zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

DSDMB

Teil 10

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

Ferdi

Schröder ist weg. Und am schlimmsten daran finde ich, dass ich tatsächlich ein bisschen erleichtert darüber bin. Ich mache mir echt Selbstvorwürfe deswegen. Zumindest, wenn ich Zeit habe, darüber nachzudenken. Denn am Montag heißt es plötzlich, dass Michi Donnerstag nach Regensburg verlegt wird und dazu hab ich noch verdammt viel vorzubereiten und zu packen und so weiter. Denn natürlich gebe ich dann meine Wohnung auch sofort auf. Mit Herrn Kolber vereinbare ich, dass ich Michis Zeug einfach da lassen kann, allerdings muss ich noch einiges an Nebenkosten nachzahlen und kann mir deshalb kaum einen Möbeltransporter leisten für den Rest. Und mit dem Zug … das ist utopisch. Scheiße, ich hasse es, dass ich keinen Führerschein habe! Und ich hasse es, dass ich quasi keine Eltern habe! Keine Freunde, die ich um Hilfe bitten könnte und keinen Freund, auf den Verlass ist. Ich sitze den ganzen Montagabend auf der Couch, die nicht mir gehört und verfalle in Selbstmitleid. Ich hasse solche Leute eigentlich, denn davon wird ja nichts besser. Aber momentan weiß ich einfach wirklich nicht, wie alles weitergehen soll. Wenn ich nicht mal fähig bin, mein eigenes Leben in den Griff zu bekommen, wie soll ich mich dann um Michi kümmern? Hatte Herr Kolber am Ende vielleicht doch recht? Bin ich einfach noch zu jung dafür? Aber was wird dann aus Michi? Er – seine Familie – hat so viel für mich getan. Ich schulde es ihm doch, für ihn da zu sein … aber wie soll das mit DSDMB überhaupt funktionieren? Meine Schwester kann vielleicht zweimal die Woche vorbei schauen und Wäsche mitnehmen oder so. Aber das ist doch viel zu wenig … DSDMB brauche ich aber wirklich. Vor der ganzen Castingsache war ich kurz vorm Durchdrehen. Ich musste da mal raus kommen und was für mich tun. Auch jetzt fühlt es sich wieder so ähnlich an. Ich muss hier raus, brauche Ablenkung und brauche … Schröder.

Ich versuche, ihn anzurufen, aber sein Handy ist aus. Es ist kurz vor Mitternacht. Vermutlich treibt er sich in irgendwelchen Punkschuppen rum. Moment, ich hab doch irgendeinen Notizzettel mit einer Adresse drauf gesehen. Wo hab ich den noch …? Ah, beim Wäsche machen. Also im Bad-Mülleimer. Mann, so weit ist es schon mit mir gekommen. Ich wühle in rotzigen Taschentüchern und Q-Tips!

Aber es hat sich gelohnt. Der gilbig-gelbe Zettel war ganz unten im Eimer. Und darauf steht, dass im Feierwerk am Elften, also heute, „Großes Grölen“ am Start ist. Be there or be square. Aha. Schröder ist nicht square, also wird er dort sein, oder? Einen Versuch ist es wert. Schwarze Klamotten und Schröders Armband und fertig. Die Nachtlinie bringt mich ganz in die Nähe und kurz nach halb eins stehe ich vor einer Horde besoffener Punks und bekomme schon vor dem Gebäude einen halben Hörsturz vom Krach. Und diese ganzen Körperausdünstungen und jedes zweite Lächeln ist zumindest teils zahnlos. Ein Punk im Rollstuhl schiebt sich rücksichtslos durch die Menge und rammt dabei eh schon gereizt wirkende Gestalten. Eine Frau prügelt sogar kurz auf ihn ein und schreit Krüppel und Missgeburt und so Zeug. Ich will da nicht rein. Auf gar keinen Fall. Ich frag einfach mal hier draußen rum, ob jemand Schröder kennt und dann verziehe ich mich.

„Entschuldigung?“

„Verpiss dich, Hackfresse!“

Okay … oder ich folge diesem sicher gut gemeinten Rat und verzieh mich gleich wieder.

„Scheiße, du bist doch der Kerl von DSDMB!“, kreischt etwas Weibliches mit Zotteln auf dem Kopf.

„Äh ja, genau …“

„Woher weißtn du so nen Scheiß?!“, will ein bäriger Kerl mit Stacheln statt Haaren wissen.

„Maul! Ferdi, du musst ein Bier mit mir trinken!“

„Eigentlich such ich nur Schröder. Kennst du den?“

Und ab da kann ich mich an nichts mehr erinnern. Ich weiß nur, dass irgendwas über mich krabbelt und ich davon aufwache. Und dass ich kratzige Wolle spüre und irgendwas, das übel nach Schweiß und Alkohol stinkt. Verdammt, ich glaub das bin ich selbst!

„Scheiße, muss das Viech hier immer rumschnüffeln?“, motzt es neben mir.

Sofort bin ich hell wach und versuche, den gestrigen Abend zu rekonstruieren.

„Kunze kuschelt wenigstens mit mir, im Gegensatz zu dir, also halt’s Maul“, findet die zottelige Frau vom Vortag.

Ich richte mich auf und kriege vom Kater volle Breitseite. Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindel, rissige Lippen. Ich lege mich einfach wieder hin, nur um von einer Staubwolke umgeben zu werden, die sich bei meinem Aufprall vom Kissen erhebt.

„Morgen, Fuchseder“, dröhnt es mir entgegen und für einen Moment meine ich, Schröders Stimme zu erkennen.

Es ist dann doch nur irgendein Kerl, der auch im Raum liegt. Es ist so halb duster, so dass ich etwas aber nicht viel erkennen kann. Und im Hintergrund rauscht es die ganze Zeit über leise. So wie, wenn Wasser durch Leitungen fließt.

„Morgen“, flüstere ich, um mir selbst nicht noch mehr Kopfweh zu machen.

„Kaffee?“

„Äh, nein danke.“

„Ist er nicht mustermäßig höflich, unser Fuchsi?“, lacht der Fremde mit Schröders Stimme.

„Ich glaub, ich sollte dann mal los. Wie spät ist es?“

„Eins oder so“, zuckt die Frau die Schultern.

„Fuck! Ich hab keine Zeit für sowas, ich muss noch so viel erledigen! Ach scheiße, warum habt ihr mich nicht geweckt?“

„Geht’s noch? Schau ich aus wie deine Mama?“, fragt der Bär.

Ich entscheide mich gegen eine Antwort und stehe auf, wanke Richtung Tür, nehme noch eine braune Ratte wahr, die vorbeihuscht und verschwinde. Wobei ich mich in den verwinkelten Gängen, die sich als Lagerhaus rausstellen, ein paar mal verlaufe und … naja, irgendwann seh ich Sonnenlicht und klettere durch ein eingeschlagenes Fenster auf eine Feuerleiter und dann nach unten auf einen geteerten Hof. Wie krieg ich nur diesen ekligen Geruch aus der Nase? Und … ach verdammt, meine Jacke ist weg! Ich taste nach Geldbeutel und Handy, alles in der Hose. Immerhin. Jetzt muss nur noch das Ohrensausen und der Kopfschmerz aufhören. Und ich muss rausfinden, wo der nächste Bus oder sowas fährt.

Ich hab das Gefühl, eine Weile im Kreis zu laufen, obwohl ich nur ein mal abgebogen bin, auf eine mittelmäßig befahrene Straße.

„Taxi!“, brülle ich, als ich eines sehe, und es hält tatsächlich neben mir. „Zur nächsten Haltestelle, egal was für eine.“

„Hast du Kohle?“, fragt der Fahrer ziemlich unhöflich.

Was ist denn mit dem los?

„Sicher, sonst würde ich kein Taxi anhalten …“

„Der Ostbahnhof ist vier Euro entfernt.“

„Okay, dann zum Ostbahnhof.“

Nach der kurzen Fahrt krame ich nach meiner Geldbörse … und stelle fest: Das ganze Geld ist weg! Scheiße! Ich hab nicht mal Kleingeld! Keinen Cent mehr! Zum Glück sind die Gleise schon in Sicht.

„Also wegen dem Geld …“, fange ich kleinlaut an.

Sofort bremst das Taxi ab, hält und der Fahrer zischt:

„Mach dass du raus kommst, du verlaustes Stück Dreck!“

Uff. So schnell bin ich noch nie aus einem Auto ausgestiegen. Tut mir ja echt leid, aber er hätte mir doch auch eine Rechnung geben können oder so …

Erst mal durchsuche ich meinen Geldbeutel, stelle aber fest, dass außer dem Bargeld nichts zu fehlen scheint und stapfe weiter Richtung Bahnhof. Mir ist inzwischen richtig kalt, schließlich trag ich bei fünf Grad oder so nur ein T-Shirt. Und mein Handyakku ist auch leer und eigentlich sollte ich in ein paar Stunden bei meiner Schwester auftauchen. Scheiße, das schaff ich nie!

Die Leute in S-Bahn und Tram schauen mich irgendwie seltsam an. Okay, vermutlich sehe ich aus wie eine Schnapsleiche und riechen tu ich auch nicht besonders … Als mir dann aber einer meiner Nachbarn im Treppenhaus begegnet und mich ziemlich geschockt mustert, spurte ich so schnell wie möglich in meine Wohnung und traue meinen Augen nicht. Ich muss bitte auf der Stelle tot umfallen!

„Ach du meine Güte, was ist denn mit dir passiert?!“, lacht meine Schwester, als sie mich spät nachts vom Zug abholt. „Hatte Schröder was damit zu tun?“

Sie zupft an den blauen Haaren auf meinem Kopf rum und befummelt dann die Stoppeln an den Seiten.

„Nein. Ich weiß nicht, wer dafür verantwortlich ist. Aber wenn ich es jemals rausfinde, gibt’s Tote.“

„Na jetzt steig erst mal ein. Die Übergänge sind übrigens echt schlecht gemacht. Totaler Pfusch.“

„Barbara, die verdammten Übergänge sind mir scheiß egal! Ich hab nen blauen Iro auf dem Kopf und morgen kommt das Homestory-Team!!“

„Jetzt komm mal wieder runter. Das sind doch bloß Haare! Morgen Vormittag gehst du in den Friseursalon meines Vertrauens. Die können das bestimmt halbwegs retten. Aber erst mach ich ungefähr eine Million Fotos davon. Mein Bruder, der kleine Punker. Das glaubt mir sonst kein Schwein.“

Angelique, eine etwa fünfzigjährige Edeltranse, erklärt mit gerümpfter Nase, dass sie mir einen dieser modischen Fußballer-Gel-Iros draus machen kann. Das sei ja jetzt ganz in. Was die Farbe betrifft, findet sie, dass man das am besten dunkel übertönen sollte. Nachdem ich versichert habe, dass mir wirklich ALLES lieber als der Status Quo ist, macht sie sich ans Werk.

Wie gesagt, schlimmer hat sie es nicht machen können. Aber … gefallen tu ich mir nach ihrer Behandlung auch nicht unbedingt. Was man nicht ändern kann, muss man eben hinnehmen. Mann, Schröder hätte das Blau bestimmt gemocht …

Herr Klein ist ja ein dermaßen aufgeblasener … grrr. Er findet alles an meinem Zuhause viel zu normal und langweilig, erzählt noch kurz, dass er gestern ja in einer richtigen Absteige drehen konnte und dass Schröders Geschichte das moderne Märchen sei. Und dann findet er:

„Wir sollten bei diesem Freund von dir drehen. Der, der den Unfall hatte.“

„Auf keinen Fall!“

„Auf jeden Fall. Mit dieser Bilderbuchfamiliennummer kriegst du keine Quote, Junge. Du weißt schon, dass ab sofort die Zuschauer über deinen Erfolg entscheiden, oder?“

„Michi wird nicht gefilmt. Basta. Seine Familie würde das sowieso nie und nimmer erlauben.“

„Na, das wollen wir doch mal sehen. Unterschätze nie die Mediengeilheit der Menschen, Ferdi. Nummer?“

Vehement schüttle ich den Kopf. Aber Barbara findet:

„Lass die Kolbers das doch selbst entscheiden. Wie du schon sagst, die erlauben das eh nie im Leben.“

„Na schön.“

Tja, der Schuss ist gehörig nach hinten losgegangen. Klein telefoniert keine viertel Stunde mit Michis Mutter, schon hat er eine Drehgenehmigung, unter der Auflage, dass das Möbelhaus in dem Einspieler Erwähnung findet. Jeder Mensch hat seinen Preis, nicht wahr? Donnerstagnachmittag, wenn Michi in Regensburg angekommen ist, soll es so weit sein. Mich fragt niemand mehr nach meiner Meinung. Und auch die Ärzte wurden nicht konsultiert.

