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Emotional Hardcore

Teil 3

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Vorwort

Liebe Freunde und Kupferstecher, lange hat’s gedauert, aber jetzt geht es endlich weiter.

Viel Vergnügen!

 

„Okay, ich will jedes schmutzige Detail“, grinst Leslie.

„Wir haben uns manchmal geküsst“, nuschele ich und werde rot.

„Mann, wie versaut“, stöhnt er und verdreht die Augen.

„Entschuldige, dass ich dir keinen Porno bieten kann.“

„Du meinst, es ist nichts zwischen euch passiert, obwohl du mit dem Typen im Bett gelegen hast?“

„Sei doch nicht so unsensibel, Schatz“, mischt sich Jule ein. „Möglicherweise hat Jo-Jo keinen Bock, sein Privatleben vor einer fremden Person zu bequatschen.“

Danke, Jule!

Offenbar ist Leslie auf einmal kein eigenständiger Mensch mehr, sondern nur noch Teil einer Beziehung. Immer und überall ist Jule dabei. Ob die schon hier eingezogen ist? Sie benimmt sich nämlich in Leslies Wohnung… na, ja, als würde sie hier wohnen. Das riesige Marianne- Faithfull-Schwarzweißposter hing vor meinem Wochenende mit Flo jedenfalls noch nicht im Flur und Jule steht bekanntlich auf Sechzigerjahre-Ikonen. Die hört auch andauernd Nico und so’n Zeugs.

„Du bist meine Freundin, Süße. Besser Jo-Jo gewöhnt sich dran, vor dir keine Geheimnisse zu haben“, lächelt er und knutscht sie ungefähr fünf Minuten lang.

Demonstrativ knalle ich meine Tasse auf den Glastisch, worauf die beiden kurz zusammenzucken und sich wieder gesittet verhalten. Das heißt, Jule steht auf und erklärt, dass sie noch mit einer Freundin verabredet sei.

„Jetzt mal ernsthaft, Kleiner“, beginnt Leslie, nachdem Jule weg ist, „der Typ wollte dir doch an die Wäsche, mh?“

„Kann sein.“

„Aha!“

„Na und? Muss ich mich deswegen sofort flachlegen lassen?“

„Ich denke, dein Flo ist so wahnsinnig toll.“

„Ist er auch. Trotzdem.“

„Er wollte bloß Sex, stimmt’s? Und als er ihn nicht bekommen hat, war er beleidigt.“

Manchmal graut mir vor Leslie.

„Ich hab dir doch gesagt, der ist zu abgewichst für dich. Kuck mich nicht so biestig an, das war nicht abwertend gemeint. Wahrscheinlich ist der Knabe echt nett und so weiter, aber halt nicht als dein fester Freund geeignet. Du brauchst Zeit und langsam und zärtlich und verständnisvoll. Dich vögelt man nicht einfach in der ersten Nacht. Bei dir muss man da ganz behutsam vorgehen.“

„Hast du wieder heimlich Pillen eingeworfen?“, frage ich.

„Nein, Schwachkopf. Ich versuche nur…“

„Ja“, unterbreche ich ihn, „hör auf damit.“

„Jule findet übrigens, dass ich mich wie dein Vater aufführe. Also nicht wie dein Vater… das wär ja wohl was… aber sie meint halt, dass ich denke, dass es eh niemanden gibt, der gut genug für dich ist. Findest du das auch? Ich meine… findest du, ich beschütze dich zu sehr?“

Wenn es keine Pillen waren, hat er mit Sicherheit Pattex geschnüffelt oder Spraydosen inhaliert.

„Ich finde es vor allen Dingen total super, dass du mit deiner Freundin meine Angelegenheiten besprichst.“

„Jule ist cool. Unglaublich tolerant und sie versteht wirklich alles.“

„Na, dann ist es ja in Ordnung“, entgegne ich finster. Beinahe hätte ich ihn gefragt, wie tolerant sie mit der Tatsache umgeht, dass ihr Freund mal in mich verliebt gewesen ist, und ob sie es verstehen wird, wenn ihr Freund hin und wieder was mit Jungs hat.

Während Leslie in hemmungslose Jule-Schwärmereien verfällt, frage ich mich, warum ich ihn angelogen habe. Zwischen Flo und mir ist nämlich in der zweiten Nacht doch was passiert. Das fing ziemlich harmlos mit ein paar Küssen an und dann wollte ich irgendwie herausfinden, ob das damals mit Leslie nun ein Ausrutscher war, oder ob es eben mit Jungs doch besser klappt, als mit Mädchen. Tja, ich hab jetzt die schreckliche Gewissheit! Bei Merle hat es beispielsweise super lange gedauert, bis ich… äh… mal so weit war. Flo dagegen hat ein bisschen an mir rumgefummelt und schon war ich fertig. Und er brauchte mir nicht ein einziges Mal zu sagen, was ich wie machen soll.

„He, ich hab dich was gefragt“, reißt mich Leslies Stimme aus meinen Gedanken.

„Äh… hm?“

„Was ist mit Kim?“

„Was soll denn mit dem sein?“

„Na ja, gefällt er dir auf einmal nicht mehr, oder was?“

„Nee. Wieso auch?“

„Weil du im Gartenhaus noch völlig hin und weg gewesen bist?“, schlägt er vor.

„Ist Jule bei dir eingezogen?“, wechsele ich das Thema.

„Lenk nicht ab, Blödmann. Und, nein, das ist sie nicht.“

„Wäre auch ungünstig. Dann müsstest du deine Aufrisse zukünftig woanders ficken.“

„Erstens… seit wann benutzt du solche Wörter? Zweitens liebe ich Jule, weswegen es drittens keine Aufrisse geben wird. Jule ist die Frau meines Lebens.“

„Herzlichen Glückwunsch. Wann ist die Hochzeit?“

Leslie starrt mich sekundenlang an. „Jo-Jo, du bist doch wohl nicht eifersüchtig?“

„Wow, jetzt hast du mich voll erwischt“, lache ich ihn aus.

„Weil ich mehr Zeit mit ihr verbringe als mit dir?“

„Leslie… es dreht sich gar nicht immer alles nur um dich. Ich hab momentan echt andere Probleme.“

„Zum Beispiel?“

„Ich muss los. Wir sehen uns irgendwann“, seufze ich und gehe.

In meinem Zimmer lege ich mich aufs Bett und schmuse mit Flos Schal. Den hatte ich… äh… versehentlich in meine Tasche gepackt. Na ja, wäre mir auch albern vorgekommen, ihn zu fragen, ob ich etwas von ihm mitnehmen darf, das nach ihm riecht. Jedenfalls, Flo… ich weiß überhaupt nicht, was ich von den Ereignissen halten soll. Oder von meinen Gefühlen. Oder von seinen Gefühlen. Tatsache ist, dass er nach der gegenseitigen Runterholerei irgendwie gar nichts mehr dazu gesagt hat. Nicht, dass ich das stundenlang hätte bereden wollen, aber so schwupps zur Tagesordnung überzugehen, keine Ahnung. Okay, für ihn war das wahrscheinlich absolut nichts Besonderes, immerhin treibt er es schon jahrelang mit Jungs. Ich nicht. Ich war… bin verwirrt. Weil es sich einerseits halt richtig anfühlte, doch andererseits auch wieder nicht. Klar, bin ich wesentlich mehr und schneller abgegangen als bei Merle, trotzdem fehlte mir was, das ich zwar nicht benennen kann, in meiner Vorstellung vom Verliebtsein allerdings dazu gehört. Dabei bin ich in Flo verliebt, sonst würde ich ihn doch nicht so doll vermissen, oder? Er hingegen scheint mich kein Stück zu vermissen, sonst hätte er sich längst mal gemeldet. Außer einer Bist-du-gut-angekommen-SMS kam von ihm nix. Anrufen kann ich nicht, weil mein Vater dann eventuell wieder durchdreht und diese Peinlichkeit muss ich mir nicht noch mal geben. Aufs Chatten scheint er momentan keinen Bock zu haben, er ist irgendwie nie online.

Einige Tage später treffe ich mich mit Nora. Wir hocken in ihrem Zimmer und trinken heiße Schokolade.

„Reden wir jetzt über Jungs?“

„Bin ich so leicht zu durchschauen?“, frage ich.

