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Achterbahn

Teil 5

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Seit ich den Erzeuger besucht habe, kann ich nicht mehr unbeschwert Boa hören. Das kotzt mich so an … ey, jetzt vermiest mir der blöde Versager sogar meine Lieblingsmusik! Allerdings ist mir klar geworden, warum Mom sofort schlechte Laune hatte, wenn Boa nur einen Tick zu laut war. Hätte sie mir ja auch mal früher sagen können. Überhaupt hätte sie mir so einiges früher sagen sollen, oder? Ich bin immer noch sauer, weil sie mir ihren Kontakt zu Crazy verschwiegen hat. Deswegen kann ich grad nicht mit ihr reden, also gehe ich in den Keller und krame mich ein bisschen durch alte Fotoalben. Klar hab ich die schon zigmal gesehen und ich weiß, dass es keine Bilder von Crazy gibt. Die Definition von Dummheit ist, ständig etwas zu wiederholen und ein anderes Ergebnis zu erwarten … oder wie heißt der Spruch?!

„Du suchst am falschen Platz“, ertönt Moms Stimme. Gleich darauf stellt sie einige Kisten beiseite, wühlt herum und holt einen Alien-Sex-Fiend-Pappkarton hervor.

Alien Sex Fiend?

Ich sehe sie fragend an, worauf sie die Schultern zuckt.

„Ich war nicht immer spießig und hab den Wendler gehört. Allerdings bin ich erwachsen geworden, als du kamst. Thomas nicht.“

In der Schachtel befinden sich uralte Kinokarten, Konzerttickets, eine Eintrittskarte vom Bizarre-Festival mit passenden Fotos dazu … ein Mädel mit schwarzen, geflochtenen Zöpfen, Stirnband und in Gothic-Klamotten lacht fröhlich in die Kamera, daneben eine jüngere Ausgabe von Crazy. Ich werd bekloppt … meine Mutter hat früher ausgesehen wie Siouxsie, bloß ohne Banshees.

„Weiß Paps, ich meine Leo, dass du …“

„Ein bisschen. Aber er konnte noch nie was mit Gothic anfangen.“ Sie nimmt mir ein Foto aus der Hand und lächelt. „Siouxsie war meine Heldin.“

„Fällt überhaupt nicht auf“, grinse ich, bin jedoch eine Sekunde später wieder ernst. „Und wieso hast du mir das nie erzählt?“

„Weil die Zeit vorbei ist. Vielleicht auch, weil manche Erinnerungen einfach zu weh tun.“

Sie legt das Foto zurück und gibt mir ein anderes. Mom als Siouxsie-Kopie, Crazy mit schwarzem Zopf und ausrasierten Seiten … in der Mitte ein Baby.

„Die perfekte, kleine Underground-Familie, mh? Die langweiligen, weißen Strampler hat Thomas damals selbst bemalt. Hier waren Sterne drauf, ein lachender Märchenmond, fliegende Untertassen … auf einen anderen hat er Linus mit seiner Schmusedecke gemalt. Und natürlich durfte ein Strampler mit Boa-Logo nicht fehlen.“

Na toll, meine Vorlieben wurden mir also quasi in die Wiege gelegt … von Crazy.

„Wieso hat er sich so viel Mühe gemacht, wenn er mich doch gar nicht wollte?“

„Das ist nicht so einfach …“, beginnt sie und zündet sich eine Zigarette an, was ein deutliches Zeichen dafür ist, dass sie nervös ist und unter Stress steht. „Ich hab das Gefühl, dass wir dieses Gespräch schon vor Jahren hätten führen sollen, aber … erst warst du zu klein, ich war zu verletzt, dann kam dieser Brief und… ich hatte Angst, dass du …“

„Dass ich sofort nach London abhaue, oder was?“

„Ich hatte Angst um dich. Dass du ihn kennenlernst und er plötzlich wieder aus deinem Leben verschwindet, dass er meine Familie zerstört … vielleicht hab ich falsch reagiert. Ich hatte die Geschichte mit ihm zu dem Zeitpunkt halt auch noch nicht geklärt.“

„Er ist abgehauen, weil wir ihm egal waren. Was gab es da groß zu klären?“

„Willst du wissen, was er gesagt hat, als er dich zum ersten Mal gesehen hat?“

„Wenn’s sein muss.“

„Oh, Fuck … ist der schön“, grinst sie.

Geht es nur mir so oder ist es normal, dass es einen peinlich berührt, wenn Eltern solche Wörter benutzen?

„Dann hat er dich im Arm gehalten, vor Rührung angefangen zu heulen und gebrabbelt wie unglaublich du bist, wie klein und süß und perfekt. Ich habe ihn selten so … wehrlos erlebt.“

„Und jetzt wird mir ganz warm ums Herz und ich werfe mich in seine Arme?“

Es ärgert mich total, dass meine Stimme zittert und sich ein fetter Kloß in meinem Hals gebildet hat.

„Es tut mir leid, Elias, ich habe bisher nicht viel dazu beigetragen, deine Meinung über Thomas ein wenig … gerade zu rücken. Du solltest ihm die Möglichkeit geben, dir zu erklären, warum er gegangen ist.“

 

Als Mom weg ist, lege ich alles in die Schachtel zurück, verstaue sie im Karton und stelle die Kisten wieder an ihren Platz. Das gruftige Familienfoto nehme ich mit in mein Zimmer.

Es fällt mir schwer, meine Gedanken und Gefühle zu ordnen. Logisch, nach allem, was ich im Keller erfahren habe. Okay, ich weiß jetzt vielleicht, dass Crazy mich nicht von Anfang an abgelehnt hat. Aber … ändert das irgendetwas? Er ist doch trotzdem abgehauen. Man lässt sein Kind nicht allein. Und wenn man aus welchen Gründen auch immer nicht zurechtkommt oder überfordert ist, holt man sich Hilfe. Dass er Mom möglicherweise nicht genug geliebt hat, um bei ihr zu bleiben, spielt keine Rolle. Ich meine, das kann ich verstehen und akzeptieren. Dagegen vier oder fünf Jahre völlig in der Versenkung zu verschwinden und plötzlich anzufangen, dem Sohn Karten zu schicken und irgendwann einen Brief zu schreiben … das finde ich reichlich seltsam. Gut, vielleicht ist ihm eines Tages aufgefallen, dass es nicht in Ordnung von ihm war … allerdings hat er dafür ein bisschen zu lange gebraucht, oder?

 

Ich muss hier raus, sonst platzt mir der Schädel. Und der einzige Mensch, den ich momentan in meiner Nähe aushalten kann, ist Marcel. Hey, was soll’s?! Wenn er solche Dinge mit sich herumschleppen müsste, wäre ich auch für ihn da, obwohl wir uns getrennt haben.

 

„Ach du meine Güte“, schüttelt er den Kopf, als ich ihm das Foto zeige, „kein Wunder, dass du so drauf bist … du hast die Gruftigkeit ja quasi schon mit der Muttermilch abbekommen. Wow … Jutta stand auf Siouxsie, mh?“

„Sieht so aus. Ich hab langsam das Gefühl, dass ich meine Mutter eigentlich gar nicht richtig kenne. Ehrlich, die ist mir grad mindestens genauso fremd wie mein Erzeuger.“

„Klar, würd mir nicht anders gehen.“

„Ich kann einfach nicht mehr“, behaupte ich weinerlich. „Ich hab’s satt ständig über diese Scheiße nachzudenken, ich …“

„Ja“, unterbricht er mich, „aber wenn du nichts unternimmst, wirst du diese Scheiße auch nie los, Eli.“

„Warum soll es gut für mich sein, Crazy nach den Gründen zu fragen? Was interessieren mich die? Ich bin kein Kind mehr, das unbedingt einen Vater braucht … es sollte mir egal sein.“

„Ist es aber eben nicht.“

„Das ist alles so anstrengend, ich … bin echt müde, verstehst du?“

Marcel nimmt mich in den Arm und kuschelt eine Weile mit mir. Das fühlt sich zwar gut an, allerdings …

„Das ist nicht fair“, entscheide ich und befreie mich aus seinem Griff. „Mit dir reden ist eine Sache, aber es geht einfach nicht, dass ich hier lustig mit dir schmuse und …“

„Na ja, lustig war’s wohl eher nicht, oder?“

„Du weißt, was ich meine. Ich hab mit Dante geschlafen, wir haben uns getrennt … wieso hasst du mich nicht?“

„Ich könnte jetzt irgendwas wahnsinnig Kluges sagen, um die Wahrheit zu verschleiern“, seufzt er.

„Und was ist die Wahrheit? Dass du mich doch hasst?“

„Leider nicht.“

„Ich sollte gehen“, sage ich und … gehe.


Es gibt eindeutig zu viele ungeklärte Beziehungen in meinem Leben. Dante, Crazy, Marcel, Mom, die mir ihre komplette Vergangenheit verschwiegen hat … würd mich nicht wundern, wenn Leo und Tine gleich auch noch ein paar Leichen ausm Keller zaubern. Jedenfalls ist es eigentlich höchste Zeit, mal aufzuräumen, also hab ich überlegt, mit dem Leichtesten anzufangen. Gute Idee, oder? Muss nur noch eben rauskriegen, was das Leichteste ist, verdammte Scheiße. Okay, vielleicht sollte ich mit dem Wichtigsten anfangen … das ist, da brauche ich nicht lange nachzudenken, Dante. Obwohl ich sauer bin und verletzt und ihn für seine Internetflirts und Fickdates verabscheue … er fehlt mir. Selbst wenn ich das Verliebtsein, das Ihn-Küssen-und-Umarmen-Wollen abziehe, vermisse ich ihn immer noch. So wie ich Tine vermissen würde, wenn sie nicht mehr da wäre. Schließlich hab ich Dante wirklich gern … ganz unabhängig vom Verliebtsein. So, da fängt schon die Schwierigkeit an. Weil ich das möglicherweise gar nicht trennen kann, denn ich war von der ersten Sekunde an in Dante verknallt. Mir vorzustellen, nur mit ihm befreundet zu sein, funktioniert nicht, weil ich ihn immer noch viel zu sehr küssen will.

Marcel ist ebenfalls wichtig. Aber seit er mir ungefähr gesagt hat, dass er mich noch liebt … hab ich schon wieder ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn nicht mehr liebe. Vielleicht hat Dante gar nicht mal Unrecht, wenn er diesen ganzen Liebeszirkus nicht mitmacht. Das ist doch alles ein riesengroßer Fuck!

Guten Tag, möchte irgendjemand sein Leben mit meinem tauschen?

 

Abends mache ich mich mit Magenschmerzen auf den Weg zu Dante.

Glücklicherweise öffnet er die Tür und nicht der blöde Mitbewohner, weil ich dem sofort eine reingehauen hätte. Einfach so.

Unglücklicherweise sieht Dante wie gewöhnlich irre hübsch aus. Und ein wenig überrascht.

„Es tut mir leid, dass ich dir die Sache mit Crazy verheimlicht habe. Lässt du mich rein?“

„Okay“, nickt er.

In seinem Zimmer weiß ich nicht, was ich sagen soll. Hab mein gesamtes Pulver bereits an der Tür verschossen und meine eine Gehirnhälfte, also die, die nicht für Dante toll finden verantwortlich ist, draußen gelassen.

„Wie sauer bist’n du noch?“, frage ich vorsichtig.

„Ich versteh’s halt nicht.“

„Mann, du hast permanent von ihm geschwärmt … wie cool er ist, wie sehr er sich um dich und deine Tattoo-Karriere kümmert und so … ich konnte es dir nicht sagen. Ich halte ihn nun mal nicht für cool und um mich hat er sich nie gekümmert.“

„Du hast ihm ja auch keine Chance gegeben.“

„Siehst du … genau das wollte ich vermeiden. Dass du versuchst, mich davon zu überzeugen, dass er ein total netter Kerl ist und ich ihn bloß richtig kennenlernen muss. Außerdem wollte ich dein Bild von ihm nicht kaputt machen.“

„Oder du wolltest warten, um deinen Trumpf geschickt ausspielen zu können.“

„Ist doch Blödsinn.“

„Ach ja? Warum dann gerade jetzt? Die ganze Zeit hast du die Klappe gehalten und kaum haben wir beide Stress, fällt dir dein Papi plötzlich wieder ein.“

„Das war Zufall.“

„Na klar.“

„Dante, es dreht sich nicht alles nur um dich“, zerstöre ich seine Phantasterei. „Du hast nicht das Geringste mit mir und meinem Vater zu tun.“

„Außer dass ich bei ihm arbeite und mit seinem Sohn ins Bett gegangen bin.“

„Hast du Angst, dass ich ihm das erzähle, oder was?“

„Wieso sollte ich?“

„Er würde dir in den Arsch treten?“, schlage ich vor.

„Crazy weiß, dass ich schwul bin. Und er hat damit so was von überhaupt kein Problem.“

„Das mag sein. Er weiß allerdings nicht, dass sein Sohn eine Schwuchtel ist und glaub mir, das ist was anderes.“

„Warum bist du dir so sicher? Du kennst ihn doch gar nicht. Meinst du, du kannst ihn besser einschätzen als ich? Außerdem würde er wohl eher seinem Schwuchtelsohn in den Arsch treten, wenn er so drauf wäre.“

Mist!

„Du … ähem … du hast ihm nichts gesagt, oder?“

„Natürlich nicht“, verdreht er die Augen. „Ist schließlich deine Angelegenheit. Er weiß momentan nur, dass wir uns kennen, weil ich deiner Freundin Würfelkirschen ans Wadenbein gestochen hab.“

„Und … hat er dir irgendwas erzählt?“

Dante schüttelt den Kopf. „Ganz wenig. Dass euer Verhältnis schwierig ist und dass das seine Schuld ist. Und er hofft, dass ihr euch irgendwann …“

„Warum zum Arsch hast du eigentlich seine schwangere Frau nie erwähnt?“, unterbreche ich ihn.