Ziemlich gefrustet fahre ich also am Mittwochabend zurück nach München. Packe, bestelle den Möbeltransporter, den Frau Kolber freundlicherweise bezahlt, wahrscheinlich damit ich sie im Fernsehen als fürsorgliche Mutter dastehen lasse, und versuche, wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Morgen wird umgezogen. Ich darf bis 29. bei meiner Schwester bleiben und Michi wird in Regensburg auch gut aufgehoben sein denke ich. Das wird schon alles irgendwie. Wenn die nächsten zwei Wochen erstmal um sind, ist vorerst das Gröbste überstanden. Und spätestens dann sehe ich auch Schröder wieder. Was der wohl so die ganze Zeit treibt?

Schröder

„Mach das verdammte Licht aus“, murmele ich schwächlich… und gereizt.

„Das ist die Sonne“, behauptet Yoko. „Möchtest du ihr nicht mal Guten Tag sagen?“

„Nein“

„Schröder, mir reicht’s langsam. Seit vier Tagen liegst du in MEINEM Bett und stehst bloß zum Pinkeln auf. Das kann so nicht weitergehen.“

„Ich hab so doll Liebeskummer“, versuche ich Mitleid zu erwecken.

„Ja, das weiß ich doch, Schatz. Aber du verschwendest deine Liebe an einen Blödmann, der sie gar nicht haben will, und das tut dir nicht gut“, faselt sie, als würde sie es einem Kind erklären. „Iss wenigstens heute ein bisschen Schokoknuspermüsli, mh?“

„Mir ist übel.“

„Ich kann dir auch Haferschleim machen. Den gab’s bei Mami immer, wenn ich Aua-Bauch hatte. Komm schon, Bubu…“

„Du bist so doof“, grinse ich verzweifelt und will mir die Decke über den Kopf ziehen, aber Yoko entreißt sie mir.

„Schröder! Das ist doch Schweinkram“, zickt sie und flitscht Tabakkrümel vom Laken.

„Entschuldige.“

„Du drehst deine Kippen bitte nicht mehr im Bett, ja? Und du stehst jetzt auf. Und wenn du so riesige Sehnsucht hast, ruf ihn an, verdammte Scheiße.“

„Geht nicht. Wir haben uns getrennt. ICH hab mich getrennt. Hab ihn schon wieder allein gelassen und…“

„Er wollte, dass du verschwindest.“

„Vielleicht… vielleicht war das nur ein Test. Und ich hab ihn nicht bestanden.“

„Ich hab keine Lust mehr, mir den Kack anzuhören. Seit vier verfluchten Tagen höre ich nix außer Ferdi hier, Ferdi da… ich krieg ’ne Macke.“

Bedröppelt löffle ich mein Müsli und bekomme danach Magenschmerzen. Die Zigarette betäubt zum Glück ein wenig.

„Ich fühle mich ganz schwindlig“, bemerke ich. „Und ich hab Schlappigkeit.“

„In Knie?“, fragt sie wenig fürsorglich, weil sie dabei lacht.

Gegen meinen Willen muss ich ebenfalls lachen, denn wir haben gestern Ijon Tichy gekuckt und der hatte eben Schlappigkeit in Knie, was sehr lustig war.

„Schröder, Liebeskummer müssen wir alle mal durchmachen“, klugscheißt sie. „Du bist sicher grad nicht der Einzige, der leidet. Irgendwann geht das vorbei, glaub mir.“

„Schlaumeiersprüche bringen’s total.“

Abends lasse ich mich überreden, in einen schwul-lesbischen Club zu gehen. Wir trinken einen abenteuerlich bunten Cocktail und Yoko deutet ständig auf ihrer Meinung nach hübsche Jungs.

„Der sieht aus wie Ferdi mit blondierten Haaren.“

„Okay. Was ist mit dem an der Bar?“

„Der sieht aus wie Ferdi mit schwarzen Haaren.“

„Und der in der Ecke?“

„Der hat einen Bart“, rege ich mich auf. „Und sieht aus wie Ferdi mit Haaren im Gesicht.“

„Du bist wie Melanie in Queer As Folk“, lacht sie.

„Hä?“

„Vergiss es.“

„Schröder!“, quietscht es plötzlich dicht an meinem Ohr.

Ach du meine Güte, auch das noch!!

„Paolo?“, fragt Yoko. „Seit wann wohnst du in Berlin?“

„Seit vierzehn Jahren?“, schlägt er vor.

„Aber du warst nicht hier beim Casting.“

„Stimmt. Ich war in Hamburg. Das war nämlich ein paar Tage später und ich musste meine Eltern doch erst noch überreden und so. Schröder, du siehst aus…“

„Wie Ferdi mit grünen Haaren“, prustet Yoko, woraufhin der kleine Emo irritiert in die Runde glotzt.

„Jedenfalls, lustig, dass man euch hier trifft, oder?“, findet Paolo. „Seid ihr etwa nicht mehr verliebt?“

„Doch, wieso?“

„Weil man hierher kommt, um Kerle aufzureißen. Oder Lesben.“

„Danke, Meereskind“, zische ich.

„Und… schon einen gefunden?“, will Yoko wissen.

Zutraulich schmiegt er sich an meine Seite. „Möglicherweise.“

„Du hasst mich. Weil ich in Florida immer gemein war und dich hab abblitzen lassen.“

„Sehr richtig. Aber was soll ich machen? Ich stehe halt auf Ärsche.“

„Ist das ’n Fetisch oder so?“

„Ich meine, Typen, die sich wie Ärsche benehmen. Obwohl… wenn einer einen hübschen Arsch hat, ist das natürlich ein Pluspunkt…“, faselt er und schiebt seine Hand in die hintere Tasche meiner Jeans.

„Ist es dir gar nicht peinlich, mir vor den Augen meiner Freundin an den Arsch zu fassen?“

„DSDMB-Freundin, oder?“

„Musst du nicht bald nach Hause? Ist schon fast zwölf und du bist minderjährig.“

„Ja, aber ich bin auch in Erwachsenenbegleitung“, zuckt er die Schultern.

„Dann gib doch Papa und Mama einen Cocktail aus“, grinst Yoko.

„Ich werde ganz sicher nix mit dem anfangen“, erkläre ich, als Paolo kurz an die Bar trottet.

„Das verlangt auch niemand.“

„Sex, um über seine große Liebe hinweg zu kommen, funktioniert nie.“

„Woher weißt du das? Musstest du schon mal über eine große Liebe hinweg kommen?“

„Das sagt einem der gesunde Menschenverstand. Außerdem würde das alles noch viel, viel komplizierter machen. Ich piss mir bereits ins Hemd, weil ich den Fuchseder in Köln sehen muss und daraufhin sehr wahrscheinlich in Tränen ausbrechen werde. Stell dir mal vor, ich bums den kleinen Emo und er tratscht das rum.“

„Na und? Du bist doch wieder Single, also kannst du bumsen, wen du willst.“

„Ich bin überhaupt kein Single. Dass Ferdi Abstand braucht, heißt ja nicht, dass… Yoko, was mache ich, wenn er mich nicht wieder haben will?“, frage ich weinerlich.

„Gott sei Dank“, stöhnt sie, „die Cocktails kommen.“

Und irgendwie verschwindet sie dann plötzlich im Laufe des Abends und Paolo ist voll auf Flirtkurs.

Niedlich ist er ja schon. Und er riecht so nach… Kaugummi aus:m Automat… süß und billig. Ah, das liegt an seinen Lippen, stelle ich beim Küssen fest. Hä?? Wieso knutsche ich auf einmal mit dem kleinen Emo? Der hat mir doch was in den Drink geschüttet!

Als er mal kurz von mir ablässt, kramt er Lipgloss aus der Tasche und schmiert sich mit einem Pinselchen das klebrige Zeug auf die Lippen. Ich werfe einen Blick drauf.

„Bubblegum?“

„Schmeckt geil, mh?“, grinst er und zieht filmreif eine Braue hoch.

Allerdings. Eigentlich… also genau genommen hätte ich einen Fremdfick gut, oder?

Als hätte Paolo meinen Gedanken erraten, greift er nach meiner Hand und zieht mich durch die Menge aufs Klo in eine Kabine.

Au weia… wie unappetitlich und abgedroschen!

Er drückt mich gegen die Wand, knutscht mich dermaßen heftig durch, dass ich kaum noch weiß, wie ich heiße, nestelt an meinem Gürtel, der zu Boden fällt, nestelt an meiner Hose und geht auf die Knie.

„Cooles Tattoo“, nuschelt er und bläst leicht über die feuchte Spur, die seine Zungenspitze auf meiner Haut hinterlassen hat. Bevor er noch an anderen Stellen bläst oder saugt, ziehe ich ihn lieber wieder hoch.

„Fick mich“, wispert er. Es klingt außerordentlich dringend.

„Willst du dein erstes Mal echt an einem Ort haben, wo Leute zum Pissen hingehen?“

„Woher weißt du…“

„War bloß geraten“, lächele ich.

„Verdammt! Okay, dann komm mit zu mir nach Hause.“

„Was ist mit deinen Eltern?“

„Die erlauben, dass Freunde bei mir übernachten.“

„Freunde, die dich ficken?“

„Willst du mich denn ficken?“

Da gibt’s nichts zu überlegen. „Ja. Aber ich werd’s nicht tun.“

„Wieso nicht?“

„Weil ich in jemanden verliebt bin.“

„Aber nicht in Yoko.“

„Nee?“

„Nee. Sonst hättest du nicht ’in jemanden’ gesagt. Also, wer ist es?“

Ich knöpfe meine Hose zu, hebe den Gürtel auf und schlinge ihn um meine Hüfte.

„Soll ich dir nicht mal einen blasen?“, fragt er enttäuscht.

Oh Mann, dieser hübsche Schmollmund…

„Du darfst mir noch einen Drink spendieren.“

Keine Ahnung, wie viele Drinks es geworden sind. Wahrscheinlich eine ganze Menge, denn ich kann mich nur noch schwach daran erinnern, wie ich in Paolos Bett gekommen bin. Aber ich weiß, dass zwischen uns nix sexuelles gelaufen ist, denn dazu war ich mit Sicherheit nicht mehr fähig.

„Hey, kleiner Wassermann“, lächelt der Emo.

„Wie bitte?“, röchele ich.

„Von dem hast du letzte Nacht andauernd geredet. Und von einem Prinzen. Und von einem Fuchs, glaub ich. Es war etwas schwer, deinem lallenden Gefasel zu folgen.“

„Das hab ich verwechselt. Der mit den Wackersteinen im Bauch ist immer ein Wolf. Sonst noch was?“

„Na ja… du hast dich an mich geklammert, weil du Angst hattest, dich im Meerschaum aufzulösen.“

„Dann sollte ich mir wohl weniger Meerjungfrauenmärchen angucken.“

„Du hast mir immer noch nicht gesagt, in wen du verliebt bist. Ich dachte schon, du meinst Ferdi… wegen Fuchs… eder.“

„Ich meinte aber Wolf. Und ich bin nicht in Ferdi verliebt“, lüge ich.

„Sondern?“

„Du kennst den Typen eh nicht, also kann’s dir egal sein. Krieg ich hier einen Kaffee mit sehr viel Milch und Zucker?“

Ich bekomme sogar Croissants, Brötchen, verschiedene Marmeladen, Orangensaft und so weiter zum Frühstück. Und als Gimmick auch noch Paolos Eltern, die mit am Tisch sitzen und es höflich toll finden, den Freund ihres Sohnes kennen zu lernen. Dass sie das denken, liegt wahrscheinlich an dem Knutschfleck, den Paolo mir irgendwann, als ich wehrlos war, verpasst hat. Nebenbei… Paolo hat gleich mehrere Knutschflecke am Hals. An deren Entstehung kann ich mich komischerweise noch relativ gut erinnern. Ich wollte, dass sie irgendein Bild ergeben. Ein Gesicht… oder ein Tier? Den Kulup? Na ja, ist ja nicht so wichtig.

Die nächsten paar Tage kriege ich das, was ich beim Fuchseder vermisst habe… Händchen halten auf der Straße, Küsse in der Öffentlichkeit, sich gegenseitig Süßigkeiten in den Mund stecken… einfach ganz normal teenagermäßig verknallt sein. Mit Paolo geht das. Und es ist zur Abwechslung echt schön, sich nicht andauernd Gedanken machen zu müssen. Allerdings muss ich ein bisschen aufpassen, dass sich Paolo nicht ZU sehr verliebt. Ich meine, ich hab ihm zwar gesagt, dass ich nicht mit ihm schlafen und mich nicht von meinem Freund trennen werde, aber Hoffnungen macht er sich wahrscheinlich doch. Das ist natürlich blöd, weil ich den kleinen Emo inzwischen wirklich mag und sehr genau weiß, wie man sich fühlt, wenn man in jemanden verliebt ist, der halt „besetzt“ ist. Ich vermisse Ferdi jeden Tag. In jeder Minute fehlt er mir. Tausendmal überlege ich, ihn anzurufen und traue mich dann nicht. Weil ich eben noch nicht hören kann, dass es vorbei ist.