„Ein bisschen. Also, was ist los? War dein Wochenende mit Flo nicht so super?“

„Doch, aber… vielleicht erwarte ich zu viel.“

Nora löffelt die Sahne von ihrem Kakao. „Ja, ich hör dir zu.“

„Ich meine, nur weil man miteinander rumgemacht hat, bedeutet das noch lange nicht, dass man total verliebt ist, oder?“

„Kommt drauf an.“

„Worauf?“

„Weiß ich nicht. Ein paar Infos mehr wären nicht schlecht.“

„Flo und ich haben… du weißt schon…“

„Nee“, lächelt sie, „ich war ja schließlich nicht dabei.“

Verlegen knabbere ich am Rand meiner Tasse.

„Jo-Jo, um Himmels Willen, sag einfach, was Sache ist.“

„Keine Ahnung. Das ist es ja“, murmele ich bedröppelt.

„Komm schon“, ermuntert sie mich, „versuch’s!“

„Ich denke, ich bin verliebt. Aber ich finde, das, was wir gemacht haben, hätte mich irgendwie mehr umhauen müssen“, sage ich schnell und traue mich nicht, sie dabei anzuschauen.

„Wieso? Hat er sich ungeschickt angestellt?“

„Nee. Im Gegenteil. Trotzdem.“

„Hm, umhauen“, überlegt sie vor sich hin, „verstehe.“

„Wirklich?“

„Klar. Vielleicht hat es dich so doll umgehauen, dass du’s in der Situation gar nicht so bemerkt hast. Oder bemerken konntest. Also… als ich mein erstes Mal hatte, da ist mir auch erst später richtig aufgefallen, wie schön das war. Es gibt, glaube ich, Momente, da ist man so überwältigt, dass man einfach gar nicht richtig fühlen kann. Das kommt dann hinterher, wenn man drüber nachdenkt und sich daran erinnert.“

Das könnte bei mir durchaus der Fall sein. Bei Flo halte ich das jedoch für ausgeschlossen.

So wahnsinnig überwältigt hab ich ihn sicher nicht!

„Stress dich nicht so“, rät sie. „Entspann dich, dann kannst du das nächste Mal, wenn ihr was auch immer miteinander macht, auch genießen, mh?“

„Ja, vielleicht“, seufze ich.


Nach zweieinhalb Wochen flattert endlich ein Lebenszeichen von Flo in mein Postfach.

Hi! Bin grad eben nach Hause gekommen. Muss jetzt dringend schlafen… Meld mich bald wieder! Liebe Grüße, Flo.

Ich lese die Mail ungefähr zwanzig Mal. Länger wird sie davon nicht und besser geht’s mir dadurch auch nicht, aber es ist wie ein Zwang. Grad nach Hause gekommen… von wo? Von wem? Und was ist das überhaupt für eine Art? Speist mich mit läppischen zwei Sätzen ab, während ich hier die Wände hochgehe, weil ich andauernd an ihn denken muss. Das ist doch scheiße. Ich bedeute ihm nicht mal halb so viel wie er mir. Liebe Grüße, blöde Floskel. Er hätte mir wenigstens einen Kuss schicken können.

Niedergeschmettert schalte ich den Computer aus, da klingelt mein Handy. Leslie.

„Was willst du?“, frage ich genervter als beabsichtigt.

„Dich sehen, Kleiner“, entgegnet er ekelerregend fröhlich.

„Heute?“

„Ja, wieso? Hast du schon was vor?“

„Nee. Was ist denn mit Jule?“

„Die ist mit ihren Freundinnen unterwegs. Weiberabend.“

„Ach so. Bin nur die Notlösung.“

„Hör auf zu schmollen, Jo-Jo. Frag deinen beknackten Erzeuger, ob du bei mir übernachten darfst und komm her, dann überlegen wir, was wir heute noch machen, okay?“

„Meinetwegen.“

Zwei Stunden später hocke ich bei Leslie auf der Couch und warte darauf, dass er endlich fertig wird. Er will unbedingt ausgehen, worauf ich keine Lust habe, aber das scheint ihn nicht zu interessieren. Hoffentlich hat er nicht wieder ein „zufälliges“ Treffen mit Kim arrangiert. Zuzutrauen wäre es ihm.

„Wir können“, lächelt er und mir bleibt fast die Luft weg.

Normalerweise ist es mir egal, weil er mein bester Freund ist, aber manchmal fällt mir dann doch auf, wie gut Leslie aussieht. Seine schwarzen Haare sind verwuschelt, seine Augen hat er mit dunklem Lidschatten und Kajal geschminkt. Er trägt schwarze Jeans, Doc’s und ein ziemlich enges, schwarzes Shirt, das mit einem blutroten Mund, aus dem Vampirzähne ragen, bedruckt ist.

Supi, und ich sehe aus, wie durch den Gulli gezogen!

„Du bist von Natur aus schön“, behauptet er, als er meinen Blick bemerkt und ich zusätzlich an meinem verwaschenen Kapuzenpulli zupfe, „du musst dich nicht aufbrezeln.“

Was soll man dazu noch sagen?!

Im Subway läuft heute grandios beschissene Musik. Wir sind nach dreißig Minuten dermaßen schlecht gelaunt, dass wir kurz davor sind, uns gegenseitig zu verprügeln. Leslie scheint allerdings noch aus einem anderen Grund miesepetrig zu sein. Der glotzt permanent Richtung Eingang.

„Wartest du auf wen?“, brülle ich.

„Halt bloß den Rand“, brüllt er zurück.

„Kim?“

„Wo?“

„Ich meine, wartest du vielleicht auf Kim?“

„Nein“, antwortet er düster. Dann huscht plötzlich ein Lächeln über sein Gesicht. „Hallo, Sweetheart.“

Ich folge seinem Blick, der an einem fremden Jungen klebt. Einem hübschen Gothic-Jungen.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst“, schüttele ich den Kopf.

„Also, wenn ich nicht so gut wie verheiratet wäre, dann würde ich sagen… da steht mein Abendessen“, grinst er und leckt sich leicht die Lippen.

„Du bist unglaublich.“

„Danke.“

„Da war kein Kompliment“, sage ich ein bisschen fassungslos.

„Kucken ist ja wohl erlaubt. Glaubst du, Jule kuckt sich mit ihren Weibern keine süßen Jungs an?“

Ich zucke die Achseln, weil mir das nun wirklich schnuppe ist.

„Der kann bestimmt gut küssen, was meinst du? Mann, und ich will gar nicht erst über andere Dinge nachdenken, sonst krieg ich sofort ’ne Latte.“

Gott, der ist ja schlimmer, als ein Köter, der ’ne läufige Hündin wittert. Hauptsache, er bespringt den ahnungslosen Jungen nicht gleich.

„Verdammt, lass uns lieber abhauen, bevor ich etwas mache, was mir hinterher leid tut.“

Was soll’s?! Die Musik ist ja eh zum Kotzen.

Unterwegs halten wir bei McDonald’s und kaufen zum Nachtisch ein paar Süßigkeiten am Kiosk. Den Rest des Abends verbringen wir vor der Glotze. Leslie mag sich zum tausendsten Mal „Star Wars“ ansehen. Natürlich nur die ersten drei Teile, beziehungsweise die letzten drei, also nicht die neuen. Als das Imperium zurückschlägt und Luke seine Jedi-Ritter-Ausbildung abbricht, um seinen Freunden zu helfen, obwohl Yoda sagt, dass er noch nicht so weit ist, bin ich schon fast eingeschlafen.

„Ey, du Penner.“

„Ins Bett gehen ich muss“, kichere ich müde.

„Möge die Macht mit dir sein.“

Nach Zähneputzen und Händewaschen schleppe ich mich träge ins Bett und bin mit einem Schlag hellwach, als Leslie ins Schlafzimmer spaziert.

„Ich hoffe, du ziehst das nicht an, wenn Jule hier schläft.“

Er präsentiert mir sein altes Freddy-Krueger-T-Shirt und schwarze Boxershorts mit zwei Knochenhänden am Hintern… auf jeder Arschbacke eine Klaue. Dann hüpft er zu mir unter die Decke.

„Wenn Jule hier ist, schlafe ich nackig.“

„Klar, was auch sonst“, murmele ich.