„Wenn ich gewusst hätte, dass Crazy dein Vater ist, hätte ich das bestimmt.“

„Dante, können wir …“

„Was?“

„Ich find’s blöd, wenn wir uns nicht sehen. Ich … hab nicht so viele Freunde.“

„Du hast mir auch gefehlt, Eli“, lächelt er.

Hm, ich bezweifle, dass ihm seine Internetsluttys dafür Zeit gelassen haben, aber ich greife nach jedem Strohhalm und glaube ihm.

„Würdest du … trotz allem … ich hätte doch gerne endlich meine Regenbogensterne.“

„Keine Ahnung, ob Crazy es zulässt, dass ich seinen Sohn tätowiere. Immerhin kann er das sehr, sehr viel besser.“

„Ich bestimme, wer mich tätowiert. Machst du’s oder nicht?“

Mir geht’s nämlich echt auf den Senkel, dass jede dahergelaufene Internetschlampe mit einem Tattoo von Dante angeben kann und denkt, sie sei deswegen was Besonderes. Nebenbei … Regenbogensterne sind ja wohl eh viel hübscher als kack Eiskristalle.

„In Ordnung. Hast du Samstag Zeit?“

Ui, das ist schon übermorgen. Na ja, was soll’s?!

„Ja, hab ich.“

„Dann komm um drei ins Studio.“

„Wie viel Geld soll ich mitbringen?“

„Eli …“, stöhnt er. „Sieh’s einfach als verspätetes Geburtstagsgeschenk. Und das hier …“, er kramt ein verpacktes Irgendwas hervor, „als Entschuldigung, weil ich mich an deinem Geburtstag nicht gemeldet habe.“

Die Entschuldigung besteht aus zwei T-Shirts. Eins mit Linus drauf und das andere ist sein Drop-Dead-Rabies-Shirt, das ich immer haben wollte, wenn er es getragen hat.

„Das eine ist zwar second hand, aber wenigstens frisch gewaschen.“

Verdammt!

„Wow, danke“, strahle ich und bin gleich noch ein bisschen verliebter. Ich meine, das ist doch wirklich süß von ihm, oder? Seine Internetschlampen kriegen so was bestimmt nicht.


So, ich hab mal lieber das Linus-Shirt angezogen. Es ist gut möglich, dass Crazy das Rabies-Shirt kennt und auf komische Gedanken kommt, wenn ich das auf einmal trage. Blöder Verfolgungswahn! Mir ist reichlich mulmig. Ausnahmsweise hat der Erzeuger eher wenig damit zu tun. Tine behauptet, dass tätowieren nicht übermäßig schmerzhaft ist, jedenfalls war es ihr unangenehmer, dass sie stundenlang ihr Bein verdrehen musste, was mir zum Glück erspart bleibt. Trotzdem. Ich kann eine totale Zimperliese sein. Was, wenn Dante anfängt und ich halte es nicht aus? Dann hab ich vielleicht einen halben Stern … wie beschissen würde das denn aussehen? Leider darf man sich vorher keinen Mut antrinken. Man darf auch keine blutverdünnenden Medikamente nehmen und man sollte gewaschen, ausgeruht und entspannt sein und vorher gegessen haben. Ich hab keinen Bissen runtergekriegt und bin alles andere als entspannt, aber frisch gewaschen. Und Mom wird mich wahrscheinlich killen, wenn ich nach Hause komme. Es ist nämlich so, dass die neun Sterne zwar nicht riesengroß, allerdings von der Armbeuge bis zum Handgelenk angeordnet werden … das ist reichlich Fläche.

 

Pünktlich um drei latsche ich ins Studio und versuche, nicht ängstlich zu wirken. Crazy unterhält sich mit einem bärtigen Rocker, der aussieht, als würde er in seiner Freizeit gerne Alkohol aus Stiefeln trinken.

„Hey, Elias“, grüßt der Erzeuger unangemessen fröhlich, „hab schon gehört, du kriegst heute deine Sterne.“

Unkomfortabel stelle ich mich neben den Stiefeltrinker.

„Sterne … wie süß“, lacht der Bärtige. „Vielleicht noch in eine Blumenranke eingearbeitet und Schmettis, die drumherum flattern, was?“

„Vergraul mir nicht die Kundschaft, Hardy. Es steht eben nicht jeder auf Totenköpfe, Flammen und nackte Weiber.“

Der Rocker hat eine nette Kollektion von geschmacklosen Motiven auf seinen Armen und mustert mich neugierig.

„Das ist er also … na, die Schönheit hat er offenbar von seiner Mutter geerbt. Glück gehabt, Kleiner. Wie geht’s Jutta denn?“, fragt er und ich könnte nicht geschockter sein. Obwohl … seit Mom früher ein Gothic-Mädel war, traue ich ihr alles zu, sogar, dass sie mit Stiefeltrinkern verkehrte.

„Äh … gut.“

„Hey, Eli.“

Endlich! Dante nimmt mich mit nach hinten. In einen hell gestrichenen Raum mit Schachbrettmusterboden. An einer Wand hängt ein großer, silbergerahmter Spiegel, um den aufgemalte Flammen herumzüngeln. Ungefähr davor stehen eine Lederliege und ein Stuhl, auf den ich mich setzen darf, so’n Dings, wo ich meinen Arm drauflege, ein Rollhocker daneben und eine lange Arbeitsfläche mit diversem Tattoo-Gedöns an der Wand. Übrigens merkt man sofort, dass das hier Dantes Arbeitsraum ist … im Gegensatz zu seinem Boss hat er es offensichtlich total nötig, Bilder von seinen Tattoos an die Wände zu pinnen. Na, wer weiß … vielleicht sieht es in Crazys und Giannis Arbeitsbereich genauso aus.

Okay, also hygienisch geht’s hier schon mal zu, denn egal, was Dante macht, er trägt Handschuhe und alles wird ausreichend desinfiziert und ein kleines Tischchen zusätzlich mit Folie abgedeckt. Na ja, all das hat er bei Tine in seiner Küche logischerweise auch gemacht … schließlich ist Dante kein zwielichtiger Hinterhoftätowierer.

„Wofür ist denn das Gummi?“, frage ich, als er seine Maschine zusammenbaut.

„Das … hält es fest“, zuckt er die Schultern. Danach schmiert er einen Streifen Vaseline auf den Tisch, verteilt kleine Töpfchen darauf und füllt die verschiedenen Farben hinein, legt eine Menge Küchenrollepapier dazu, setzt sich auf den Hocker und hantiert an meinem Arm. Desinfiziert, rasiert, sprüht übel riechendes Zeugs auf, pappt die Vorlagen drauf, zieht das Papier ab und meine Sterne sind da.

„Ist das okay so? Jetzt können wir noch was ändern.“

„Alles richtig“, lächele ich unsicher.

„Was?“

„Ich hab’n bisschen Angst, dass es sehr weh tut.“

„Du gewöhnst dich an den Schmerz. Aber wenn’s dir zu viel wird, sag Bescheid, dann machen wir eine Pause. Kein Problem.“

Au weia, die Maschine macht ein Geräusch, das irgendwie ekelhaft ist.

„Kann’s losgehen?“

Ich nicke beklommen und bei der ersten schwarzen Line entschlüpft mir dann auch tatsächlich ein überraschtes „Au“. Nach dem zweiten Stern komme ich einigermaßen klar.

„Am Handgelenk wird’s wahrscheinlich noch mal etwas mehr wehtun“, erklärt Dante.

Ich lenke mich einfach ab, indem ich ihn beobachte. Diesem hübschen Kerl dabei zuzuschauen, wie er die Nadeln in die Farbe taucht, meine Haut spannt, die überschüssige Farbe abwischt und so total konzentriert wirkt … irgendwie hat das was. Und zwar etwas sehr Aufregendes, Verwegenes … mmhh… es kickt einfach. Das ist mir bereits aufgefallen, als er Tine tätowiert hat. Vielleicht bin ich nicht bloß Armlecker, sondern hab auch noch einen Nadel-Fetisch oder so was?

Übrigens, der unterste Stern am Handgelenk schmerzt wirklich wie die Hölle.

Als die Outlines fertig sind, krieg ich eine kurze Pause, weil Dante zum Ausfüllen andere Nadeln und eine andere Maschine nimmt. Crazy schaut sich prüfend meinen Arm an und findet die Sterne perfekt.

„Eigentlich macht er das nur noch, wenn ich was Größeres mit viel Schattierungen und so’n Gedöns habe“, grinst Dante. „Ich hab vorgestern einem Mädchen so Rihanna-Sternchen in den Nacken gestochen, da kam er nicht ein einziges Mal rein, um zu kucken. Hey, geht’s dir noch gut?“

„Okay.“

„Aus Erfahrung kann ich dir sagen, dass das Ausfüllen echt easy ist. Tut kaum weh.“

In der Tat. Bloß der türkise Stern macht Zicken. Fängt auf einmal an zu bluten und die Farbe … au je, sieht eher nach vergammelter Wurstscheibe aus.

„Das Mint ist total kacke zu stechen“, murmelt Dante und wendet sich an Crazy, der grad wieder auftauchte. „Kuck mal, man sieht irgendwie kaum, wo man schon gewesen ist.“

„Das blutet auch jetzt zu viel“, beschließt er. „Besser, du arbeitest den Stern in ein paar Wochen nach, nützt ja nix, die Haut noch weiter zu reizen. Du riskierst bloß Narben, wenn du hundertmal über die gleiche Stelle gehst.“

Der Chef hat gesprochen. Mein Arm wird gesäubert, ich darf mein neues Tattoo im Spiegel bewundern, bekomme Vaseline drauf geschmiert und Folie drüber. Fertig.

„Und …“, fragt Crazy, „war’s so schlimm, wie du es dir vorgestellt hast?“

„Na ja.“

„Und die Hauptsache … gefällt’s dir?“

„Ja, total“, strahle ich und glotze hingerissen auf meine Sterne. Wirklich, ich finde sie … ultra super mega chic.

„Sieht auch wirklich cool aus, schön bunt“, nickt Crazy. „Komm mit nach vorne, dann gebe ich dir einen Zettel mit Pflegehinweisen. Hat Dante dir schon erklärt, was du zu machen hast?“

„Nee. Nur, dass ich eine Panthenolsalbe kaufen soll.“

 

Vorne händigt Crazy mir besagten Zettel aus und erzählt ausführlich, wann ich die Folie entfernen soll, was ich die nächste Zeit zu tun und zu lassen hab, was mit meiner Haut passieren wird, dass ich auf überhaupt gar keinen Fall kratzen darf, wenn es juckt, dass ich die Haut nicht abknibbeln darf, weil sonst die Farbe rausgehen könnte … Mann, das steht doch alles auf dem Blatt. Was soll’s?! Er ist halt professionell und sicher gibt es einige Experten, die trotz Pflegeanleitung irgendwas falsch machen und ihr scheiß Tattoo dann auf den Tätowierer schieben.

„Und sag Jutta bitte, dass ich dich zu nichts überredet habe, ja?“

„Hast du Angst, dass sie herkommt und dich verprügelt?“

„Weiß nicht … sie kann sehr … temperamentvoll sein.“

„Ach ja?“

„Allerdings. Sie war mal so sauer auf mich, dass sie quasi über Nacht das Türschloss ausgewechselt und meine Klamotten auf die Straße geschmissen hat. Ich kam grad von ’nem

Festival, wollte nur noch duschen und danach pennen … und dann das.“

„Wieso kamst du allein von einem Festival? Mom hat mir Fotos gezeigt, auf denen ihr zusammen…“

„Jutta war zu der Zeit schwanger“, erklärt er und wirkt so, als sei es ihm unangenehm, darüber zu sprechen, „ich bin mit Hardy hingefahren. Das ist der Typ, der …“

„Du hast dich also auch während der Schwangerschaft nicht um deine Freundin gekümmert“, stelle ich fest.

„Doch, eigentlich schon. Aber auf’m Bizarre hat Boa gespielt, da musste ich hin.“

Verdammter Kack … das verstehe ich sogar. Und ich beneide ihn.

„Boa live ist bestimmt toll.“

„Absolut. Ich find’s gut, dass du wenigstens ein bisschen von meinem Musikgeschmack geerbt hast“, lächelt er.

„Ich hab deine CD gefunden und gedacht, dass sie Mom gehörte.“

„Deine Mutter stand auf …“

„Ich weiß“, unterbreche ich ihn, „aber da wusste ich das halt noch nicht.“

Es ist wirklich ein komisches Gefühl … ich meine, ich rede grad mit meinem Vater über Musik und Festivals, als wären wir die besten Freunde. Glücklicherweise kommt Dante von hinten angedackelt, greift vorsichtig nach meinem Arm und grinst zufrieden.

„Die sind echt so was von perfekt geworden ... ich könnte mir stundenlang selbst auf die Schulter klopfen.“

„Ja, Engelchen“, bestätigt Crazy und tätschelt ihm den Kopf, „hast du ganz toll gemacht.“

„Ich muss jetzt los“, beschließe ich und befreie meinen Arm aus Dantes Griff.

„Soll ich dich fahren?“

„Nee, mein Fahrrad steht draußen.“

„Meld dich, wenn irgendwas ist“, sagt Crazy.

„Okay. Bis … dann.“


Mom war natürlich auf hundertachtzig, als sie die Sterne gesehen hat. Dass die nicht vom Erzeuger, sondern von Dante gestochen wurden, hat sie nicht unbedingt runtergebracht. Sie beruhigte sich erst etwas, als Leo meinte, dass man nichts sieht, wenn ich lange Ärmel trage.

