mittwoch dann gegen Iphitos München.“
„Gut, morgen müsst ihr noch ohne Ersatz auskommen, aber ich schicke morgen Nachmittag Carlo auf die Reise. Er ist der einzige, der ansatzweise euch helfen könnte. Die anderen sind entweder auf anderen Turnieren unterwegs oder zu schlecht. Ich weiß auch, dass er noch nicht wieder auf seinem normalen Level ist, aber für den Notfall immer noch besser als gar nichts.“
„Vor allem wird er für gute Stimmung sorgen. Ich denke Tim wird es sehr gut tun, wenn sein bester Kumpel da ist.“
Dabei musste Thorsten auch lachen.
„Ok, da hast du sicher recht. Allerdings musst du Carlo dann vom Bahnhof abholen. Ich möchte nicht, dass er sich allein durch Hamburg bewegt.“
„Schon klar, wann kommt er an?“
„Gegen halb acht am Abend. Bis dahin solltet ihr fertig sein.“
„Ok, das geht klar.“
Ich berichtete dann noch von dem Verlauf der Doppel und Thorsten freute sich für Tim, dass er das geschafft hatte. Ich versprach, mich am nächsten Tag zu melden und Zwischenstände zu berichten.
Als ich anschließend über die Anlage ging, fühlte ich die Anspannung langsam von mir abfallen. Es fühlte sich gut an, das erste Spiel gewonnen zu haben.
Eine knappe Stunde später waren wir zurück in unserer Pension und ich hatte einen Einkaufszettel gemacht. Meine Truppe war noch richtig aufgekratzt und das wollte ich nutzen, bevor die Müdigkeit durchbrach.
„Leute, ich habe eine Liste gemacht für das Essen. Wer geht freiwillig einkaufen? Wir bereiten hier in der Zeit schon ein paar Dinge vor.“
Fynn und Dustin meldeten sich zum Einkaufen und Maxi und Tim blieben bei mir und wir bereiteten die Küche vor. Die Stimmung war wirklich hervorragend und es dauerte auch nur etwa zwanzig Minuten, bis Dustin mit Fynn zurückkam. Sie legten lachend ihre Tüten und Taschen auf den Küchentisch.
„Sag mal Chris, was hast du vor? Damit könnte man eine ganze Fußballmannschaft versorgen.“
Fynn schaute mich dabei fragend an und zeigte auf die ganzen Taschen.
„Nun, ihr wollt doch sicher auch morgen oder übermorgen noch etwas essen, oder? Oder wollt ihr jeden Tag einkaufen gehen?“
„Da hat er einfach mal recht. Da hätten wir auch selbst drauf kommen können.“ Dustin lachte.
Tim und Maxi hatten bereits begonnen, die Sachen, die jetzt nicht sofort gebraucht wurden, in den Kühlschrank zu räumen und Fynn hatte sich schon mit einem Messer ausgerüstet und begann Kartoffeln zu schälen. Heute wollte ich Bratkartoffeln und dazu ein schönes Schnitzel machen. Das hatte sich die Mannschaft verdient.
Schön war die gemeinsame Arbeit in der Küche. Wir redeten die ganze Zeit nicht über Tennis, sondern Dustin und Fynn berichteten aus der Schule und dass sie momentan viel von dem aktuellen Stoff versäumen würden.
„Das ist schon richtig, dass es momentan ziemlich viel auf einmal ist. Es kommen aber bald ruhigere Zeiten und wenn es Probleme mit dem Lernen gibt, meldet euch bitte. Dann werden wir euch unterstützen. Das bekommen wir schon hin. Zögert bitte nicht, uns um Hilfe zu bitten.“
Alle Arbeiten waren erledigt und die Jungs saßen um den Tisch verteilt, während ich am Herd stand.
„Chris, wie geht es jetzt eigentlich weiter? Wir haben keinen Ersatzmann mehr und gegen München wird das bestimmt ganz hart. Und was ist eigentlich genau vorgefallen? So wütend haben wir dich noch nie erlebt.“
Maxi wollte die Ereignisse doch noch aufarbeiten. Damit musste ich rechnen, dass sie sich so nicht einfach zufrieden geben würden.
Ich drehte mich kurz vom Herd um und antwortete:
„Ja, es war einfach unerträglich mit Marek. Seine Aussage, dass er mit Dustin, der Schwuchtel, nicht spielen wollte, ließ mir keine Wahl. Außerdem wollte er lieber nur Turniere für seine Ranglistenposition spielen.“
Als ich das gesagt hatte, herrschte im ersten Moment betretenes Schweigen, dann aber äußerte sich Maxi höchst bemerkenswert:
„Ok, ich habe mir so etwas in der Art schon gedacht, aber das ist echt heftig. Dieses miese Arschloch soll sich einfach verpissen. Immer nur auf den eigenen Vorteil aus und sich für was Besseres halten. Ekelhaft. Ich hoffe, wir werden ihm irgendwann mal zeigen können, wie dumm er ist.“
Dustin tat diese klare Aussage richtig gut und Tim setzte noch einen drauf.
„Wie armselig. Ich hoffe, Thorsten schmeißt ihn komplett raus. Er war mir eh unsympathisch, redete mit uns jüngeren meist eh nicht und sooo gut ist er nun auch wieder nicht.“
„Wie gut, dass er dir das gesagt hat. Ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte, wenn ich zugegen gewesen wäre.“
Fynn war sehr zornig und ungehalten. Ich wollte aber nicht, dass es darüber lange Diskussionen geben würde.
„Leute, beruhigt euch. Der Knabe wird bei uns kein weiteres Turnier mehr spielen. Thorsten und auch Jan wissen bereits Bescheid und werden sich darum kümmern. Wir sollten nach vorn schauen und uns mit dem nächsten Gegner beschäftigen. Morgen wird wieder ein wichtiges Spiel.“
„Naja, aber er hat uns doch damit sehr geschadet. Wie geht es jetzt weiter?“
„Ich habe mit Thorsten schon gesprochen und wir haben die Möglichkeit, einen Ersatzmann zu nominieren. Das wird Tim sicher freuen, Carlo kommt morgen Abend mit dem Zug nach. Ich werde ihn um halb acht am Bahnhof abholen.“
Das führte sofort zur Erheiterung aller. Carlo war sehr beliebt und alle freuten sich, dass er wieder fit war. Nach der ersten Euphorie fragte Fynn dann aber:
„Ist er denn schon wieder richtig fit?“
„Nein, er hat sicher noch nicht seine alte Stärke erreicht, aber es steht niemand anderes zur Verfügung. Die anderen sind entweder auf Turnieren unterwegs oder einfach zu schlecht. Außerdem ist Carlo ein totaler Mannschaftsspieler. Ich finde das eine gute Variante. Vor allem Tim wird das bestimmt gut finden, oder?“
Alle schauten jetzt grinsend zu Tim, der sichtlich rot wurde.
„Was ist? Ja, ich finde das total cool. Ist das schlimm?“
„Nein“, sagte Dustin sofort, „das ist überhaupt nicht schlimm. Ich finde es total klasse. Wir haben bestimmt dreimal mehr Spaß mit Carlo als mit Marek.“
Mittlerweile war die Stimmung sehr gelöst und wir konnten auch endlich essen. Meine Jungs hatten erneut unter Beweis gestellt, dass sie sich gegenseitig unterstützten und als Mannschaft auftraten.
Ich musste nicht einmal etwas sagen, dass die Küche noch aufgeräumt werden musste. Das geschah auch gemeinsam und mit guter Laune.
Wir hatten noch etwas freie Zeit und jeder sollte die so nutzen, wie er wollte. Die Jungs sollten den Kopf mal von Tennis frei kriegen. Ich hingegen machte mir schon einmal Gedanken über den freien Donnerstag. Vorausgesetzt, wir würden ins Halbfinale einziehen. Ich wollte unbedingt mit allen ins Eisenbahn Miniatur Wunderland. Dort war ich schon zweimal, aber es gab da so viel zu entdecken, dass sich das auf jeden Fall lohnen würde. Ich hatte mich im Vorfeld schon um eine Gruppenkarte bemüht und somit konnte ich das fest planen. Ein paar andere Dinge hatte ich auch noch vor, das sollte aber eine Überraschung werden.
Fynn: Ein kurzer Abend und Carlo kommt auch
Der erste Tag war ein Erfolg für uns. Chris hatte sich wie immer sehr für uns stark gemacht und war die große Stütze für unser Team. Ich konnte aber auch erkennen, dass er genauso müde war wie wir. Er hatte mir das schon mehrfach erklärt, dass das Coachen für ihn genauso anstrengend ist, wie selber spielen. Hinzu kam ja auch noch, dass er die ganze Vorbereitung für den nächsten Gegner noch machen musste, während wir jetzt ausruhen konnten.
Chris hatte uns freigestellt, ob wir uns heute noch mit dem morgigen Gegner beschäftigen wollten oder erst morgen früh. Wir entschieden uns für den heutigen Abend, denn so konnten wir in Ruhe alle aufkommenden Fragen klären.
Dustin würde vermutlich die schwierigste Aufgabe bekommen, denn sein Gegner war erneut als Gummiwand und Defensivkünstler bekannt. Das stieß natürlich nach dem heutigen Match nicht auf Begeisterung.
Wir hatten uns bereits auf unser Zimmer zurückgezogen und lagen entspannt auf unserem Bett. Meine Mutter hatte sich auch gemeldet. Sie war stolz auf mich. Sogar mein kleiner Bruder wollte mit mir sprechen. Er hatte mittlerweile Blut geleckt beim Tennis und interessierte sich viel mehr für unseren Sport als früher. Leider war mein Vater in der Klinik und konnte so nicht mit mir sprechen. Er ließ aber Grüße auch an Dustin ausrichten.
Diese Veränderung in unserer Familie war für mich unglaublich wichtig geworden. Gerade auch, weil Dustin mit seiner Familie leider wenig positive Perspektiven hatte.
„Was gibt es neues bei dir?“, fragte mich Dustin.
„Es geht allen gut und lassen dich grüßen. Kannst du dir vorstellen, sogar mein sonst ständig nervender Bruder wollte mit mir sprechen.“
„Wow, was deine Mutter ihm wohl dafür gezahlt hat.“
Wir brachen in lautes Lachen aus und schon waren wir in einer kleinen Rauferei, die in einer Kitzelattacke von Dustin bei mir endete. Das war typisch, er wusste genau, wie empfindlich ich war und nutzte das gleich aus.
Natürlich zeigte sich dabei auch an anderer Stelle eine Reaktion. Bevor ich noch etwas machen konnte, hatte sich Dustin ausgezogen und mich gleich mit. Es wurden schöne Minuten, bevor wir müde, aber entspannt einschliefen.
Beim morgendlichen Wecken spürte ich die gestrige Anstrengung schon ein wenig. Dennoch freute ich mich auf das nächste Match. Als wir gemeinsam duschen gingen, war Tim schon sehr lebendig mit Chris in der Küche zu werke. Darüber staunte ich immer wieder. Es schien so zu sein, dass Tim mit viel weniger Schlaf auskam und dennoch morgens schon vor Energie sprühte.
„Wie kann man am frühen Morgen schon so lebhaft sein?“
Dustin schien meine Gedanken lesen zu können, entsprechen laut fing ich in der Dusche an zu lachen.