„Jule hasst Freddy.“

Leslie steht total auf so Achtzigerjahre-Kram. Hat er sicher von seinen Eltern, die in der Zeit quasi Teenager waren und ständig Geschichten darüber erzählen. Leslies Eltern sind unwahrscheinlich nett. Anders ist es nicht zu erklären, dass sie ihrem halbwüchsigen Sohn diese riesige Wohnung hier überlassen haben und somit auf die Miete von fremden Leuten verzichten. Das Haus gehört nämlich ihnen, sie wohnen eine Etage tiefer. Ich bin immer ein bisschen neidisch, wenn man Leslie mit seinen Eltern erlebt, fühlt man sich fast wie bei den Gilmore Girls.

„Irgendwie schade“, seufzt er.

„Was?“

„Dass mir der Typ nicht vor Jule über den Weg gelaufen ist.“

„Mann, der hat dich ja wohl mächtig beeindruckt.“

„Fandst du den hässlich, oder wie?“

„Nein. Aber ich verstehe halt nicht, warum du Sex mit Jungs brauchst, wenn du mit einem Mädchen zusammen bist.“

Leslie legt sich auf die Seite und sieht mich an. „Man will doch immer das, was man grad nicht haben kann.“

„Doch nicht, wenn man verliebt ist.“

„Weiß nicht.“ Er rollt sich wieder auf den Rücken und starrt an die Decke. „Ich liebe Jule und hab total vor, ihr treu zu bleiben, also lass uns nicht über meinen Sex mit Jungs reden sondern über deinen.“

„Äh… ich hatte bis jetzt…“

„Denkst du, ich kauf dir ab, dass zwischen Flo und dir rein gar nichts gelaufen ist? Also, bläst er gut?“

„Ich hau dir gleich eine rein“, entgegne ich.

„Besser als Merle, mh? Jungs machen das immer besser.“ Leslie dreht sein Gesicht in meine Richtung und ich wünschte, er würde mich nicht auf so eine seltsame Art ansehen. Meine Haut beginnt zu kribbeln.

„Das kann ich nicht beurteilen“, gebe ich leise zu.

„Oh…“

„Ja.“

Eine Weile ist es still. Ich höre Leslie atmen. Und ich höre mein Herz laut schlagen. Besser gesagt, ich fühle, dass es heftig klopft. Heftiger als sonst, was mich ziemlich irritiert.

„Mir ist kalt“, stelle ich fest und versuche, die Decke um meine Eisfüße zu wurschteln.

„Du liegst ja auch kilometerweit weg“, entgegnet er und zieht mich in seine Arme.

Mmmhh, Leslie ist warm und er riecht nach Kuscheltier.

„Mach das raus.“

„Was?“

Leslie friemelt das Gummi aus meinen Haaren und lässt die Strähnen durch seine Finger gleiten.

„Hast du keine Angst, dass dein Vater nachts mit einer Schere in dein Zimmer kommt?“, lächelt er.

In der Tat hat er mir das bereits mehrere Male angedroht. Jungs tragen gescheite Kurzhaarschnitte, findet er. Mir dagegen gefällt es, dass ich meine Haare im Nacken zusammenbinden kann und mir immer ein paar zu kurze Strähnen ins Gesicht fallen.

„Du hast mir gefehlt, Jo-Jo.“

„Du hast mir auch gefehlt“, flüstere ich und hab nicht die geringste Ahnung, wie er das jetzt gemeint hat… oder wie ich das gemeint habe. Gott, ich bin völlig durcheinander, hebe meinen Kopf und küsse ihn kurz auf den Mund.

Eigentlich will ich mich danach wieder an ihn kuscheln, aber ich kann meinen Blick nicht von ihm abwenden. Dann küsst Leslie mich sachte. Und bevor ich einen klaren Gedanken fassen kann, teile ich mit meiner Zunge seine Lippen. Leslies Zunge umschlängelt meine und ich bin hinüber. Wir knutschen eine Ewigkeit. Seine Hand streichelt meine Haut unterm T-Shirt, die andere spielt noch immer mit meinen Haaren. Ganz langsam legt er sich auf mich, hält meine Handgelenke fest, unterbricht den Kuss und grinst gefährlich.

„Ich blas dir einen… aber nur, wenn du mir auch einen bläst.“

Das ist bestimmt keine gute Idee! Er war mal in mich verliebt und hat jetzt eine Freundin, der er treu bleiben will. Andererseits, wie soll ich mich denn bitte wehren, wenn Leslie sich so an mich drückt und drauflos küsst?! Leider hört er nach drei Sekunden schon wieder auf.

„Okay?“, säuselt er.

„Halt die Klappe“, schnaufe ich, befreie mich aus seinem Griff, umschlinge ihn und knutsche weiter.

Später liegen wir schwer atmend nebeneinander.

„Das war… ziemlich gut“, bemerkt er.

„Ziemlich?“, frage ich und boxe ihm leicht in die Seite.

„Verdammt gut.“

„Na ja, ich hab mir auch sehr viel Mühe gegeben.“

Leslie dreht sein Gesicht zu mir. „Du kleiner Schleicher hast mich total verrückt gemacht.“

Ah, ich fühle mich sehr geschmeichelt. Jemanden, der so oft Sex hatte, verrückt zu machen, das ist cool.

„Willst du gar nicht wissen…“

„Kleiner“, unterbricht er mich, „erstens weiß ich, dass ich gut blasen kann und zweitens war es weder zu übersehen noch zu überhören, wie sehr es dir gefallen hat.“

Wow, der hat ein Selbstbewusstsein am Leib!

Behaglich schmust er sich an mich und gibt mir einen Kuss auf die Wange.

„Nacht.“

„Du, Les… findest du nicht, wir sollten die Sache mal… ähem… kurz klären?“

Nicht, dass er sich Hoffnungen macht und seine Freundin meinetwegen verlässt, obwohl ich doch in Flo verknallt bin.

„Wieso? Das war bloß ’n bisschen Sex unter Freunden, richtig?“

„Äh, ja.“

„Wir sind nicht plötzlich verliebt ineinander.“

„Nee.“

„Dann ist doch alles klar.“

Mann, das hoffe ich. Wirklich.


Ich habe Flo eine super schmalzige Mail geschrieben und schäme mich jetzt zutiefst. Wenn er sich nie wieder bei mir meldet, hab ich noch Glück gehabt. Mann, allein der Gedanke an mein Geschreibe verursacht schlimme Magenschmerzen und Schwitzeattacken. Ich kann die Mail nicht einmal nochmals durchlesen, um mir das ganze Ausmaß der Katastrophe vor Augen zu führen, so peinlich ist mir die Sache. Irgendetwas stimmt doch nicht mit mir. Schreibe einem fast wildfremden Typen, mit dem kaum was gelaufen ist, dass ich mich verliebt habe, ihn vermisse, ständig nur an ihn denke, er der schönste Junge der Welt ist… du meine Güte, ich krieg schon wieder einen roten Kopf! Vielleicht sage ich ihm einfach, dass ich besoffen war. Oder vorübergehend an einer schrecklichen Gehirnerkrankung gelitten habe.

Und als wäre das alles nicht unschön genug, macht mir noch zusätzlich mein schlechtes Gewissen zu schaffen. Weil ich was mit Leslie hatte und Jule ihrem Freund total vertraut und nicht im Traum darauf kommen würde, dass der sich sexuell mit seinem besten Freund vergnügt. Leslie hat logischerweise überhaupt kein Problem damit, denn er ist es gewohnt, seine Freundinnen zu betrügen. Außerdem… dafür, dass ich eigentlich nur theoretisch auf Jungs stehe, treibe ich es ganz schön bunt, oder? Erst Leslie, dann Flo, dann wieder Leslie und zwischendurch lasse ich mich von Kim küssen. Wo soll das denn alles enden?!


Der Bus ist gerammelt voll. Hätte mir klar sein müssen, so am späten Nachmittag. Ich hasse überfüllte Busse, schiebe mich durch die Menschenmassen und erspähe einen freien Platz. Oh… ach du Scheiße! Irgendwie glaube ich mittlerweile nicht mehr an Zufälle, was Kim angeht. Der freie Platz ist nämlich ausgerechnet neben ihm. Wieso fährt der Bus? Und wieso ausgerechnet mit mir zusammen? Ob der mich heimlich beschattet? Mir nachstellt? Allerdings hat er ja schon vorher da gesessen, also vielleicht doch bloß Zufall. Wie auch immer, ich setze mich neben ihn, weil ich keine Lust habe, eine halbe Stunde eingepfercht herumzustehen.