Tine findet meine Sterne absolut phantastisch und Dante ruft mich ungefähr jeden Tag kurz an, um zu fragen, ob alles in Ordnung ist. Ich wasche und creme, kratze aber nicht, obwohl es nach einigen Tagen juckt wie sau und die Haut anfängt zu pellen. Vier Wochen später krieg ich den türkisen Stern nachgestochen und der ganze Spaß fängt von vorne an. Bloß, dass Dante nicht mehr jeden Tag anruft … das übernimmt Marcel. Also nicht jeden Tag, aber dennoch ein bisschen zu oft. Das würde mich eigentlich nicht stören, wenn da dieses Gefühl nicht wäre, dass er offenbar glaubt, aus uns könnte vielleicht noch mal was werden. Ständig will er über unsere Beziehung reden … was falsch gelaufen ist, warum ich mich plötzlich neu verliebt habe, warum ich ihm nicht gesagt habe, dass mir irgendwas nicht gepasst hat und so weiter. Das ist wahnsinnig anstrengend, weil ich über so was echt nicht mehr nachdenken will. Bringt ja wohl auch nix, oder?

Mit Crazy kann ich mich inzwischen ganz gut über allgemeinen Kram unterhalten. Jedenfalls wenn ich für diese Momente die Vergangenheit ausblende. Vielleicht muss man doch nicht andauernd zwanghaft irgendeinen Scheiß aufarbeiten. Ich meine, ich komme klar, so wie es läuft. Schließlich hasse ich ihn nicht mehr, sondern nehme ihn als gegeben hin, wenn ich Dante im Studio besuche. Leider denkt Crazy vermutlich, dass ich seinetwegen da bin, er weiß nämlich immer noch nicht, dass Dante eine Zeit lang mit mir ins Bett gegangen ist. Und weil er das auch weiterhin nicht wissen soll, quatsche ich halt alibihalber mit Crazy und tue, als würde mich interessieren, dass das Baby bald kommt. Na ja, irgendwie interessiert’s mich schon, die kleine Halbschwester kann ja nichts dafür, dass ihr Vater ein Drecksack ist. Deswegen hab ich beschlossen, ihr eine Chance zu geben … wenn sie dann endlich mal da ist. Mitte Januar soll’s so weit sein, was nicht mehr allzu lange dauert. Crazy will, dass sie Pia heißt … wegen Pia Lund … aber Lola gefällt der Name nicht und ich glaube, dass sie ziemlich die Hosen anhat. Also wird die Halbschwester voraussichtlich Lucille heißen.

Ich frage mich, warum Mom keine weiteren Kinder wollte. Leo hätte bestimmt gerne ein eignes Kind gehabt und wäre auch bei ihr geblieben. Komisch, worüber man sich auf einmal Gedanken macht.

Über Dante mache ich mir ebenfalls Gedanken … was für eine Überraschung. Er benimmt sich mir gegenüber völlig normal, wir verstehen uns eigentlich total gut und genau das nervt. Weil ich jetzt wieder am Anfang bin. Freunde ja, Sex nein. Ich schmachte ihn an und er ignoriert es. Natürlich, er hat ja seine Felixe und Internetschlampen zum Ficken. Die sind sicher unkomplizierter und unverliebter als ich. Okay, Sex ist nicht alles. Es ist eher die Tatsache, dass er nicht mal mehr mit mir flirtet, mich nicht umarmt, nicht küsst. All das könnte ich sicher problemlos bei Marcel kriegen. Ich sag’s ja: Ich stehe irgendwie wieder am Anfang!

 

Heute hat Dante frei und keine anderweitigen Verabredungen, weswegen ich ihn besuchen darf. Mein Unterarm ist immer noch eine Art Hauptattraktion, er wird von Dante gefühlte zwei Stunden lang kritisch begutachtet.

„Das Mint ist echt geil“, schwärmt er. „Ich war ja erst nicht so überzeugt von einem türkisfarbenen Stern, aber … wow, der sieht sogar am besten aus.“

„Ja“, schnaufe ich und entziehe ihm genervt meinen Arm.

Dass Dante bei den mittlerweile arktischen Temperaturen auch weiterhin T-Shirts trägt, ist mir unbegreiflich. Ich friere allein beim Anblick seiner nackigen Arme. Na ja, ein bisschen möchte ich auch lecken, aber wahrscheinlich ist der Zug endgültig abgefahren.

„Was ist? Gefallen sie dir nicht mehr?“

„Doch“, antworte ich und tätschele ihm den Kopf. „Hast du ganz toll gemacht, Engelchen.“

„Auch wenn du es nicht gerne hörst, Eli, du erinnerst mich manchmal sehr an deinen Vater.“

Stimmt. So was möchte ich nicht hören! Also wechsele ich das Thema und frage nach seiner Mutter. Irgendwie hat er lange nichts erzählt.

„Marlene hat sich von ihrem jugendlichen Liebhaber getrennt … er wollte plötzlich doch kein Baby. Mal ehrlich, ich hatte schon so eine Ahnung, dass es Gabor hauptsächlich darum ging, ihr einen Gefallen zu tun. Glücklicherweise ist er früh genug zu Verstand gekommen.“

„Dann ist das Babythema erledigt?“

„Erst mal. Marlene verarbeitet ihre Wut und Enttäuschung in ihren Bildern. Außerdem kommt

jetzt zweimal die Woche ein Yogalehrer ins Haus, der sie von irgendwelchen Blockaden befreien und ihre Chakren öffnen soll. Die Frau hat einen Sprung in der Schüssel.“

„Yoga ist vielleicht gar nicht so verkehrt … wenn man den ganzen esoterischen Scheiß weglässt“, behaupte ich vorsichtig.

„Ja, allerdings schwimmt Marlene leider völlig auf der Esoterikwelle.“

„Besser das, als noch ein Kind, das bei ihr aufwachsen muss.“

„Sehr richtig. Dass ich mich unter den Umständen so normal entwickelt habe, ist wohl kaum ihr Verdienst.“

Normal entwickelt? Würde ich so nicht unterschreiben. Einen Beziehungsphobiker, der zwanghaft rumfickt, kann man schwer als normal bezeichnen. Ich bin wirklich der Meinung, dass Herr Engels, was das betrifft, einen ziemlichen Dachschaden hat. Tine würde sagen, dass das wieder nur eine blöd-romantische Entschuldigung für Dantes arschiges Verhalten ist.

Möglicherweise hat sie recht.

Dante plaudert ein bisschen über die Band und dass Crazy total glücklich ist, weil ich ihn in letzter Zeit so oft besuche. Selbstverständlich tue ich vor Dante so, als würde ich deswegen ins Studio kommen. Der soll mal lieber nicht denken, dass ich ihn ständig sehen will … der hat eh schon ein Selbstbewusstsein am Leib, das gefährlich ans Ekelhafte grenzt. Tja, und dann erzählt er ungeniert, dass am Wochenende ein Typ kommt, den er ausm Internet kennt, um sich von ihm tätowieren zu lassen. Supi, so ’ne Info brauch ich grad noch! Das ist nämlich bestimmt irgendeine Schlampe, mit der er ins Bett gehen wird. Ich verabschiede mich niedergeschmettert und finde, ich sollte mich dringend neu verlieben.


Okay, neu verliebt hab ich mich nicht, dafür aber mit Marcel geschlafen. Wie mir das passieren konnte, ist mir selbst schleierhaft. Es fing auch alles ganz harmlos an. Und zwar Samstag. Da konnte ich es natürlich nicht lassen und musste unbedingt hinter Dante herschnüffeln. Als ich das halbnackte Profilbild von seinem Besuch gesehen hatte, war mir klar, dass er auf jeden Fall mit dem Typen ins Bett gehen würde. Das war ein sehr abscheulicher Gedanke, vor allem, weil Dante mit mir offensichtlich nicht mehr ins Bett gehen will … kurz gesagt, ich hab’s allein Zuhause nicht mehr ausgehalten und bin deshalb zu Marcel gefahren. Erst haben wir nur geredet und … irgendwie hab ich mich im Laufe des Abends vielleicht ein bisschen zu wohl gefühlt mit ihm, bei ihm, in seinen Armen. Und als er seine Verführungsaktion gestartet hat, war es mir unmöglich, nein zu sagen. Ich fand’s einfach schön, für jemanden so begehrenswert zu sein. Leider war’s danach nicht mehr so schön, weil ich erstens das total behämmerte Gefühl hatte, Dante betrogen zu haben, und zweitens möchte ich nicht auf einmal wieder mit Marcel zusammen sein, bloß weil wir Sex hatten. Es ist aber durchaus zu befürchten, dass er die Sache komplett anders sieht. Also ist da noch ein Gespräch fällig, das ich selbstverständlich vor mir herschiebe, weil mir sein enttäuschter, trauriger Blick, den er mit Sicherheit haben wird, jetzt schon auf den Sack geht. Es ist ja nicht so, dass ich ihm absichtlich weh tun will … verdammt, was für ein beschissenes Chaos! Als wäre alles noch nicht beschissen genug, hat mein Exfreund offenbar sofort Tine angerufen und ihr brühwarm erzählt, dass wir Sex hatten, weswegen Tine jetzt zur Abwechslung mal wieder sauer auf mich ist, weil … Marcel sich irgendwas zusammenphantasiert und … klar, es ist alles meine Schuld. Am besten ich ziehe demnächst in eine Höhle am Arsch der Welt, da kann ich wenigstens keinen Schaden anrichten.

 

Im Jugendzentrum hab ich die ganze Zeit nach verräterischen Spuren an Dante gesucht, konnte jedoch weder Knutschflecke noch sonst was finden. Unnötig zu erwähnen, dass ich mir ultra blöd vorkam, oder? Nur weil sein Hals knutschfleckfrei ist, bedeutet das noch lange nicht, dass mit seinem Besuch nichts gelaufen ist. Fragen konnte ich ihn ja schlecht. Ich weiß nur, dass das Tätowieren wohl etwas anstrengend war, weil, aus welchen Gründen auch immer, die Farbe nicht in die Haut wollte. Deshalb wird Andy in zwei, drei Wochen nochmal gestochen … und vermutlich wieder bei Dante übernachten.

Übrigens gab es eine ziemliche Überraschung. Blondie scheint inzwischen einen Freund zu haben. Jedenfalls knutschte er ausgiebig mit einem punkigen Typen rum und würdigte Dante keines Blickes. Ey, das darf doch nicht wahr sein. So’n kleiner, sechzehnjähriger Blondie hat’s endlich gerafft und ich hoffe nach einem Jahr immer noch, dass Dante eines Tages erkennt, dass ich die Liebe seines Lebens bin? Meine Güte, mir ist echt nicht mehr zu helfen!


Weihnachten ohne Marcel war verdammt mies. Seit ich mich dazu durchgerungen habe, ihm zu sagen, dass die Nacht mit ihm zwar schön war, aber nichts weiter zu bedeuten hatte, herrscht absolute Funkstille zwischen uns. Er fühlt sich verarscht und ausgenutzt. Gut genug, um meinen Psychoschrott bei ihm abzuladen und es mit ihm zu treiben, wenn ich’s grad brauche und sonst keiner da ist … das waren seine Worte. Dass er mich an dem Abend volle Kanne verführt hat, ist ihm wohl spontan entfallen. Und dafür, dass er sich mehr erhofft hat, kann ich doch nichts. Soll ich vielleicht aus Mitleid mit ihm zusammen sein? Au weia … ich fange schon an, wie Dante zu argumentieren.

Ach ja, der ist übrigens über Weihnachten und Silvester zu irgendwelchen Leuten gefahren, die ich nicht kenne und von denen er noch nie was erzählt hat. Und warum? Weil er Weihnachten verabscheut. Alle Gelegenheiten, bei denen man quasi auf Knopfdruck fröhlich oder besinnlich oder weiß der Fuchs was sein muss, sind ihm zuwider. Er sagt, dass er sich an Heilig Abend traditionell besäuft (mit eben jenen Leuten, die ich nicht kenne) und sich bis auf die Knochen blamiert. Mann, in meinem Alter so was zu sagen und zu tun mag ja noch irgendwie als niedlich und cool durchgehen, aber Dante ist siebenundzwanzig! Du großer Gott, sollte er nicht langsam mal erwachsen werden?

Ich hab jedenfalls überhaupt gar nichts gegen Weihnachten … nur das letzte war halt unschön. Silvester verbrachte ich mit Tine, Patti und seinen Metalfreunden. Das war nicht wahnsinnig toll, aber wenigstens musste ich nicht allein in meinem Zimmer mit mir selbst aufs neue Jahr anstoßen.

 

Inzwischen hat Herr Engels blau-violette Haare und ist auf die glorreich bescheuerte Idee gekommen, sein linkes Ohrloch zu dehnen. Jetzt hat er da einen Expander drin, der aussieht wie ein Mini-Elefantenstoßzahn. Ich finde das ausgesprochen hässlich, was ich ihm auch soeben mitteilte.

„Du musst es ja nicht tragen“, ist seine Antwort.

Nee, aber ich muss ständig da draufgucken.

„Wie weit willst du’s denn haben? So, dass du einen Autoreifen einsetzen kannst?“

„Bist du schlecht gelaunt?“

„Überhaupt nicht“, lüge ich.

Seit gefühlten fünf Stunden hänge ich schon bei ihm rum und hab nicht mal einen einzigen Kuss bekommen … in Wirklichkeit ist es allerdings erst eine knappe Stunde. Trotzdem. Bis auf den Stoßzahn im Ohr sieht er dermaßen gut aus, dass ich ihm ins Gesicht schlagen möchte … alleine wie er auf seinem Stuhl fläzt, die Füße lässig auf den Schreibtisch gelegt … ätzend. Wäre ich Felix oder eine andere Internetschlampe, würde er längst auf mir liegen.