„Was hast du denn jetzt?“
„Ach, nichts. Ich lache nur, weil ich im gleichen Moment, wo du das gesagt hast, dasselbe gedacht hatte.“
Jetzt musste auch Dustin lachen und entsprechend gut gelaunt verließen wir die Dusche auch wieder gemeinsam. Maxi kam uns noch schlaftrunken entgegen. Er war unser Langschläfer und Morgenmuffel. Er grüßte kurz und wir marschierten in die Küche zum Frühstück.
„Guten Morgen“, begrüßte uns Chris mit einem Grinsen.
„Moin Chris, alles fit und unter Kontrolle?“
Dustin schien bestens gelaunt heute früh. Chris lachte und erwiderte: „Aber immer doch. Gut geschlafen?“
„Auf jeden Fall“, sagte ich.
„Können wir noch etwas helfen?“
„Danke Fynn, aber wir haben schon alles vorbereitet. Ihr könnt nachher abräumen und alles in die Spülmaschine packen. Setzt euch schon mal hin. Kaffee oder Kakao?“
„Kaffee bitte“, sagte ich.
Dustin bevorzugte Kakao und Tim natürlich auch. Maxi brauchte noch geschlagene fünfzehn Minuten bis er bei uns am Tisch saß.
„Boah, wie lange brauchst du eigentlich immer im Bad? Wir haben Hunger und wollen anfangen.“
Ich fand es einfach total albern von ihm, sich vor einem Match so zu stylen und haufenweise Gel in die Haare zu schmieren. Tim setzte mit seiner Bemerkung noch einen oben drauf:
„Wer weiß, vielleicht hat er ja auch noch ganz andere Dinge im Kopf gehabt.“
Jetzt war sogar Chris überrascht über diese Bemerkung und fing an zu grinsen.
„Hey, du wirst jetzt aber nicht frech, oder Tim?“
Wir lachten alle laut und damit war die Stimmung sofort wieder locker und gelöst. Tim wurde mir immer sympathischer. Manchmal konnte ich den Altersunterschied kaum noch bemerken.
Chris überließ uns die Themen beim Essen, allerdings, als alle fertig waren, sagte er zu uns:
„Leute, heute geht es gleich wieder los und ich möchte euch kurz über die Situation aufklären. Tim und Fynn müssen heute anfangen und ich möchte gern bei Tim auf der Bank sitzen. Ist das ok für dich, Fynn?“
„Klar, Maxi ist auch noch da und Dustin kennt mich ja mittlerweile ganz gut.“
Dustin brauchte erst eine Sekunde um zu begreifen, dass das natürlich als Spaß gemeint war, allerdings reagierte er dann mit einer coolen Antwort:
„Bist du dir sicher, ob du dich mittlerweile gut genug kennst? Manchmal zweifel ich daran.“
Chris spendete spontan Applaus und fing an zu lachen. Er klopfte Dustin auf die Schulter und mir war das echt peinlich. Egal, selber schuld. Ich sollte in Zukunft vorsichtiger werden, denn mein Freund wurde immer selbstbewusster.
Dustin und ich räumten mit Maxi den Tisch ab, während Chris schon wieder am Laptop saß. Er schaute in seine Aufzeichnungen und in die Datenbank über unsere Gegner. Das Team hatte über Jahre hinweg alle Aufzeichnungen über Spieler und Matches in einer riesigen Datenbank gespeichert, auf die alle Trainer zugreifen konnten. Entwickelt hatte Jan das auf der Profitour und mittlerweile trugen alle Trainer ihre Erfahrungen und Ergebnisse dort ein.
Ich fühlte mich noch total entspannt und überhaupt nicht nervös. Erst als wir die Anlage betraten, kam die Anspannung. Chris schickte uns direkt zum Aufwärmen. Wir waren etwas spät dran. Nicht zu spät, aber wir hatten nicht mehr Zeit zum Trödeln.
Dustin und ich hatten uns einen freien Platz am hinteren Ende der Anlage gesucht und schlugen uns dort bereits ein. Bei einer Pause saßen wir nebeneinander auf der Bank.
„Irgendwie doch blöd, dass Marek nicht mehr da ist. Auch wenn er ein Arschloch ist. Spielen kann er.“
„Das sagst du, obwohl er gerade dich Schwuchtel genannt hat? Ich finde es total richtig, dass Chris ihn sofort nach Hause geschickt hat. Er ging mir schon lange auf den Sack mit seiner Arroganz.“
Ich fing direkt an, mich aufzuregen. Den Typen hatte ich einfach gefressen. Eigentlich wollte ich mich auch nicht mehr damit beschäftigen. Dustin spürte es auch sofort und wollte gleich das Thema wechseln.
„Er ist ja auch nicht mehr da, also reg dich wieder ab. Tim wird sicherlich alles geben und versuchen zu gewinnen.“
„Hey, du musst nicht gleich das Thema wechseln. Aber es regt mich einfach auf, wenn jemand vom Team die maximale Unterstützung bekommt und nicht bereit ist, sich dann für das Team auch einzusetzen. Aber ich gebe dir vollkommen recht, Tim wird sich zerreißen für uns. Wir müssen nur aufpassen, dass er sich nicht zu sehr Druck macht. Aber dafür sitzt Chris ja bei ihm auf der Bank.“
„Richtig. Und wir werden ihn auch unterstützen. Komm, lass uns weitermachen, ich werde wieder kalt.“
Wir standen wieder von der Bank auf und ich nutzte die Gelegenheit meinem Freund noch einen Kuss zu geben.
Wenige Minuten später stand Chris bei uns am Platz. Er schaute noch ein paar Bälle zu und sagte dann:
„Macht ihr bitte Schluss. Wir müssen in zehn Minuten bei der Turnierleitung sein. Dann werden die Plätze verteilt und es geht los.“
Dustin und ich packten unsere Sachen ein und zogen natürlich auch noch den Platz ab. Anschließend gingen wir gemeinsam mit Chris über die Anlage zum Clubhaus zurück.
„Wann kommt Carlo heute eigentlich?“, fragte Dustin.
„Gegen halb acht heute Abend. Ich werde ihn vom Bahnhof abholen“, antwortete Chris.
Ich fand, wir sollten ihn alle in Empfang nehmen, deshalb schlug ich vor:
„Wäre es nicht cool, wenn wir ihn alle am Bahnhof in Empfang nehmen würden? Immerhin kommt er ja unseretwegen extra hierher. Er macht das, obwohl er eigentlich gar nicht zum Einsatz kommen wird.“
Chris nickte anerkennend, sagte aber nichts dazu. Da wusste ich, er würde nichts dagegen haben, aber wollte jetzt, dass wir uns auf die Spiele konzentrieren sollten. Ich sollte an Position Zwei anfangen und so langsam wurde meine Nervosität doch größer. Das wurde nicht weniger, als wir vom Turnierleiter unsere Plätze und die Bälle zugewiesen bekamen.
Ich traf das erste Mal auf meinen Gegner und wir begrüßten uns kurz. Sein Name war Jörn Meister. Er machte einen netten Eindruck und er berichtete mir auf dem Weg zum Platz von ihrem Match gegen München. Das hatten sie verloren und somit mussten sie heute gegen uns gewinnen, wenn sie noch eine Chance haben wollten, ins Halbfinale einzuziehen.
Dustin ging die ganze Zeit neben mir und als wir an unserem Platz ankamen, belegte jeder von uns seine Bank und ich stellte meine Tasche daneben, damit Dustin sich neben mich setzen konnte.
„So, jetzt wird es ernst. Wie fühlst du dich?“, fragte mich Dustin.
„Gut, wirklich gut. Ich bin längst nicht mehr so nervös. Ich weiß, was unsere Strategie ist und du bist bei mir. Was soll schon passieren?“
Dustin schaute mich an und ich gab ihm spontan einen Kuss. Das hatte mein Gegner natürlich mitbekommen und schaute etwas irritiert. Allerdings ging er damit sehr cool um. Er kam nämlich zu uns an die Bank und fragte Dustin:
„Hey, du bist nicht nur sein Mannschaftskollege, sondern sein Freund. Das ist ganz schön unfair. Ich habe nur meinen Kapitän auf der Bank sitzen.“
Dabei lachte er und schlug sich mit Dustin ab. Das war eine tolle Geste und zeigte mir, dass es bei den Spielern sehr wohl Verständnis für uns gab.
Ich ging zu Jörns Bank und begrüßte seinen Kapitän und wir wünschten uns ein gutes und faires Match. Dann ging jeder auf seine Seite und das Einschlagen begann.
Ich spürte schon nach den ersten Bällen, dass mein Gegner keine leichte Aufgabe werden würde. Es sah sehr locker aus, wie er seine Schläge ausführte und den Ball beschleunigen konnte. Als die Einschlagzeit vorüber war, ging ich noch einmal zur Bank, nahm einen Schluck aus meiner Trinkflasche und Dustin hielt mir seine Hand hin, die ich abschlug.
„Das wird kein einfaches Spiel. Jörn macht einen guten Eindruck.“
Dustin schaute zu ihm herüber und erwiderte:
„Ja, aber du bist auch gut. Also nicht einschüchtern lassen. Du schaffst das schon.“
Komischerweise verlief das Match dann in den nächsten Minuten komplett anders, als ich es erwartet hatte. Jörn machte viele einfache Fehler und versuchte mich immer wieder unter Druck zu setzen. Allerdings mit sehr hohem Risiko und entsprechender Fehlerquote. Somit brauchte ich nur geduldig mitzuspielen und auf seinen Fehler zu warten. Sicher, er machte auch einige sehr spektakuläre Punkte, allerdings ließ ich mich nicht davon provozieren.
In der Satzpause machte Dustin eine für mich ungewöhnliche Bemerkung:
„So cool wie du möchte ich auch spielen können. Du bist richtig gut und hast ihn gut im Griff.“
Meine Spielweise war für mich die normale Reaktion auf die gegnerische Art zu spielen, aber Dustin hatte etwas bei mir ausgelöst. Mir wurde erst jetzt bewusst, dass ich wirklich ganz ruhig war und mich so fühlte, als ob ich beim Training war. Ich konnte ohne Stress spielen und das auch noch richtig gut. Das war eine vollkommen neue Erfahrung für mich. Allerdings eine sehr schöne, denn ich konnte so auch den zweiten Satz und das Match auf die gleiche Art souverän gewinnen. Ich war nicht einmal richtig erschöpft.
Dieses Resultat war nach dem Einschlagen überhaupt nicht zu erwarten gewesen. Jörn war ziemlich beeindruckt von meiner Leistung und gratulierte fair.
„Wow, du bist echt richtig gut. Ich glaube kaum, dass es an Position zwei jemanden hier geben wird, der dir gefährlich werden kann. Richtig cool gespielt.“
Auch sein Trainer kam zu mir an die Bank und lobte mich für mein gutes Spiel. Ich fand meine Leistung gar nicht so außergewöhnlich. Überrascht war ich über meine Gelassenheit auf dem Platz. Ich hatte zu keiner Zeit Zweifel an der Richtigkeit meiner Entscheidungen auf dem Platz. Das war das für mich Besondere.
Dustin war so nett und hatte meinen Platz für mich abgezogen, so hatte ich meine Tasche bereits gepackt, als er wieder zu mir kam und mich liebevoll umarmte. Es folgte ein intensiver Kuss mit einem abschließenden „bäh“.
„Bäh? Hey, was soll das denn?“, fragte ich empört.
„Du schmeckst salzig“, kicherte Dustin.
„Blödmann“, antwortete ich gespielt empört und konnte aber ein Lachen nicht verbergen.