„Hey“, sagt er überrascht.

„Hallo“, murmele ich verlegen.

Warum ich verlegen bin, weiß ich auch nicht. Möglicherweise weil Kim schon wieder so hübsch aussieht mit seinem Ringelschal, der schwarzen Jacke und den Kopfhörerstöpseln seines mp3-Players in den Ohren. Übrigens nimmer er einen Stöpsel heraus, wahrscheinlich um zu signalisieren, dass er sich unterhalten will. Ich hab aber leider keine Ahnung, was ich sagen soll. Beim letzten Mal war ich ja nicht unbedingt so nett, fällt mir ein.

„Was hörst’n?“, frage ich.

„Tod im Juni“, grinst er.

„Hä?“

Kim reicht mir einen Stöpsel. Ich höre… Marschmusik und eine Stimme, die sich irgendwie nach Hitler oder so anhört. Dann fängt jemand an zu singen.

„Was zum Teufel ist das?“

„Death In June. Die sind toll.“

Leute, die Hitler-Gefasel in ihre Lieder einbauen, sind mir unsympathisch. Allerdings hätte ich von Kim nicht erwartet, dass er sich so’n Nazi-Kram reinzieht.

„Ist das was Rechtsradikales?“

„Neofolk. Allerdings wird denen tatsächlich oft so was unterstellt, was ich persönlich aber nicht glaube. Douglas Pearce ist schwul und steht auf Uniformen.“

„Aha.“

„Ich mag so alten Gruftkram. Den Scheiß, der im Subway läuft, kannst du doch vergessen.“

„Ja, manchmal schon.“

Plötzlich entreißt er mir seinen Ohrstöpsel. „Okay, ich muss gleich raus. Man sieht sich.“

Was war das denn? Normalerweise ist der doch immer… also ich habe fest damit gerechnet, dass er wieder versuchen würde, mit mir Händchen zu halten. Na ja, sicher hat er endlich begriffen, dass ich nichts von ihm will. Komisch ist es trotzdem.

Als ich nach Hause komme, wird es noch komischer. Ich hab ’ne Mail von Flo im Postfach. Au Backe! Eigentlich will ich sie gar nicht lesen, um die Illusion, dass er mich auch unsterblich liebt, zu erhalten. Andererseits bin ich neugierig, was er tatsächlich geschrieben hat, also öffne ich sie. Aha, süß fand er meine Mail und geschmeichelt fühlt er sich und mögen tut er mich auch… aber wir haben uns doch erst einmal gesehen, da ist es etwas früh, um schon von solch großartigen Gefühlen zu sprechen, und momentan ist er nicht unbedingt auf der Suche nach einer festen Beziehung… blablabla.

Tja, meine Illusion hat sich gerade eben selbst gefesselt, mit Benzin übergossen und angezündet.

Mit tränenfeuchten Augen lese ich dann, dass ich ihn aber natürlich jederzeit besuchen darf.

Besser als nix, oder? Leck mich am Arsch! Was hab ich davon, bei ihm zu sein, und er fühlt nicht dasselbe wie ich?! Hm, ob das ein Zeichen ist? Ein Zeichen, das mir sagt: Mit den Jungs, Jo-Jo, das lass mal lieber, sei normal, such dir eine nette Freundin und mach deinen Vater stolz, das ist gesünder für dich!


„Na ja…“, sagt Leslie gedehnt und dreht sich langsam auf meinem Schreibtischstuhl hin und her, „sei mir nicht böse, aber so einen gefühlsduseligen Mist schreibt man halt tatsächlich nicht sofort nach dem ersten Treffen.“

„Danke, das ist mir auch klar“, entgegne ich ärgerlich.

„Okay, Schadensbegrenzung“, behauptet er, knetet seine Finger und wendet sich Monitor und Tastatur zu.

„Was hast du vor?“

„Lass mich nur machen.“

Ein paar Minuten lasse ich ihn machen. Dann schaue ich über seine Schulter und… argh… ich krieg schon nach dem dritten Satz eine rote Birne.

„Das ist ein Scherz, oder?“

„Das ist super“, lächelt er zufrieden.

„Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich Flo so eine… Pornomail schicke. Noch dazu eine, die DU geschrieben hast.“

Ehrlich, da steht nur Schweinkram drin.

„Dein Schätzchen weiß doch gar nicht, dass ich… dir beim Verfassen geholfen habe. Aber weißt du, was er tun wird?“

„Mich wegen Belästigung anzeigen?“, schlage ich vor.

„Nein. Er wird sie ausdrucken und mindestens fünfmal am Tag drauf wichsen.“

„Leslie“, stöhne ich verzweifelt.

„Und abgeschickt. Übrigens will ich seine Antwort dann selbstverständlich lesen.“

Supi! Wen man Leslie hat, braucht man echt keine Feinde mehr!

Eine halbe Stunde nachdem Leslie gegangen ist, traue ich mich zu kucken, ob Flo eventuell geantwortet hat. Ich bin fast erleichtert, als ich sehe, dass keine neuen Mails da sind.

Fünf Minuten später schaue ich noch mal nach. Immer noch nichts. Das geht ungefähr den ganzen Abend so weiter. Bis… mir eine ungelesene Mail angezeigt wird. Mit schwitzigen Fingern, Herzklopfen und Magenschmerzen klicke ich herum und lese Flos Antwort.

Ach du Heimatland! Flo scheint nach dem Motto „Wenn dir einer Schweinkram schreibt, musst du mit noch viel mehr Schweinkram antworten“ gehandelt zu haben. Und chatten will er plötzlich auch wieder mit mir. Und besuchen soll ich ihn. Dringend!

Schade. Irgendwie hatte ich gehofft, er würde mich durchschauen. Ich meine, wie dämlich kann man sein? Selbst dem größten Schwachkopf unter der Sonne hätte auffallen müssen, dass ein schüchterner, verklemmter Junge nicht auf einmal mit dermaßen heftigem Pornovokabular jongliert. Bin ja schließlich keine seiner Bumsbekanntschaften!

Jedenfalls schreibe ich ihm zurück, dass chatten nicht geht, weil mein Vater andauernd stresst, und es mit einem Treffen momentan auch eher ungünstig aussieht. Danach schalte ich den verdammten Computer aus und will die nächsten hundert Jahre nur noch meine Ruhe haben.

Als Leslie zwei Tage später nach Flo fragt und ich ihm die Mail zeige, schüttelt er den Kopf.

„Hab ich doch gewusst, dass der Typ total einfach gestrickt ist. Echt, ey, schreib ein paar versaute Sachen und sofort steigt er drauf ein. Kerle sind doch alle gleich.“

„Toll. Und jetzt?“

„Jetzt weißt du, was dir blüht, wenn du zu ihm fährst. Er will dich die ganze Nacht ficken. Nicht besonders einfallsreich, wenn ich das mal sagen darf. Also nichts gegen die ganze Nacht ficken, aber… ein bisschen raffinierter und aufregender hätte er sich schon ausdrücken dürfen.“

Ich denke an Leslies Geschreibsel und halte lieber die Klappe. So viel raffinierter als Flos Mail war seine nämlich auch nicht.

„Wahrscheinlich ist er im Bett genauso phantasielos. Überleg dir gut, ob du so einen Typen haben möchtest.“

„Ich will überhaupt keinen Typen haben“, murmele ich fix und fertig.

„Oh nein, sind wir etwa wieder in der Verleugnungsphase? Die hatten wir doch gerade hinter uns.“

„Wenn schwul zu sein bedeutet, dass man gleich wild drauflos vögeln muss, anstatt sich erstmal gescheit kennen zu lernen… dann ziehe ich Verleugnung vor.“

„Wieso triffst du dich nicht mal wieder mit Kim?“

Au je, ich krieg beinahe einen hysterischen Lachkrampf. Ey, das wird ja langsam zum Running-Gag.

„Wenn du Kim so toll findest, warum triffst du dich nicht mit ihm?“

„Weil ich Jule hab, Blödmann“, entgegnet er. „Außerdem steht er auf dich.“

„Hab ich beim letzten Mal nicht viel von gemerkt. Und selbst wenn“, rege ich mich auf, „sagte ich nicht gerade eben, dass ich keinen Typen will? Warum hörst du eigentlich nie zu?“

„Ich möchte, dass du glücklich bist, Jo-Jo“, behauptet er total ernst.