Oh, dreimal dürft ihr raten, wer ihn auf die Dehnungsidee gebracht hat. Jawoll, Felix. Ich hasse diesen Typen abgrundtief. Der soll, verdammte Scheiße nochmal, seine Griffel und Expander von ihm lassen! Als würde das noch nicht reichen, fliegt in Dantes Zimmer überall Zeugs von der Emopissnelke herum. CDs, Feuerzeuge, Armbänder … Kleinscheiß, den er immer wieder mal hier vergessen hat … ein T-Shirt, ein Sternchenschal. Wie kann man denn bitte sein T-Shirt irgendwo vergessen? Und wieso kann Dante das Zeug nicht wegräumen, bevor ich herkomme?

„Dann mach gefälligst ein fröhlicheres Gesicht“, fordert er.

Klar, ich kann mir auch eine Felix-Maske aufsetzen, wenn dir meine Visage nicht passt, dämlicher Fickfrosch!

„Zwinge ich dich vielleicht dazu, deine Haare wieder schwarz und rot zu färben, bloß weil mir das Blau nicht gefällt?“

„Echt? Felix sagt, dass das geil aussieht. Ich find’s eigentlich auch gut.“

„Dann leidet ihr beide an Geschmacksverirrung“, zicke ich.

„Crazy ist schon super aufgeregt“, wechselt er das Thema, „weil er bald Vater wird.“

Wow, der hat gesessen!

„So langsam wird’s auch Zeit. Lolas Bauch ist gigantisch“, schmettere ich seinen Versuch, mir eins reinzuwürgen, ab. „Muss irre anstrengend sein, damit rumzulaufen.“

„Ich glaube, sie ist eher genervt, weil Crazy ein wenig überfürsorglich ist. Mann, und du hättest ihn erleben müssen, als er zum ersten Mal fühlen durfte, wie das Baby in Mamis Bauch umherkickt … entschuldige, ist das irgendwie doof für dich?“

„Nein, ich habe momentan andere Probleme.“

„Deshalb deine schlechte Laune. Was’n los?“

„Ich hab mit Marcel geschlafen“, erkläre ich.

„Na und?“

Der macht mir nichts vor. Er ist überrascht.

„Äh … heißt das, ihr seid wieder zusammen?“

„Wohl kaum.“

„Aber?“

„Na ja … der Sex war halt unglaublich“, denke ich mir aus.

„Also willst du doch wieder mit ihm zusammen sein.“

„Aha?“

„Eli, ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du nicht mal eben so mit jemandem Sex hast.“

„Menschen ändern sich“, behaupte ich. „Bei ihm hat sich, was das angeht, ungefähr alles geändert. Er war sonst immer eher ...“

„Langweilig, mh?“, zwinkert er bescheuert.

„Mit Marcel war es nie langweilig.“

„Deswegen bist du fremdgegangen“, entgegnet er.

„Er war zurückhaltend. Und das hat sich vollkommen geändert.“

„Du bist ’ne kleine, geile Schlampe, die heftig rangenommen werden will“, zuckt er die Schultern. „Das hab ich von Anfang an gewusst.“

Ey, jetzt reicht’s mir aber! Ich stehe auf, lehne mich gegen den Schreibtisch, sehe ihn an und hole zum Schlag aus.

„Nein, nein, nein, Dante … du warst die kleine Schlampe. Und zwar immer dann, wenn du für mich den Mund aufgemacht und schön brav alles geschluckt hast“, lächele ich ein bisschen gemein.

Shit, dass ich das mal erleben darf … Dante glotzt mich zwei Sekunden lang an, dann angestrengt im Zimmer umher, als würde er dringend etwas suchen, offenbar um zu überspielen, dass seine Selbstsicherheit gerade ziemlich den Bach runtergegangen ist. Seine Wangen erstrahlen in einem zarten Rot und er strubbelt verlegen durch seine Haare. Jetzt tut’s mir fast leid, dass ich das gesagt habe. Ich hätte nicht gedacht, dass ihn der Spruch SO aus dem Konzept bringen würde.

„Das Blau wäscht sich total schnell raus…“, er knibbelt an seinen Fingern, „und färbt ab wie sau.“

Und irgendwie ist es auch nicht gerade toll, ihn so hilflos zu sehen. Seine Coolness, seine Lässigkeit … alles weg. Seufzend stoße ich mit der Hand kurz gegen sein Bein, worauf er die Füße vom Schreibtisch nimmt, ich mich auf seinen Schoß setze, meine Arme um ihn schlinge und mich an ihn schmiege. Seine Hände streicheln über meinen Rücken.

„Ey, du bist ja auf einmal so verschmust“, schnurrt er leise.

„Schlimm?“, frage ich.

„Total.“

Einige Sekunden lasse ich meine Lippen über seinen warmen Hals gleiten, dann stehe ich auf, greife nach seiner Hand und wir legen uns aufs Bett. Ich schließe meine Augen und küsse ihn.

Ganz langsam und sanft. Mmhhh… das scheint ihm zu gefallen. Was danach kommt, ist überraschend anders als sonst. Kein niedlich versautes, wildes Rumficken, sondern romantisch und kuschelig und zuckersüß. Vielleicht, bestimmt sogar, wollte er mir nur beweisen, dass er so was auch kann. Egal, mir schwirrt gehörig der Schädel als ich hinterher in seinen Armen liege.

„Ich hab lange nicht gespürt, dass du mich willst.“

„Ich hab lange nicht mehr gespürt, dass du mich noch willst“, gebe ich zurück.

Dante lächelt gequält. „Eli, das letzte Mal, als ich dich wollte, bist du kotzen gegangen. Und wir wissen beide, dass es kein Virus war.“

„Es war nicht einfach“, gebe ich zu, „aber … jetzt ist es okay. Wirklich.“

Klar, ist das gelogen. Hab ich eine andere Wahl, wenn ich ihn nicht verlieren möchte?

Möglicherweise komme ich ja irgendwann damit zurecht, dass ich nicht der Einzige bin. Wenn ich keine Angst haben muss, dass er mich für wen auch immer abschießt, geht das sicher.


Ich hab gedacht, mein bisher einfaches Leben sei mit Dantes Auftauchen anstrengend und schrecklich genug geworden. Das war ein Irrtum. Lucille ist, pünktlich wie die Maurer, Mitte Januar auf die Welt gekommen und ich möchte mich von oben bis unten bekotzen. Nicht wegen der kleinen Halbschwester, die ist super. Aber wenn ich mit ansehen muss, wie stolz mein Vater sein Baby im Arm hält … das macht mir was aus. Weil ich mir eben doch wieder blöde Fragen stelle. Warum konnte er mit mir nicht so süß und liebevoll umgehen? Beziehungsweise, warum wollte er es auf einmal nicht mehr? Vielleicht war ich ein total nerviges Schreibaby … allerdings hat Mom so was niemals erwähnt. Im Gegenteil. Sie sagt, ich wäre echt pflegeleicht gewesen. Mann, und das Kinderzimmer wurde selbstverständlich komplett neu eingerichtet, während Mom sich die gesamte Babyausstattung second hand zusammensuchen musste. Na ja, aber Crazy verdient heute natürlich wesentlich mehr Geld als damals.

Mom darf ich mit dem Thema Halbschwester übrigens nicht kommen. Mich beschleicht der Verdacht, dass sie Crazy immer noch heimlich liebt. Oder sie ist beleidigt, weil er beim zweiten Kind alles auf die Reihe zu kriegen scheint. Kann man ihr das verübeln? Ich weiß, dass es für sie verdammt schwer war … mit Kind, ohne Job, ohne Geld, ohne Mann. Ihre Eltern wollten sich wohl auch nicht kümmern. Ich hab die Leute jedenfalls nie kennengelernt. Um wenigstens halbwegs über die Runden zu kommen, ist sie putzen gegangen und hat mich in der Zeit bei der Nachbarin geparkt. Entspannt hat sich unsere Lage erst, als Crazy dann regelmäßig für mich zahlte. Und als Leo kam. Wenn ich über all das nachdenke, hasse ich den Erzeuger wieder leidenschaftlich. Ich meine, … wie soll man so was verzeihen? Er ist abgehauen und hat sich ein schönes Leben gemacht, während Mom zusehen musste, dass sie mich satt kriegt.

Dante mit Lucy zu sehen, ist noch mal eine Ecke heftiger, weil das gnadenlos toll ist und ich verliebt bin bis zum Fuß. Verwegene, tätowierte Emopunks mit Babys sind vermutlich genauso süß wie verwegene, tätowierte Emopunks mit kleinen Katzen oder Hunden. Oder mit Drachen … Dante steht bekanntlich auf die schuppigen Viecher und wenn’s die in echt gäbe, hätte er sicher eins Zuhause. Wen er tatsächlich Zuhause hat, ist Felix. Und zwar dieses Wochenende. Ich gehe bereits Freitagabend am Stock und habe fiese Herzschmerzen. Wieso muss die Pissnelke immer gleich tagelang bleiben? Und wie oft wird Dante den Penner flachlegen? Ich versuche, mich abzulenken, aber das klappt nicht so besonders. Na gut, Samstagabend im Jugendzentrum funktioniert das ganz gut. Da spielt Pattis Metalband und die ohrenbetäubende Kackmusik lässt mir keine Chance, an irgendetwas zu denken. Manchmal frage ich mich, wie Tine es geschafft hat, sich in Patti zu verlieben. Die steht nämlich kein bisschen auf Metal. Allerdings ist Patti echt niedlich … nicht wenn er headbangend auf irgendeiner Bühne steht, aber im normalen Leben. Ich beneide Tine um ihre fucking perfekte Beziehung. Klar, fliegen da auch mal die Fetzen, allerdings vögeln die beiden nicht mit anderen Leuten rum. Außerdem ist Patti, im Gegensatz zu den Typen, die Tine sonst so angeschleppt hat, nett, lustig und vor allem gescheit.

 

Sonntagnachmittag, mir geistern grad die grässlichsten Bilder von Dante und Felix durch den Schädel, klingelt’s auf einmal. Keine Ahnung, wer da was will und eigentlich fühle ich mich auch nicht danach, Besuch zu empfangen, aber ich öffne trotzdem. Und bin sehr erstaunt.

„Was willst’n du hier?“

„Coole Begrüßung“, schnauft Dante.

Er sieht gut aus und ich trage Gammelklamotten. Großartig.

„Entschuldige, aber … ist dein Ohrlochdehner nicht da?“

Ich glotze kurz nach draußen, um zu überprüfen, ob die Pissnelke irgendwo in der Gegend rumsteht. Scheint nicht der Fall zu sein.

„Müssen wir das an der Tür besprechen?“, fragt er und latscht einfach nach oben.

In meinem Zimmer zieht Dante die Jacke aus und wirft sich aufs Bett. Erwähnte ich schon, dass er unglaublich gut aussieht und mir meine ausgeleierte, schwarze Jogginghose, das nicht besonders frisch gewaschene Vampire-Shirt und meine ungestylten Haare etwas peinlich sind?

„Du hast mir immer noch nicht gesagt …“

„Meine Güte“, unterbricht er mich, „darf ich dich nicht mehr besuchen oder was?“

„Also ist Felix weg.“

„Der ist schon seit gestern Abend weg“, erklärt er.

„Wieso … habt ihr gestritten?“, frage ich hoffnungsvoll.

Dante blickt mich an. „Nee, er hat in der Villa einen Typen aufgerissen.“

„Er hat dich … abgeschossen?“

„Du hast den Typen nicht gesehen. Für den hätte ich mich auch stehen lassen“, grinst er.

„Ich wäre bei dir geblieben“, sage ich ohne nachzudenken.

„Du bist ja auch süß.“

„Und Felix ist jetzt nicht mehr süß?“

„Doch“, seufzt er, „aber irgendwie auch manchmal anstrengend, weil … Felix ist eigentlich nicht so der passive Typ, also geht’s hauptsächlich darum, wer gewinnt. Ist ein ganz nettes Spiel, allerdings verliere ich nicht gerne.“

Oh, wow … zu viele Informationen. Viel zu viele!

„Hast du bei ihm denn mal verloren?“

Shit, ich kann’s einfach nicht lassen.

„Ja, so ein, zwei Mal“, zuckt er die Schultern.

Das ist niederschmetternd. Weil ich, total verblödeter Volltrottel, gedacht habe, dass wenigstens diese eine Sache besonders ist und mir gehört. Johnny Depp ist der einzige Kerl, von dem ich mich ficken lassen würde … ich hab’s noch genau im Ohr. Das war doch wieder nur so’n dämlicher Spruch, denn offensichtlich lässt er sich von jedem Typen ficken.

„Felix und ich sind uns einfach zu ähnlich“, plaudert er unbeirrt weiter, „so was geht nie lange gut.“

„Also trefft ihr euch nicht mehr?“

„Na ja, ich nehme an, er wird die letzte Niederlage nicht auf sich sitzen lassen wollen“, zwinkert er.

Manchmal hasse ich Dante doch sehr. Okay, ich hab ihm gesagt, dass ich mit seinen Typen zurecht komme … ist das ein Grund, gleich dermaßen loszulegen? Wieso er jetzt hier ist, weiß ich auch immer noch nicht. Sehnsucht nach mir kann ich getrost ausschließen. Als er sich in kuscheliger Absicht an mich schmiegt, muss ich annehmen, er braucht eine Art Bestätigung, dass er noch toll gefunden wird. Völlig logisch, Dante passiert es wahrscheinlich nicht oft, dass ihn jemand wegen eines anderen Typen stehen lässt. Er hat’s ja selbst gesagt … er verliert nicht gerne. Mann, ist das ekelhaft, wenn man drüber nachdenkt. Leider bin ich kaum in der Lage, nachzudenken, wenn er so nah bei mir ist, wenn er so gut riecht und auf Schmusekatze macht. Mir fällt bloß ein, dass ich ein ungewaschenes Shirt trage, ich glaube, ich erwähnte das bereits. Dante stört das wohl nicht, denn er reibt seine Wange an dem Stoff und streichelt träge über meinen Bauch.