Wir gingen nebeneinander zu Tim an den Platz. Chris saß auf der Bank und sah sehr angespannt aus. Hier schien es nicht so einfach zu laufen, wie bei mir.
Chris feuerte Tim nach jedem Ball an und wenn er zu ungeduldig wurde, beruhigte er ihn auch nach dem Ballwechsel. Es war ein sehr spannendes und enges Match. Tim kämpfte großartig und gab niemals auf. Dennoch schienen seine Kräfte zu schwinden. Sein Gegner war immerhin drei Jahre älter als er. Entsprechend mehr Kraft und Ausdauer hatte er auch.
Im dritten Satz stand es 1:4, als Tim niedergeschlagen auf der Bank Platz nahm. Chris legte seinen Arm um ihn und ich hatte Sorge, Tim könnte in Tränen ausbrechen. Es gab aus meiner Sicht gar keinen Grund enttäuscht zu sein. Deshalb beschloss ich, mich hinter die Bank zu stellen und sagte:
„Sei nicht so enttäuscht, du machst ein gutes Spiel. Komm, nicht aufgeben. Vielleicht macht er jetzt den Fehler, dich zu unterschätzen. Das Match ist erst zu Ende, wenn der Matchball gespielt ist.“
Chris nickte mir zu und ich legte Tim meine Hände auf die Schultern und ich konnte fühlen, wie er sich etwas entspannte.
„Danke, aber ich wollte so gerne auch einen Punkt beisteuern. Ich bin völlig kaputt.“
„Ist doch ok. Dann hast du alles gegeben und kannst dir nichts vorwerfen“, sagte Chris ganz ruhig.
Tim tat mir leid. Er hatte sich vollkommen verausgabt und musste erkennen, dass es in diesem Spiel nicht reichen würde.
Es dauerte auch nicht mehr lange und das Spiel war zu Ende. Tim hatte den dritten Satz deutlich verloren, aber ein tolles Spiel gezeigt. Ich wollte ihm meine Anerkennung zeigen und sagte, als er enttäuscht auf der Bank saß:
„Ich ziehe für dich den Platz ab. Du erholst dich jetzt und dann rocken wir das Doppel. Wir werden das Ding hier gewinnen, keine Sorge.“
„Guter Spruch“, lachte Chris und klopfte Tim noch einmal anerkennend auf die Schulter.
Damit stand es 1:1 und Maxi hatte gerade sein Einzel begonnen. Dustin bereitete sich vor, denn er spielte jetzt im Anschluss auf Tims Platz.
Für mich hieß das natürlich, sich bei Dustin auf die Bank zu setzen. Mein Gegner kam mir auf dem Weg dorthin entgegen.
„Na, nun vertauschte Rollen? Jetzt sitzt du bei deinem Freund auf der Bank?“
„Ja, klar. Nicht, dass ihr jetzt denkt, ihr habt schon gewonnen.“
Wir mussten beide lachen. So eine Atmosphäre machte Spaß. Wir waren zwar Kontrahenten, aber wir gingen dennoch gut miteinander um. Davon konnte sich Herr Listen mal eine Scheibe abschneiden. Unser Verband war im Übrigen hier nicht sonderlich beliebt. Das spürten wir sehr deutlich. Erst, wenn die anderen feststellten, dass wir uns anderes verhielten als es der Ruf des WTV war, der uns vorauseilte, lockerte sich das ganze sehr schnell auf. Umso mehr regte ich mich über unseren Verband auf. In meinen Augen liefen da viel zu viele Volldeppen herum.
Jörn und ich gingen gemeinsam zu Dustins Platz. Er fragte mich ein paar persönliche Dinge und er erzählte mir auch von sich. So tauschten wir unsere Erfahrungen aus. Das war ein positiver Nebeneffekt, diese Meisterschaften mit allen Ländervertretern gemeinsam zu spielen. Ich konnte viele andere Spieler treffen und mich mit ihnen austauschen. Auch Chris nutzte das immer wieder, mit den anderen Trainern zu sprechen. Manchmal wurde er auch auf seinen bekannten Bruder angesprochen und wie erfolgreich dieser ja sei.
Ich setzte mich auf die Bank und das Spiel begann. Interessanterweise stieg meine Unruhe und Anspannung deutlich mehr an als bei meinem eigenen Spiel. Das war seltsam für mich. Maxi spielte bereits und führte erwartungsgemäß recht deutlich im ersten Satz. Chris hatte sich bereits dort auf die Bank gesetzt und übernahm das Betreuen von Maxi. Tim konnte ich nirgends sehen. Vermutlich war er duschen gegangen.
Dustin begann sehr konzentriert, aber auch nervös. Er beschränkte sich darauf, auf den Fehler des Gegners zu warten und nicht, wie mit Chris besprochen, selbst zu agieren. Entsprechend zäh entwickelte sich das Match. Bei 3:2 für Dustins Gegner saßen wir auf der Bank.
„Warum spielst du nicht das, was mit Chris besprochen ist? Du machst viel zu wenig. Spiel mutiger, dann macht er mehr Fehler.“
„Ja, ich weiß. Es fällt mir aber schwer. Ich habe Angst, das nicht zu können und zu viele Fehler zu machen.“
Er war vollkommen verkrampft. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ich fragte mich, was war passiert? Hat er sich diesen Druck wieder einmal selbst gemacht und scheitert an seinem eigenen Anspruch?
„Hey, beruhige dich wieder. Du kannst das. Du hast es doch schon oft genug gezeigt, dass du das kannst. Ich bin sicher, du wirst so nicht gewinnen. Schmeiß deine Angst weg. Sie ist unbegründet und falsch.“
In dem Moment als ich das gesagt hatte verfluchte ich es auch schon wieder. Das hätte vollkommen falsch von ihm aufgefasst werden können. Ich wollte es schon relativieren, als Dustin mich mit seinen Augen fixierte und sagte:
„Ja, du hast recht. Angst ist scheiße. Ich werde mutig spielen. Besser mutig verlieren, als ein Angsthase sein und die Vorgaben nicht einmal versucht umgesetzt zu haben.“
Er gab mir einen Kuss und ein leises „Danke“, dann stand er von der Bank auf und war wie ausgewechselt.
Er spielte sofort aggressiv und begann seinen Gegner unter Druck zu setzen. Es funktionierte und Dustin Gesicht wurde wieder positiver und mit jedem weiteren Spielgewinn bekam er mehr Dominanz über seinen Gegner. Er befolgte exakt die Vorgaben von Chris und es funktionierte hervorragend. Den ersten Satz gewann Dustin noch mit 6:4 und auch im zweiten Satz ließ er nichts mehr anbrennen. Das war beeindruckend, wie Dustin einen Schalter umlegen konnte und sich komplett veränderte. Das gelang mir leider nur sehr selten. Ich musste unbedingt mit ihm darüber reden, wie er das schaffte.
In meiner Euphorie seines Sieges lief ich nach dem Matchball auf den Platz und umarmte meinen Freund bevor er noch seinem Gegner die Hand geben konnte. Das machte man eigentlich nicht, aber in diesem Moment war mir das total entfallen und Dustin war genauso überrascht wie sein Gegner. Der nahm es aber mit Humor und wartete geduldig auf der anderen Seite des Netzes.
Ich ging den Platz abziehen, während Dustin sich umziehen ging. Wir führten auch im zweiten Match 2:1. Das lief richtig gut für uns, trotz der Personalprobleme.Bei Maxi sah es nicht gut aus. Tim kam mir schon mit einem sehr ernsten Gesicht entgegen.
„Na, wie läuft es bei Maxi?“, fragte ich ihn.
„Bescheiden. Der Gegner ist richtig gut und Maxi spielt nicht das, was er soll. Chris ist schon etwas angespannt. Hat Dustin gewonnen?“
„Ja, nach schwierigem Start hat er sehr gut gespielt und glatt gewonnen. Also sieht bisher gut für uns aus.“
„Ok, ich komm auch gleich wieder, aber ich muss mal für kleine Jungs. Ich will mir auch ein Eis holen, soll ich dir was mitbringen?“
„Oh ja, danke. Ein weißes Magnum bitte.“
„Alles klar, mache ich. Bis gleich.“
Maxi war gerade mitten in einem Ballwechsel und ich stellte mich hinter Chris an die Bank. Chris saß nicht so entspannt auf der Bank wie sonst. Er spielte jeden Ball mit und litt auch genauso mit, wenn Maxi einen Fehler gemacht hatte. Das war ein klares Zeichen, dass es nicht so gut lief, wie es Chris gerne gehabt hätte.
„Wie steht es?“, fragte ich nach dem Ballwechsel.
„Hi Fynn, 5:5 im ersten Satz. Das wird ganz eng.“
Ich nickte und beobachtete das Spiel. Es war offensichtlich, dass Maxi nicht das spielen konnte, zu was er sonst in der Lage war. Warum war nicht zu erkennen. Beim Seitenwechsel zum 5:6 setzte sich Maxi neben Chris auf die Bank. Chris sprach beruhigend, aber auch bestimmt auf Maxi ein. Maxi nickte und schien sich mit Chris einig zu sein. Das war schon mal gut. Es war also eher ein mentales Problem.
Während des nächsten Spieles, klingelt mein Handy. Das hieß, es vibrierte. Ich hatte es immer auf lautlos stehen, wenn ich auf dem Platz war.
„Ja?“
„Hallo, mein Sohn. Wie geht es euch? Spielt ihr gerade?“
„Mama! Das ist aber eine Überraschung. Ja, wir sind mitten in der zweiten Begegnung.“
Während ich mit meiner Mutter sprach, ging ich vom Platz weg. Ich wollte das Spiel nicht stören. Dustin kam auch mittlerweile zurück und Tim ging neben ihm. Sie hatten beide ihr Eis in der Hand und Tim signalisierte mir, dass er mein Eis in der Tasche hatte.
Meine Mutter freute sich, dass ich gut gespielt hatte und wir erneut führten. Zum Abschluss gab sie mir Basti ans Telefon. Er war auch ganz aufgeregt und erzählte mir von seinem ersten richtigen Match, dass er in Halle gespielt hatte. Ich war zwar gerade nicht unbedingt in der Stimmung, seine Freude mit ihm zu teilen, aber es freute mich, dass er immer noch Spaß am Tennis hatte.
Meinem Vater ging es wohl ganz gut und er fragte auch regelmäßig nach uns. Das nach uns, war meiner Mutter besonders wichtig. Sie übernahm zum Abschluss noch einmal das Gespräch.
„Dein Vater lässt euch ganz lieb grüßen und wünscht euch viel Erfolg. Er freut sich darauf, euch bald wieder zu sehen. Darüber sprechen wir dann, wenn ihr zurück seid. Ich wünsche euch viel Glück. Melde dich mal, wenn die Vorrunde zu Ende ist.“
„Danke Mama. Das machen wir ganz bestimmt. Ciao!“
Ich freute mich über diesen Anruf. Das war schon etwas Besonderes für mich. Zu lange war unser Verhältnis schlecht gewesen.