Ferdi

Verdammt noch mal, was ist bloß mit Schröders Handy los? Das ist daueraus! Das kann doch nicht sein, oder? Ich MUSS ihn aber sprechen. Ich muss wenigstens wissen, dass er heil angekommen ist … wo auch immer. In meiner Verzweiflung hab ich sogar diesen Herrn Klein gefragt und mir den Schrottplatz, auf dem er Schröder getroffen hat, beschreiben lassen. Aber was weiter? Hinfahren? Das geht grad echt nicht. Michi muss sich doch erst mal in Regensburg eingewöhnen. Und seine Mutter hat ihn seit den Homestory-Dreharbeiten auch nicht mehr besucht. Sie hat ihren Sohn ein Jahr lang nicht gesehen, macht dann einen auf Über-Mutter, nur um sofort wieder in der Versenkung zu verschwinden!

Diese ganzen Dreharbeiten im Krankenhaus waren sowieso ein denkbar ungünstiger Start für Michi und mich mit den ganzen neuen Pflegern und Ärzten, die alles andere als begeistert von dem Auflauf waren. Auch wenn der Spuk nach einer knappen Stunde überstanden war, hat das gereicht, um den Stationsplan gehörig durcheinander zu bringen. Und Frau Kolber hat kein einziges Wort mit mir gewechselt. Sie hat nur ihren Text runtergerattert und Michi mit ihren liebevollen Worten total verwirrt. Er hat seine Mutter nämlich durchaus erkannt und sich furchtbar aufgeregt, als sie dann gegangen ist, kaum dass die Kameras aus waren. Ich hab Stunden gebraucht, um ihn zu beruhigen. Und jetzt will diese Frau einfach wieder in der Versenkung verschwinden, oder wie? Nein, so leicht kommt die mir nicht davon. Ich beschließe deshalb kurzerhand, den Kolbers am Wochenende mal einen Besuch abzustatten.

Am Samstagabend verabschiede ich mich zeitig von Michi, der in den letzten Tagen recht nervös war und irgendwie … misstrauisch. Außerdem fragt er ständig nach seiner Mutter und will bitte wieder ins Fernsehen kommen. Ich habe beschlossen, mir die Ausstrahlung nicht anzusehen. Nicht die Aufzeichnung in Berlin, wo Schröder rausgeflogen ist, nicht das Trainingslager, das mich nur durch schöne Erinnerungen frustrieren würde und schon dreimal nicht die Homestory mit Michi. Die zwei Wochen bis Köln werde ich mit Michi, meiner Nichte und meinem Neffen verbringen. In letzter Zeit hatte ich genug Trubel. Die Wohnungssuche fällt erst mal weg, zum Glück. Und die beiden Filmriss-Nächte reichen mir für ein ganzes Leben. Ruhe und Frieden tanken, das brauche ich jetzt. Mit einer Ausnahme: Heute Abend. Friedlich gesonnen bin ich den Kolbers nämlich ganz bestimmt nicht mehr.

Ich drücke selbstbewusst den vergoldeten Klingelknopf und muss eine lange Weile warten, bis die Tür aufgeht. Martin steht mit Gelfrisur und Polohemd vor mir. Er sieht seinem Bruder jetzt immer ähnlicher, zumindest, wenn er nicht gerade besoffen in der Fußgängerzone rumpöbelt.

„Shit! Halt ihn!“

Ich registriere das Fellbündel, das durch meine Beine schlüpfen will kaum, schaffe es aber reflexartig doch, den Kater dran zu hindern, in die Nacht zu entfliehen.

„Hallo Nepomuk“, grinse ich und gebe ihn seinem Herrchen zurück.

„Das war knapp. Gut reagiert.“

„Hab ja Übung drin. Auch wenn es schon ne ganze Weile her ist, dass ich hier ein und aus gegangen bin.“

„Ich weiß nicht, ob ich dich rein bitten soll.“

„Dann frag doch einfach deine Mutter.“

„Die ist noch im Laden.“

„Es ist halb neun.“

„Ja, kann zur Zeit gut mal zehn werden. Papierkram und so. Sie hat nicht so viel gutes Personal, dem sie das überlassen kann …“

„War natürlich praktischer als Michi und ich noch da gearbeitet haben …“

„M-hm. Jedenfalls … ich hab das von DSDMB gehört. Glückwunsch.“

„Dankeschön. Aber der meiste Stress kommt vermutlich erst noch. Am 29. soll ich nach Köln kommen. Je weiter ich es schaffe, desto länger bleib ich weg. Und danach … also das Ganze macht natürlich nur Sinn, wenn ich die fünf Minuten Ruhm nutze und danach auch gleich durchstarte.“

„Und Michi?“

„Genau das ist das Problem. Ich hatte gehofft, dass du und deine Mutter …“

„Deinen Müll aufräumen?“, fragt er plötzlich sehr feindselig.

„Ich wusste nicht, dass Michi MEIN MÜLL ist.“

„Ach komm schon. Stell dich nicht blöd. Ich wünschte nur, du würdest endlich mal erzählen, was passiert ist. Ich hab meinen Bruder verloren. Reicht das nicht? Muss ich auch noch diese Ungewissheit aushalten? Ich will JETZT wissen, was damals passiert ist.“

„Nein, willst du nicht.“

„Doch, egal was es ist. Ich will es endlich wissen. Warum wollte mein Bruder sterben?“

„Ich weiß nicht, ob er wirklich sterben wollte. Vielleicht war er auch einfach nur durcheinander … aufgewühlt. Vielleicht war es wirklich ein Unfall.“

„Aber du weißt, warum er durcheinander war?“

„Martin … ich kann nicht drüber reden. Michi würde es nicht wollen.“

„Michi hat sein Mitbestimmungsrecht verloren als er an diesen Baum geknallt ist und mich alleine gelassen hat. Das Mindeste ist, mir endlich reinen Wein einzuschenken. Also?“

„Dazu musst du mich aber rein bitten.“

„Na schön. Gehen wir in mein Zimmer.“

Der Weg die geschwungene Treppe nach oben und durch den Flur an Michis Zimmer vorbei ist so vertraut, dass mir fast Tränen in die Augen schießen, weil ich daran denken muss, wie oft ich mit Michi hier entlang in sein Schlafzimmer gegangen bin, um … unaussprechliche Dinge zu tun oder einfach nur zu kuscheln, Musik zu machen, zusammen zu sein. Verdammt, ich vermisse ihn so sehr! Wie konnte er mich nur einfach so allein lassen? Manchmal hasse ich ihn richtig dafür. Und genau diesen Zorn sehe ich auch in Martins Augen.

„Also?“, fordert er und setzt sich auf die Couch.

Langsam ziehe ich mir den Schreibtischstuhl heran und versuche, es mir gemütlich zu machen.

„Was ich dir erzähle, muss unter uns bleiben. Kannst du mir das versprechen?“

„Was ist mit meiner Mutter?“

Ich schüttle den Kopf. Er nickt:

„Gut. Mein Ehrenwort.“

„Ich war sehr in deinen Bruder verliebt.“

Seine Gesichtszüge ändern sich kaum. Er zeigt keine Reaktion. Also spreche ich weiter.

„Er war auch in mich verliebt. Wir waren zusammen. Seit Jahren. Michi wollte das aber geheim halten.“

„Sogar vor mir? Ich meine, er hat mir immer alles erzählt. Ich hätte doch was merken müssen …“

„Vielleicht wolltest du es einfach nicht merken? Genau wie deine Mutter. Ich meine … wir haben fast jede Nacht zusammen verbracht und was dachtest du, tun wir, wenn wir uns stundenlang im Bad eingeschlossen haben? Und dass ich nie eine Freundin hatte … ist dir das nicht seltsam vorgekommen?“

„Aber Michi hatte doch dieses Mädchen …“

„Nicole? Ja, weil eure Mutter ihm keine Ruhe mehr gelassen hat. Er hat sich nur ein paar Mal mit ihr getroffen. Oft hat er behauptet, zu ihr zu fahren, war aber dann in Wahrheit bei mir auf dem Hof.“

„Und was ist in der Nacht passiert? Hattet ihr Streit? Habt ihr euch getrennt?“

Vehement schüttle ich den Kopf:

„Im Gegenteil. Es war ja mein Geburtstag. Und Michi hatte versprochen, mir ein … besonderes Geschenk zu machen. Er wollte … also ich sollte … du weißt schon …“

Er winkt ab und gibt mir zu verstehen, dass ihm das Thema nicht besonders angenehm ist.

„Jedenfalls … du weißt, dass Michi sehr religiös ist. Und auch euer Vater damals … Michi ist nie so richtig mit seiner … unserer Sexualität klar gekommen. Danach wollte er oft allein sein, hat sich vor mir zurückgezogen und … manchmal gebetet oder sowas. Er glaubte eben wirklich, dass er für das, was er mit mir tut, in die Hölle kommen würde. In jener Nacht … haben wir es zum ersten Mal … anders rum gemacht, also ich hab ihn …“

„Schon klar.“

„Ja, das ist die ganze Geschichte. Ich bin eingeschlafen und als ich aufgewacht bin, war er weg. Ich dachte, er sei nach Hause gefahren. Bis dann der Anruf kam.“

„Aber das gibt doch keinen Sinn. Warum sollte er sich deshalb umbringen?“

„Weil er mit seinem Gewissen nicht mehr klar gekommen ist?“

„Aber wenn ich meine, ich komme in die Hölle, dann tu ich doch mein Möglichstes, nicht zu sterben, oder? Und bestimmt besiegle ich mein Schicksal nicht auch nur durch eine Todsünde wie Selbstmord. Nein Ferdi, das gibt keinen Sinn.“

„Ich weiß nicht, wie rational Michi in dem Moment gedacht hat …“

„Aber er muss sich doch schon vorher Gedanken darüber gemacht haben, oder? Nein, das ist der Beweis. Er hat das nicht absichtlich gemacht. Es war ein Unfall.“

„Ich wünschte, ich könnte das glauben, aber der Polizeibericht …“

„Dann hat er eben nicht gebremst! Aber er war angeschnallt. Wer schnallt sich denn an, wenn er sich umbringen will, hm? Nein, es war ein Unfall“, verkündet Martin so sicher, dass ich ihm nicht mehr widersprechen will.

Nach ein paar Minuten Stille, frage ich vorsichtig:

„Und dass ich … wir … das macht dir nichts aus?“

„Doch. Aber ich hab das letzte Jahr über gedacht, mein Bruder hätte mich absichtlich allein gelassen. Jetzt wo ich weiß, dass er in dich verliebt war … er hätte dich nie verlassen, Ferdi. So feige wäre er nicht. Ich bin einfach froh, dass ich in meinem Kopf die Todsünde Selbstmord durch Unzucht austauschen kann. Ich glaube, dafür wird ihm irgendwann vergeben. Also besteht Hoffnung für ihn.“

„Ja, so gesehen, bin ich wohl das geringere Übel. … Bleibt noch die Frage, wer sich weiter um ihn kümmert, so lange ich weg bin.“

„Ich versuche, mit meiner Mutter zu reden. Aber sie ist … sehr verletzt und erträgt den Anblick nicht gut.“

„Ich weiß. Ich auch nicht. Aber Michi braucht sie jetzt. Und dich auch.“

„Ich tu mein Bestes.“

„Danke.“

„Ich tu das nicht für dich.“

„Trotzdem. Ich sollte dann jetzt auch los …“

„Ich finde es echt eklig, was du und mein Bruder getan habt“, erklärt er ziemlich emotionslos, einfach um klar Stellung zu beziehen.