„Hast du vielleicht was zu essen?“, fragt er plötzlich.

„Sicher“, antworte ich, gehe in die Küche, mache ihm die Reste vom Mittagessen warm und serviere sie ihm.

„Ist … der Mann deiner Mutter Vegetarier oder so? Irgendwie krieg ich hier immer bloß Gemüsezeugs.“

„Ein paar Vitamine schaden dir bestimmt nicht. Jedenfalls ist das hier besser als der ganze Tiefkühlfraß und Dosenfuck, den dein blöder Mitbewohner einkauft.“

„Ist mir egal, denn im Gegensatz zu dir kann ich eh null kochen.“

Cool, es gibt ausnahmsweise etwas, das Dante Engels nicht kann.

„Leo hat gekocht. Ich hab’s bloß aufgewärmt.“

„Selbst so was geht bei mir gerne schief. Glücklicherweise warst du das eine Mal so betrunken, dass dir nicht aufgefallen ist, wie knusprig die Ravioli waren“, lacht er.

Tequila sei Dank!


Dante hatte nichts mit Andy. Ich hab ihn gefragt und er hat’s mir gesagt. Okay, so ist es natürlich nicht abgelaufen. In Wirklichkeit hatte ich mal wieder irgendwelche Slutty-Einträge gelesen und eh schon sehr schlechte Laune, als er dann zufällig Andy und sein Tattoo erwähnte, war ich noch angepisster und hab gesagt, dass er den doch sicher auch schon gefickt hätte. Da war Dante plötzlich angepisst und meinte, dass mich das erstens einen Scheiß angeht, weil wir schließlich nicht zusammen sind, dass er allerdings zweitens nicht jeden Typen flachlegt, mit dem er irgendwie befreundet ist, und wofür ich ihn drittens eigentlich halten würde. Also hab ich ihm gesagt, wofür ich ihn halte, woraufhin er faselte, dass er es wenigstens nicht monatelang hinter dem Rücken seines Freundes mit irgendwem anders treiben würde und da wurde ich dann richtig sauer. Ich hab ihm für alles Mögliche die Schuld gegeben und wenn er mich gelassen hätte … ich hätte ihm sicher auch noch das Kennedy-Attentat, die globale Erwärmung und die Ausrottung irgendwelcher Tierarten in die Schuhe geschoben. Er ließ mich nicht. Mitten in meinem Ausbruch forderte er mich auf, mich zu verpissen und in Behandlung zu begeben oder am besten gleich jemanden zu suchen, der mir den Gnadenschuss verpasst, damit ich von meinem Wahnsinn erlöst werde.

Das ist ungefähr eine Woche her. Im Nachhinein möchte ich mir vor Peinlichkeit selbst die Kugel geben. Es war doch unnötig, so dermaßen abzugehen. Ich fürchte, Dante wird nie wieder etwas mit mir zu tun haben wollen. Weil ich ihm blöderweise eindrucksvoll bewiesen habe, dass ich eben nicht mit seinen diversen Fickfreunden und Sexdates klarkomme.

Ich finde aber trotzdem, dass der Streit nur bedingt meine Schuld war. Wenn er nicht so vehement gegen eine normale, treue Beziehung mit mir wäre, müsste ich mich ja auch nicht ständig aufregen. So langsam wird das alles echt anstrengend und ich ertappe mich dabei, mir die eine Frage zu stellen. Nämlich, ob es das wert ist? Ob Dante es wert ist, dass ich mich permanent schlecht und verzweifelt fühle, weil ich ihn für mich allein haben will … oder dass ich immer noch viel zu unsicher in seiner Nähe bin … und viel zu überrascht, wenn er mich tatsächlich sehen, küssen und anfassen möchte?

 

Okay, ohne Dante ist es definitiv noch schrecklicher, deswegen krame ich meinen ganzen Mut zusammen und gehe abends zu ihm nach Hause. Als er die Tür öffnet, vergesse ich spontan, warum ich hier bin. Seine Haare sind schwarz und rot.

„Das sieht viel besser aus“, lächle ich und strubble kurz seinen frisch gefärbten Schopf.

„Ja, es ist mir sehr daran gelegen, dir zu gefallen, Eli.“

„Ehrlich?“

„Nein“, entgegnet er und verdreht die Augen, „das Blau hat genervt, weil es sich total schnell rauswäscht. Sonst noch was?“

„Können wir reden?“

„Tun wir doch gerade.“

„Ich meine … in deinem Zimmer.“

„Von mir aus“, zuckt er die Schultern und lässt mich endlich rein.

Vor lauter Nervosität kann ich mich nicht mal hinsetzen, um zu überlegen, was ich ihm eigentlich sagen will. Ich stehe dämlich in der Gegend herum, schwitze wahrscheinlich wie bekloppt und krieg zusätzlich noch ein bisschen Atemnot, weil Dante so absolut ekelhaft scheiß perfekt ist.

„Ist das alles, was du zu sagen hast?“, fragt er spöttisch.

„Ich hab … also ich wollte …“, meine Füße bewegen sich auf einmal. Sie machen ein paar Schritte auf Dante zu und dann hänge ich auch schon an seinem Hals. „Mmmhh… du riechst so gut.“

Dante greift in meine Haare und zieht meinen Kopf nach hinten.

„Du bist hergekommen, um an mir rumzuschnüffeln?“

„Zeig mir deine Flügel.“

„Was, jetzt?“

„Ich will deine Flügel sehen.“

Er zieht mit einem sehr lässigen Grinsen sein Shirt aus.

„Zufrieden?“

Mann, ich hasse es, wenn er sich so überlegen fühlt und ich nichts dagegen machen kann, weil er … so absolut ekelhaft scheiß perfekt ist. Das ist doch widerwärtig. Meine Finger streicheln über seine Arme und als wir uns küssen, bin ich längst total hinüber.

 

Es ist wirklich unglaublich, dass der Sex nach all den Monaten immer noch so phantastisch ist. Nicht, dass Dante jedes Mal mit was völlig Neuem um die Ecke kommt oder so, eigentlich ist er in der Beziehung ziemlich vorhersehbar, trotzdem ist es nie langweilig. Und wenn ich mal vergleiche … nee, man sollte seine Sexpartner nicht miteinander vergleichen. Marcel ist halt ganz anders als Dante. Außerdem konnte er ja auch nicht wissen, was ich gut finde, weil ich ihm das nicht gesagt habe. Allerdings … Dante brauchte ich das nicht zu sagen, der wusste es einfach. Na ja, wahrscheinlich hat er’s bloß so gemacht, wie es ihm gefällt und zufällig passte das dann. Vielleicht passte es mit Marcel nur emotional, aber nicht sexuell. Vielleicht ist es bei Dante genau umgekehrt. Vielleicht ist Tines Rat gar nicht verkehrt, mal eine Weile allein zu bleiben, bis irgendwann der Typ auftaucht, mit dem alles passt.


Ich hab mich schon wieder total doof mit Dante gestritten. Und es war auch diesmal nur seine Schuld. Wir wollten Samstagabend zusammen in die Villa, er wollte mich anrufen, wegen der Uhrzeit und so, um es kurz zu machen: Ich hab die ganze verdammte Nacht gewartet und er hat sich nicht gemeldet. Das fand ich dermaßen unhöflich, dass ich ihm eine ätzende SMS geschrieben habe. Er behauptete am übernächsten (!) Tag, es wäre ihm was dazwischen gekommen und dass ich ja allein hätte ausgehen können. Daraufhin fragte ich ihn, warum er nicht mal drei Sekunden Zeit hatte, um mir Bescheid zu sagen. Offenbar konnte er sich nicht mehr dran erinnern, dass wir überhaupt fest verabredet waren. Sauer wie ich war, wollte ich natürlich sofort wissen, was, oder besser wer ihm dazwischengekommen ist und er … er hat doch tatsächlich gesagt, dass es egal ist und mich nichts angeht. Glücklicherweise hat er seinen Lieblingssatz „Wir sind schließlich nicht zusammen“ nicht auch noch vom Stapel gelassen, weil ich ihm dann nämlich eine geballert hätte … mir doch egal, dass er bloß am Telefon war. Übrigens ist es ja wohl sonnenklar, weswegen er mich versetzt hat. Entweder hat er Felix gevögelt oder einen von seinen Fuckbook-Freunden, die alle so scharf auf ihn sind. Möglicherweise hat er sich auch gleich mehrere Sluttys eingeladen. Ey, und ich hänge Zuhause und mache mir Sorgen! Immerhin hätte er ja einen Unfall oder so was gehabt haben können. Blöder Fickfrosch! Der macht mich so krank, ehrlich, ich fühle mich seit Samstag irgendwie total … na, krank eben. Schlapp und müde und schwindlig.

 

Gegen Ende der Woche fühle ich mich immer noch krank. Und ich hab Fieber. Und einen komischen Ausschlag. Hauptsächlich im Gesicht, aber wie’s aussieht, möchte der sich unbedingt über meinen gesamten Körper ausbreiten. Möglicherweise reagiere ich allergisch auf blöde Fickfrösche.

Mom reicht ein Blick und sie weiß, was los ist. Windpocken, behauptet sie. Wenn man die, wie ich, als Kind nur sehr schwach hatte, kann man die offenbar noch mal kriegen und ich solle mal Thomas anrufen, vielleicht hätte ich mich beim neuen Kind angesteckt. Dann wird ein Arzt ins Haus bestellt, weil Mom sagt, dass Windpocken irre ansteckend sind und sie nicht will, dass ich rausgehe und aus Versehen die ganze Stadt verseuche. Klar, schick mich doch gleich in eine mit Waffen bewachte Quarantänezone!

Der Arzt bestätigt Moms Verdacht, was heißt, dass ich erst mal schulfrei habe. Leider ist das kein Grund zur Freude, denn die Pocken jucken wie sau und ich darf nicht kratzen, weil sonst hässliche Narben entstehen. Ich glaube heimlich immer noch an eine Fickfrosch-Allergie. Na ja, was soll’s? Ich bekomme eine juckreizlindernde Salbe, die nicht wirklich hilft … das ist alles. Wenn’s mir nicht so schlecht gehen würde, wär’s nicht so schlimm, aber, wie gesagt, ich hab Fieber und fühle mich dermaßen krank, dass ich im Bett liegen muss. Ätzend!

Tine und Patti besuchen mich nachmittags und lachen gemeinschaftlich über meine Pockenfresse. Tolle Freunde. Und Leo drängt mir so’n Griesdingenskleinkinderzeugs auf, das ich nicht essen mag, weil ich keinerlei Appetit habe. Ich hasse krank sein!

 

Freitagabend, ich liege im Bett und leide vor mich hin, klopft es plötzlich an meine Zimmertür und gleich darauf kommt Dante reingelatscht.

„Geh weg, ich bin ansteckend“, warne ich ihn schlapp.

„Weiß ich doch“, erklärt er und setzt sich zu mir aufs Bett. „Dein Vater hat’s mir gesagt und deine Mutter auch grad. Die kann mich nicht ausstehen, oder?“

Langsam hebe ich meinen Kopf, Dante weicht entsetzt zurück.

„Ach du meine Güte.“

„Geh doch bitte einfach weg.“

„Nicht bevor ich deine Pocken gezählt habe“, grinst er. „Ey, das sind doch bestimmt an die Tausend.“

„Zähl du lieber deine fucking Gehirnzellen … das dauert bestimmt nicht lange, Blödarsch.“

„Entschuldige, hast du Windpocken oder das Tourette-Syndrom?“ Er zieht Jacke und Schuhe aus, kramt aus seiner Tasche ein paar DVDs, stapelt sie auf den Boden und macht es sich neben mir bequem.

„Dante, was zur Hölle willst du?“

„Dich bespaßen. Macht man so, wenn jemand krank ist. Ein Begrüßungskuss wäre auch in Ordnung … für den Anfang.“

Der hat wohl den Irrsinn. Schwitzig, unordentlich und verpockt wie ich bin, will der mich küssen und … was denn noch? Ich rücke von ihm weg.

„Keinen Kuss?“

„Nein, ich fühl mich ekelhaft. Und hässlich.“

„Quatsch, du siehst süß aus. Soll ich deine Pocken blau anmalen?“

„Wieso solltest du das wohl tun?“

„Dann wärst du mein Sams und ich hätte ungefähr tausend Wünsche. Hey, hör auf zu kratzen, das gibt Narben.“

Dann angelt er doch tatsächlich nach der Pockensalbe und betupft meine Pusteln damit. Ich bin viel zu schwach, um ihn davon abzuhalten. Sein Finger schiebt sich neckisch unter den Bund meiner schwarzen Schlabberbuxe.

„Ich wüsste gerne …“

„Lass das“, unterbreche ich ihn und schlage leicht nach seiner Hand.

„Hast du da etwa auch Pocken?“, lacht er sich kaputt.

„Wahnsinnig lustig.“

 

Im Laufe des Abends verschlechtert sich mein Zustand dramatisch. Dante sagt, ich hätte hohes Fieber … seiner Meinung nach so kurz vor lebensbedrohlich. Keine Ahnung, ich bekomme nicht viel mit, weil mir völlig duselig und dämmrig ist. Nur, dass Dante verschwindet und mit Mom wieder hereinkommt, die Kühlkompressen unter meine Waden schiebt. Dante findet, sie sollte sofort einen Krankenwagen rufen, aber Mom will erst mal warten, ob das Fieber durch die Kompressen runtergeht. Daraufhin erklärt Dante, er würde bei mir bleiben und auf mich aufpassen.

 

Bist du glücklich?“, fragt Dante.

Ich starre auf den silbernen Ring an meinem Finger und nicke.