Mittlerweile hatte Maxi leider den Satz verloren. Das würde also sehr eng werden und auch wenn wir alle total hinter Maxi standen und ihn immer wieder anfeuerten. Er fand einfach nicht in sein Spiel und so musste er letztendlich in eine Niederlage einwilligen. Er war total unzufrieden und Chris versuchte auch erst gar nicht, mit ihm zu reden. Er kam zu uns und sagte:
„Kann bitte einer von euch den Platz abziehen. Auch wenn er verloren hat, es soll ihm zeigen, dass wir hinter ihm stehen.“
„Klar, kein Ding.“
Ich wollte schon gehen, aber da sagte Tim: „Lass mich das machen, dann kannst du dein Eis essen.“
„Oh, danke.“
Maxi saß noch allein auf seiner Bank und war total unzufrieden und gefrustet. Chris sagte uns aber, wir sollten ihn noch einen Moment in Ruhe lassen. Also standen wir zusammen und waren schon etwas enttäuscht über den Verlauf. Als Tim wieder zu uns stieß, sorgte er direkt für Heiterkeit.
„Hey, was ist denn los? Nur weil es 2:2 steht, ist das kein Grund für eine Beerdigungsstimmung. Wir gewinnen halt beide Doppel und dann ist alles wieder im Lot.“
Diese Art, die Tim immer wieder ausstrahlte, war ansteckend und tat uns allen gut. Chris klopfte ihm auf die Schulter und fragte:
„Wie sollten wir Doppel spielen? Du scheinst ja schon eine Idee zu haben, wie wir beide Doppel gewinnen können.“
Tim schaute ihn grinsend an und erwiderte: „Na, für mich eigentlich ganz klar. Genauso, wie beim letzten Spiel. Nur das Fynn und ich erstes Doppel spielen und Maxi mit Dustin das zweite.“
Wow, das war mutig. Er wollte mit mir ins erste Doppel gehen und gewinnen. Respekt, dachte ich für mich.
Chris schaute auch verwundert in die Runde und jetzt kam Maxi hinzu. Der hatte es nicht mitbekommen und fragte deshalb:
„Wie spielen wir Doppel? Ich würde vorschlagen, ich spiele mit Dustin zweites Doppel und Fynn mit Tim erstes.“
Jetzt konnte ich nicht mehr anders, als laut zu lachen.
„Was hast du denn jetzt?“, fragte Maxi konsterniert.
Chris half ihm auf die Sprünge und jetzt musste auch Maxi lachen. Das tat uns allen gut, denn die Anspannung war jetzt deutlich spürbar. Ich fragte Chris:
„Was wäre denn, wenn wir ein 3:3 spielen würden? Wären wir dann auch schon raus?“
„Nein“, antwortete er direkt, „aber wir müssten dann auf jeden Fall gegen München gewinnen.“
„Müssen wir das nicht eh, wenn München heute gewinnt?“, fragte Tim.
Chris überlegte einen Augenblick und bestätigte diese Vermutung. Es würde dann der direkte Vergleich zählen und wir würden besser dastehen, falls wir gegen München gewinnen würden. Ein Unentschieden heute und ein Unentschieden gegen München würde nicht reichen, aber bei einem Sieg heute würde uns gegen München auch kein Unentschieden reichen. Deshalb sagte Chris:
„Gut, ihr habt mich überzeugt. Dann machen wir das so. Wenn es ein 3:3 wird, auch nicht schlimm, aber ein Doppel muss gewinnen. Sonst haben wir ein Problem.“
„Wir gewinnen beide Doppel. Ich weiß das.“ Tim zeigte sich bei dieser Aussage ziemlich selbstbewusst.
Für mich war das sehr weit aus dem Fenster gelehnt. Allerdings tat es Dustin gut, denn so konnte er mit Maxi das zweite Doppel spielen. Jetzt waren wir doch alle recht angespannt und Chris übernahm wieder deutlich mehr die Führung und gab klare Vorgaben. Somit konnten wir uns ausschließlich auf unser Doppel konzentrieren.
Unser Gegner hatte ja die gleiche Situation. Sie mussten in jedem Fall beide Doppel gewinnen, da sie bereits eine Niederlage gegen München hatten. Von daher mussten sie auch taktisch aufstellen.
Chris: Stress und die Folgen
Es wurde eng. Mindestens ein Doppel musste jetzt gewonnen werden und meine Jungs waren sehr unruhig. Ich beschloss daher, sie direkt wieder auf den Platz zu schicken. Sie sollten einfach ein paar Bälle spielen und sich ablenken. Für mich hieß das aber jetzt dem Oberschiedsrichter unsere Aufstellung zu geben und danach Thorsten eine Nachricht zu schreiben. Ich war unsicher, ob ich diese Aufstellung so machen sollte. Oder sollte ich Dustin mit Fynn zweites Doppel spielen lassen. Jetzt bemerkte ich den Druck. Ich musste eine Entscheidung treffen und wusste, dass diese Entscheidung auch Folgen haben würde, wenn ich die falsche Aufstellung wählen würde.
Nach einem kurzen Überlegen entschied ich mich aber für die Variante, die von den Jungs vorgeschlagen wurde. Ich beschloss mich nicht auf eine Bank zu setzen, sondern von Platz zu Platz zu gehen. Dort wo ich am meisten gebraucht wurde, würde ich länger bleiben.
Wie sich herausstellte, war das sehr stressig. Beide Doppel waren sehr eng und phasenweise sah es sogar danach aus, dass beide Doppel verloren gehen konnten. Das war sehr nervenaufreibend und tatsächlich hatten Fynn und Tim ziemlich hoch verloren. Der Gegner hatte das erste Doppel wider erwarten sehr stark gemacht mit den Positionen eins und zwei. Somit hatten wir keine reelle Chance zu gewinnen. Tim war sehr niedergeschlagen, weil er ja versprochen hatte, beide Doppel zu gewinnen.
Jetzt war meine ganze Aufmerksamkeit unserem eigentlich sicheren Punkt gewidmet. Dort entwickelte sich das Spiel aber auch nicht besonders gut und Dustin und Maxi lagen zurück. Sie hatten den ersten Satz verloren, führten aber im zweiten Satz mit einem Break. Bei jedem Punkt wurde hart gekämpft. Maxi fiel es sichtlich schwer, locker zu werden. Er wusste ja auch, dass es nun auf ihn ankommen würde und sie sich keine Fehler mehr erlauben durften.
Beim Spielstand von 4:1 im zweiten Satz und erneutem Breakball, verschlug Dustin einen einfachen Ball. Maxi reagierte aggressiv und machte Dustin sogar an. Das führte natürlich zu noch mehr Unsicherheit bei Dustin. Bei mir kam Ärger auf. Das war eines der wenigen Dinge, die mich sofort in Rage brachten. Beim Seitenwechsel von 5:2 für uns nahm ich mir Maxi vor.
„Du hörst sofort auf, Dustin anzumachen. Ihr sollt als Team arbeiten und glaubst du, er macht mit Absicht einen Fehler? Machst du keine einfachen Fehler? Warum habt ihr denn den ersten Satz verloren, wenn du alles richtig machst?“
Ich war sowohl selbst sehr angespannt als auch ärgerlich und legte noch nach:
„Ich möchte, dass ihr wieder zusammenarbeitet. Ihr könnt das nur gemeinsam lösen. Also reiß dich zusammen.“
Maxi schien sehr verwundert über meinen ärgerlichen Ausbruch. Auch Dustin schaute mich an und sagte nichts mehr. Erst Fynn, der mittlerweile zu uns an den Platz gekommen war, brach die Situation auf.
„Leute, bleibt ruhig. Chris hat recht, aber hört auf euch gegenseitig anzumachen. Also jeder konzentriert sich wieder und dann machen wir den Sack hier zu. Los, auf geht es.“
Er hielt seine Hand hin und alle, mich eingeschlossen, legten ihre Hand auf seine und sagten:
„Los geht’s, wir machen sie fertig.“
Dann stellten sich Dustin und Maxi wieder auf den Platz. Ich war immer noch sauer, aber Fynn hatte den passenden Ton gefunden. Das zeigte sich sofort auf dem Platz. Die beiden waren wieder ein gutes Team und spielten es jetzt gut. Der zweite Satz wurde gewonnen und jetzt wurde es spannend. Entsprechend hoch waren mein Puls und sicher auch der Blutdruck. Ich empfand es früher schon immer ganz schrecklich, draußen sitzen zu müssen und nichts tun zu können, außer ruhig zu bleiben.
Der dritte Satz war definitiv nichts für schwache Nerven, denn nach einer kleinen Phase der Desorientierung unserer Jungs führte der Gegner schnell mit 3:0. Es war nur ein Break, aber nicht gerade beruhigend.
„Los, konzentriert euch wieder und spielt einfach weiter. Ihr könnt das gewinnen. Ich glaube an eure Fähigkeiten. Macht euch nicht verrückt.“
Dustin schaute mich fast ängstlich an. Auch ihm war die Anspannung ins Gesicht geschrieben. Jetzt griff Fynn ein und stärkte seinem Freund den Rücken. Er setzte sich zu mir auf die Bank und als ob jemand einen Schalter umgelegt hatte, fingen meine Jungs an zu zaubern.
Sie waren wie ausgewechselt und gewannen den dritten Satz letztlich sicher mit 6:4. Damit war es ein 3:3, dass uns weiterhin alle Möglichkeiten offen hielt. Ich musste erst einmal Luft holen und mich abreagieren. Deshalb verließ ich, nachdem ich meinen Jungs gratuliert hatte, den Platz und machte ein paar Schritte allein.
Erst Minuten später fühlte ich mich wieder besser. Der Druck aus der Brust war gewichen und Entspannung machte sich breit. Es war mir noch nicht möglich mit totaler Entspannung auf der Bank sitzen zu können. Da bewunderte ich meinen Bruder, der bei viel größerer Belastung immer noch recht gelassen wirkte.
Wobei mir noch etwas anderes zu schaffen machte. Komischerweise kamen mir in diesem Moment Gedanken über meine Arbeitssituation in den Sinn. Diese Doppelbelastung war sehr anstrengend und aufzehrend. Ich spürte auch immer mehr, dass mein eigentlicher Beruf für mich momentan zu viel Belastung war. In den letzten Jahren hatte ich mir nie eine Auszeit genommen und war immer für andere da. Mein Akku war ziemlich leer. Das wurde mir jetzt sehr deutlich bewusst.
Für heute war Schluss und wir konnten uns entspannen. Deshalb ging ich zurück zu meinen Jungs, die bereits auf der Terrasse standen und sich über die Spiele unterhielten. Erfreulicherweise waren auch andere Spieler dabei. Sogar ein Spieler aus dem Münchener Verein. Er hatte einen Vereinsanzug an, daher konnte ich das sofort erkennen.
„Na, seid ihr schon dabei für morgen den Gegner auszuhorchen?“, flachste ich.
Meine Jungs lachten und ich begrüßte den Jungen aus München.
„Hallo, ich bin Chris und der Coach dieser Bande.“
Ich streckte ihm die Hand entgegen und als er sie nahm antwortete er:
„Hallo, ich heiße Benjamin, aber eigentlich nur Ben. Ich freue mich schon auf morgen. Deine Jungs sind sehr nett. Wir haben schon den ganzen Tag immer wieder miteinander gesprochen. Das ist anders, als gegen die anderen Mannschaften. Da denkt jeder nur an sich und redet kaum mit den anderen.“
„Alles nur Taktik. So bekommen wir von dir Informationen für morgen.“
Alle schauten zu Tim, der das gesagt hatte. Fynn schien das etwas peinlich zu sein.