„Martin, das ist lange her. Vergiss es einfach.“

„So einfach ist das nicht. Leider.“

„Ich kann dir auch nicht helfen. Du wolltest es wissen.“

„Kannst du aufpassen, dass Nepomuk nicht raus läuft wenn du gehst?“

„Sicher.“

Und damit verlasse ich das Kolber-Haus wieder. Mit dem untrüglichen Gefühl, dass das das letzte Mal gewesen ist. Ich versuche es auf dem Heimweg mit dem Bus noch mal bei Schröder. Immer noch kein Freizeichen. Ob ihm womöglich was passiert ist? Vielleicht sollte ich seine Mutter um die Nummer seines Bruders bitten? Oder … ist er bei Yoko? Sophie müsste ihre Nummer haben. Nur, bei Yoko anrufen, behagt mir eigentlich gar nicht. Nein, Schröder ist erwachsen. Er kann auf sich selbst aufpassen und ich bin nicht für ihn verantwortlich. Zum Glück. Auch wenn ich langsam wirklich anfange, ihn zu vermissen …

Schröder

Der kleine Emo geht mir auf den Sack! Und zwar ganz gewaltig!! Dabei macht der objektiv betrachtet süße Sachen. Aber er ist eben nicht Ferdi. Offensichtlich stehe ich, seit ich näher mit dem Fuchseder zu tun habe, darauf, mich wie einen Lappen behandeln zu lassen. Vielleicht bin ich aus Versehen Masochist geworden. Keine Ahnung. Mir schwant jedenfalls schon wieder schreckliches Unheil, weil Paolo anscheinend glaubt, dass wir jetzt… miteinander gehen oder so. Seinen Emo-Kumpanen hat er mich gestern als Freund vorgestellt. Da hab ich aber mal ganz fix seine Hand losgelassen und seitdem jede Form von Zärtlichkeit abgeblockt. Überhaupt, der will andauernd knutschen… ey, meine Lippen sind schon total rau, als hätte ich mit Schmirgelpapier drübergeschubbert. Wieso kann der Kerl nicht gescheit küssen, sondern muss an meinen Lippen rumknabbern? Der Fuchseder hat nie geknabbert. Nur vorsichtig genuckelt und… mmmmhhhhh… kann der küssen! Leider werde ich wohl niemals wieder in den Genuss kommen, weil nur noch Michi in den Genuss kommt. Ich hasse Michi! Und ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass der mal was liebenswertes an sich hatte. Bis jetzt hab ich eigentlich nur negative Dinge über ihn erfahren. Also warum zum Teufel ist der Fuchseder so fixiert auf diesen Typen?

Der 29. Januar rückt immer näher und ich werde immer nervöser. Rauche wie ein Schlot und sehne mich ein bisschen nach Moms Beruhigungspillen. Die ganze Zeit überlege ich, wie unser Wiedersehen ablaufen könnte. Von ’er haut mir aufs Maul’ bis ’er fickt mir augenblicklich den Verstand raus’ ist alles dabei. Letzte Nacht habe ich sogar geträumt, dass er mit Michi auftaucht und die beiden dann als schwules Pärchen DSDMB gewinnen. Bei der anschließenden Hochzeit war B! Trauzeuge, ich musste im Langustenkostüm Disney-Songs singen. Michi hat mich total ausgelacht und seinen frischgebackenen Ehemann gefragt, wie er so eine Witzfigur ficken konnte. Daraufhin tötete ich Michi, denn meine plüschigen Langustenscheren hatten sich plötzlich in Freddy-Krueger-Handschuhe verwandelt und ein Eigenleben entwickelt.

Es war furchtbar.

Yoko ist angepisst, weil ich mit Paolo knutsche und trotzdem heimlich den Fuchseder liebe.

Paolo fragt ständig, wer der geheimnisvolle Freund ist, von dem ich mich nicht trennen will.

Also mache ich das, was ich am besten kann: Abhauen!

Die letzten drei Tage vor der WG verbringe ich bei Timo, Juliane und der kleinen Nichte.

Leider holt mich auch da meine Vergangenheit ein. Timo hat aus’m Internet DSDMB-Sendungen runtergeladen und zeigt sie mir stolz.

Ferdi und ich im Duett. Ferdi und ich bei der Umstyleaktion. Ferdi in Orlando. Yoko und ich verliebt… blablabla.

„Der B! ist ja echt ein Arschloch. Sogar Juliane findet, dass der keine Ahnung hat und du gut singen kannst. Aber sag mal, was hat es mit dieser Freundinnen-Geschichte auf sich? Ich dachte, du hättest dich da in einen Kerl verliebt. Seit wann interessierst du dich für Frauen?“

„Alles bloß Show“, erkläre ich.

„Das zeigt einem doch wieder mal, dass man nicht alles glauben sollte, was man in der Glotze zu sehen kriegt“, schüttelt er den Kopf. „Ich weiß natürlich, dass dieser Boyband-Ferdi dein Herzblatt ist, denn unsere Mutter hat mich angerufen und total aufgelöst von deinem, eurem Weihnachtsbesuch berichtet. Wieso hast du ihn nicht mitgebracht? Ich will meinen zukünftigen Schwager doch kennen lernen.“

„Was hat unsere Mutter erzählt?“

„Wie immer“, zuckt er die Schultern, „dass du dich total daneben benommen hast. Und sie versuchen wollte, diesen netten, höflichen jungen Mann vor deinem schädlichen Einfluss zu warnen, aber leider hättest du ihn bereits verdorben. Offenbar hast du ihm so lange eingeredet, dass er diese schrecklichen Dinge freiwillig mit dir tut, dass er es selbst glaubt. Die hat mich echt stundenlang mit dem Thema vollgesülzt, ist das zu fassen? Denkst du, sie hätte einmal gefragt, wie es Juliane geht? Oder ihrer Enkelin? Oder mir?“

„Das gleicht sich aus. Paps spricht ja auch nur von dir, wenn ich ihn besuche.“

„Ich hoffe, Juliane und ich können später mal behaupten, dass wir bessere Eltern gewesen sind“, entgegnet er finster.

„Wer weiß“, murmele ich, „vielleicht hat sie ja Recht. Dabei kennt sie nicht mal die ganze Wahrheit.“

„Hä?“

„Ferdis Freund hatte letztes Jahr einen Unfall…“

„Warte“, unterbricht er mich, „ich denke, du bist sein Freund.“

„Ja, bin ich aber nicht. Michi ist sein Freund. Aber Michi ist seit dem Unfall… für bestimmte Dinge nicht mehr zu gebrauchen. Die hab ich dann halt eine Weile übernommen, weswegen Ferdi natürlich ein schlechtes Gewissen hat, weil er ja Michi liebt. Irgendwie ist alles total verkorkst und… ich hätte die Finger von ihm lassen sollen. Wäre für alle Beteiligten günstiger gewesen.“

„Aha. Hast du ihn gezwungen, was mit dir anzufangen?“

„Nicht direkt. Aber ich hab mich schon ziemlich… angeboten, glaub ich.“

„Und er hätte ablehnen können. Was soll dieser ’alles ist meine Schuld’-Quatsch? Hast wohl zu lange bei Mom und Rainer rumgehangen, was? Werd bitte endlich wieder normal, Kleiner! Du bist nicht der Antichrist, auch wenn sie das noch so sehr behauptet.“

„Hat sie das echt gesagt?“

„Die Bezeichnung ist mal kurz gefallen“, nickt er.

„Cool. Ich lande nicht nur in der Hölle, ich entstamme ihr sogar.“

„Seit wann gehst du davon aus, in die Hölle zu kommen?“, will Timo wissen.

„Ich treib’s mit Kerlen, also wo sollte ich sonst landen?“

„Im Schwulenhimmel, wo alles rosa ist“, schlägt er vor. „Und alle nackt sind.“

„Apropos rosa“, grinse ich und zaubere aus meinem Weltreiserucksack einen klitzekleinen Strampelanzug hervor.

„Das kannst du unmöglich ernst meinen, Nepomuk.“

„Den hab ich in Berlin gekauft“, erkläre ich.

„Da ist ein Totenkopf drauf.“

„Ja, tut mir leid. Ein Anarchiezeichen wäre mir lieber gewesen, aber so was gab’s da nicht. Immerhin ist das ein Totenkopf für Mädchen, denn wie du siehst, er trägt eine Schleife.“

Juliane, die grad eben ins Zimmer kommt, reißt mir das Teil aus der Hand.

„Schröder, das ist sehr süß von dir. Nicht ganz mein Geschmack, aber es ist ja wahrscheinlich lieb gemeint.“

„Ich hab noch was.“

Und zwar einen Plüschhalbmond, auf dem ein ekelhaft niedliches, schlafendes Viech liegt und der ’Guten Abend Gute Nacht’ spielt, wenn man am Bändchen zieht. Damit ist die Mama zufrieden. Sofort landet die hässlich-bunte Blumenspieluhr, die Mom zur Geburt schickte, im Karton mit Ausrangiertem und meine super niedliche Spieluhr wird ans Bett der Nichte getackert.

Meinen Geburtstag verbringe ich bei Eddie in der Kneipe. Das heißt, nachmittags gab’s von Juliane gebackenen Kuchen. Ich war ehrlich gerührt, dass sie neben dem Babystress so was für mich getan hat. Da mein Handy immer noch ausgeschaltet ist, weiß ich nicht, ob Mom angerufen hat. Wahrscheinlich nicht. Von Paps hab ich eine Karte gekriegt: Alles Gute zum Geburtstag, viele Grüße an Timo! Wie jedes Jahr. Timo schmeißt Paps’ Karten und Briefe übrigens ungelesen in die Mülltonne.

Zur Feier des Tages krieg ich den gesamten Abend Freibier und ich knutsche ein bisschen mit Sandro. Das macht zwar wenig Spaß, aber irgendwie brauch ich grad Nähe, weil ich den Fuchseder schmerzhaft vermisse. Als Sandro allerdings irgendwann ziemlich deutlich sagt, dass er mehr will, gehe ich lieber nach Hause. Ist eh besser, wenn ich morgen nicht völlig verkatert in der WG auftauche.

Am Kölner Bahnhof läuft mir erst mal Cristian über den Weg. Danach trudeln ein paar weitere Kandidaten ein. Yoko und Paolo. Ferdi sehe ich nicht. Ach du Kacke, was, wenn er es sich noch mal wieder anders überlegt hat??

In mehreren Autos geht’s dann ins DSDMB-Haus, das ungefähr eine Stunde von Köln entfernt und reichlich abgeschieden ist. Vermutlich möchte man so verhindern, dass jeden Tag wahnsinnige, weibliche Fanmassen vor der Tür stehen und hysterisch herumkreischen, dass sie ein Kind vom Fuchseder haben wollen.

Jedenfalls ist das Haus riesig und bevor Paolo auf phantastische Ideen kommt, ziehe ich mit Yoko in ein Zimmer und behaupte, dass das dritte Bett bereits reserviert ist.

Als ich meinen Rucksack über den Flur schleppe, steht auf einmal Ferdi vor mir…

Ferdi

Ich versuche, die zwei Wochen vor der WG halbwegs sinnvoll zu nutzen, indem ich mein letztes Geld in Gesangsunterricht und Tanztraining investiere. Danach ist mein Kontostand bei 38,54 Euro. Eine hohe Kante habe ich noch nie besessen. Ich kann also nur hoffen, dass DSDMB bald etwas abwirft … außer tausende Liebesbriefe. Ein Paketbote hat einen ganzen Sack voll bei meiner Schwester abgegeben, der freundlicherweise von DSDMB-Leuten für mich gesammelt worden ist. Ich werde gebeten, ein paar nette Fotos damit zu machen, also kippt Barbara das ganze Zeug in die Wanne und ich pflanze mich mitten rein und tu so, als würde ich mir grad mit einer Bürste den Rücken schrubben. So ein Bild hab ich mal von einem Backstreet Boy in der Bravo gesehen. Danach sortieren wir das ganze Zeug durch. Noah und Lisa freuen sich über ein paar neue Kuscheltiere, Barbara schreibt die Autogrammwunsch-Adressen ab und die Fotos der Teeny-Girls und ein paar Bleistift-Portraits von mir sammeln wir in einer Box. Der Rest kommt erst mal in die Garage. Ich meine, ich kann meine erste Fanmail doch nicht einfach wegwerfen, oder? Ich freu mich ja auch darüber. Ein bisschen. Aber hauptsächlich finde ich es irre, dass so viele junge Mädchen sich so in was hineinsteigern können. Viele haben mir nämlich mit ganz vielen gemalten Herzchen versichert, dass sie mich für immer lieben werden. Brrrrrr!