Und du?“

Ja“, strahlt er unwiderstehlich. „Es hat zwar etwas gedauert und sicher klingt es furchtbar kitschig, aber … du bist der Einzige, Eli, ich liebe dich.“

Ich lieb dich auch“, wispere ich völlig überwältigt und … öffne die Augen.

Dante liegt neben mir. Schlafend. Schöne Fieberträume sind eine gemeine Sau, wenn man aufwacht! Träge streckt sich der hübsche Mensch neben mir und blinzelt mich an.

„Geht’s dir besser?“

„Weiß nicht. Glaub schon.“

„Oh, gut“, seufzt er. „Deine Mutter hat echt Panik geschoben und ich musste die halbe Nacht Krankenschwester spielen. Mach so was bloß nicht noch mal, verstanden!“

Ich klaube die lauwarmen Kühlkompressen unter meinen Waden hervor, werfe sie auf den Boden und muss mich anschließend sofort wieder flach hinlegen. Mein Schädel brummt und mir ist schwächlich im Gebein. Gott, war das alles anstrengend. Und die Pocken jucken auch noch wie Hulle. Wenigstens hab ich wieder Appetit. Auf Waldmeisterwackelpudding mit Vanillesoße. Bekomme ich natürlich umgehend, denn Leo hat das alles schon gestern gemacht, weil er mich gut kennt und weiß, dass ich immer Waldmeisterwackelpudding mit Vanillesoße haben will, wenn ich krank bin. Mom zwingt mich auch gleich noch zum Fiebermessen, obwohl mich Dante bereits dazu gezwungen hat. Erhöhte Temperatur … ich soll auf jeden Fall liegen bleiben und viel trinken. Einen Aufstand machen die hier alle, sagenhaft.

„Ich sorg schon dafür“, erklärt Dante, der zum Glück inzwischen angezogen ist, sonst hätte Mom wahrscheinlich einen Anfall gekriegt.

 

Ich bleibe also liegen, trinke viel und Dante betupft meine Pusteln mit Salbe. Er kümmert sich wirklich total rührend um mich, was ich ihm nicht zugetraut hätte. Das ist wie mit dem Entenfüttern. Blöderweise führt das dazu, dass ich wieder bis über beide Ohren verliebt bin in diesen … ekelhaft perfekten, süßen Kerl, verdammt.

„Bist du einigermaßen aufnahmefähig?“

„Geht so.“

„Okay, ich hab einen kleinen Teil meiner Collection dabei“, faselt er und hält mir verschiedene DVDs unter die Nase. „Rio Bravo … der beste Western aller Zeiten … Some like it hot, Die glorreichen Sieben … mit dem ultra coolen Steve McQueen … Gesprengte Ketten, Marnie, Die oberen Zehntausend, Flug des Phoenix, Breakfast at Tiffany’s.“

„Sind das nicht alles Uraltfilme?“

„Das sind Klassiker“, verbessert er fassungslos. „Frag Tarantino. Rio Bravo ist einer seiner Lieblingsfilme.“

„Der alte Fußfetischist“, verdrehe ich die Augen.

„Wie dem auch sei, es gibt Filme, die man einfach kennen muss.“

Supi, ich bin in einen Filmfreak verknallt. Wieso hatte ich bisher keine Ahnung davon?

„Das hat meine Oma mir schon im Kleinkindalter beigebracht.“

„Deine was?“

„Oma. Oder denkst du, Marlene ist mit einem Raumschiff auf die Erde gekommen? Sie ist zwar exzentrisch, aber nicht so. Jedenfalls, meine Oma liebte alte Hollywoodstars … Frankie Boy, Dean Martin, Tony Curtis, Jimmy Stewart, den Duke, Marilyn, Audrey, Kathrin, Judy … und ich fürchte, sie hat mich damit angesteckt.“

„Liebte?“

„Schlimme Geschichte, erzähle ich dir irgendwann mal, okay?“

„Okay, dann schieb von mir aus den Duke rein.“ Wer auch immer das sein mag.

 

Zusammengekuschelt tauchen wir in den wilden Westen ab, zu Revolverhelden, einem Säufer, einem alten Hinkebein und der Liebesgeschichte zwischen dem Sheriff und einer pausenlos daherplappernden Kartenspielerin. By the way … der Duke ist John Wayne.

Danach verkleiden sich Jack Lemmon und Tony Curtis als Frauen, die beide bei Sugar Kane landen wollen.

 

Am späten Nachmittag, nach einem Blick auf die Uhr, wurschtelt sich Dante aus dem Bett.

„Ich muss jetzt leider los“, verkündet er und zieht seine Schuhe an.

„Was hast’n vor?“

„Felix kommt nachher.“

Fein. Soll ich ihm jetzt viel Spaß mit der ollen Pissnelke wünschen? Die Achterbahn, die den Tag über obenauf war, stürzt augenblicklich in den Höllenschlund.

„Wir wollen noch in die Villa und so.“

Und dann ein bisschen ficken, was? Dante ist doch ein Blödarsch! Ein Fickfrosch, der nicht dazu in der Lage ist, mal zwei Tage am Stück nett zu sein. Sex mit der ollen Pissnelke ist natürlich viel wichtiger, als noch länger bei einer kranken Pockenfresse rumzuhängen.

„Dir geht’s ja auch schon besser, also …“

„Genau“, schniefe ich.

Mann, Eli, fang bloß nicht an zu heulen.

„Ich lass dir die DVDs da …“

Wie schön für mich!

„… und ruf dich morgen an, ja?“

Am besten mit Felix im Hintergrund, der an Dantes Flügeln lecken will! Bedröppelt lege ich mich hin, ziehe die Bettdecke bis zum Kinn hoch und schaffe immerhin noch ein „Bis dann“ zu murmeln. An der Tür bleibt Dante einen Moment stehen, seufzt vernehmlich, kramt sein Handy aus der Tasche und drückt ein paar Tasten.

„Hey, ich bin’s …“, höre ich ihn leise reden, „ pass auf, Eli ist krank und … Windpocken … logisch ist das nicht so schlimm … was? ... nee, lass uns einfach nächstes … ey, es ist mir ganz egal, was du denkst … ja, wenn es nötig ist, halte ich ihm die ganze Nacht das Händchen, Idiot … klar, ich melde mich.“

Die Achterbahn hat sich soeben aus dem Höllenschlund katapultiert. Und eine Minute später liegt Dante wieder neben mir.

„Du hättest meinetwegen nicht absagen müssen“, lüge ich.

Er lacht schnaufend. „Aber du findest es ganz gut, dass ich’s getan hab, oder? Außerdem will ich bei dir bleiben und Felix findet leicht irgendwen anders zum Vögeln.“

„Warum?“

„Er ist ein hübscher Kerl und weiß …“

„Warum willst du hier bleiben?“, unterbreche ich ihn genervt.

„Weil … ich deine Pocken noch zählen muss.“

„Hör auf mit dem Scheiß.“

„Nur wenn du mich küsst“, grinst er.

„Nicht solange ich hässlich verpustelt bin.“

„Ist mir egal. Ehrlich, ich würd dich auch mit den tausend Pocken ficken.“

„Wenn du es so nötig hast, hättest du vielleicht doch lieber …“

„Nötig eigentlich nicht, aber ich ficke nun mal gerne … dich besonders. Hast du was dagegen?“

„Allerdings. Ich hatte gestern Nacht noch lebensbedrohliches Fieber.“

„Sehr richtig. Deswegen verschieben wir das ja auch und du ruhst dich aus, Spätzchen.“

Spätzchen? Ist der besoffen oder hat er spontan den Verstand verloren? Egal.

 

Dante bleibt tatsächlich und geht mir mit seinen Filmklassikern auf den Sack. Ich schlummere manchmal ein bisschen weg, bekomme zwischendurch meine Lieblingsspeisen serviert, die zum größten Teil Dante verspeist, weil sich mein Appetit noch nicht gänzlich normalisiert hat, und Mom ist, glaub ich, angepisst, weil ein tätowierter Freak, der sie stark an ihre vergangene Liebe erinnert und von dem ich mich eigentlich fern halten soll, grad so ziemlich ihren Job übernimmt. Sie lächelt horrorartig, als Dante ihr abends mitteilt, dass wir bereits Fieber gemessen haben und dass es wieder gestiegen ist, aber nicht sehr viel. So langsam komme ich mir vor wie fünf Jahre alt. Meine Güte, ich kann durchaus selbst meine Temperatur überprüfen. Hoffentlich fragen die beiden Hobbykrankenschwestern nicht gleich noch nach meinem Stuhlgang. Dann wandere ich aber aus!

„Mein Mann bringt dir das Gästebett rauf, wenn du hier übernachten willst“, beschließt Mom, woraufhin ich mich kräftig an meinem Orangensaft verschlucke. Echt, bei Marcel hätte sie sich niemals zu einem solchen Spruch hinreißen lassen. Außerdem ist’s völlig witzlos … so oft wie Dante hier schon gepennt hat. Was denkt die, wo er gestern geschlafen hat? Auf dem Fußboden?

„Ist okay“, entgegnet Dante scheißfreundlich, „Eli schläft ruhiger, wenn er in meinen Armen liegt.“

Au weia! Ihre Lippen werden extrem schmal und ich merke, wie ich im Gesicht um meine Pocken herum rot werde.

„Gute Nacht“, zischelt sie und schließt die Tür lauter als normal.

„Kaum zu glauben, dass Crazy …“, Dante schüttelt den Kopf, „deine Mutter ist reichlich verspannt.“

„Du bist eben nicht Marcel.“

„Die Hauptsache ist ja eh, dass du mich magst“, findet er.


Windpocken dauern scheiß lange. Mittlerweile die dritte Woche. Aber wenigstens hab ich das Fieber überstanden, die schreckliche Schlappigkeit ist auch nicht mehr so doll und die Pocken halten Dante davon ab, sich am Wochenende mit Felixen oder Fuckbooksluttys zu treffen, weil er bei mir ist. Toll, oder? Krank muss man werden, damit er nicht mehr rumfickt. Crazy rief an und entschuldigte sich, er hätte ja nicht wissen können … klar, wenn man sich rechtzeitig aus dem Staub macht, hat man keine Ahnung, ob der Sohn irgendwelche Kinderkrankheiten hatte. Die kleine Halbschwester ist übrigens schon wieder gesund, während meine Pocken offenbar überhaupt nicht weggehen wollen. Der Arzt hatte mich bereits darauf hingewiesen, dass Derartiges im Erwachsenenalter viel hartnäckiger und unangenehmer ist. Tine leistet mir die Woche über fast jeden Nachmittag Gesellschaft und ist wenig überrascht, dass Dante sich von Freitag bis Montag um mich kümmert.

„Gehört alles zu seiner widerwärtigen Masche“, sagt sie ... mehr als einmal. „Der weiß eben genau, wie er seine kleinen Anschmachter dazu bringt, ihm noch mehr zu verfallen. Und du gehst ihm total ins Netz. Eli, was soll denn das? Sind dir die Pusteln aufs Hirn geschlagen?“

Mir doch alles egal. Ich bleibe gerne noch eine Weile in meiner Phantasiewelt, in der Dante mich liebt … nur mich!

 

„Hey, Pockenfresse“, lächelt Dante Freitagabend, spaziert lässig die Treppe rauf in mein Zimmer und will mich küssen.

„Nix da“, halte ich ihn davon ab.

Seine Miene wird finster. „Ich nehme an, Sex wird’s heute auch nicht geben, mh?“

„Hast du noch was anderes im Kopf als das?“

„Ich wollte dir nur meine Bereitschaft signalisieren“, zuckt er die Schultern und wirft sich aufs Bett. „Was meinst du … soll ich deinen Papa noch mal ranlassen?“

„Wie ranlassen? Woran?“, frage ich und setze mich neben ihn. „Und welchen Papa meinst du?“

„An meinen Körper. Bin irgendwie auf Entzug.“

„Du willst ein Tattoo“, fällt bei mir endlich der Groschen. „Äh … noch eins? Reichen dir die …“

„Reichen dir die Sterne?“, unterbricht er mich.

„Ja, wieso?“

„Seltsam.“

„Was würde es denn werden?“

„Eine Naga am Unterarm.“

Ich weiß genau, es ist ein Fehler, ihn zu fragen, weil es seine Art ist, dann stundenlang über Tattoos zu faseln, aber ich frage trotzdem. Und er gibt natürlich bereitwillig Auskunft.

Naga ist eine indische Schlangengottheit, die oft als halb Mensch und halb Schlange dargestellt wird. Das langt, ich stelle meine Ohren die nächsten Minuten auf Durchzug, denn ich bin mir sicher, dass das Viech enorm hässlich aussehen muss. Warum zum Arsch lässt der sich dauernd so was Biestiges stechen? Wenn schon indisch, wieso nicht den hübschen Shiva? Davon will Dante jedoch nichts hören.

„Der passt doch gar nicht zu meinen anderen Tattoos. Außerdem mag ich Biester“, grinst er und glotzt mich an.

„Sollte das vielleicht eine blöde Anspielung sein?“

„Auf deine Pustelvisage?“, lacht er. „Absolut nicht. Hey, ich hab ja noch was für dich. Augen zu.“

„Wie bitte?“

„Mach die Augen zu, ich will dich überraschen.“

Ich schließe meine Augen und merke, dass Dante an meinem Handgelenk rumfummelt.

„Okay.“

Oh je! Er hat mir ein silbernes Armband geschenkt. Das ist eigentlich ganz hübsch … wenn nicht die kleinen, baumelnden Anhänger dran wären.

„Ähem … ich bin gar nicht so für Drachen“, erkläre ich vorsichtig.

„Aber du bist auch nicht gegen sie, oder? Mir gefällt der Gedanke, dass du’s trägst.“

Was soll man dazu noch sagen? Nichts. Am besten, man freut sich einfach.