„Fein, dann lass mich mit dem ganzen Schwulenscheiß in Frieden.“

„Aber…“

„Wenigstens für eine Weile. Bitte…“, flehe ich.


Ich hab Magenschmerzen bis zum Fuß. Wer hat eigentlich behauptet, dass Verliebtsein ein angenehmer, wahnsinnig schöner Zustand ist, den jeder Mensch irgendwie anstrebt? Vielleicht ist das so, wenn man weiß, dass der Angebetete auch in einen verschossen ist, was in meinem Fall nicht der Fall ist. Wieso hab ich mich von Flo breitschlagen lassen, ihn zu besuchen? Warum musste mein Vater ausgerechnet dieses Wochenende mit seinem komischen Männerverein campen? Wenn Paps nämlich nicht da ist, dann ist meine Mutter wesentlich entspannter und erlaubt mir fast alles. Ich frage mich, ob sie weiß, was genau Paps da mit seinen „Kameraden“ veranstaltet? Letztes Jahr hat er mich mal mitgenommen, deswegen weiß ich, dass die nicht bloß fröhlich zelten, grillen und Bier trinken. Nein. Die schmieren sich Tarnfarbe ins Gesicht, robben durch Schlamm, kriechen unter Stacheldraht herum, klettern über Kilometer hohe Holzwände und lassen sich dabei von einem Kerl in Bundeswehrklamotten anschreien und beschimpfen… ungefähr so wie man das manchmal in amerikanischen Armee-Filmen sehen kann. Das ist echt übel! Und meinem Vater war es sehr unangenehm, dass ich die Holzwand nicht hochkam. Für mich war das allerdings ein Glück, weil er mich wohl niemals wieder dahin mitnehmen wird.

„Hey, Jo-Jo“, lächelt Flo sein hardcore süßes Lächeln, woraufhin sich meine Beine in Wackelpudding verwandeln. Dann nimmt er meine Tasche und trägt sie zum Auto. Wie aufmerksam!

Die Autofahrt verläuft heute immerhin etwas angenehmer. Flo behauptet, dass der Vergaser bloß verdreckt war und neu eingestellt werden musste. In seiner Wohnung serviert er Tee und Kekse und ich muss plötzlich an die Mails denken und mich gehörig schämen.

„Ich hätte ja eigentlich erwartet, dass du gleich über mich herfällst“, grinst er plötzlich.

Ich hasse Leslie!!

„Um mir einen zu blasen, dass ich Sterne sehe.“

„Und du wolltest mich die ganze Nacht ficken“, rutscht mir aus Versehen heraus. Oh Mann, kann mich bitte jemand totschießen?!

Flo schaut auf seine imaginäre Armbanduhr. „Ja, die Nacht hat aber noch nicht angefangen. Übrigens… ich hab gemeint, was ich geschrieben hab.“

Na gut, ich muss wohl gestehen.

„Leslie hat mir ein bisschen geholfen… ich bin nicht so gut in so was“, brabble ich mit roter Visage.

„Im Blasen?“

„Scharfe Sachen schreiben.“

„Verstehe“, lacht er. „Ich hab gleich gecheckt, dass die Mail nicht auf deinem Mist gewachsen ist. Passt einfach nicht zu dir. Und was die andere Sache angeht… ich bin mir sicher, du machst das verdammt gut.“

„Kann ich bitte noch Tee haben?“, frage ich hastig, obwohl mein Bauch schon dermaßen voll mit dem Zeug ist, dass es vermutlich herumgluckert, wenn ich mich einen Millimeter bewege.

„Klar.“

Er steht auf und bleibt ein paar Minuten in der Küche. Das gibt meinem Gesicht Zeit, seine normale Farbe zurück zu erlangen. Meine Ohren fühlen sich aber immer noch heiß an, als Flo mir die Tasse reicht.

„Wie kommt es eigentlich, dass ein Twin Peaks-Fan Tee trinkt?“

„Ich mag Kaffee halt nicht… und überhaupt… du als Twin Peaks-Fan hast mir noch nie Kaffee angeboten“, entgegne ich und bin froh, dass wir offenbar vom Sexthema weg sind.

„Und was magst du sonst noch… oder auch nicht?“

„Äh… in welche Richtung?“, frage ich vorsichtig.

„Weiß nicht. Such dir eine aus.“

„Keine Ahnung, was du wissen willst.“

„Na ja, was du magst. Oder nicht magst.“

„Die Frage ist mir zu allgemein.“

„Du machst es einem nicht leicht, mh?“

Ey, was hat’n der gefrühstückt? Ich meine, ich steh hier grad echt aufm Schlauch. Schade, dass ich nicht alibihalber Tee verlangen kann… meine Tasse ist noch gut gefüllt. Eine unangenehme Stille breitet sich aus. Die Rhododendren blühen schön, denke ich, traue mich aber nicht, diesen Satz zu sagen, nur um irgendetwas zu sagen. Straight… das klingt wirklich toll, da hat Kim schon recht. Fuck, wieso spukt der mir ausgerechnet jetzt durchs Hirn?

„Was überlegst du?“

Igitt, das ist mindestens genauso blöd, wie ’Was denkst du gerade?’ gefragt zu werden.

„Eigentlich gar nichts. Kennst du Death In June?“

„Ja, wieso?“

„Der Typ aus dem Gartenhaus hört die.“

„Aha.“

„Dem ich beinahe auf die Schuhe gekotzt hätte.“

„Und?“

Ich zucke die Schultern und würde mich gerne ein bisschen wegsprengen. Hoffentlich erzähle ich Flo nicht gleich auch noch aus lauter Verlegenheit, dass ich Leslie einen geblasen habe… und dass er mir einen geblasen hat.

Glücklicherweise komme ich abends auf die grandiose Idee, Twin Peaks anzukucken. Da hat man was zu tun und jede Menge Gesprächsstoff. Und Flo ist super kuschelig und hat sich bequem an mich geschmiegt. Leider trägt Letzteres nicht wirklich zu meiner Entspannung bei, obwohl es eigentlich schön ist, ihn so nah bei mir zu haben. Ich fürchte, irgendwas stimmt nicht mit mir. Oder wie ist es sonst zu erklären, dass ich mich nicht traue, Flos Haare zu wuscheln oder seinen Nacken zu kraulen? Es wäre doch so einfach. Andere Leute machen das ständig. Andere Leute würden so eine Situation ausnutzen, anstatt drüber nachzudenken. Na ja, andere Leute haben aber auch nicht meinen Vater im Kopf rumspuken, der ihnen einredet, dass Schwule keine Menschen sind… oder solche, die an die Wand gestellt gehören. Außerdem hat Flo total viel Erfahrung, während ich bloß zweimal was mit Leslie hatte. Allerdings… Leslie hat es gefallen. Aber Leslie ist mein bester Freund, vielleicht hätte er mir deshalb eh nicht gesagt, wenn es ihm nicht gefallen hätte.

Irgendwann murmelt Flo, dass er müde ist, schaltet den Fernseher aus, dreht sich von mir weg und pennt, während ich noch stundenlang wach liege und mich zum Kotzen fühle.

Am Samstag hängen wir bis abends in seiner Wohnung und danach in irgendeinem Club. Am Sonntag fahre ich schon ziemlich früh nach Hause, damit mein Vater nicht merkt, dass ich weg war. Kommt es nur mir so vor oder könnte man das gesamte Wochenende als totalen Reinfall bezeichnen?! Mir graut bereits davor, Leslie davon berichten zu müssen, weil der nach seiner super tollen Mail sicher etwas Sexuelles erwartet. Bestimmt gibt er mir die Schuld dafür, dass nichts gelaufen ist. Weil ich mich einfach immer zu blöd anstelle. Andererseits… Flo hat ja schließlich auch nicht das Geringste in der Richtung unternommen. Von wegen die ganze Nacht ficken. Dafür hat er im Club allerdings nach anderen Jungs geschielt, das hab ich genau mitgekriegt.