Martin besucht Michi jeden zweiten Tag nach der Schule. Er hat sich auch ein paar Tricks zum Umziehen und Füttern und so von mir zeigen lassen und ich bin halbwegs beruhigt, als ich in den Zug nach Köln steige. …. Bis der Zug eine halbe Stunde vor Köln abrupt bremst, mitten in einem Industriegebiet. Ein Alarmsignal tönt durch die Lautsprecher. Nach einer halben Minute kommt auch schon die Durchsage:

„Wegen eines Personenschadens verzögert sich die Weiterfahrt auf unbestimmte Zeit.“

Unser Zug hat gerade jemanden überfahren. Unweigerlich muss ich mir einen zerfetzten Körper vorstellen, der irgendwo unter uns auf den Gleisen liegt. Ich sitze ziemlich weit vorne, am Fenster, muss den Reflex unterdrücken, hinauszuschauen. Was ich dort wohl sehen würde? Ein Zugbegleiter joggt eilig durch den schmalen Gang Richtung Führerhaus. Dann wieder Stille. Eine der Zugtüren vorne geht auf. Jemand steigt aus. Ich schließe meine Augen, sehe Michi, sehe die Unfallstelle, an der ich auf den Weg ins Krankenhaus mit meinem Bruder damals vorbeigefahren bin. Sehe die Absperrbänder, die noch lose im Wind flatterten. Ich denke an die Fotos von Michis Auto, die eingedrückte Motorhaube, das zerborstene Glas.

Als ich die Augen öffne, sehe ich neben mir am Fenster einen Polizisten, der Absperrband festknotet. Ich fahre auf, nehme meine Taschen von der Ablage und gehe nach hinten durch.

„Meine Damen und Herren, in Kürze wird man sie bitten, zum hinteren Ende des Zuges durchzugehen. Von dort aus werden sie von unseren Partnern im Schienenersatzverkehr weiterbefördert. Vielen Dank für ihre Kooperation.“

Irgendwann denke ich sogar daran, die Kandidatenhotline anzurufen und Bescheid zu geben, dass ich doch später am Hauptbahnhof ankommen werde. In dem Stadtbus, der spontan zum Schienenerzatzverkehr abkommandiert worden ist, sitzt ein älterer Herr neben mir, der offensichtlich großen Redebedarf hat, über das, was passiert ist.

„Können sie sich vorstellen, warum ein junger Mensch sowas tut?“

„Woher wissen sie, dass es ein junger Mensch war?“, frage ich, bereue das aber gleich.

„Ich hab ganz vorne gesessen. Hab seinen Rucksack neben dem Zug gesehen und kurz mit dem Schaffner gesprochen. Vielleicht sechzehn Jahre alt, der Knabe. Hat sich mitten auf die Gleise gestellt, mit voller Absicht! Und jetzt frage ich sie: Warum tut ein junger Mann so etwas?“

„Weil er noch jung genug ist, die Welt so zu sehen, wie sie ist?“, schlage ich vor.

„Was meinen sie denn damit?“, fragt er verwirrt.

„Erinnern sie sich noch daran, wie es war, sechzehn zu sein?“, will ich wissen.

„Kaum“, gibt er zu.

„Ich schon.“

„Haben sie … jemals darüber nachgedacht, so etwas Schreckliches zu tun?“

„Jeder Sechzehnjährige denkt darüber nach. Aber ich hätte es nie getan, weil es Menschen gab, die mir wichtig genug waren, dass ich sie nicht verlassen wollte.“

„Der Junge muss einsam gewesen sein, wollen sie das damit sagen?“, reimt er sich aus meinen Worten zusammen.

„Vielleicht. Oder er war unglücklich verliebt. Man kennt ja diese Geschichten“, plaudere ich weiter, weil ich keine Lust mehr habe, ernsthaft darüber nachzudenken, was diesem Jungen passiert sein könnte.

Ich werde von einem Fahrer eingesammelt, der ein DSDMB-Schild hochhält. Besonders unauffällig ist das natürlich nicht und prompt haben wir ein paar Mädels an der Backe, die Handyfotos schießen und Autogramme haben wollen. Das gehört zum Job, sage ich mir immer wieder. Aber im Moment bin ich einfach nur fertig. Dunkel wird es auch schon und gegessen hab ich heute Morgen das letzte Mal. Hoffentlich dauert die Autofahrt nicht mehr allzu lange.

Eine geschlagene Stunde später parken wir vor einem Landhaus mit Fachwerk und allem drum und dran. Nach Land riecht es zwar nicht, aber früher war das hier ein Bauernhof. Der Stall wurde nur inzwischen zu Wohnraum umgebaut, was ich aus den Vorhängen an den Fenstern schließe. Ich fühle mich irgendwie gleich zu Hause. Vermutlich hilft es, dass die Gebäudekonstellation genau so ist wie daheim. In U-Form. Natürlich ist hier alles viel gepflegter, aber ich kenne Fotos aus der Kindheit meiner Mutter, als unser Hof auch noch ziemlich gut in Schuss war. Da erkennt man die Ähnlichkeit auf den ersten Blick.

Der Fahrer verabschiedet sich sofort eilig und lässt mich allein zurück. Still ist es hier. Ich atme noch mal tief durch, bevor ich auf den Klingelknopf an der Haustüre drücke. Die Erwartung, Schröder wiederzusehen und auch wieder dabei zusehen zu müssen, wie er und Yoko … und wie stehen wir jetzt eigentlich zueinander? Florida kommt mir so weit weg vor. Und im echten Leben waren wir erwartungsgemäß ziemlich inkompatibel. Nur ist das hier jetzt ja nicht das echte Leben.

Eine Kandidatin, mit der ich noch nie ein Wort gewechselt habe, öffnet mir die Tür.

„Ah, Ferdi. Du bist der Letzte. Komm rein. Essen gibt’s bald. Du bist für den Spüldienst eingeteilt worden. Und wegen einem Zimmer musst du mal sehen wo du unter kommst. Wir sind auch erst seit einer halben Stunde hier, aber im Wesentlichen hat sich schon jeder eines ausgesucht, glaube ich. Die ganzen Schlafzimmer sind oben. Sieben Stück für die Kandidaten. Alles Weitere wird uns nach dem Essen erklärt.“

„Äh, okay … wie heißt du gleich noch mal?“

„Eva. Ich wurde mit der Organisation betraut, weil ich die Älteste bin.“

„Ach? Sieht man dir gar nicht an.“

„Dankeschön!“, trällert sie.

Ich stapfe also vollbepackt die Holztreppe nach oben und werde langsam irgendwie nervös. Wie Schröder sich wohl mir gegenüber verhalten wird? Wahrscheinlich ist er sauer und das ja auch zu Recht. Was mit Michi passiert ist, muss für ihn noch verwirrender gewesen sein, als für mich. Ich hätte mir mehr Zeit nehmen sollen, um mit ihm darüber zu reden. Aber das mit dem Reden haben wir nicht so gut drauf. Wir landen ständig im Bett …

Plötzlich rempelt mich jemand halb um und sieht mich an, als wäre ich ein Alien.

„Fuchseder“, stammelt Schröder überrascht und bekommt rote Flecken im Gesicht.

„Hi“, flüstere ich plötzlich heiser und bevor ich groß das Nachdenken anfange, höre ich mein Gepäck zu Boden poltern, ziehe Nepomuk zu mir und küsse seine schönen, geschwungenen Lippen.

Ich spüre meine Wangen heiß werden und meinen Herzschlag rasen. Mmmh, so muss sich ein Begrüßungskuss anfühlen. Ich vergrabe mein Gesicht an seinem Hals.

„Ich merke gerade, wie sehr ich dich vermisst habe.“

„Scheiße, Fuchseder. Was machst du bloß mit mir?“, seufzt er und zieht mich ganz fest an sich.

Und auf einen Schlag sind all die Gefühle, die Schmetterlinge, das Kribbeln und diese umwerfende Lust ihn zu berühren, wieder da. Ich streichle seinen Nacken, seine Schultern, muss ihn wieder küssen, an ihm saugen und ihn einatmen. Er entzieht sich mir kurz, bedeutet mir, ihm zu folgen und führt mich in eines der Zimmer. Das, in dem Yoko gerade auspackt.

„Süße, ich muss dich bitten zu verschwinden, hier wird’s gleich sehr unjugendfrei.“

Yokos Augen verengen sich zu Schlitzen und sie schießen ein paar kleine Blitze in meine Richtung. Dann bewegt sie sich langsam zur Tür, nuschelt aber noch, dass wir außer Ficken doch eh nichts zustande bringen. Und irgendwie bringe ich plötzlich nicht mal mehr das zustande. Schröder schließt gerade die Tür hinter seiner Freundin ab und streift sich den Pulli über den Kopf.

„Warte mal“, bitte ich.

„Worauf?“

„Ich bin mir nicht sicher ob das gerade richtig ist.“

„Fuchseder, du hast mich so dermaßen geil gemacht, dass ich dich vergewaltigen muss, wenn du jetzt nen Rückzieher machst“, grinst er anzüglich.

„Das ist nicht lustig. Ich meins ernst. Lass uns erst reden.“

„Was?!“

„Ich hab tausendmal versucht, dich zu erreichen!“

„Ich hab deine Nummer nie auf dem Handy gesehen.“

„Weil das neue Teil das unterdrückt.“

„Oh …“

„Wenigstens eine SMS hättest du doch mal schreiben können, oder?“, frage ich säuerlich.

„Wozu denn?“

„Damit ich weiß, dass es dir gut geht?!“

„Und wenn’s mir NICHT gut ging?“

„Siehst ziemlich erholt aus, wenn du mich fragst“, finde ich.

„Tja, kaum musste ich nicht mehr ständig dabei zusehen, wie du deinen Freund knutscht, schon wirkte das sehr erholsam, wer hätte das gedacht?!“

„Ach und jetzt bin ich wieder dran, dabei zuzusehen, wie du mit deiner ‚Freundin‘ rumschmust, ja? Du wolltest dir mit ihr sogar ein Zimmer teilen!“, rege ich mich auf.

„Wieso wollte? Werde ich! Also dann: Auf Wiederschauen.“

Er hält mir die Tür auf. Ich glaub das jetzt nicht! Wütend stapfe ich hinaus auf den Flur, wo mein Gepäck noch liegt und höre die Türe hinter mit zuknallen. Für ein paar Sekunden stehe ich dumm in der Gegend rum.

Dann geht eine andere Tür auf und Paolo winkt mich heran.

„Ferdi? Ich glaub, wir sollten reden.“

Was ich dann in seinem Zimmer zu hören bekomme, übersteigt meine abenteuerlichsten Vorstellungen davon, wie Schröder die letzten paar Wochen verbracht haben könnte. Während ich den schluchzenden Paolo tröste, steigt mein Puls wieder einmal merklich an. Dieses Mal allerdings aus Wut. Nicht einmal, weil Schröder mich betrogen hat, nein. Sondern weil er Paolo, der für mich wirklich noch ein halbes Kind ist, das Herz gebrochen hat. Bei Schröder muss man auf vieles gefasst sein … aber das! Dass er solche Spielchen spielt, hätte ich wirklich nicht gedacht. Und ich bin ihm auf den Leim gegangen mit seiner ganzen ‚harte Schale, weicher Kern‘-Nummer. Ich hab das alles wirklich ernst genommen! Ich dachte, er hat sich in mich verliebt, dabei ist das zwischen uns auch nicht mehr, als das zwischen Yoko und ihm. Eine Show. Drei gebrochene Herzen gehen schon auf sein Konto, denn Yokos Blick als wir ins Zimmer gekommen sind, war eindeutig. Der DSDMB-Herzensbrecher heißt Nepomuk Schröder.

Schröder

Was zum Arsch ist jetzt wieder passiert?! Gerade eben noch wollte Ferdi sich so wie in meiner Lieblingsvorstellung verhalten und auf einmal schmeiße ich ihn aus dem Zimmer. Na ja, er hätte nicht von gut erholt und mit Yoko schmusen anfangen dürfen.

Ich meine, der hat nicht die geringste Ahnung, wie ich mich ohne ihn gefühlt habe, muss aber natürlich blöde Sprüche reißen, der Idiot. Eine SMS hätte ich ihm schicken sollen, ja? Wozu denn? Damit er nachts besser hätte schlafen können, oder was? Vermutlich in Michis Armen, nachdem er mit ihm rumgeknutscht hat. Mir Vorwürfe zu machen, nach allem, was er mir zugemutet hat, ist ja wohl das Allerletzte!!

Fünf Minuten später stampft Yoko herein.

„Lass uns die Dinge mal eben völlig klarstellen, okay?“, beginnt sie. „Wo ist Ferdi? Bist du schon fertig mit ihm?“

„Äh…?“

„Egal. Also, das hier ist genauso mein Zimmer für die nächste Zeit und wenn du mit wem auch immer rumficken willst, such dir einen anderen Ort dafür. Ich will hier so weit kommen, wie es geht und kann auf Stress mit Typen verzichten… besonders, wenn es nicht mal mein eigener Stress mit Typen ist. Was glaubst du, wer die letzten drei Tage einen liebeskranken Teenie trösten durfte? Und das, nachdem ich tagelang einen liebeskranken Punk an der Backe hatte. Räum dein Chaos gefälligst selber auf, du bist alt genug, um dich mit den Konsequenzen deines Handelns auseinanderzusetzen.“

Wow!