„Danke.“

„Krieg ich jetzt einen Kuss … bitte?“, lächelt er dermaßen niedlich, dass ich ihn augenblicklich knuddeln und knautschen möchte wie ein Schnuffeltier.

„Ausnahmsweise“, nicke ich und küsse ihn.

„Mmmhh … mehr“, säuselt er verträumt.

„Auf keinen Fall.“

„Ich sag dir jetzt mal was … sobald deine Pocken weg sind, bist du so was von fällig.“

Mich würde interessieren, ob er einfach nur ficken will, oder ob es ihm tatsächlich darum geht, mit mir Sex zu haben? Ich finde, das ist ein Unterschied. Da ich nicht weiß, ob mir seine Antwort gefallen würde, frage ich ihn lieber nicht, sondern schlage vor, einen von seinen tollen Filmen zu kucken … damit wir vom Sexthema wegkommen.

 

Offenbar steht Dante auf „Klassiker“ und auf Western. Waren wir letztens noch am Rio Bravo besuchen wir heute ein mexikanisches Dorf, das von einer fiesen Revolverbande tyrannisiert wird und deshalb ein paar Revolverhelden, sieben, um genau zu sein, anheuert. Der glatzköpfige Anführer der glorreichen Sieben bewegt sich die ganze Zeit über, als hätte er einen Stock im Arsch. Aber Steve McQueen ist tatsächlich cool, ich bin sofort Fan.

„Wieso hast du mir verschwiegen, dass du ein Faible für Cowboys hast?“

„Hab ich gar nicht“, entgegnet Dante, „das sind eben gute Filme.“

Mir fällt auf, dass der einzige Klassiker aus diesem Genre, den ich kenne, in seiner Sammlung fehlt. Oder er hat ihn Zuhause gelassen. Als ich ihn darauf anspreche, verdreht er die Augen.

„Spiel mir das Lied vom Tod ist wohl der langweiligste Scheiß der Filmgeschichte. Echt, der wird total überbewertet.“

Gott sei Dank. Ich fand den nämlich auch dermaßen langweilig, dass ich beim Kucken total aggressiv wurde. Übrigens hab ich mir den nur angeschaut, weil ich grad wirklich überhaupt gar nichts Besseres zu tun hatte, weil ich nämlich mit einer Mandelentzündung im Bett lag. Und mit Marcel, aber der ist nach zwanzig Minuten eingeschlafen.

„Allein schon die Anfangsszene“, regt Dante sich weiter auf, „gefühlte dreißig Minuten sieht man einen Bahnhof, komische Kerle, die auf irgendwas warten und als Highlight fliegt mal ein vertrockneter Busch durchs Bild. Außerdem ist Claudia Cardinale als Venus in ’Cartouche’ viel toller. Den hast du wohl auch noch nie gesehen, oder?“

„Äh… nee.“

„Unglaublich. Also … wenn Belmondo zum Schluss die tote Venus mit Gold und Juwelen überhäuft, sie in eine goldene Kutsche legt und die Kutsche anschließend ins Wasser karrt, wo sie langsam versinkt … DAS ist großartig.“

„Ja, klingt total super“, nicke ich übertrieben, woraufhin Dante seufzend den Kopf schüttelt.

„Hab ich schon erwähnt, dass das Klassiker sind?“

„Clockwork Orange ist ein Klassiker.“

„Clockwork Orange ist ein Kultfilm. Das ist was anderes.“

„Ah, verstehe.“

„Trotzdem hast du noch viel zu lernen.“

„Immerhin kenne ich inzwischen den Duke. Weißt du eigentlich, dass der was gegen Indianer und Neger hatte? Und sicher auch was gegen Schwule.“

„Ja, aber er ist tot, also, was soll’s? Außerdem stehe ich nicht wegen seiner seltsamen Meinungen auf den Duke. Ich mag ein paar Filme mit ihm.“

„Ach so. Dann würdest du dir auch Filme mit … Hitler und Stalin ankucken, wenn sie dir gefallen würden?“

„Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe“, entgegnet er. „Haben die Pocken dein Gehirn angegriffen? Ich weigere mich jedenfalls, noch weiter über so einen Schwachsinn zu reden. Übrigens … weißt du eigentlich, dass man seit ungefähr zwanzig Jahren nicht mehr Neger sagt?“

„Mir doch egal. Ich sage auch Negerkuss.“

„Tatsächlich?“

„Nee. Aber nur weil Schokokuss süßer und leckerer klingt.“

„Ah, Negerküsse können also nicht lecker sein, ja? Eli, du bist ein verdammter Rassist.“

„Darauf scheinst du ja zu stehen.“

„Ich stehe auf Bananeneis“, grinst er. „Banane-Nuss ist die totale Leckerschmecker-Mischung.“

„Ich glaub, wir haben bloß Vanille und Karamell im Haus.“

„Nehm ich auch“, zuckt er die Schultern.

„Dann geh runter und hol’s dir.“

Dante starrt mich eigenartig an. Mir ist nicht ganz klar, weshalb … bis es mir dann klar wird und ich mich kaputtlachen muss.

„So einen ähnlichen Satz hast du in bestimmten Situationen wohl schon oft gehört, mh?“

„Erstens würde sich niemand außer dir trauen, mir so einen ähnlichen Satz in irgendwelchen Situationen zu sagen. Zweitens hab ich zwar nichts gegen Dirty Talk, aber prolliges Pornogefasel macht mich überhaupt nicht an. Und drittens … kratz doch noch ein bisschen an deinen Pocken, Scarface.“

„Das war gar kein Pornogefasel“, stelle ich klar und stoppe augenblicklich mein Gekratze am Hals. „Ich hab Eis gemeint und du hattest sofort abartige Assoziationen. Nebenbei, ich würde so etwas Saublödes im Leben nicht sagen, wenn wir Sex haben. Das solltest du eigentlich wissen.“

„Stimmt“, lächelt er und robbt sich an mich heran, „was du sagst, klingt immer cool und sexy und … niedlich versaut.“

Wenigstens in dem Bereich scheine ich Talent zu haben. Hey, vielleicht sollte ich meinen Lebensunterhalt zukünftig als Pornofilmsprecher verdienen? Allerdings wird in Pornos für gewöhnlich nicht besonders viel gesprochen … also könnte man das vermutlich bloß als Nebenjob machen. Hm, aber wie wäre es mit ’ner Sexhotline? Fällt auch aus, weil ich in Wirklichkeit ja total verklemmt bin, was ich nur bei Dante immer wieder vergesse. Schade, muss ich doch irgendwann einen richtigen Beruf erlernen.

„Wo bist’n du mit deinen Gedanken?“, fragt Dante und stupst mir in die Seite.

„Ich überlege, was ich werden will, wenn ich groß bin.“

„Und?“

„Keine Ahnung. Das Problem ist, dass ich irgendwie nichts kann.“

„Dafür gibt’s ja so was wie Ausbildung. Damit du etwas lernst. Glaubst du, ich hab eine Maschine in die Hand genommen und gleich super professionelle Tattoos gestochen?“

„Du konntest da aber sicher schon gut zeichnen. Ich kann gar nichts. Null.“

„Du kannst gut mit meinem Schwanz umgehen“, erklärt er völlig ernsthaft.

„Super. Dann steht meiner Karriere als Pornodarsteller ja nichts mehr im Weg“, erkläre ich völlig angepisst.

„Warum stresst du dich auf einmal so? Mach doch erst mal dein Abi und studier ein paar Jahre herum.“

„Meine Eltern haben bestimmt große Lust, mich finanziell zu unterstützen bis ich vierzig bin.“

„Dann musst du nebenher jobben.“

„Wie denn, wenn man nichts kann?“

„Eli, hör auf mit dem Scheiß.“

„Entschuldige, dass ich dich mit Gedanken über meine Zukunft belästige.“

„Du wirst schon irgendwann das Passende für dich finden. Und wenn nicht, kannst du immer noch bei deinem Papa in die Lehre gehen.“

„Als Tätowierer?“

„Als Koch.“

„Viel zu anstrengend. Und beschissene Arbeitszeiten.“

„Werd doch Friseur … dann brauche ich mir nicht mehr Iris’ nervtötendes Gelaber reinzuziehen“, schlägt er vor.

„Schwuler Friseur … geht’s noch klischeehafter?“

„Wie wäre es mit Klappenstricher?“

„Wie wäre es mit meiner Faust in deinem Gesicht?“

„Schläger ist ein Beruf mit vielerlei Möglichkeiten“, überlegt er. „Du könntest dich beispielsweise auf Schutzgeldeintreiben spezialisieren. Oder als Rausschmeißer tätig sein. Allerdings würde ich dir dringend empfehlen, vor Arbeitsbeginn ein paar Büchsen Spinat zu essen, sonst wird’s schmerzhaft für dich. Momentan könntest du natürlich auch sehr gut in ’ner Geisterbahn arbeiten, ganz ohne Maske und Make-up.“

„Ich bin müde. Und ich will jetzt nicht mehr mit dir reden“, seufze ich fix und fertig.

 

Als wir später zusammengekuschelt unter der Bettdecke liegen, ist an Schlaf mal wieder nicht zu denken. Dante riecht viel zu schnuffig und die Tatsache, dass dieser außerordentlich schöne Mensch in meinem Bett liegt … einfach so, total selbstverständlich und wirklich und in echt … es ist kaum zu fassen. Wenn Dante bei mir ist, fühlt sich das immer ein bisschen so an, als würden rosa Elefanten durchs Zimmer fliegen … es kann eigentlich gar nicht sein.

„Was’n so lustig?“

„Pink Elephants On Parade.“

„Die sind albtraumhaft“, murmelt Dante. „Ich hatte als Kind Angst davor.“

„Vor den pinken Elefanten?“

„Ja, klar.“

Hm, ich eigentlich auch.

„Vor Puppenkistenmarionetten auch. Die sind ähnlich fies wie Bauchrednerpuppen.“

„Aber du magst doch das Sams und das ist nur als Puppenkistenmarionette toll.“

„Stimmt, gegen das Sams kann man nichts sagen. Aber … so gern es mir leid tut … wenn’s nicht lustig redet und man genauer hinkuckt, sieht’s auch irgendwie unheimlich aus.“

„Kann sein“, gähne ich.

„Ich war nicht da, als meine Oma gestorben ist“, sagt er plötzlich leise.

„Hä?“

„Du wolltest doch wissen … ich war auch nicht bei der Beerdigung, weil Marlene mich nicht erreichen konnte.“

„Hm…“

„Weißt du, Flor war so’ne Art Ersatzmutter und …“

„Flor?“

„So hat sie der spanische Verehrer genannt. Eigentlich hieß sie Florentine“, erklärt er.

„Tine heißt Florentine.“

„Die Würfelkirsche?“

„Sie verabscheut den Namen.“

„Würfel…“

„Ihren richtigen.“

„Kann ich verstehen. Meine Oma fand den auch nie toll.“

„Mann, deine Familie ist echt exotisch“, finde ich. „Maler, Künstler, spanische Verehrer …“

„Der Typ war ein Freund aus ihrer Teenagerzeit. Sie hat ihn eben so bezeichnet, weil er aus Spanien kam und ständig versucht hat, bei ihr zu landen. So wahnsinnig exotisch ist das gar nicht.“

Dann erzählt er, dass er mehr von seiner Oma aufgezogen wurde als von seiner Mutter, denn die musste ja andauernd malen, ausstellen und mit ihren durchgeknallten Freunden rumhängen. Weil das Haus der Oma gehörte, hat sie natürlich auch mit darin gewohnt, bis ihr der ganze Künstlertrubel eines Tages auf den Sack ging und sie in eine schicke Seniorenresidenz umgezogen ist. Seinen Opa hat er übrigens nicht kennengelernt, weil der früh gestorben ist. Jedenfalls hat Dante Flor wahnsinnig geliebt … das spürt man einfach, wenn er von ihr spricht. Also ist es logisch, dass ihr Tod sowieso schon sehr schlimm für ihn gewesen sein muss.

„Marlene ist mir damals mal wieder total auf den Sack gegangen, also hab ich mich für ein paar Wochen aus dem Staub gemacht und als ich zurückkam … war Flor tot und die Beerdigung gelaufen. Tolle Überraschung, mh? Es gibt Dinge, die kann man sich nicht verzeihen.“

„Aber du hattest doch keine Ahnung, dass …“

„Flor würde mir wahrscheinlich kräftig in den Arsch treten, wenn sie’s könnte, weil ich mich nicht vernünftig von ihr verabschiedet habe“, unterbricht er mich. „Und ich könnte ihr dafür in den Arsch treten, dass sie mir ihre Krankheit verschwiegen und Marlene dazu verdonnert hat, nichts zu sagen. Wahrscheinlich kam es ihr ganz gelegen“, überlegt er, „sie wusste genau, dass ich ihr zu ihrem Suizid nicht noch die Pillen gereicht hätte.“

„Wieso Suizid? Ich dachte …“

„Marlene hat’s mir später erzählt. Bei Flor wurde Alzheimer diagnostiziert und sie wollte nicht … na ja, sie wollte sich nicht irgendwann völlig verlieren, also hat sie den Zeitpunkt selbst bestimmt. Ich bin müde, lass uns schlafen.“

Vorsichtig ziehe ich ihn in meine Arme, als er sich umdrehen will, und wusle solange seine Haare, bis er eingeschlafen ist. Mehr kann ich grad nicht für ihn tun.


„Und weil er nicht auf Omas Beerdigung war, fickt er durch die Gegend, bricht dir hundertmal das Herz und du lässt das alles mit dir machen?“, fragt Tine skeptisch.

„Ist bestimmt nicht einfach, so eine Sache mit sich herumschleppen zu müssen.“

„Mir kommen die Tränen“, verdreht sie die Augen.