„Unsinn, Chris ist doch ein wandelnder Datenspeicher. Wir brauchen ihn nur zu fragen und schon wissen wir alles. Also können wir uns auch weiterhin unterhalten.“
Natürlich war das alles nur Spaß und entsprechend locker war die Runde. Dann tauchte ein älterer Mann mit einem Münchener Anzug bei uns auf. Ich war schon sehr überrascht, denn diese Person war mir sehr bekannt. Er begrüßte jeden von meinen Jungs per Handschlag und auch mich. Er hatte einen deutlichen Akzent, aber er war für mich eine Trainerlegende.
„Jungs, darf ich euch Niki Pilic vorstellen.“, sagte ich in die Runde.
Bis auf Maxi, der mit dem Namen etwas anfangen konnte, reagierten die anderen eher ratlos. Ich erklärte ihnen, wer Niki Pilic ist. Das wiederum war Ben etwas unangenehm, denn ihm war natürlich bewusst, wer ihr Trainer war.
Niki verabschiedete sich wieder von uns, aber er hatte mich noch gefragt, ob ich gleich mit ihm einen Kaffee trinken würde. Da sagte ich natürlich nicht nein.
Meine Truppe schickte ich jetzt auslaufen und anschließend noch zur Massage. In einer Stunde wollte ich zurück in die Pension. Heute war Schluss mit Tennis. Die Köpfe sollten sich mit anderen Dingen beschäftigen. Hamburg hatte genug anderes zu bieten. Hoffentlich waren noch ein paar Kräfte im Tank, dass wir uns noch etwas ablenken konnten.
Einige Zeit später saß ich mit Niki Pilic im Clubhaus und wir sprachen über das aktuelle Geschehen im Tennissport, als Fynn zu uns an den Tisch kam.
„Na, seid ihr schon fertig?“
„Ja, wir wollten fragen, wie lange wir noch hier bleiben. Maxi und ich würden gern noch ein wenig bei den anderen Mannschaften schauen. Außerdem habe ich eine Frage.“
„Ich denke, ich melde mich bei euch, wenn wir aufbrechen. Ich werde euch schon finden. Was hast du für eine Frage?“
„Dustin und ich würden gern das Eisenbahnwunderland anschauen. Könnten wir da heute Abend hinfahren?“
„Nein, das ist keine gute Idee, also das heute Abend noch zu machen. Das lohnt doch gar nicht. Das machen wir am Donnerstag, denn da haben wir den ganzen Tag frei. Egal wie es morgen ausgeht. Den Tag werden wir auf jeden Fall noch nutzen. Da machen wir das dann zusammen.“
„Cool, danke. Das hört sich gut an. Ich glaube nämlich, Tim hat da auch total Bock drauf.“
„Das ist ja auch absolut sehenswert und mit Carlo bestimmt noch viel lustiger.“
„Ach ja, das habe ich schon total vergessen. Er kommt heute noch, oder?“
„Richtig, den hole ich nachher noch vom Bahnhof ab.“
„Ok, du sagst also Bescheid, wenn wir aufbrechen?“
„Genau, schaut euch ruhig noch etwas um.“
Fynn verabschiedete sich auch von Niki Pilic und verließ den Raum wieder. Ich schaute ihm noch einen Moment hinterher, als Niki mich fragte:
„Du lässt deinen Spielern viele Freiheiten. Nutzen sie das nicht aus? Mit meinen Spielern kann ich das so nicht machen. Das würde schnell aus dem Ruder laufen.“
„Ja, ich vertraue ihnen und bisher haben sie mich nicht enttäuscht. Sie wollen aber auch alle den Erfolg und nehmen den Sport sehr ernst. Sie vertrauen mir ebenso wie ich ihnen. Von daher bin ich sehr glücklich, so eine Mannschaft betreuen zu können.“
Wir redeten noch eine ganze Zeit über die Entwicklungen im Tennis und es war für mich sehr interessant, mit so einer Trainerlegende Erfahrungen auszutauschen. Wir beendeten unser Gespräch mit einem gegenseitigen guten Wunsch für das morgige Spiel und ich verließ das Clubhaus, um nach meinen Jungs zu schauen. Mittlerweile hatte ich auch Hunger bekommen. Mit einem Blick auf die Uhr wusste ich auch warum. Der Nachmittag neigte sich bereits dem Ende zu.
Maxi lief mir passend über den Weg.
„Wo seid ihr gerade? Sind noch interessante Spiele oder können wir aufbrechen?“
„Nein, ich denke, wir können aufbrechen. Soll ich die anderen holen?“
„Ja, das wäre gut. Ich möchte gerne los. Ich muss ja gleich noch Carlo abholen.“
Maxi entfernte sich und es dauerte nur wenige Minuten bis alle zusammen waren. Das klappte ganz hervorragend und wir machten uns gut gelaunt auf den Weg in die Pension.
Erst dort konnte ich nach einigen Minuten wirklich vom Tennis abschalten. Die Jungs packten ihre Sachen aus den Taschen und hängten sie draußen zum Trocknen auf. Ich überlegte gerade, was wir am Abend essen könnten, als Tim zu mir kam.
„Du gehst doch gleich Carlo abholen. Kann ich mitkommen?“
„Klar, du kannst dich aber auch ausruhen. Ok, gerne. Carlo wird sich bestimmt freuen, wenn du ihn begrüßt. Habt ihr schon über das Abendbrot nachgedacht?“
„Ja, frag mal bitte Fynn. Er hatte eben schon davon gesprochen, dass er Hunger hat.“
Also ging ich zu den drei großen Jungs auf die Terrasse und wurde freudig empfangen.
„Ah, da bist du ja. Was hast du zum Essen vorbereitet. Wir sind hungrig.“
„Zwei Möglichkeiten. Ihr kocht heute Abend, weil ich mit Tim gleich Carlo abhole oder ihr kommt auch mit und wir gehen beim Italiener hier um die Ecke essen.“
„Boah, eigentlich ein sehr guter Gedannke, aber ich bin froh, dass ich mich jetzt mal ausruhen kann. Können wir nicht essen gehen, wenn ihr zurück seid. Außerdem muss Carlo seine Sachen doch hier abstellen.“
„Ok, das stimmt. Gut, ich gehe mit Tim Carlo abholen und anschließend gehen wir zusammen essen.“
Tim wartete schon ungeduldig im Flur auf mich. Für ihn war das natürlich ein großer Gewinn, dass Carlo nachrücken konnte. Die beiden verstanden sich bestens und natürlich auch altersmäßig passte das gut. Für mich war es nun spannend zu sehen, wie sich Tim weiterhin verhalten würde. Bis jetzt hatte er sich eher den großen angepasst. Carlo würde allerdings richtig Leben in die Gruppe bringen.
Auf dem Weg zum Bahnhof fragte ich Tim: „Du freust dich richtig, dass Carlo kommt, oder?“
„Auf jeden Fall, wir sind sehr gute Freunde und ich finde das toll, dass er wieder spielen kann und uns hilft.“
„Und dass du hier nicht mehr so allein bist.“ Das schob ich mit einem Lächeln hinterher.
Tim schaute mich an und wurde rot. Das schien ihm unangenehm zu sein. Ich fand es vollkommen natürlich. Die drei bzw. vier Jahre Altersunterschied waren deutlich und da sollte Carlo sicher ein Gewinn für ihn sein.
„Ja, schon. Ich freue mich halt, wieder einen Freund dabei zu haben.“
„Ist schon ok, kann ich verstehen.“ Dabei legte ich ihm meine Hand auf die Schulter. Schon war seine Unsicherheit verflogen und wir betraten den Bahnhof.
„Weißt du auf welchem Gleis Carlo ankommt?“
„Nein, aber du kannst das ja mal herausfinden. Dort ist die Ankunftstafel. Der Zug kommt um 19:27 aus Bielefeld an.“
Tim lief direkt los und blieb vor dem Plan stehen. Ich wartete vor dem Eingang zu den Gleisen und schaute mich ein wenig um. Viele Menschen liefen hektisch durch die Halle und jetzt wurde mir bewusst, warum ich nicht in einer großen Stadt leben wollte. Diese Hektik und Unruhe waren nichts für mich.
Tim kam strahlend auf mich zugelaufen und rief schon von weitem: „Gleis sechs. Carlo kommt auf Gleis sechs an.“
Schon stand er wieder bei mir und wir machten uns auf den Weg dorthin. Mit einem Blick auf die Uhr erkannte ich, dass wir noch einige Minuten Zeit hatten. Tim hatte es eilig auf den Bahnsteig zu kommen. Ich ließ ihn einfach laufen und folgte ihm in Ruhe, ging gemütlich die Treppe hoch und wurde von einem aufgeregten Tim in Empfang genommen.
„Du kannst ruhig etwas schneller werden. Sonst kommst du zu spät.“
Jetzt brach das Kind in Tim durch. Das beruhigte mich doch ein wenig, denn bisher war er in Hamburg schon der große Junge, der mit den anderen mithalten wollte.
„Nur die Ruhe, der alte Mann ist kein ICE mehr.“
Tim schaute mich an und wir mussten beide lachen. Gemeinsam gingen wir nun über den Bahnsteig und schauten auf die Gleisanzeige. Der Zug wurde bereits angezeigt und sollte pünktlich einfahren.
Es folgte die obligatorische Ansage und dann fuhr der Zug ein. Es strömten viele Fahrgäste aus dem Zug und einige hinein. Tim schaute aufgeregt hin und her. Dann begann er zu winken und lief in eine Richtung los. Es dauerte nur Sekunden, dann hatte ich auch Carlo entdeckt. Tim stürmte auf ihn zu und ich konnte bereits das Lachen in Carlos Gesicht erkennen.
Die Jungs umarmten sich kurz zur Begrüßung und dann stand Carlo vor mir.
„Hi Chris, läuft ja gut bei euch. Ich hoffe, es geht so weiter.“
„Hallo Carlo, wie war die Fahrt? Bist du gut hergekommen?“
„Ja, alles bestens. Ich freue mich auf die Tage in Hamburg. Mal wieder Turnierluft schnuppern.“
„Hihi, ja das glaube ich gern. Komm, dann lass uns los gehen. Die anderen warten auf uns.“
Er hatte zwei Tennistaschen dabei und ich nahm ihm eine davon ab. So kamen wir wenige Minuten später wieder in unserem Quartier an. Tim nahm seinen Freund mit in sein Zimmer und zeigte ihm, wo er seine Sachen unterbringen konnte. Erst danach konnten ihn die anderen Jungs begrüßen.
Es war sofort offensichtlich, dass Carlo herzlich willkommen war. Dieses Team kannte sich gut und genau, das machte sie auch so stark. Sofort herrschte eine noch lebhaftere Stimmung, denn Carlo hatte immer einen Witz oder Spruch auf Lager. Ein toller Junge, den ich sehr mochte.
Eine halbe Stunde später saß ich mit meiner Mannschaft beim Italiener und es herrschte angenehme Ruhe. Alle waren mit essen beschäftigt.
„Ihr wisst ja, dass für Freitag ein Bus aus der Heimat geplant ist? Thorsten hat das ganz große Kino organisiert. Ich glaube sogar, dass gut 30 Leute mitkommen und uns zum Sieg anfeuern wollen.“
„Na klar, das glaubst du doch selbst nicht.“ Maxi schüttelte ungläubig seinen Kopf.
Auch die anderen schienen nicht überzeugt. Ich wusste zwar, dass Thorsten so etwas gesagt hatte, aber ob er das wirklich tun würde, war eine andere Geschichte. Immerhin war das ja auch ein Risiko. Falls wir vorher ausscheiden würden, müsste der Bus ja wieder storniert werden.