Das Essen lasse ich ausfallen, weil ich keinen Bock auf Ferdi hab. Danach muss ich ihn allerdings im Wohnzimmer treffen. Zusammen mit allen anderen Kandidaten. Markus Liebherr ist da. Und Stephano, der Gesangscoach.

„Herzlichen Glückwunsch, Leute“, freut sich Markus fast ein Loch ins Knie, „ihr seid die letzten Zwanzig und wenn ihr gedacht habt, dass Florida anstrengend gewesen ist, wartet ab, was jetzt auf euch zukommt. Live-Shows, das bedeutet, vor einem Millionenpublikum aufzutreten, das über Sieg oder Niederlage entscheidet. Des Weiteren geht jetzt der Presserummel los. Ihr werdet Interviews mit verschiedenen Magazinen führen, es wird Fotoshootings geben und wir werden bald ins Studio gehen, um Probeaufnahmen zu machen.

Das wird natürlich alles in die Bewertung der Jury mit einfließen, aber letztlich entscheidet, wie gesagt, das Publikum. Morgen bekommt ihr die Songs für die erste Live-Show und wie bereits in Florida wird Stephano mit euch arbeiten. Falls ihr Fragen zu den Verträgen habt, stehe ich zur Verfügung. Das war’s erstmal. Einen schönen Tag noch, Herrschaften.“

Das berühmt-berüchtigte Kleingedruckte im Vertrag besagt eigentlich bloß: Dein Arsch gehört ab sofort DSDMB, wenn du unterschrieben hast! Man verpflichtet sich, die ganzen Pressesachen mitzumachen und überhaupt nur da aufzutreten und Interviews zu geben, wo der Sender sein Okay gegeben hat. Darüber hinaus hat man das zu singen, was Produzent und Plattenfirma bestimmen. Nach dem Ausscheiden hat man DSDMB noch mindestens sechs Monate zur Verfügung zu stehen… blablabla.

Ich bin mir echt nicht sicher, ob ich den Scheiß unterschreiben soll, aber was hab ich für eine Wahl? Unterschreibe ich nicht, bin ich draußen.

„Ganz schön heftig, oder?“, bemerkt Yoko. „Hast du gelesen, dass man, selbst nachdem man rausgeflogen ist, alle Projekte, die man starten will, mit den DSDMB-Verantwortlichen besprechen muss? Für mindestens sechs Monate? Ey, wenn die sagen… du darfst nicht mit deiner Tanzgruppe da und da auftreten… ich glaub nicht, dass das meine Mädels so gut finden würden.“

„Hast du das mit denen nicht abgeklärt?“

„Schon, aber ich wusste doch nicht, was genau man hier unterschreibt.“

Ich zucke die Schultern und kritzele meinen Namen unter den ganzen Scheiß. Mir ist eh alles egal.

Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, geht der übliche Florida-Trott los. Nur ohne Fitnesstraining. Wir treffen uns mit Stephano im Tanzraum (logisch, dass es auch hier so was geben muss!) und kriegen unsere Songs.

YEAH!! Green Day „21 Guns“… das ist doch mal was. Yoko darf irgendwas von Pink singen. Was der Fuchseder hat, weiß ich nicht. Und es ist mir auch sowieso latte. Mann, was der mir am Frühstückstisch für Blicke zugeworfen hat… unbeschreiblich. Die waren noch fieser als Paolos Blicke! Dabei haben eigentlich beide überhaupt kein Recht, mich so dämlich anzuglotzen. Der kleine Emo wusste von Anfang an, worauf er sich einlässt und der Fuchseder… hat sich mehr als genug geleistet, finde ich.

Mh, möchte mal gerne wissen, wer dem die Haare geschnitten hat. Und vor allem, warum?! Der sah doch gut aus. Jetzt trägt er so ’ne hippe Fußballer-angedeuteter-Iro-Frisur. Sieht natürlich auch wahnsinnig süß aus… meine Gedärme krampfen sich schon wieder zusammen, wenn ich an Ferdi denke. Gott, ich vermisse es so, ihn zu küssen. Selbst wenn er versucht, mich mit seinem Blick ins Jenseits zu befördern, lieb ich ihn immer noch.

Neben unseren Live-Show-Songs haben wir noch ein anderes Liedchen bekommen, das wir nächste Woche im Studio singen sollen. Das ist so ein typischer, radiotauglicher, massenkompatibler, von B! geschrieben und komponierter Dreckssong, der einen sofort aggressiv macht. Total anspruchslos, dämliche Ohrwurm-Melodie, von Anfang bis Ende grottig.

Nachmittags hängt ein nerviges Kamerateam im Haus rum, das alles mögliche filmt. Wie wir wohnen, wie wir üben, essen, zusammen Spaß haben, wie einige miteinander rumzicken und Yoko und ich sollen wieder mal auf verliebt machen.

Am liebsten würde ich sagen, dass wir uns getrennt haben, ich in Wirklichkeit eh auf Jungs stehe und auf den Fuchseder ganz besonders. Aber wahrscheinlich wäre das Vertragsbruch oder so was in der Art. Also spiele ich fröhlich grinsend mit. Yoko ebenfalls, obwohl ich merke, dass ihr das auch langsam auf den Sack geht.

Am Rande krieg ich mit, wie Ferdi dazu gezwungen wird, seinen vorübergehenden Ausstieg bei DSDMB zu erklären. Er faselt irgendwas von dem Druck, dem er sich nicht gewachsen fühlte und dass er jetzt aber sehr glücklich ist, wieder dabei sein zu können, weil DSDMB halt eine unglaubliche Chance ist und sein großer Traum ist es, auf der Bühne zu stehen. Zum Schluss bedankt er sich auch noch bei seinen Fans, die ihm so liebe Briefe geschrieben haben.

Alter Schleimer! Und wieso krieg ich keine Fanbriefe, hä? Ach so, weil ich nicht toll genug bin. Verstehe. Na, das kann ja heiter werden, wenn am 6. Februar zum ersten Mal das Publikum entscheidet. Für mich wird niemand anrufen.

Oder vielleicht doch?! Als das Kamerateam weg ist, wird von drei DSDMB-Mitarbeitern Post verteilt. Und mir haben tatsächlich Leute geschrieben. Hauptsächlich kleine, zwölfjährige Mädchen, die mich ficken wollen. Total skurril. Ein paar Mädels versichern mir sogar, dass sie mich geiler finden als Bill von Tokio Hotel, weil der nämlich total schwul aussieht und ich eben cool bin und super niedlich… buahahahahahaha!! Warum ich allerdings mit dem Tokio-Bill verglichen werde, ist mir ein bisschen schleierhaft. Möglicherweise liegt das an der verdammten Emo-Frisur, die ich in Florida hatte.

Die Fanpost kann mich nicht lange aufmuntern. Dafür ist mein Leben hier momentan viel zu verkorkst. Ferdi hasst mich, Paolo hasst mich und Yoko ist immer noch spürbar sauer. Höchste Zeit, ein wenig aufzuräumen.

„Meereskind, es wäre für alle Beteiligten einfacher, wenn du mir sagen würdest, was dich anpisst“, erkläre ich abends in unserem Zimmer.

„Du, Schröder. Deine komische Beziehung pisst mich an. Und dass Ferdi mir diese Arschlochblicke zuwirft, wenn wir vor der Kamera ein Paar sind. Kannst du ihm bitte endlich verklickern, dass wir nix von einander wollen?! Dass du für mich so was wie ein Bruder bist. Jedes Mal wenn er mir über den Weg läuft, hab ich Angst, dass er mich gleich zum Duell fordert. Wer braucht diesen Scheiß? Ich sicher nicht. Eigentlich würde ich mit dem Verliebtheitskram sofort aufhören, aber Markus meinte, wir sollten das noch eine Weile durchziehen.“

„Du hast mit ihm darüber geredet?“

„Ja. Weil’s mich nervt. Aber Markus behauptet, dass wir als Paar halt gut bei den Zuschauern ankommen.“

„Ich hab jedenfalls keine Lust drauf, dass zwischen uns so eine blöde Stimmung ist.“

„Ich auch nicht. Aber wenn du mich aus meinem Zimmer schmeißt, weil du mit einem Kerl ficken willst, der dir immer wieder weh tut und wegen dem du vor zwei Wochen noch krank im Bett gelegen hast…“

„Tut mir leid“, murmele ich. „Es war nur… er hat mich geküsst und das hat sich so schön angefühlt und… da ist es irgendwie mit mir durchgegangen.“

„Und jetzt herrscht wieder Funkstille. Mal überlegt, es sein zu lassen, weil ihr halt einfach nicht zusammen passt?“

Ich muss jetzt ein bisschen allein sein. Unten wird gefeiert… was auch immer… deshalb setze ich mich nach draußen und friere wie ein verfluchter Schneider, weil ich dummerweise keine Jacke angezogen habe und aber auch zu faul bin, um noch mal wieder rein zu gehen.

Fuck. Ich sollte eigentlich auf meine Gesundheit achten. Eine Erkältung wäre super ungünstig.

„Oh, Scheiße…“, zischt jemand.

Ich hebe meinen Kopf und sehe… Ferdi, der sich grad wieder umdreht.

„Warte.“

„Was willst du?“

„Mit dir reden.“

„Keine Lust.“

„Bitte, Ferdi.“

Er zögert einen Moment, setzt sich dann aber neben mich. Ich weiß überhaupt nicht, wo ich anfangen soll.

„Sehr informativ, Schröder“, schnauft er.

Mann, ich versuch’s ja. Aber alles, was ich ihm sagen will ist, dass ich ihn schrecklich vermisse, ihn liebe und ihm ins Gesicht schlagen möchte, weil er mich nicht genauso liebt.

„Okay, ich geh wieder rein. Danke für das Gespräch.“

„Jetzt warte halt.“

„Worauf? Dass wir hier festfrieren?“

„Ich hab mich nicht gemeldet, weil ich Angst hatte, dass du Schluss machst“, sage ich leise.

„Ja? Ich dachte schon, du hättest keine Zeit gehabt, weil du andauernd Paolo gefickt hast.“

„Äh…?“

„Dein ganzes Gerede, dass du mich liebst… ich hab dir das echt abgekauft. Hätte mir klar sein müssen, dass das nur Show war. So professionell wie du in Yoko verliebt bist… sobald eine Kamera auftaucht. Wie ist das eigentlich? Macht es dir Spaß, mit den Gefühlen anderer Leute zu spielen? Gibt dir das den ultimativen Kick?“

„Das fragst du mich? Du hast mir gesagt, dass ich der Mann bin, den du liebst… und bist drei Sekunden später zu Michi, um mit ihm zu knutschen. War das eigentlich bevor oder nachdem du einen Kerl gevögelt hast, dessen Namen du nicht mal kennst?“

„Ich bereue, dass ich so was getan habe. Du dagegen hast überhaupt keine Skrupel, einem sechzehnjährigen Jungen vorzugaukeln, dass du in ihn verliebt bist, nur damit er mit dir ins Bett geht.“

Was zum Teufel hat das kleine Früchtchen dem Fuchseder erzählt?! Und wieso glaubt der Schwachkopf das?

„Ganz zu schweigen von dem Mist, den du mir eingeredet hast“, setzt er noch einen drauf und mein Liebeskummer schlägt sehr schnell in Wut um.

„Auch nur, damit du mit mir ins Bett gehst, mh? Weil ich so großen Spaß daran habe, mit deinen Gefühlen zu spielen. Pass mal auf, Fuchsi, wenn ich bloß auf einen Fick scharf gewesen wäre, hätte ich mir bestimmt nicht deinen ganzen Mist bieten lassen! Du bist der Einzige, den ich liebe und seit wir uns kennen der Einzige, mit dem ich geschlafen habe. Das kannst du ja wohl nicht gerade behaupten, also spar dir irgendwelche Vorwürfe, die völlig aus der Luft gegriffen sind, und denk lieber mal ’ne Runde über dein Verhalten nach, Arschloch.“

Damit lasse ich ihn in der Kälte hocken und verkrieche mich zu Yoko.