„Oh Fuck“, stöhnt Leslie mir ins Ohr, „es gibt einen Gott und er hasst mich.“

Mich offenbar genauso. Kim ist grad ins Subway gestiefelt. Das kann allerdings nicht der Grund für Leslies Jammern sein. Ah, verstehe! Direkt gegenüber steht der hübsche Gothic-Junge von neulich. Und der sieht immer noch irre gut aus. Und Leslie scheint immer noch angetan zu sein. Das ist das eine Problem. Das andere taucht soeben vom Tanzen wieder auf… und zwar in Gestalt seiner Freundin, die er angeblich liebt und niemals betrügen würde. Ich glaube, Leslie hat sich klammheimlich schon längst wieder dafür entschieden, dass mit Jungs fremdzugehen kein richtiges Fremdgehen ist, denn er küsst Jule nicht und hält auch nicht ihre Hand, was er normalerweise tut. Da Jule bezüglich seiner Vorliebe für Jungs ahnungslos ist, fällt es ihr vermutlich gar nicht auf, dass sich sein Verhalten innerhalb von fünf Minuten total geändert hat. Ich finde meine Rolle als wissenden Beobachter irgendwie unangenehm, deshalb hopse ich eine Weile auf der Tanzfläche herum, gehe zwischendurch an die Theke, um was zu trinken, und kümmere mich nicht mehr um andere Leute.

Nach gefühlten fünf Stunden tanzen und trinken, stupst mich plötzlich wer an. Es ist Jule.

„Hast du Les gesehen?“, brüllt sie.

„Nee“, brülle ich zurück.

„Ich will langsam nach Hause“, erklärt sie und schaut sich hektisch um. „Mann, hat der sich in Luft aufgelöst oder was?“

„Vielleicht ist er aufm Klo“, zucke ich die Schultern. Dann durchzuckt mich ein ekelhafter Blitz. „Ich gehe mal kucken und sag ihm bescheid, wenn ich ihn finde, okay?“

„Ich frag den DJ, bei dem hängt er ständig rum.“

Ich kämpfe mich derweil durch die gruftige Menschenmasse aufs Klo und siehe da… Leslie.

„Jule sucht dich. Sie will nach Hause“, informiere ich ihn.

Er steckt sich erstmal eine Zigarette zwischen die leicht geschwollenen Lippen. Dann bringt er seine zerrupfte Frisur ein wenig in Ordnung und sortiert die Billy-Idol-Gedächtnisketten, die von seinem Hals herabhängen. Das alles mit einer selbstverständlichen Lässigkeit… es ist unglaublich. Dass ich grad vollkommen fassungslos bin, ist eine glatte Untertreibung. Ich meine… ich weiß, was los ist… war… und doch sprengt es irgendwie meine Vorstellungskraft. Sogar noch als der hübsche Gothic-Junge aus einer der Klokabinen kommt, an uns vorbeischlendert und Leslie eindeutig angrinst.

„Hm?“

„Deine Freundin“, helfe ich dem Fremdgänger auf die Sprünge, „du erinnerst dich?“

„Okay, sollen wir dich mitnehmen?“

„Nein, danke“, zische ich.

Als Leslie und Jule weg sind, brauche ich unbedingt ein Bier, um runterzukommen. Diese unschöne Szene eben hat mich völlig fertig gemacht. Mit meiner Flasche verkrümle ich mich in eine nicht ganz so bevölkerte Sitzecke und muss feststellen, dass mein bester Freund eine verdammte, alte Pottsau ist.

„Hey, du.“

Kim lächelt freundlich und setzt sich neben mich.

„Naaa?“, lächle ich vermutlich zombieartig.

„Was’n los? Du siehst aus, als wolltest du töten.“

„Keine schlechte Idee.“

Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was mich dazu veranlasst, auf einmal aus dem Nähkästchen zu plaudern. Vielleicht liegt es daran, dass Kim einfach zuhört. Dabei geht es ihn eigentlich einen Dreck an, dass Leslie einem Typen aufm Klo einen geblasen hat, während seine Freundin ihn suchte. Oder dass Flo andauernd irgendwelche Typen fickt, weil er toll ist und deshalb wirklich alle scharf auf ihn sind. Und dass Leslie jeden Kerl kriegt, den er haben will, weil der nämlich auch toll ist.

„Empfindest du dich und dein Leben als so wertlos, dass du immer nur über andere redest?“, fragt Kim, nachdem ich meinen Monolog beendet habe.

„Wie bitte?“, frage ich entgeistert.

„Du hast mich schon verstanden.“

„Und ich kann Leute nicht ausstehen, die nur über sich reden.“

„Mag sein. Aber… ich würde gerne dich kennen lernen, nicht Leslie oder irgendeinen Flo.“

„Warum? Jedes Mal wenn wir uns zufällig getroffen haben, hab ich dich entweder angekotzt oder war unfreundlich.“

„Ich hab einen relativ langen Geduldsfaden“, grinst er. „Außerdem… die ganzen Leslies und Flos sind schlimmer.“

„Hä?“

„Hübsche Jungs, die nach drei Sekunden zur Sache kommen und dich danach nie wieder anrufen.“

„Ah und deswegen versuchst du’s jetzt mal mit einem hässlichen? Weil der sich schon geehrt fühlt, dass so jemand wie du ihn überhaupt bemerkt?“

Offenbar hab ich den Nagel auf den Kopf getroffen, denn Kim antwortet nicht.

„Tja, wie schade, dass ich nicht auf Jungs stehe. Musst dir leider einen anderen suchen“, sage ich und stehe auf.

„Wollen wir uns morgen treffen?“

„Was?“

„Irgendwas zusammen machen. Morgen Nachmittag.“

Überfordert sinke ich ins Polstermöbel zurück.

„Ich weiß nicht, ob mein Vater mich rauslässt. Er ist so’ne Art Arschloch“, setze ich ihn in Kenntnis.

Kim kramt Zettel und Stift aus seiner Tasche, kritzelt herum und reicht mir das Stück Papier.

„Übrigens… du bist so süß, dass ich dich eigentlich schon auf Noras Party flachlegen wollte. Aber erstens warst du zu betrunken und zweitens wollte ich nicht riskieren, dass du mich danach nicht mehr anrufst, Jo-Jo. Bis morgen.“

Mein Hirn ist Matsch, als er geht und ich ihm wie blöde hinterher starre.


Seit einer Stunde sitze ich auf meinem Schreibtischstuhl, drehe den Zettel mit Kims Telefonnummer hin und her und überlege. Soll ich… soll ich nicht? Was passiert, wenn ich ihn anrufe? Will ich ihn überhaupt sehen? Wieso findet er mich süß? Hat er das ernst gemeint? Und das Flachlegen… oh Mann, ich wünschte, Flo hätte mir so was gesagt.

„Hey, Kleiner“, begrüßt mich Leslie und spaziert in mein Zimmer.

„Kannst du nicht mal anklopfen?“, ärgere ich mich und schiebe Kims Zettel unter einen Stapel Bücher.

„Mach ich doch nie. Und außerdem machst du nie irgendwas, wobei ich dich stören würde“, entgegnet er und setzt sich aufs Bett.

„War echt eine miese Nummer gestern“, komme ich ohne Umschweife zur Sache.

„Ist doch kaum was passiert“, versucht er die Sache runterzuspielen.

„Du hast nicht fremdgeblasen?“

„Na ja, Jule kann ich ja leider keinen blasen, also von daher…“

„Ey, hörst du dir eigentlich mal selber zu?“

„Was soll ich denn machen? Ich hab halt manchmal Lust auf Kerle.“

„Erzähl das deiner Freundin. Ernsthaft, Leslie, schlimm genug, dass du sie belügst und nach Strich und Faden verarschst, aber dann auch noch während sie quasi daneben steht. Wie gemein und abartig ist das denn?“

„Ja, ich weiß“, murmelt er mit gesenktem Kopf. „Denkst du vielleicht, ich hätte kein schlechtes Gewissen?“

Genau das!

„Jule ist so toll… aber Jungs sind eben auch toll. Ich kann mich da einfach nicht zurückhalten.“

„Stell dir mal vor, Jule würde heimlich andauernd mit irgendwelchen Weibern schlafen.“

„Sagte ich nicht bereits, dass ich ein schlechtes Gewissen habe?“

„Ändert das was?“

„Du könntest etwas verständnisvoller sein, als mein bester Freund“, fordert er.