Carlo jedenfalls berichtete vom Training und dass er gute Fortschritte gemacht hatte. Allerdings sagte er auch immer wieder, dass er nur spielen würde, falls sich jemand verletzen sollte. Es war ihm bewusst, dass er noch nicht wieder in einer Top-Verfassung war.
Gegen 22 Uhr verließ ich mit den Jungs nach einem leckeren Nachtisch das Lokal. In der Pension angekommen, spürte ich meine Müdigkeit. Ich war richtig platt und war sehr froh, dass es meiner Truppe nicht anders ging. Somit lag ich als letzter um 23 Uhr im Bett. Aber erst, nachdem ich einige Entspannungsübungen gemacht hatte, konnte ich einschlafen.
Leider wurde es nur eine kurze Nacht, denn um zehn Uhr sollte das entscheidende Spiel gegen München beginnen.
Obwohl ich viel Freude mit meinen Jungs hatte, spürte ich den Druck von der Verantwortung. Das Problem für mich war, dass ich keine längeren Zeiten hatte, in denen ich mal entspannen konnte. War ein Spiel beendet, konnte der Spieler sich entspannen und ausruhen, während ich direkt zum nächsten Spiel ging. Das war anstrengend, auch ohne körperliche Belastung.
Nach dem Frühstück holte ich meinen Laptop und schaute meine Mails durch. Eine Email erweckte meine gesonderte Aufmerksamkeit, denn sie war von Fynns Mutter. Dort teilte sie mir mit, dass sie gemeinsam mit dem Fanbus nach Hamburg fahren wollten. Da Fynn aber nichts davon wusste, fragte sie mich erneut, ob ich damit einverstanden sei, dass auch sein Vater und Bruder mitkommen würden.
Damit wurde mir bestätigt, dass Thorsten wirklich diesen Bus geordert hatte. Ich schrieb Frau Grehl, dass ich das für eine gute Idee und tolle Gelegenheit hielt, sich weiter anzunähern. Jetzt musste nur noch ein Sieg heute gegen München her. Sonst wäre das alles hinfällig.
Meine Jungs warteten bereits ungeduldig mit ihren Taschen auf mich. Sie wollten endlich zur Anlage und sich auf das Spiel vorbereiten. Fynn und Tim würden erneut beginnen. Für heute hatte ich die Vorbereitung etwas anders geplant, damit wir in Ruhe frühstücken konnten.
„So, wir können los. Allerdings möchte ich Fynn und Tim bitten, gleich auf der Anlage nicht wegzulaufen. Ich möchte mit euch die Spielvorbereitung machen. Die anderen können sich einschlagen oder sich umschauen.“
Fynn: Finale oder Heimfahrt
Heute stand das entscheidende Spiel gegen München an. Chris hatte uns wieder sehr präzise und ausführlich auf unseren Gegner vorbereitet. Dennoch fühlte ich die steigende Nervosität. Dustin und ich hatten noch beim Frühstück ein paar Dinge besprochen und ich machte mir etwas Sorgen um Chris. Ständig hatte er irgendwas zu tun und kümmerte sich um uns. Gestern Abend hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass er nicht gut aussah. Als ob es ihm nicht gut gehen würde. Auf Anfrage hatte er das natürlich verneint, aber auch Dustin hatte eine ähnliche Wahrnehmung wie ich.
Jetzt stand ich auf dem Platz und schlug mich mit meinem Gegner ein. Dustin saß bei mir auf der Bank, während Chris bei Tim war. Maxi und Carlo übernahmen den Informationsaustausch zwischen beiden Plätzen.
Dustin saß schon vor dem ersten Punkt nervös und Fingernägel kauend auf der Bank. Als ich meine Trainingsjacke auszog, gab ich meinem Freund noch einen schnellen Kuss:
„Hey, reg dich nicht so auf. Das wird klappen. Ich habe ein gutes Gefühl.“
Dustin nickte und jetzt war meine Konzentration nur auf meinen Gegner und mein Spiel gerichtet. Das Gespräch vor dem Spiel mit Chris zahlte sich sehr schnell aus. Er hatte meinen Gegner sehr präzise analysiert und das zeigte sich im Spielverlauf. Ich führte sehr schnell mit 4:1 und hatte ein sehr gutes Gefühl. Mein Gegner hatte keinerlei Mittel, mir gefährlich werden zu können.
Dass es so einfach sein würde, hatte ich auch nicht erwartet. Dustin tat meine Führung ebenfalls gut. Er saß etwas entspannter auf der Bank.
„Das läuft richtig gut. Du spielst genau das, was er nicht mag. Weiter so. Nur nicht übermütig werden.“
Das kam so rüber, als ob Chris auf der Bank saß. Ich konnte nicht anders, aber ich musste lachen.
„Was ist jetzt los? Warum lachst du?“ Dustin fragte mich ziemlich ratlos.
„Alles gut. Aber du sagst das genau wie Chris. Du könntest bei ihm gelernt haben.“
„Hab ich ja auch. Außerdem stimmt es doch, was ich gesagt habe.“
„Ja, Schatz.“
Ein weiterer Kuss folgte und ich ging wieder auf den Platz. Maxi stand plötzlich hinter Dustin und er gab ihm eine Information. Vermutlich von Tims Match. Dustin nickte zufrieden. Das wollte ich doch sehen. Dort schien es auch gut für uns zu laufen.
Komischerweise fühlte ich mich überhaupt nicht müde oder ausgelaugt. Trotz der bereits vergangenen zwei Turniertage. Jedenfalls ließ ich meinem Gegner überhaupt keine Chance mehr und gewann sehr deutlich mit 6:2; 6:2. Das fühlte sich richtig gut an. Dustin freute sich mit mir und wollte sogar meinen Platz abziehen, aber ich war der Meinung, er sollte sich lieber auf sein jetzt folgendes Spiel konzentrieren.
Während ich den Platz abzog, konnte ich meine Gedanken ein wenig neu sortieren und es kam so etwas wie Euphorie auf. Ich träumte jetzt doch ein wenig vom Einzug in das Finale um die deutsche Mannschaftsmeisterschaft. Das wäre ein riesiger Erfolg, auch für den TC BW Halle. Das hätte ich vor einem halben Jahr nicht einmal zu träumen gewagt.
Ich war mit dem Platz gerade fertig und hatte meine Tasche geschultert, als mir Carlo entgegen kam.
„Cooles Match, Glückwunsch. Das war sehr souverän.“
„Danke. Ja, ich war gut drauf und mein Gegner hat es mir recht einfach gemacht. Wie sieht es bei Tim aus?“
„Schwierig, ganz enges Match. Wie gut, dass Chris auf der Bank sitzt. Er muss Tim immer wieder beruhigen und auf ihn einreden, dass er geduldig bleiben muss.“
„Oh je, wieder ein Spiel, was Tim gar nicht mag. Hoffentlich hält er durch.“
Wir gingen gemeinsam zurück an Tims Platz und ich gab Chris eine kurze Info über mein Spiel und er nickte anerkennend.
„Sehr gut, klasse. Glückwunsch. Ich freue mich, dass ich dich auch schon ganz allein spielen lassen kann und du das wie verabredet durchspielst. Du solltest jetzt aber erst duschen gehen, bevor du dich hier an den Platz stellst. Nicht, dass du dir noch eine Zerrung holst.“
„Sofort“, sagte ich, „ich möchte nur das Aufschlagspiel noch zu Ende sehen.“
Tim führte zwar im zweiten Satz 2:1, aber sein Gegner schlug auf. Tim hatte den ersten Satz mit 6:4 knapp gewonnen. Auffallend für mich war, dass Chris sehr müde und erschöpft aussah. Nach dem 2:2 verließ ich den Platz und ging Richtung Clubhaus um zu duschen. Unterwegs kam mir Dustin entgegen und er bekam von mir den mittlerweile obligatorischen Kuss und ein „Viel Erfolg“ auf den Weg.
Unter der Dusche konnte ich endlich doch etwas entspannen. Meine Muskeln lockerten sich unter dem heißen Wasser. Die Anspannung wich ganz langsam einem Gefühl der Freude. Ich hatte ein richtig gutes Match gespielt und freute mich darüber.
Als ich mich angezogen hatte, schrieb ich meinem Bruder eine Nachricht und informierte ihn über den Spielstand. Auch das war mittlerweile für mich kein Problem mehr. Im Gegenteil, ich freute mich darüber, dass sich meine Familie wieder für mich interessierte. Gerade das Verhältnis zu meinem kleinen Bruder wurde immer besser, seit er selbst Tennis spielte.
Ich holte mir noch etwas zu trinken und als ich die Terrasse betrat, um wieder an den Platz zu gehen, sprach mich Niki Pillic an.
„Glückwunsch, du hast ein sehr gutes Match gezeigt. Euer Trainer hat euch sehr gut vorbereitet.“
„Danke. Ja, Chris gibt sich große Mühe. Und ich hoffe, dass es für uns reichen wird ins Finale zu kommen.“
Er lachte und antwortete: „Wir werden versuchen, dass zu verhindern. Warten wir ab, wer am Schluss vorne liegt.“
Es war ein nettes Gespräch und zum Schluss machte er aber noch eine Bemerkung:
„Es tut mir leid, aber ich muss dir noch einen Hinweis geben. Der Martin, also der Gegner von deinem Freund, hat ein Problem mit schwulen Jungs. Es wäre vielleicht besser, wenn du auf dem Platz nicht zu sehr die Beziehung zu Dustin zeigen würdest. Ich finde das zwar ziemlich albern, aber ich kann das jetzt nicht mehr ändern.“
Einerseits ärgerte mich das richtig, aber ich fand es auch toll, dass er mir das so direkt gesagt hatte und mich darauf hinwies.
„Ok, danke. Schade, dass es immer noch junge Leute gibt, die das nicht akzeptieren.“
„Ja, da hast du recht. Ich finde es auch total überflüssig, aber ich kann es nicht ändern. So, ich möchte dich nicht länger aufhalten, du möchtest sicher zu deinem Freund an den Platz.“
Ich bedankte mich noch einmal und es war schon eigenartig. Er war sicherlich schon über 60 Jahre alt und hatte so eine liberale Haltung. Das beeindruckte mich. Ich beschloss, zuerst zu Tim zu gehen. Tim saß gerade bei einem Seitenwechsel bei Chris auf der Bank, als ich hinzukam. Tim führte jetzt 4:3. Chris redete ganz ruhig auf ihn ein und erklärte immer wieder die gleichen Dinge. Tim schien nicht besonders glücklich zu sein. Das Spiel machte ihm sichtlich wenig Freude.
Als die Pause vorüber war und Tim wieder auf dem Platz stand, fragte ich Chris: „Na, wie läuft es? Scheint ja nicht so einfach zu sein mit Tim.“
„Ja, da sagst du was. Er möchte immer gern die Punkte selbst machen. Er sagt, dass es keinen Spaß macht, den Ball nur rein zu spielen. Aber wenn er gewinnen will, muss er das durchhalten. Ich hoffe, er schafft das noch eine Weile, dann wird er auch gewinnen.“
„Du wirst ihm schon klarmachen, dass er durchhalten muss.“
Dabei musste auch Chris schmunzeln. Maxi war sich bereits aufwärmen und ich setzte mich jetzt bei Dustin auf die Bank, neben Carlo. Carlo wollte gleich aufstehen und wieder hinter den Zaun gehen.