Ferdi

Nachdem ich die halbe erste Nacht im Wohnzimmer rumgelungert bin, lege ich mich gegen fünf Uhr morgens doch noch ein bisschen hin. Rachel schnarcht und Paolo redet im Schlaf. Und in meinem Kopf sehe ich die ganze Zeit Schröder vor mir, wie er mit Paolo die gleiche Tour abzieht, wie mit mir. Der Junge wollte gar nicht so ins Detail gehen, bei seinen Erzählungen über die letzte Woche, aber ich konnte mir ein ganz gutes Bild machen. Gott, wie soll ich nur den Tag überstehen? Nicht nur, dass ich um halb acht, als der Wecker klingelt, kaum meinen Kopf heben kann, so müde bin ich. Nein, ich muss auch noch den ganzen Tag Schröder und seine wunderbare Freundin vor Augen ertragen. Mein Song ist auch scheiße. Faith von George Michael. Der seichte Ohrwurm, den wir demnächst einsingen sollen und der bestimmt in ein paar Wochen Tag ein Tag aus im Radio gespielt werden wird, macht es auch nicht gerade besser. Und in diesen hinterlistigen Knebelverträgen steht kein Wort über Geld! Wenn ich hier rausfliege, werde ich wohl die ganze Fanmail verheizen müssen, um nicht zu erfrieren.

Dann darf ich eben nicht rausfliegen! Ich muss das hier jetzt einfach wirklich konzentriert durchziehen. Ich muss zusehen, dass ich nachts genügend Schlaf bekomme und dass ich das beste aus dem Song mache und dass … dass ich mir Schröder und überhaupt alle Kerle aus dem Kopf schlage. Vielleicht werde ich ja auch Priester. Ist ein sicherer Job und man bekommt immerhin Obdach und eine Haushälterin.

Trotzdem spreche ich Markus in einem ruhigen Moment auf die Kohle an.

„Keine Sorge. Die Magazine bezahlen euch für die Shootings und Interviews. Und der Sender will ein paar Spots mit euch drehen, die immer am Anfang und am Ende der Werbung gezeigt werden. Da strömt das Geld nur so in eure Taschen.“

„Aber DSDMB bezahlt uns nichts?“

„Kost und Logis. Ist das nichts?“

„Ich muss nur auch von irgendwas leben, wenn das hier alles vorbei ist.“

„Keine Sorge. Wenn du dir keine groben Schnitzer erlaubst, kommst du nicht zu kurz.“

Aha. Nicht sehr aufschlussreich … aber ich nicke höflich und mach mich wieder an meinen Song.

Interviews geben, geschieht für gewöhnlich nur noch so nebenbei. Aber als ich erklären muss, warum ich aussteigen wollte, komm ich doch etwas in Bedrängnis. Zum Glück ist Stephano da und bespricht mit mir, was ich eigentlich sagen will oder soll. Da muss man echt jedes Wort auf die Goldwaage legen …

Am zweiten Abend wird zur Entspannung ein bisschen gefeiert. Schließlich ist Samstag. Und entgegen meinen sonstigen Gewohnheiten beschließe ich, heute mal gesellig zu sein und rede das erste Mal mit wirklich ALLEN Kandidaten, trinke einen Cocktail und beschließe irgendwann, ein bisschen frische Luft zu schnappen. Tja und nachdem ich da draußen über Schröder gestolpert bin, ist meine Partylaune natürlich im Keller. Er behauptet also, nicht mit Paolo geschlafen zu haben. Mag ja sein. Hat der Junge ja auch gar nicht gesagt. Nur dass Schröder ihn dazu gebracht hat, sich in ihn zu verlieben und das ausgenutzt hat. Aber macht es für mich wirklich einen Unterschied, ob Schröder den Kleinen nun vollends verführt hat, oder sich nur ein bisschen mit ihm abgelenkt hat? Fest steht, dass auf ihn kein Verlass ist. Und ich bin gerade wirklich nicht in der Position, mir noch mehr Probleme ans Bein zu binden. Jeder hat mir doch ein ganzes Jahr lang gepredigt, dass es okay ist, auch mal an sich selbst zu denken. Also tue ich das ab sofort. Gerade habe ich Lust auf Bewegung. Also bewege ich mich.

Ich jogge los in die Dunkelheit, bis ich zu einer Allee aus Straßenlaternen komme. Da laufe ich entlang, leicht bergauf, bis der Teer sich in einen Feldweg verwandelt und keine weiteren Lampen mehr kommen. Also jogge ich zurück, hangabwärts, immer schneller, an den drei Höfen vorbei und weiter bis zur nächstgrößeren Straße. Ich schwitze, obwohl es bestimmt fünf Grad Minus hat und überall Schnee liegt. Ich hasse es zu schwitzen. Mir ist viel zu heiß. Deshalb hebe ich eine Hand voll reinem, kalten Weiß auf und stecke es mir in den Mund. Das tut gut. Ich laufe weiter, wieder zurück, am Hof vorbei bis in den Wald und hangabwärts zurück. Ich liebe es zu laufen, aber ich hasse es zu schwitzen. Jetzt will ich singen. Ich stehe an der Kreuzung zur Schnellstraße und singe Faith. Vielleicht bin ich ja verrückt geworden? Hier ist keine Menschenseele, die ich fragen könnte. Nur mein Handy. Ich drücke auf Wahlwiederholung und habe die Kandidatenhotline dran, lege aber schnell auf. So verrückt bin ich dann doch wieder nicht. Ich will doch einfach nur frei sein. Ich will nur noch an mich denken müssen, mir um niemanden Sorgen machen, einfach tun, was ich will. Ich will … meinen Namen in den Schnee pinkeln!

Das Wohnzimmer ist immer noch voll, als ich nassgeschwitzt und außer Atem zurück komme. Schnell kippe ich ein eiskaltes Bier hinunter und verschwinde dann nach oben, um eine heiße Dusche zu nehmen. Als ich mit einem Handtuch um die Hüften aus dem kleinen Badezimmer komme, sitzt neben Paolo Schröder auf dem Bett.

„Stör ich euch?“, frage ich genervt, weil ich es für ein paar Minuten wirklich geschafft hatte, die bloße Existenz meines kleinen Ex-Wassermannes aus meinem Hirn zu verdrängen.

„Paolo hat dir was zu sagen.“

„So?“

„Ja. Mach schon“, bedrängt er den Jungen.

„Ja, also … Schröder und ich, wir haben nicht miteinander geschlafen.“

„Aha.“

„Und er hat auch nicht behauptet, in mich verliebt zu sein. Eigentlich hat er es ziemlich klar gemacht, dass er mit jemand anders zusammen ist und dass er diesen Jemand sehr liebt. Dich.“

„Habt ihr rumgemacht?“

„Schon, aber …“

„Das reicht mir schon.“

„Aber das war doch nur, weil …“, fängt Schröder an.

„Mir egal. Das zwischen uns, was auch immer es war, ist Geschichte. Ich will hier einfach mein Bestes geben und so weit kommen, wie möglich. Ich bin auf den Scheiß angewiesen, weißt du? Und ich brauche wirklich keinen liebeskranken Punk, der es mir nur noch schwerer macht.“

„Du Arschloch“, zischt nicht etwa Schröder, sondern Paolo.

„Das bedeutet dann wohl, dass ich mir ein anderes Zimmer suchen soll, hm?“, will ich trocken wissen.

Schröder steht auf und geht. Mein Schlag hat gesessen. Aber ich … ich konnte mich selbst nicht mehr bremsen. Paolo funkelt mich immer noch wütend an, verschwindet dann aber auch.

Ich beschließe, dass rumsitzen und grübeln nichts bringt, ziehe mich an und mische mich wieder unter die Leute im Wohnzimmer. Ein neues Zimmer ist aber nicht so leicht aufzutreiben, da es nun mal in jedem nur drei Betten gibt und bei 20 Kandidaten in sieben Schlafzimmern damit sonst nur das Drittbett bei Yoko und Schröder frei ist. Wunderbar. Liegt es am Alkohol, oder ist es hier drin verdammt warm?

Am nächsten Morgen weiß ich, dass es weder am Alkohol, noch an einer zu hoch aufgedrehten Heizung lag, denn mein Hals tut weh wie noch nie zuvor und meine Stirn glüht. Mit Mitgefühl und Pflege kann ich leider nicht rechnen, weil alle viel zu sehr mit Training beschäftigt sind. Immerhin ruft Stephano mir am Nachmittag, als ich kaum noch sprechen kann und das Fieberthermometer Werte gefährlich nah an 40 Grad anzeigt, einen Arzt. Der verbietet mir prompt, in den nächsten drei Tagen zu singen, und verdonnert mich vorerst zu strikter Bettruhe und müde machenden Medikamenten. Scheiße, ich wusste nicht, dass der Preis für einen Abend Freiheit so hoch ist. Hoffentlich kann ich wenigstens zu dem Bravo-Shooting am Mittwoch. Ich muss das positiv sehen: Wenigstens muss ich mich die nächsten Tage nicht mit Schröder auseinandersetzen.

Schröder

„Ach du Scheiße“, stöhnt Yoko, die grad dabei ist, ins Bett zu gehen, „was ist jetzt wieder passiert?“

„Ich wollte mein Chaos aufräumen, wie du es mir empfohlen hast, mit dem Ergebnis, dass ich keinen Freund mehr habe.“

Verzweifelt schlägt sie angedeutet ihren Kopf mehrmals gegen die Wand.

„Genauso fühle ich mich auch gerade“, lächele ich schief und lasse mich auf mein Bett fallen. „Ey, ich komme bei dem Kerl einfach nicht mehr mit. Ich sag ihm, dass ich ihn liebe, Paolo sagt ihm die Wahrheit und Ferdi sagt, dass es vorbei ist. Geschichte. Verstehst du das?“

„Nee. Zum Glück muss ich das auch nicht. Weißt du, ich hab so langsam den Verdacht, dass der Ferdi nicht ganz richtig hier oben ist“, erklärt sie und tippt sich gegen die Stirn. „Und du bist mindestens genauso bescheuert. Eigentlich müsstet ihr euch hervorragend verstehen. Gute Nacht.“

Gut war die Nacht absolut nicht. Die Tatsache, dass ich Ferdi endgültig verloren habe, macht mich kaputt. Ich switche fröhlich zwischen Sehnsucht, Wut, Trauer und bei-DSDMB-aussteigen-wollen hin und her.

Aussteigen geht aber vermutlich nicht mehr so leicht, weil ich ja den scheiß Vertrag unterschrieben habe.

Übrigens gibt es nach dem Frühstück… TANZTRAINING! Ich könnte mich von oben bis unten bekotzen!!

Unser neuer Tanzlehrer, Jerry irgendwas, ist noch schlimmer als Frankie Esposito. Der hat mich bereits nach fünf Minuten angeranzt, dass ich die ganze Gruppe stören würde. Stress kann ich aber grad gar nicht gebrauchen, also reiße ich mich zusammen, achte total auf Yoko

und krieg wenigstens die Schrittfolge hin, auch wenn ich sicher lächerlich aussehe.

Nachmittags bespreche ich mit Stephano, wie ich am besten meinen Song performe. Das Lied hab ich natürlich längst drin, weil’s mir gefällt. Stephano ist trotzdem nicht zufrieden.

„Schröder“, schüttelt er den Kopf, „wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du auf deine Technik achten musst? Der Song ist zwar leicht punkig, aber deswegen ist es noch lange keine Grölnummer. Du darfst ja ein bisschen edgy singen, aber nicht brüllen, okay?“

„Okay“, nicke ich und versuche es noch mal.

„Schon besser“, lobt er verhalten. „Mach jetzt allein weiter, ich muss eben nach Ferdi sehen und hören, was der Doc sagt.“

„Hä?“

„Ferdi hat sich böse erkältet. Mit Fieber und allem Drum und Dran. Kinder, ihr müsst ein bisschen auf eure Gesundheit aufpassen. Eure Stimme ist euer Kapital.“

Scheiße, das ist übel, so vor der ersten Live-Show.

Bis zum Abendessen hab ich aber erstmal keine Zeit, mich damit zu befassen, weil ich mit Yoko das Lied fürs Studio übe.

Als wir dann am Tisch sitzen, unterhalten sich Paolo und der eine Zwilling über ihren kranken Zimmergenossen.

„Ich hab jedenfalls keinen Bock, dass der uns alle ansteckt“, erklärt Rachel.

„Ja, aber du musst ihm ja auch nicht SO dermaßen nah kommen, oder?“, zuckt Paolo die Schultern.

„Was heißt hier, nicht nah kommen? Die Viren, die er andauernd aushustet, verpesten das gesamte Zimmer. Ich will am Samstag singen und nicht röcheln.“

„Haben die hier für solche Fälle kein Einzelzimmer?“, will Paolo wissen.

Wow… Einzelzimmer. Warum nicht gleich Einzelhaft? Im Dustern. Bei Wasser und Brot.

„Ihr seid echt nett“, findet Yoko. „Da ist einer krank und ihr überlegt, wie ihr ihn am besten loswerden könnt.“

„Es tut mir ja leid, dass Ferdi krank ist, aber man wird doch wohl noch Angst vor Ansteckung haben dürfen“, zickt Rachel.