„Mach, was du für richtig hältst, aber erwarte bitte nicht, dass ich alles gut finde und dir den Kopf kraule. Als dein bester Freund werde ich dir wohl meine Meinung sagen dürfen.“

„Ich will aber nicht, dass du mich dafür verachtest.“

Meine Güte, geht’s noch theatralischer?

„Wie gesagt, es ist deine Sache.“

„Aber du denkst, dass ich ein Arschloch bin.“

„Ich denke, es ist nicht fair, mit Jule zusammen zu sein und nebenbei Jungs zu… küssen.“

Leslie grinst leicht.

„Mir ist klar, dass du den Typen gestern nicht bloß geküsst hast“, verdrehe ich die Augen. „Und genau so ein Grinsen ist es, was dich zu einem Arschloch macht. Du hast keine Gewissensbisse, weil du dein Handeln total in Ordnung findest, völlig egal, was irgendwer sagt.“

„Trotzdem hast du mich irre gern, mh?“

„Ja, weil ich zum Glück nicht mit dir zusammen bin.“

„Vielleicht sollte ich doch mal versuchen, mich in einen Jungen zu verlieben, was meinst du? Möglicherweise wäre das mit der Treue dann einfacher.“

Oh Gott, ich hoffe, er hat dabei nicht mich im Sinn! Nicht schon wieder! Ihhh… was, wenn er nie aufgehört hat, in mich verliebt zu sein und der Grund für seine Rumfickerei ist der, dass er mich nicht haben konnte?! Ah, komm schon, Jo-Jo, so dermaßen umwerfend bist du nicht!!

„Sag mal… hat Flo dich jetzt letztes Wochenende die ganze Nacht gefickt oder nicht? Wir hatten irgendwie noch gar keine Zeit, das ausführlich zu besprechen.“

„Da gibt’s auch nichts zu besprechen.“

„Also nicht. Mann, der Typ ist echt zu dämlich. Ich hätte mir so eine Gelegenheit nicht entgehen lassen.“

„Logisch. Du lässt dir nie eine Gelegenheit entgehen. Das haben wir gestern gesehen.“

„Das Thema ist durch, Jo-Jo. Wollte er nicht? Oder hast du dich nicht getraut?“

„Was spielt das für eine Rolle?“

„Eine große sogar. Wenn er nicht wollte, heißt das, er ist bescheuert. Wenn du nicht wolltest, heißt das vielleicht, dass du dich für einen anderen aufsparst, was ich nur begrüßen kann.“

„Für wen sollte ich mich denn aufsparen?“, frage ich vorsichtig.

„Na… für Kim.“

Shit, den hab ich ja völlig vergessen. Ob der wirklich auf meinen Anruf wartet?

„Ist das irgendwie zwanghaft bei dir? Ich will nichts von Kim, wie oft muss ich das noch sagen?“

„Warum hast du es dann nicht mit Flo getrieben?“

„Leslie, lass mich mit dem Scheiß in Ruhe, ja? Mein Vater macht mir wegen jeder beschissenen Kleinigkeit die Hölle heiß und du glaubst, ich hätte nichts Besseres zu tun, als es mit einem Typen zu treiben, den ich kaum kenne?“

„Als du ihm schmalzig deine Liebe gestanden hast, kanntest du ihn auch kaum. Außerdem dachte ich, du wärst so scharf auf ihn. Und dein Vater war überhaupt nicht in der Nähe.“

Bitte, lieber Gott, mach, dass er weggeht!!

Leslie verschwindet tatsächlich nach einer Weile. Dafür hab ich allerdings jetzt Kopfschmerzen. Und Kim rufe ich natürlich nicht an. Ich zerreiße den Zettel mit seiner Nummer in viele Schnipsel und schmeiße sie in den Mülleimer.


Paps verhält sich sehr merkwürdig. Er ist so freundlich mir gegenüber. Hackt nicht auf mir rum, labert mich nicht wegen Hausaufgaben und Klassenarbeiten an, fragt allerdings häufig nach Merle. Wieso sie nicht mehr herkommt und ob bei uns alles in Ordnung ist. Da ich von Natur aus Respekt vor diesem Mann habe, schaffe ich es oftmals einfach nicht, ihn anzulügen. Deswegen stottere ich mir beim Abendessen einen ab, dass Merle und ich uns zwar getrennt haben, wir aber weiterhin befreundet sind.

„Was hast du angestellt?“, bollert er los und setzt danach sogleich wieder dieses unheimliche Lächeln auf. „Ich bin mir sicher, das kann man aus der Welt schaffen, Junge. Merle ist ein hübsches Mädchen… du willst sie doch zurückhaben… oder hast du eine andere?“

„Ich… ich weiß nicht“, fiepse ich leiser als eine verdammte Maus.

Normalerweise macht ihn so etwas wütend, weil blödes, weinerliches Rumgefiepse was für Schwuchteln ist, aber nicht für Männer. Heute ist alles anders und das macht mir noch mehr Angst.

„Der Trick ist, sich nicht erwischen zu lassen.“

„Bitte?“

„Sie hat doch bestimmt mit dir Schluss gemacht, weil du einem anderen Mädchen schöne Augen gemacht hast.“

Ja klar. Mein Sohn, der Weiberstecher! Ich frage mich, wie sich Mom wohl gerade fühlt?! Sagen tut sie logischerweise nichts, aber es kann ihr nicht gut gehen, wenn ihr Mann derartige Sachen vom Stapel lässt. Wer weiß, wie oft er sich bereits nicht hat erwischen lassen.

„Oder hat sich mein Herr Sohn sein Mädchen ausspannen lassen?“

„Es passte einfach nicht.“

„Und wie kann es mit einem Mädchen nicht passen?“

Meine Hand zittert so sehr, dass mir das Messer entgleitet und scheppernd auf den Teller fällt.

„Iss verdammt noch mal anständig“, schnauzt er. „Meine Herren.“

„Ich… ich hab eh keinen Hunger mehr.“

„Du bleibst sitzen bis alle fertig sind.“

Okay, und ich mache außerdem heimlich mein Testament. Fuck, ich war doch so vorsichtig. Er kann unmöglich was mitbekommen haben. Er weiß es nicht. Er kann es nicht wissen, weil ich immer vorsichtig war. Kein Grund zur Panik.

„Merle ist hauptsächlich mit ihren Schlangen beschäftigt“, wage ich zu erklären, „die hat eigentlich gar keine Zeit für einen festen Freund. Ich hab aber schon… also… ich mag eine… Nora“, phantasiere ich verzweifelt. „Darf ich bitte aufstehen? Ich muss noch Hausaufgaben machen.“

Paps nickt gnädig.

An Schlaf ist in dieser Nacht nicht zu denken. Ich muss ständig Panik haben, dass er in mein Zimmer kommt und mich kaputt haut, weil er vielleicht doch alles weiß, obwohl er es nicht wissen kann. Den darauf folgenden Schultag überstehe ich übermüdet und am Nachmittag flüchte ich zu meiner neuen Alibifreundin.

„Du siehst beschissen aus“, findet sie. „Stress mit Jungs?“

„Ganz falsches Thema.“

„Okay?“

„Ich… hab eine scheißbeschissene, verfickte Angst, nach Hause zu gehen“, lache ich hysterisch und fange zwei Sekunden später peinlicherweise an zu flennen.

„Jo-Jo… ach du Scheiße…“, stammelt sie entsetzt. Dann nimmt sich mich einfach in den Arm und streichelt beruhigend über meinen Rücken. „Du kannst hier bleiben, wenn du willst“, flüstert sie. „Mein Dachboden gehört dir.“

„Lieber nicht“, schüttele ich den Kopf, befreie mich aus ihrer Umarmung und wische mit dir Tränen aus dem Gesicht.

„Dein Vater ist ein Arschloch. Wann gehst du endlich zum Jugendamt?“

„Und was soll ich da sagen? Mein Vater ist so streng, bitte helfen Sie mir?“

„Dein Vater schlägt dich, das ist strafbar.“

„Ein paar Ohrfeigen“, zucke ich die Schultern. „Das ist nicht schlagen sondern erziehen.“

„Ja, genau das behaupten solche Bastarde.“

„Es wird schon nicht so schlimm werden“, mache ich mir Mut.