„Hey, bleib ruhig sitzen. Du gehörst doch genauso dazu.“
„Meinst du, dass ich nicht störe?“
„Unsinn. Während des Spieles werden wir uns nur mit dem Spiel beschäftigen. Also alles bestens.“
Carlo hatte sofort verstanden, was ich gemeint hatte, aber er wurde sogar etwas rot. Mir gefiel meine kleine Anspielung und ich musste grinsen.
Carlo blieb also bei mir sitzen und ich wunderte mich schon etwas, denn sein bester Freund spielte ja auf dem Nebenplatz.
„Warum bist du eigentlich nicht bei Tim am Platz? Ihr seid doch dicke Freunde.“
„Ja, aber das halte ich nicht aus. Das ist so ein nervenaufreibendes Spiel und Chris hat mir gesagt, ich soll mich nicht so aufregen, weil das Tim noch nervöser macht. Da bin ich lieber gegangen.“
„Na, ob das hier weniger spannend wird, weiß ich auch noch nicht.“
„Doch, für mich auf jeden Fall. Bei Tim kann ich immer ganz schlecht zuschauen.“
Dustin begann sehr stark und ich brauchte nicht viel mehr tun, als ihm ein bisschen gut zuzureden. Er hatte irgendwie heute den Dreh direkt raus und spielte sehr souverän sein Spiel. Endlich einmal von Beginn an und ohne Angst. Das sah so gut aus, was er spielte, dass selbst Carlo am Ende des ersten Satzes staunend fragte:
„Was hast du Dustin in den Kakao getan? So geil habe ich den noch nie spielen sehen. Das ist richtig gut.“
„Ja, das stimmt. Ich kann es dir nicht sagen, aber ich finde es total klasse. Das darf jetzt gern so bleiben, dann brauche ich auch keine Herztabletten mehr.“
Carlo und ich mussten laut lachen, dass irritierte natürlich die Spieler, die gerade dabei waren, einen neuen Ballwechsel zu beginnen. Wir entschuldigten uns mit einer Geste und waren wieder still.
Ich war so konzentriert, dass ich Anfang des zweiten Satzes nicht bemerkt hatte, dass Chris an unseren Platz gekommen war. Erst beim 4:1 im zweiten Satz bemerkte ich ihn. Carlo verschwand sofort von unserer Bank, als sich Dustin zum Seitenwechsel setzte. Ich war beruhigt über Dustins tolles Spiel, aber hätte auch gern erfahren, wie Tim gespielt hatte. Nachdem Dustin hoffentlich zum letzten Mal die Seiten gewechselt hatte, schaute ich zu Chris, der mit Carlo angeregt diskutierte. Erst als Carlo dann weggegangen war, zeigte mir Chris mit dem Daumen nach oben, dass Tim wohl gewonnen hatte. Das wäre schon fast die halbe Miete, denn damit würden wir wahrscheinlich schon drei Punkte nach den Einzeln haben.
Dustin ließ sich überhaupt nicht mehr auf irgendwelche Spielereien ein. Nicht ein Spiel gab er mehr ab. Unglaublich souverän gewann er sein Einzel. Ich wollte den Stress mit seinem Gegner nicht provozieren und beließ es bei einer normalen Umarmung zum Sieg.
Dustin bemerkte allerdings sofort den fehlenden Siegerkuss und reklamierte diesen entsprechend deutlich:
„Hey, bekomme ich heute keinen Kuss? War ich nicht gut genug oder was?“
Leise gab ich ihm zur Antwort: „Doch gleich, Schatz. Ich erkläre es dir später, ok?“
Chris war mittlerweile auch bei uns angekommen und klopfte Dustin anerkennend auf die Schulter.
„Das war ganz großes Kino, Dustin. Ich habe dich selten so gut spielen sehen. So dominant und selbstbewusst. Ich hoffe, du kannst das abspeichern.“
Dustin strahlte über das ganze Gesicht und freute sich riesig über das Lob von Chris, fragte aber sofort:
„Wie hat Tim gespielt? Das war wohl etwas spannender als mein Spiel.“
„Allerdings“, grinste Chris, „er hat den zweiten Satz noch abgegeben und dann im dritten Satz aber deutlich mit 6:3 gewonnen. Also steht es jetzt 3:0 für uns. Maxi ist gerade auf den Platz gegangen.“
Dustins Gegner hatte den Platz bereits schnell verlassen und somit konnte ich meinen Siegerkuss jetzt nachholen. Chris fing an zu lachen und Dustin fragte sofort nach:
„Jetzt erklärst du mir aber den Grund, warum ich den erst jetzt bekommen habe.“
Nachdem ich das erläutert hatte, schaute ich zu Chris. Sein Gesicht sah nach Verwunderung aus. Dustin war ärgerlich und gab das auch zum Ausdruck.
„Wie gut, dass ich ihn so deutlich geschlagen habe. Ich verstehe es einfach nicht, dass es selbst in unserem Alter immer noch homophobe Deppen gibt.“
„Ich finde aber, dass Fynn sehr umsichtig gehandelt hat und auch die Information von Niki Pillic war doch richtig gut und sehr fair. Lasst uns das abhaken und jetzt den vierten Punkt einfahren.“
Das war typisch für Chris, er hatte das sofort abgehakt und schaute nach vorn. Allerdings wurde ich das Gefühl nicht los, dass es für Chris anstrengender war, als er uns gegenüber zugeben wollte.
Dustin und ich blieben noch einen Augenblick länger auf dem Platz. Chris ging in Richtung Maxi und wir waren allein.
„Sag mal“, fragte ich Dustin, „ich finde, Chris sieht müde aus und glaube, wir sollten ihm mal etwas Entspannung verschaffen. Am besten durch einen Sieg nach den Einzeln. Dann könnte er die Doppel total entspannt beobachten.“
„Ja, aber nicht nur deshalb. Ich wäre auch froh, wenn Maxi gewinnt. Denn entspannt Doppel spielen macht mehr Spaß.“
„Ok, das stimmt. Wenn Maxi gewinnt, könnte ja Carlo spielen. Dann geht es um nichts mehr und er kann auch Erfahrungen sammeln.“
„Ja, das sehe ich genauso. Aber jetzt sollten wir uns aufmachen und Maxi unterstützen, damit wir auch den vierten Punkt machen.“
„Du gehst jetzt erst mal duschen, bevor du dich an den Platz stellst. Sonst macht dich Chris gleich einen Kopf kürzer.“
„Ja, Mama.“
Wir schauten uns an und lachten uns kaputt. Dustins Antwort kam so überraschend für mich, dass ich einen Lachanfall bekam. Dennoch machte er sich folgsam auf, den Duschraum aufzusuchen. Immer noch kichernd, stellte ich mich jetzt zu Maxi an den Platz.
Chris schaute mich an und fragte leise: „Welchen Witz hast du denn eben erzählt?“
Ich schüttelte meinen Kopf und beruhigte mich jetzt wieder.
„Nichts, schon gut. Das erzähle ich erst später, wenn Dustin auch dabei ist.“
Chris gab sich damit lächelnd zufrieden und unsere ganze Aufmerksamkeit galt nun Maxi und seinem Spiel.
Chris: Halbfinale winkt
Maxi hatte einen gleichwertigen Gegner und es wurde ein hochklassiges Match. Allerdings war es für ihn ein spürbarer Vorteil, dass wir bereits drei Punkte hatten. Der Druck lag also ganz klar auf der Seite seines Gegners.
Diesem Druck schien er nicht gewachsen zu sein, denn beim Stand von 5:5 im ersten Satz fabrizierte er in seinem Aufschlagspiel zwei Doppelfehler und Maxi gewann das Spiel und anschließend den Satz mit 7:5.
Maxi machte leider den Fehler, sich ein wenig auszuruhen und bei dem Spielstand von 0:3 im zweiten Satz saßen wir gemeinsam auf der Bank.
„Was hast du vor? Möchtest du eine Tasse Kaffee haben?“, fragte ich sarkastisch.
Maxi schaute mich an, als ob ich ein Gespenst sei.
„Nein, aber schon ok. Du machst dich lustig über mich?“
„Nein, ich frage mich nur, warum du plötzlich so nachlässig spielst. Gib Gas und du hast das Spiel im Sack. Du musst wieder Spannung aufbauen.“
„Ja, stimmt. Sorry, aber ich war etwas unkonzentriert. Ich werde mich wieder zusammenreißen.“
Er atmete noch einmal tief durch und ging wieder auf den Platz. Jetzt würde sich zeigen, ob Maxi tatsächlich einfach den Schalter wieder umlegen konnte und so konsequent spielte wie im ersten Satz.
Eine Viertelstunde später konnte ich bereits viel entspannter auf der Bank sitzen. Maxi hatte sich wieder im Griff und spielte gutes Tennis. Es stand wieder 3:3 und sein Gegner konnte sich keine Sekunde mehr ausruhen oder über einen leichten Fehler freuen. Maxi war vollkommen fokussiert und ließ sich nicht mehr ablenken.
Mittlerweile stand meine gesamte Mannschaft hinter meiner Bank und feuerte Maxi an. Das Match ging in die entscheidende Phase bei 4:4. Maxis Gegner schlug auf und führte 30:0 mit zwei sehr guten Aufschlägen. Dann gab es eine strittige Entscheidung. Maxi gab einen Ball aus, den sein Gegner gut gesehen hatte. Ich musste eingestehen, dass ich den Ball ebenfalls gut gesehen hatte und Maxi sich hier geirrt hatte. Allerdings sollten sie sich einigen, ohne Einfluss von außen. Erst als Maxi mich fragte, erklärte ich:
„Ich habe den Ball auch gut gesehen, Maxi. Ich finde, ihr solltet den Punkt noch einmal neu spielen.“
Maxi schaute mich mit großen Augen an. Damit hatte er nicht gerechnet. Für mich eine Selbstverständlichkeit.
Glücklicherweise hatte das keine negativen Auswirkungen auf sein Spiel und wenige Minuten später hatte er mit zwei sehr guten Returns und einem Volleypunkt einen Breakball. Sein Gegner konnte mit diesem Druck nicht umgehen und machte einen leichten Fehler.
Leider klatschen meine Jungs danach vor Freude und das störte mich. Ich drehte mich sofort um schaute meine Truppe streng an. Dustin wusste sofort, dass ihre Reaktion unangemessen war. Bei einem leichten Fehler klatschte man nicht. Das wurde als unsportlich angesehen und Dustin merkte an:
„Sorry, Chris. Das ist uns so rausgerutscht. Es ist so spannend. Das war keine böse Absicht.“
„Na gut. Aber gewöhnt euch das nicht an. Das mag ich nicht.“
Niki Pillic hatte meine Reaktion mitbekommen und gab mir mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass er meine Reaktion als Entschuldigung akzeptierte.
Das nächste Aufschlagspiel war eine Demonstration der Stärke von Maxi. Er machte entschlossen Druck und ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er das Match jetzt beenden wollte.
Nach dem verwandelten Matchball sprang ich von der Bank auf und jubelte mit meinen Jungs. Wir hatten vor den Doppeln bereits gewonnen. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet und wir standen im Halbfinale.
Meine Jungs hatten mittlerweile den Platz gestürmt und ließen Maxi hochleben. Der nahm es mit Freude zur Kenntnis, dass seine Mannschaft so hinter ihm stand. Ich hielt mich zurück, aber Tim rief mich auf den Platz, um mich in ihren Kreis zu stellen.
Es wurde laut gejubelt und unser Schlachtruf hallte über den Platz. Die ganze Anspannung fiel von uns ab.