„Wo ist’n dein Mitgefühl geblieben? Bei ebay versteigert?“

„Und wo sind dein Hirn und deine Selbstachtung geblieben? Nur weil er schlimme Sachen erlebt hat, musst du ihm nicht alles durchgehen lassen. Und wenn er unbedingt einen Arschtritt von einer Florentine haben möchte … kein Problem, schick ihn einfach zu mir, ich übernehme das gerne.“

„Darum geht’s doch gar nicht.“

„Nee, ich weiß. Du denkst, weil er dir so was Privates erzählt, bist du was Besonderes für ihn. Mehr als seine Fickfreunde. Das ist vermutlich auch so, allerdings … was zum Teufel bringt dir das? Ich meine, verbessert das irgendwie deine Lage?“

Wohl kaum. Aber man kann sich eine Menge einreden, wenn man verzweifelt genug ist.

Während ich mir noch eine Antwort für Tine überlege, geht die Tür auf und Dante poltert ins Zimmer.

„Schwester Engels meldet sich zum Dienst“, grinst er und salutiert albern.

„Cool, ich muss eh los“, behauptet Tine und schenkt ihm einen sehr bösen Blick, als sie an ihm vorbeigeht.

„Deine Würfelkirsche hasst mich“, stellt Dante fest und setzt sich zu mir aufs Bett. „Wieso?“

„Da gibt’s einige Gründe. Hast du bei meinen Eltern geklingelt?“

„Ich wollte dich nicht die Treppe runterlaufen lassen. Hätte ja sein können, dass du schläfst oder einen schlimmen Fieberrückfall erlitten hast. Deine Mutter sah übrigens nicht gerade begeistert aus. So langsam nehme ich es persönlich, dass mich dein gesamtes Umfeld ablehnt.“

„Dafür liebt dich mein Erzeuger umso mehr. Du bist wahrscheinlich genau so, wie er sich seinen Sohn vorstellt.“

„Ich dachte, du hättest ihm mittlerweile verziehen.“

Offenbar ist Denken nicht seine Stärke.

„Immerhin hast du ihn ziemlich oft besucht.“

„Ich hab meine Halbschwester und Lola besucht“, stelle ich klar.

„Und mich, mh?“, zwinkert er. „Wie ich sehe, bist du wieder gesund, du weißt, was das bedeutet.“

„Keinen Schimmer.“

„Deine Pocken sind fast weg. Ich will ficken.“

„Genau … fast. Und warum kommst du zu mir, wenn du ficken willst?“

Dante glotzt mich irritiert an. „Äh… zu wem denn sonst?“

„Wenn’s dir bloß um Sex geht …“

„Hey, einen Fick bekomme ich an jeder Ecke. Aber …“, er rückt ein bisschen näher, „ich hab Lust auf niedlich versauten Sex und den krieg ich nur bei dir. Ich finde auch, du hast mich jetzt lange genug warten lassen, Eli.“

Bestimmt drückt er mich auf die Matratze, schiebt seine Hand unter mein Shirt und fängt an, mich zu küssen. Als seine Lippen meine berühren, bin ich mal wieder nicht fähig, ihn von irgendetwas abzuhalten. Verdammt, warum kann ich mich nie gegen Dante wehren?

 

„Ey, das war so was von absolut überfällig“, murmelt er eine Weile später und kuschelt sich in meine Arme. „Vier Wochen sind eindeutig zu lang.“

„Du willst mir doch nicht erzählen, dass du die ganze Zeit, in der ich krank war, keinen Typen hattest.“

Sein Kopf hebt sich ruckartig von meiner Brust. „Von Dienstag bis Freitag war ich im Studio. Von Freitagabend bis Montagmittag war ich bei dir. Wann hätte ich also Sex haben sollen?“

„Montagnacht, Dienstagnacht, Mittwochnacht, Donnerstagnacht?“, schlage ich vor.

„Eli, ich muss auch mal schlafen. Und wie gesagt, ich wollte dich. Nicht irgendwen.“

Normalerweise würde die Achterbahn jetzt wieder nach oben fahren. Aber leider kenne ich Dante inzwischen zu gut. Und er kennt mich. Er weiß halt genau, was ich hören möchte. Das ist so ätzend, weil man bei ihm nie sicher sein kann, ob er das, was er sagt, auch tatsächlich ernst meint. Das muss ich nachher sofort auf die Contra-Seite meiner neuen Liste schreiben. Mmmhhh… das Küssen kommt aber unbedingt auf die Pro-Seite. Dante kann unglaublich gut küssen … vielleicht schreib ich’s gleich doppelt auf!

„Du hast übrigens ewig nicht an meinen Flügeln geleckt. Hat das was zu bedeuten?“

„Ich war krank.“

„Ja, aber grad hast du’s auch nicht gemacht. Sind dir meine Flügel plötzlich egal?“

„Mann, ich hab auf so was doch nicht immer Lust“, verdrehe ich die Augen.

„Ach ja? Seit wann?“

Genervt lecke ich kurz über seinen Oberarm. Dante verzieht das Gesicht und wischt über seine Haut.

„Das war nicht sexy, sondern ekelhaft. Warum hast du nicht gleich draufgespuckt?“

Ich würde ihm jetzt gerne sagen, wie sehr ich ihn liebe. Und dass es mir nicht gut geht, wenn er sich mit tausend anderen Typen zum Sex trifft. Kann ich natürlich nicht, weil er dann sofort wieder den Kontakt abbrechen würde.

„Hab ich dir von meinem Bondage-Shooting letzte Woche erzählt?“

„Von bitte was?“

„So’n schwuler Fetisch-Fotograf, Bekannter von Marlene, hat mich angehauen, er würde gerne mal was mit mir machen und so. Das war total lustig … ich als Master mit neunschwänziger Katze. Und mein Sklave war echt schnuckelig.“

„Sklave?“

„Ja, sicher.“

Ich kann mir vorstellen, was die nach der Fotosession getrieben haben, wenn der Typ so schnuckelig war, und bin sofort eifersüchtig.

„Und jetzt willst du die Tätowiererei an den Nagel hängen und Fetisch-Model werden, oder was?“

„Nee. Aber wenn ich für ein bisschen Rumgepose Geld kriege … ist doch eine coole Sache. Außerdem durfte ich die Klamotten behalten. Ich glaub, der Typ stand auf mich.“

„Was für Klamotten?“

„Lederjacke, Chaps, Stachelhalsband … das Übliche eben.“

Okay, ich möchte mir auf gar keinen Fall Dante in diesem Outfit ausmalen!

„Ach so … Marlene schmeißt übernächstes Wochenende eine Party. Hast du Lust, meine Mutter kennenzulernen?“

„Hä?“, röchele ich, weil mir vor lauter Schreck Spucke in die falsche Röhre kam.

Dante klopft mir leicht auf den Rücken. „Hör schon auf, so schlimm ist Marlene auch wieder nicht.“

Er will mich tatsächlich seiner Mutter vorstellen, ich halt’s im Kopf nicht aus!


Der Fotograf hat einige SM-Fotos von Dante auf seine Seite gestellt, die sich jetzt jeder ansehen kann. Leider wirkt die Seite überhaupt nicht stilvoll, sondern eher ein wenig angeschmuddelt. Und Dante wirkt in schwarzen Lederchaps, knappem Slip, breiten Lederriemen über der nackigen Brust, Stachelhalsband, mit ’ner Peitsche in der Hand und einem Typen, der lediglich ein Ledergeschirr trägt und zu seinen Füßen kraucht, total fremdartig bis komisch verkleidet. Na ja, und so schnuckelig, wie er behauptete, ist sein Sklave auch nicht. Im Gegenteil. Der ist potthässlich und ich weiß immer noch nicht, ob Dante ihn nach der Fotosession gevögelt hat. Auf alle Fälle scheint es aber sehr zur Sache gegangen zu sein, denn auf einem Foto sieht man heftige Striemen auf dem Arsch vom hässlichen Sklaven. Allerdings sind die Kommentare zu den Bildern noch heftiger. Ungefähr alle Schreiber möchten von Dante mal ordentlich rangenommen, in Ketten gelegt, dominiert, gezüchtigt, gefickt und verdroschen werden. Einer hat sogar geschrieben, dass er Dantes warmen, goldenen Strahl genießen möchte. Ein kleiner Poet. Ich könnte kotzen! Und ich glaube, Dante gefällt der Gedanke, dass sich fremde Kerle beim Betrachten der Bildchen einen runterholen. Er findet sich selbst nämlich doch reichlich toll, auch wenn er manchmal was anderes sagt. Okay, die Fotos, auf denen er allein rumpost, sind schon irgendwie sexy ... wenn man auf Details achtet wie die Lederarmbänder, die er trägt … oder dieses hübsche nietenbesetzte Lederdingens, das seinen Handrücken ziert … oder die Art wie der breite Ledergürtel auf seinen Hüften sitzt … verdammt, ich hab nicht nur einen Leckfetisch und stehe drauf, wenn er mit Tätowiernadeln hantiert, sondern mir auch grad noch einen Lederfetisch zugelegt. Na, herzlichen Glückwunsch. Trotzdem, ich mag Dante in normalen Klamotten immer noch am liebsten.

 

Ach ja, ich bin übrigens wieder gesund, gehe zur Schule und hab keine Ausrede für Marlenes Party. Dante hat so viel komisches Zeug über seine Mutter erzählt, dass mir ein bisschen unwohl ist, wenn ich sie jetzt bald leibhaftig zu sehen kriege. Ich frage mich auch, warum er so dringend möchte, dass ich sie kennen lerne? Darauf fällt mir aber beim besten Willen keine Antwort ein. Mir fällt nur auf, dass er letztens seinen Schal bei mir vergessen hat. Ja, es ist eine mehr als lahme Entschuldigung, extra dafür bei ihm auf der Matte zu stehen, aber was soll ich machen? Es fehlt mir halt, dass er nicht bei mir ist. Über eine Woche hab ich ihn schon nicht mehr gesehen oder gesprochen. Also mache ich mich Mittwochabend auf den Weg. Der beknackte Mitbewohner glotzt mich arschlochartig an.

„Dante ist in seinem Zimmer. Kennst ja den Weg“, nuschelt er und verschwindet.

Was’n mit dem los? Der lässt mich doch sonst nicht rein. Mit dem Schal in der Hand latsche ich durch die Wohnung, öffne die Zimmertür und bin augenblicklich restlos bedient. Ich hätte klopfen sollen, so viel ist mal sicher. Ich hätte gar nicht ohne Ankündigung hier auftauchen sollen. Ich hätte mich auf dem Weg hierher vor ein fahrendes Auto werfen sollen … das wäre erheblich weniger schlimm gewesen als … DAS. Dante räkelt sich halbnackt mit Felix auf seinem Bett. Ich erkenne den Penner an seinen roten Ponysträhnen. Und ich erkenne, dass die Pissnelke an Dantes Flügeln rumleckt und höre, wie er dabei blöde kichert. In diesem Moment wird mir eines erschreckend klar: Dante ist Geschichte!

„Oh, sorry“, krakeelt Torben, der plötzlich neben mir steht, ekelhaft fröhlich, „ich wusste nicht, dass du zu tun hast. Hier ist Besuch für dich.“ Er schenkt mir ein abartig gemeines Lächeln und schlendert davon.

„Fuck“, zischt Dante, als er mich sieht und springt auf.

Die Emopissnelke bleibt gemütlich liegen, während ich langsam einige Schritte zurück gehe.

„Ich wollte …“

Dante schiebt mich in den Flur. Sein nackter Oberkörper ist übersät mit roten Kratzspuren und kleinen Knutschflecken, auf die ich zwanghaft starren muss.

„Eli“, seufzt er, „warum hast du nicht angerufen?“

Das ist alles? Ich kämpfe den aufsteigenden Brechreiz nieder und drücke ihm den Schal in die Hand, bevor ich wie ein geprügelter Hund nach Hause schleiche.

 

Vielleicht habe ich genau das gebraucht, um es endlich zu kapieren. Auf Dantes Anrufe reagiere ich nicht, die SMS lösche ich ungelesen. Ein klitzekleines Fitzelchen Hoffnung wabbert noch in mir, dass er Felix nach Hause schickt und zu mir kommt … aber ich verbringe die Nacht natürlich allein. Als Dante dann zwei (!) Tage später zu mir kommt, fühle ich nichts mehr.

„Torben ist ein Arschloch“, erklärt er. „Der wusste genau …“

„Ich kann das nicht“, unterbreche ich ihn. „Ich hab’s versucht, aber ich kann’s nicht.“

„Willst du Schluss machen?“, fragt er überrascht.

„Wie soll ich mit jemandem Schluss machen, mit dem ich nie zusammen war?“, entgegne ich müde.

„Wir sind zusammen. Das mit Felix hat absolut nichts mit dir und mir zu tun.“

„Es ist doch nicht nur Felix, begreifst du das nicht? Ich bin verliebt in dich und deshalb tut es scheißverdammt weh, wenn du mit ihm oder tausend anderen Kerlen schläfst. Es tut zu weh, Dante. Es tut einfach zu weh.“

„Eli, ich wollte dich nie verletzen.“

Blablabla. Er müsste jetzt nur sagen, dass er mit dem Rumgeficke aufhört, weil er mich liebt, dann hätten wir eine Chance. Alles andere ist bloß Gelaber, das mir nichts bringt.

„Du solltest gehen.“

Immerhin wirkt sein Blick ein kleines bisschen traurig. Vielleicht ist das aber auch bloß Show.

„Kann ich dich anrufen?“

„Lieber nicht.“

„Eli …“

„Mach’s gut, Dante.“

 

Wow! Ich hätte nicht gedacht, dass ich das tatsächlich hinkriegen würde. Ganz ohne Heulerei. Ganz ohne mich von Dante wieder einwickeln zu lassen. Ich hab’s geschafft.

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