„Sehr richtig“, nickt Paolo.

„Ihr benehmt euch, als hätte er die Pest oder Lepra.“

„So wie der momentan rumhustet, tippe ich eher auf Tuberkulose. Und zwar offene.“

„So wie du rumlaberst, tippe ich bei dir auf Schwachsinn. Und zwar im Endstadium“, lächelt Yoko fies.

„Willst du mich blöd anmachen, Pummelchen?“, fragt Rachel angriffslustig.

„Leute, friedlich und vor allem höflich bleiben, mh?“, versucht Cristian zu schlichten.

Yoko steht auf und stupst mich an. „Komm schon, Schröder. Wir holen Ferdi in unser Zimmer. Bevor ihn die beiden Jammerlappen noch im Schlaf mit einem Kissen ersticken. Und nicht vergessen, gleich euer Zimmer auszuräuchern und sein Bettzeug zu verbrennen.“

„Bist du sicher?“, frage ich, als wir nach oben gehen.

„Ich bin gegen Grippe geimpft und stecke mich eh so gut wie nie mit Erkältungskrankheiten an.“

„Ja, aber…“

„Du willst ihn doch eh in deiner Nähe haben, oder?“, unterbricht sie mich genervt.

„Du kannst Ferdi nicht ausstehen.“

„Und du liebst ihn.“

Yoko klopft zaghaft, öffnet vorsichtig die Tür und schubst mich zuerst ins Zimmer.

„Hey, wie geht’s dir?“

Ferdi dreht seinen Kopf. „Beschissen“, röchelt er schwach.

Seine Wangen sind ganz rot und er ist ziemlich verschwitzt. Ich möchte ihm sofort mit einem kalten Tuch die fiebrige Stirn kühlen.

„He, sterbender Schwan“, krakeelt Yoko, „meinst du, du kannst ein paar Schritte laufen? Deine Mitbewohner wollen dich ausquartieren. Musst ab jetzt bei uns vor dich hin siechen.“

Ferdi will protestieren, aber er bekommt einen schlimmen Hustenanfall. Deshalb schleppen wir ihn einfach in unser Zimmer und verfrachten ihn ins Bett.

„Ich hasse es, dass ich so gerne Krankenschwester spiele“, zischt mein Meereskind. „Was hat’n der Arzt gesagt?“

„Bettruhe. Sprechverbot.“

„Aha. Schröder, geh mal runter und mach eine heiße Zitrone mit Honig. Und wenn du unterwegs Rachel triffst, hau ihr eine rein.“

„Okay.“

Als ich mit dem Heißgetränk zurückkomme, sitzt Yoko auf der Bettkante und betupft Ferdis Gesicht mit einem Waschlappen.

„Hast du mich verstanden, Arschloch?“

Ich glaub, Ferdi nickt ein wenig.

„Er soll die Zitrone trinken“, bestimmt Yoko, „ich werde noch eine Stunde tanzen, damit ich irgendwann in Size Zero passe. Vielleicht lege ich mir auch eben noch Bulimie und Magersucht zu.“

„Viel Spaß, Süße“, wünsche ich.

Ferdis Medikamente machen ihn ziemlich duselig, was allerdings von Vorteil ist, weil er mir so nicht weglaufen kann. Ihm die Zitrone einzutrichtern, ist allerdings Schwerstarbeit, weil er sich andauernd beschwert, dass die im Hals kratzt.

„Vitamin C, mh? Ist jetzt wichtig für dich.“

„In Paprikaschoten ist viel mehr Vitamin C als in Zitronen“, hustet er.

„Mag sein. Aber die lassen sich so schlecht auspressen.“

„Haha.“

„Halt die Klappe, du hast Sprechverbot.“

Ferdi pennt total unruhig. Andauernd werde ich wach, weil er hustet oder schnieft oder… etwas laut leidet. Dann bekommt er auch noch eine Art Schüttelfrost, jedenfalls scheint er zu frieren, weshalb ich mich einfach zu ihm lege, wogegen er sich natürlich auch erstmal wehrt, aber er ist halt viel zu duselig für solche Aktionen. Und Yoko zischt müde, ob ich dem Fuchseder nicht irgendwas zum Draufbeißen zwischen die Zähne schieben könnte, damit’s nicht ganz so laut klappert.

Die nächsten Tage bin ich total mit Gesangstraining, Tanztraining und Ferdi pflegen beschäftigt. Am Dienstag geht’s ihm dann schon besser und der Arzt erklärt, dass er seine Stimme noch ein bisschen schonen soll. Also eigentlich soll er den Mund nur zum Singen aufmachen und das aber auch nicht übertreiben. Bis Samstag sollte er allerdings wieder fit sein. Und weil der B! offenbar grad wegen eines Videodrehs irgendwo in der Karibik weilt, verschiebt sich unser Studiotermin um eine Woche. Das kann ich nur begrüßen, weil ich das Lied längst noch nicht gut genug hinkriege.

Mittwoch steht ein Fotoshooting mit der BRAVO an. Au weia! Schröders Visage kommt in eine Teeniezeitschrift, keine Ahnung, ob mir das gefällt?!

Ferdi schleppt sich natürlich mit dahin und lässt sich die dunklen Augenringe fett überschminken. Die Mädels freuen sich natürlich fast den Arsch ab, weil wir vor der Knipserei neu eingekleidet werden. Ich bekomme gleich mal ein Shirt mit Sicherheitsnadeln, Anarchiezeichen und „PUNK!“ Schriftzug angezogen. Dazu noch eine Fetzenjeans, ein Nietenhalsband, ein Nietenarmband, dunklen Lidschatten um die Augen verschmiert… fertig ist der Fashionpunk!

Ferdi wird voll auf Sexy-Boyband-Traumtyp gestylt, Paolo gefährlich in Tokio-Bill verwandelt und Yoko darf geheimnisvolle, asiatische Schönheit sein. Aber es wird schon darauf geachtet, dass ihr Outfit nicht zu knapp ausfällt… wegen der paar Kilos mehr, die sie, im Gegensatz zu den anderen weiblichen Klappergestellen, hat.

„Warum ziehen die mir nicht gleich einen Müllsack an, damit man meine enormen Fettberge nicht sieht?“, mault sie zu Recht.

Yoko ist echt nicht übermäßig dick oder so, nur eben besonders weiblich und kurvenreich.

Dann geht die Knipserei los. Alle zusammen und danach einzeln. Das ist anstrengender als ich’s erwartet habe. Fröhlich kucken, grimmig kucken, lasziv kucken, grinsen, lachen, hopsen… und zum Schluss müssen Yoko und ich gemeinsam verliebt posen.

Ferdi wirkt ein wenig, als würde er während des Shootings gerne mal zusammenbrechen wollen. Macht er aber nicht, sondern zieht das schön diszipliniert und professionell durch.

Kohle gibt’s sogar für den ganzen Scheiß hier auch. Bloß dürfen wir nicht darüber sprechen. Das steht nämlich im Vertrag. Nix über Geld sagen und nach dem Ausscheiden darf generell nirgendwo über DSDMB geredet werden. Besonders nicht darüber, wie es hinter den Kulissen zugegangen ist.

Donnerstag werden die Spots für die Sender-Werbeblöcke gedreht, was allerdings halb so wild ist und ziemlich fix geht. Tja und am Freitag dürfen wir zum ersten Mal die riesige DSDMB-Halle besichtigen, unsere Songs probieren und aus dem gigantischen Klamottenfundus unser Bühnenoutfit zusammen suchen. Da gibt’s dann kurz eine Diskussion mit Markus Liebherr, weil ich so Sid-Vicious-mäßig mit nacktem Oberkörper unter der weißen Anzugjacke auftreten will. Markus fragt, ob man mich als Kind zu heiß gebadet hätte und verlangt, dass ich gefälligst ein T-Shirt drunter anziehen soll. Na ja.

Ferdi trägt bei der Probe einen flauschigen Künstlerschal um den Hals und seine Stimme klingt so erkältet rau noch ungefähr tausendmal geiler. Crispy, würde Stephano vermutlich sagen.

Ich fühle mich, ehrlich gesagt, ein bisschen verloren auf dieser großen Bühne und wenn ich mir vorstelle, dass morgen Abend die Plätze hier alle besetzt sein werden, wird mir ganz hübsch übel. Das ist echt was anderes als mit einer Band vor zehn oder zwanzig Leuten in einem kleinen Club zu spielen.

So ganz glaube ich nicht dran, dass tatsächlich bloß die Zuschaueranrufe entscheiden. Ich meine, bei DSDMB ist doch alles irgendwie Fake und wenn die Jury dich weghaben will, ist’s vermutlich egal, wie viele Leute für dich gestimmt haben.

Freitagabend sind alle Kandidaten logischerweise ziemlich nervös und relativ früh in ihren Zimmern. Yoko absolviert noch ihr abendliches Tanztraining und ich bin endlich mal wieder allein mit Ferdi. Leider hält sich seine Begeisterung darüber stark in Grenzen. Er hockt auf dem Bett, hat Stöpsel in den Ohren und liest aufmerksam seinen Textzettel. Ich frag mich echt, weswegen der immer noch sauer ist?! Na, das sollte ich wohl ihn fragen. Ich setze mich also neben ihn und ziehe an dem Schnürchen, sodass die Ohrstöpsel heraus fallen.

„Wir müssen reden.“

„Ich muss Texte lernen“, behauptet er grimmig.

„Du kannst die lächerlichen zwei Texte auswendig, Fuchseder. Wir müssen jetzt reden.“

„Mein Hals tut weh.“

„Es tut mir leid, dass ich mit Paolo rumgemacht habe“, ignoriere ich seinen lächerlichen Einwand. „Ich bin halt nicht scheiß perfekt, ich mache Fehler. Kommt dir bekannt vor?“

„Schröder, darum geht’s doch gar nicht.“

Langsam krieg ich echt den Schwachsinn. „Worum dann?“

„Was glaubst du, warum ich wieder bei DSDMB eingestiegen bin? Damit ich mich andauernd von dir ablenken lasse? Bestimmt nicht. Ich will ins Finale, alles andere interessiert mich grad nicht.“

„So, also ich interessiere dich auch nicht mehr?“

„Du bist mir zu anstrengend“, gibt er zu, „und zu unberechenbar. Man kann sich eben nicht auf dich verlassen.“

„Fuchsi, ich hab an deinem verdammten Bett gesessen, dir die Stirn gekühlt und dich mit Erkältungssalbe eingeschmiert… was war daran bitte für dich anstrengend?“

„Dass du dich um mich gekümmert hast, war ja auch wirklich süß und ich bin dir dankbar, aber deswegen sind wir noch lange nicht wieder zusammen oder so was.“

„Ich bin zwei, drei Mal weggelaufen“, gebe ich nun zu. „Aber ich bin immer zurück gekommen und hab versucht, für dich da zu sein.“

„Ja, ich wusste aber nie, ob du zurück kommst. Das ist der Punkt. Du verschwindest einfach, wenn dir was nicht passt und lässt mich total im Unklaren. Ich kann dir nicht vertrauen.“

„Denkst du, ich wäre aus Spaß gegangen? Dass mir dein Geknutsche mit Michi nicht gepasst hat, ist wohl verständlich.“

„Du hast mit Paolo geknutscht. Wir sind quitt, Schröder.“

„Quitt wären wir, wenn ich irgendeinen Kerl gefickt hätte“, stelle ich fest. „Und ich hab das mit Paolo nicht aus Rache getan, sondern weil ich mich verflucht allein gefühlt hab. Für dich war doch nur noch Michi wichtig. Du hast nur noch an ihn gedacht, selbst wenn du mit mir zusammen warst… wie hätte ich denn darauf reagieren sollen? Jeder normale Mensch wäre mit Sicherheit zwanzig Mal abgehauen.“

„Sieh’s doch ein, es funktioniert nicht mit uns.“

„Okay, dann sag mir, dass du nicht in mich verliebst bist und dass ich dich in Ruhe lassen soll.“

„Ich bin…“, er schüttelt den Kopf. „Es geht einfach nicht.“

„Küss mich.“

„Wie bitte?“, fragt er entgeistert.

„Du hast mich verstanden, Fuchseder“, erkläre ich augenverdrehend und setze mich auf seinen Schoß.

„Das ist keine gute Idee.“

„Willst du mich nicht küssen?“

Einen Moment starrt er auf meine Lippen, sein Blick wird ganz weich und er seufzt leise. „Doch“, murmelt er gedehnt.

„Dann mach endlich“, flüstere ich zittrig.

Woah… als sich unsere Lippen berühren, unsere Zungen, schlägt bei mir sofort wieder der Blitz ein!!

Lesemodus deaktivieren (?)