Für mich großartig war das Verhalten der Münchener. Sie hatten fair gratuliert und jetzt musste gerechnet werden. Denn sollten sie hoch gegen uns verlieren, könnte sogar ihr Halbfinaleinzug auf dem Spiel stehen. Deshalb mussten die Doppel gespielt werden, auch wenn die Partie entschieden war.
Ich ließ meine Jungs einen Moment allein und verließ den Platz in Richtung Wiese. Dort hatte ich die nötige Ruhe, Thorsten anzurufen und den weiteren Ablauf zu besprechen.
„Hi Chris, ich vermute, ihr habt bereits gewonnen. Sonst würdest du nicht so früh anrufen.“
„Ja, lachte ich. Es steht unglaublicherweise bereits 4:0. Wir sind sicher als Gruppensieger im Halbfinale am Freitagnachmittag.“
„Also habt ihr jetzt eineinhalb Tage frei und könnt euch etwas ausruhen?“
„Genau. Was hast du jetzt geplant mit dem Bus?“
„Wir fahren hier Freitagmorgen los und werden zum Halbfinale bei euch sein. Das lassen wir uns nicht entgehen. Und damit du nicht vor Schreck umfällst, Gerry wird mitfahren und auch die Familien aller Jungs haben sich angemeldet. Also auch Carlos Eltern werden mitfahren. Wenn ich Fynns Bruder richtig verstanden habe, wird ihr Vater mitfahren dürfen. Ist das ok für dich?“
„Wow. Ja, natürlich. Ich glaube, Fynn wird sich richtig freuen. Ich muss mir nur noch überlegen, ob ich den Jungs das heute schon erzähle oder erst am Freitag kurz vor dem Spiel, dass ihr hier mit dem Bus anrollt.“
„Das musst du vor Ort entscheiden. Du wirst das richtig machen. Lass dir Zeit mit der Sache. Was habt ihr jetzt vor? Spielt ihr die Doppel noch?“
„Ja, müssen wir ja. Sonst wäre das unfair den anderen gegenüber. Ich möchte aber Carlo spielen lassen. Maxi soll aussetzen und Fynn mit Dustin spielen und Carlo mit Tim. Das wird bestimmt lustig werden.
Ich verabschiedete mich von Thorsten und ein tolles Gefühl machte sich in mir breit. Ich hatte mit meiner Mannschaft das Halbfinale erreicht.
Ich weiß nicht warum, aber ich setzte mich einfach auf den Rasen, legte mich lang in die Sonne und schloss die Augen. Entspannung machte sich breit. Ein schönes Gefühl und leider viel zu selten in letzter Zeit.
Ich verlor ein wenig das Zeitgefühl und so hatte ich keine Ahnung, ob ich nur Sekunden oder Minuten in der Sonne lag, als ein Schatten über mein Gesicht zog. Ich öffnete die Augen und schaute in das Gesicht von Carlo.
„Hey Chris, alles in Ordnung?“
Es klang sogar leicht besorgt.
„Ja, alles gut. Ich musste mal einen Augenblick entspannen. Was gibt es?“
„Kommst du mit, die anderen wollen wissen, wie wir Doppel spielen sollen.“
Ich stand auf und wir gingen gemeinsam zu den Anderen, die schon gespannt auf mich gewartet hatten.
„Was schlägst du vor?“, fragte mich Fynn.
„Was habt ihr denn für eine Idee?“
„Dustin mit Fynn und Maxi mit Tim. Mal was Neues ausprobieren.“ Das war ein grinsender Tim.
„Na, so neu ist das ja nicht. Ich glaube Fynn und Dustin kennen sich schon. Maxi mit Tim könnte lustig werden. Ich habe aber eine andere Idee. Ich möchte mit Dustin und Fynn im ersten Doppel und Carlo mit Tim im zweiten Doppel spielen. Maxi darf sich erholen.“
„Was habe ich dir gesagt, Schatz?“, rief Dustin aus.
Fynn schüttelte ungläubig den Kopf und erwiderte: „Ja, ja. Schon gut, du hast es vorhin schon gesagt. Ich hätte nicht gedacht, dass er das wirklich machen will.“
„Hast du ein Problem mit dieser Idee?“, fragte ich.
„Nein, überhaupt nicht. Ich finde es sogar richtig cool. Aber nur, wenn Maxi einverstanden ist.“
Jetzt schauten alle zu Maxi, der aber breit grinste.
„Kein Problem. Da kann ich schön ein oder zwei Eis essen, während ihr euch auf dem Platz bewegen müsst. Danke, Chris.“
Also waren sich alle einig über diese Idee, nur Carlo war verdächtig still. Ich reagierte nicht darauf. Seine Art mit Angst umzugehen war mir mittlerweile bekannt und es wäre falsch gewesen, in dieser Situation mit ihm zu reden.
Ich ging ins Clubhaus, um die Aufstellung aufzuschreiben, als Carlo plötzlich hinter mir stand.
„Hast du dir das auch richtig überlegt, mich jetzt spielen zu lassen?“
Noch über den Spielbericht gebeugt, antwortete ich:
„Natürlich habe ich mir das überlegt. Das Spiel ist entschieden und du hast überhaupt keinen Druck. Du kannst locker drauf los spielen. Genieße es einfach. Tim freut sich bestimmt darauf, mit dir zu spielen.“
Ich nahm den Kopf hoch, drehte mich und schaute ihm jetzt in die Augen. Carlo lächelte.
„Danke. Ich freue mich wirklich darauf. Sei aber nicht sauer, wenn wir nicht gewinnen.“
„Mach dir keinen Stress. Ich trage die Verantwortung und nicht du. Also habt einfach etwas Spaß. Außerdem seid ihr sehr gute Freunde, das klappt schon.“
Einige Minuten später stand ich bei Fynn und Dustin am Platz, die sich schon warm machten. Fynn hielt plötzlich den Ball an und kam zu mir an den Zaun.
„Ich finde das total cool, dass du Carlo jetzt spielen lässt. Aber ich habe eine ganz andere Frage. Mein Bruder hat mir geschrieben, dass sie Freitag mit dem Bus nach Hamburg kommen. Stimmt das?“
Mist, ein wenig zu früh war das jetzt herausgekommen. Aber gut, damit musste ich auch rechnen.
„Ja, das ist korrekt. Wir bekommen etwas Unterstützung. Etwa fünfzig Leute kommen aus Halle und werden uns anfeuern. Unter anderem auch deine Familie, mit deinem Vater. Es sei denn, du möchtest das nicht. Dann sage ich deiner Mutter das. Sie würden dann zu Hause bleiben.“
„Nein, das wäre total toll. Ich kann das echt noch gar nicht glauben, dass ein ganzer Bus unseretwegen herkommt.“
„Warum nicht, ihr seid die Zukunft. Ihr spielt dieses Jahr in der Bundesligamannschaft mit. Das wollen sich viele ansehen. Und dass dein Vater auch mitkommt, finde ich außerordentlich gut. Er gibt sich wirklich Mühe. Das musst du auch anerkennen.“
Fynn bekam sogar ein wenig feuchte Augen, als ich das gesagt hatte. Ich schickte ihn schnell wieder auf den Platz, damit er sich wieder beruhigen konnte.
Maxi kam zu mir. Er hatte jetzt ja Pause und wir unterhielten uns ein wenig über den Turnierverlauf, bis er mich fragte:
„Was war eben eigentlich mit Fynn los? Was hast du ihm gesagt? Er war wie erstarrt.“
„Was du alles so beobachtest. Aber es stimmt. Ich habe ihm gesagt, dass uns ab Freitag ein großer Bus aus der Heimat unterstützen wird. Deine Eltern werden auch mitkommen. Deiner Mutter geht es ganz gut, hat mir dein Vater gesagt.“
„Was du alles so mitbekommst ...“
Weiter kam er nicht, weil ich laut lachen musste. Er fing auch an zu lachen und mir tat das Lachen sehr gut. Ich war schon wieder sehr angespannt, was gar nicht mehr nötig war.
„Nein, es stimmt aber. Mama geht es wieder besser. Gott sei Dank, ich habe mir schon große Sorgen gemacht, dass sich der Krebs weiter ausbreiten würde.“
„Aber hallo, das wäre auch komisch, wenn du dir keine Sorgen gemacht hättest. Es werden auch ein paar Überraschungsgäste mitkommen. Also ab Freitag sind wir nicht mehr allein.“
„Das ist cool. Ich freue mich immer über Zuschauer und wenn sie uns unterstützen, umso besser.“
Ich überlegte, ob ich mich bei einem Doppel auf die Bank setzen sollte oder nicht. Ich entschied mich dagegen. Ich wollte die Jungs mal allein spielen lassen und beobachten, wie sie die Dinge regelten.
Für mich war das sehr angenehm, denn ich konnte als Zuschauer die Spiele beobachten. Nicht ganz als Zuschauer, ich schaute natürlich schon genauer hin und machte mir Notizen über bestimmte Sachen, aber ich empfand es fast als Erholung.
Insbesondere Tim und Carlo zu beobachten, war besser als jeder Kinofilm. Die beiden waren echte Entertainer. Dabei spielten sie auch noch gutes Tennis. Klar, sie hatten keine Chance zu gewinnen, aber darum ging es mir auch überhaupt nicht. Carlo bewies mir, dass er sich in die Mannschaft integriert hatte und gab sein Bestes. Tim baute ihn immer wieder auf und spornte ihn an. Allerdings war er noch lange nicht wieder so fit, wie er vor dem Unfall war.
Dustin und Fynn gewannen ihr Doppel sehr souverän. Der Gegner hatte wohl keine richtige Lust mehr und entsprechend schnell war das zu Ende. Tim und Carlo kämpften hart, aber mussten in eine Niederlage einwilligen. Carlo war enttäuscht als der Matchball vorbei war. Tim legte seinen Arm um ihn und baute ihn wieder auf.
Das erstaunliche an dieser Situation war die Art und Weise, wie sich Tim um Carlo kümmerte. Ich hatte das Gefühl, die beiden waren wie Brüder. Tim blühte richtig auf, seit er seinen besten Freund wieder um sich hatte.
Ich entschied, allen einen freien Abend zu geben. Dustin und Fynn wollten sich allein ein wenig umsehen und dann früh schlafen gehen. Tim und Carlo wollten zusammen noch eine Runde schwimmen gehen im benachbarten Schwimmbad. Maxi fragte mich, ob ich nicht mit ins Kino kommen würde. Ich hatte allerdings bereits etwas anderes vor. Ich wollte mich mit MoNo treffen. Das war mein Lektor für meine Stories bei Nickstories. Ich verdankte ihm sehr viel. Er war derjenige, der für meine Entwicklung beim Schreiben verantwortlich war. Er hat mir durch seine Korrekturen sehr viele Dinge beigebracht und Ideen bei den Formulierungen gegeben. Das Besondere war, dass wir immer sehr ähnliche Vorstellungen hatten und manchmal sogar gleichzeitig dieselben Ideen entwickelten. Ich wollte ihn zum Essen einladen und ihn endlich persönlich kennenlernen. Dafür war heute Abend die beste Möglichkeit. Denn sobald der Haller Bus hier sein würde, hätte ich dafür kaum noch Zeit.
So klang der letzte Gruppenspieltag für uns alle sehr unterschiedlich aus. MoNo würde uns am morgigen Donnerstag in das Eisenbahnwunderland begleiten und sozusagen als ortskundiger Führer agieren.
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