Zu Hause wird es allerdings sehr schlimm. Nicht wegen Paps, der ist nämlich schon bei seinem Stammtisch und wenn er von da zurück kommt, fällt er eh reichlich angeschickert ins Bett. Flo hat mir eine Mail geschrieben. Eine wirklich kurze. Dass ich ihn anrufen soll, wenn’s geht heute Abend. Er hätte was Wichtiges mit mir zu bereden. Ich nehme nicht an, dass er mir seine Liebe gestehen will, also bin ich alles andere als gut gelaunt, während ich seine Nummer wähle.

„Hey, cool, dass du anrufst.“

„Na ja, mein Vater ist nicht da und… du hast geschrieben, dass…“

„Fuck, das ist echt schwer“, unterbricht er mich. „Du bist süß und ich mag dich voll gerne,

Jo-Jo.“

„Ich… ähem… ich dich auch“, antworte ich zittrig und schwitze vor mich hin.

„Ja, das ist auch der Grund, weswegen… ach, Mann, normalerweise hätte ich dich nicht einfach so wegfahren lassen, verstehst du, wenn die Dinge anders wären…“

„Wie anders?“

„Ich kann mit deinen Gefühlen für mich nicht umgehen. Und mit der Tatsache, dass du noch nie… shit, ich wäre total nicht der Richtige für dein Erstes Mal.“

„Darum geht es mir doch gar nicht.“

„Aber mir geht es nur darum, okay? Es tut mir leid, aber ich will jemanden im Bett haben, der mich scharf machen kann, keinen süßen Jungen, der mich verliebt anschmachtet und darauf wartet, dass ich ihn romantisch verführe.“

„Entschuldige, dass dir mein Schmachten so dermaßen auf den Sack gegangen ist“, sage ich bitter. Übrigens haben das Zittern und das Schwitzen spontan aufgehört. Genau wie die Verliebtheit.

„So war das nicht gemeint. Du bist… einfach zu süß, Jo-Jo, und ich würde dir bloß weh tun, dafür bedeutest du mir zu viel.“

„Danke für deinen… ach nee, ich hab ja angerufen… na, egal, ich leg jetzt auf und kratze mir den Zuckerguss vom Körper.“

„He, ich wollte nur ehrlich sein.“

„Und ich hab auch ohne deine Ehrlichkeit genug Probleme. Mach’s gut, Flo.“

Ey, ist das ein Penner. Und Leslie hatte recht. Flo ist abgewichst und will ficken, sonst nichts. Da kann er hundertmal behaupten, dass er mich gern hat. Bringt mir doch nicht das Mindeste. Eigentlich ist es gut so, das mit den Jungs ist eh zu gefährlich. Ich werd mir lieber doch wieder eine Freundin suchen, dann brauche ich wenigstens keine Angst mehr vor Paps zu haben.


„Das hast du dir jetzt ausgedacht“, findet Leslie, bei dem ich gerade zu Besuch bin.

„So viel Phantasie besitze ich nicht“, bemerke ich.

„Der hat dich echt mit so einem uninspirierten Scheißdreck abgespeist? Mann, der traut sich was“, schüttelt er, immer noch ungläubig, den Kopf. „Okay, so was zu meinen und zu denken ist eine Sache, aber…“, er drückt seine Kippe in dem mit Strasssteinen besetzten Billigdrehaschenbecher aus, „sagen tut man so was auf gar keinen Fall.“

„Seit wann trinkst du nachmittags Wein?“, frage ich.

„Seit ich die Liebe meines Lebens betrogen habe“, entgegnet er und nimmt einen großzügigen Schluck aus der Flasche.

Ich glaube nicht, dass er aus Verzweiflung und Schuldgefühlen säuft sondern aus Imagegründen. Sein Selbstbild verlangt es, dass er nach fremdgängerischen Aktionen dem Suff verfällt… für ein paar Tage. Ich kenne das bereits und hätte die Frage somit überhaupt nicht stellen zu brauchen.

„Mit einem Kerl, der mir nichts bedeutet und dessen Namen ich noch nicht mal kenne“, fügt er hinzu und rülpst leise. „Bedauerlicherweise hat er geblasen wie ein Weltmeister.“

„Oh, bitte…“, verdrehe ich die Augen und hoffe ein bisschen gehässig, dass die Liebe seines Lebens irgendwo steht und uns belauscht.

„Jule bläst wie ein Mädchen“, fühlt er sich nicht genötigt, das Thema endlich fallen zu lassen.

„Jule ist ein Mädchen.“

„Ja“, seufzt er und nimmt einen weiteren Schluck Rotwein. „Ey, wieso mache ich das andauernd?“

Das war eine rhetorische Frage, weil auch das zu seinem Selbstbild gehört. Im Prinzip hält Leslie sich für uneingeschränkt super. So phantastisch sagenhaft toll, dass man ihm eigentlich jeden Fehltritt verzeihen muss. So phantastisch sagenhaft toll, dass man seine Fehltritte sogar noch charmant finden müsste.

„Vielleicht bist du insgeheim ein Frauenhasser“, mutmaße ich, „und nur mit Mädchen zusammen, um ihnen weh zu tun.“

„Wie ekelhaft“, rümpft er die Nase.

„Allerdings.“

„Hältst du mich echt für dermaßen verkorkst und gestört?“

„Willst du darauf eine ehrliche Antwort?“

„Nur ein wahrlich Irrer erkennt seinesgleichen“, sinniert er beduselt. „Was hast’n jetzt vor mit dem Superficker?“

„Gar nichts. Er hat doch klar gemacht, dass er nichts von mir will.“

Ich verschweige ihm mal lieber, dass ich mich dazu entschlossen habe, mir eine Freundin zu suchen. Und zwar nicht bloß als Alibi für meinen Vater. Hey, mit Merle, das war doch gar nicht so übel und schließlich konnte ich ja mit ihr schlafen… das eine Mal, aber wenn ich mich anstrenge, geht das sicher auch öfter. Was ich mir dabei vorstelle, hat ja keinen zu interessieren!

„Fein, dann kannst du dich jetzt voll und ganz auf Kim konzentrieren.“

Leslie scheint mir auf eine sehr ungesunde Art von diesem Typen besessen zu sein. Ich frage mich, ob da möglicherweise ein Voodoozauber dahinter steckt? Anders ist es nicht zu erklären, dass er mir den alle paar Sekunden anzudrehen versucht. So langsam ist das auch nicht mehr lustig.

„Ich fahre besser nach Hause“, erkläre ich.

„Warte“, krakeelt er hinter mir her und kommt in den Flur getorkelt. Seine Arme schlingen sich um mich, die Weinflasche saust an meinem Ohr vorbei. „Krieg ich einen Abschiedskuss?“

„Nein“, antworte ich fassungslos, „du hast deine Freundin schon mit mir betrogen.“

Leslie zieht eine beleidigte Schnute, was leider gnadenlos niedlich aussieht. Wenn die Umstände anders wären…

„Wir sehen uns“, sage ich.

„Warte!“

„Was denn noch?“

„Ich will dir was zeigen, Jo-Jo“, säuselt er. Es klingt unbeschreiblich unanständig.

Oh Gott… hoffentlich ist ihm nicht die Idee gekommen, sich vor mir zu entblößen. Er grapscht nach meiner Hand und zieht mich in sein Schlafzimmer. Hilfe!! Ich meine, der wird doch wohl nicht vorhaben, mich aufs Bett zu werfen und… wer weiß was. Allerdings schiebt er mich zum Fenster und deutet mit seinem Zeigefinger auf den Baum, beziehungsweise auf die Äste, die ausladend und dicht vor der Fensterscheibe im Wind schaukeln.

„Siehst du… da sitzt eine Taube im Nest.“

Ich glotze angestrengt. Tatsächlich, eine rotzordinäre Stadttaube hockt zwischen den Zweigen und präsentiert uns ihr dickes Hinterteil. Ich bin irgendwie überfordert.

„Die brütet“, lächelt er stolz, als hätte er höchstpersönlich seine neue gefiederte Freundin dazu aufgefordert, in dem Baum vor seinem Fenster die Kinderstube einzurichten.

„Cool“, behaupte ich und muss ein wenig schwitzen, weil Leslie mir so nah ist, dass ich Jules Vanillebodylotion auf seiner Haut riechen kann. Und den Wein, den er getrunken hat, aber nur, wenn er in meine Richtung atmet. Mein Herz beginnt, eine Ecke heftiger zu klopfen. Ein betrunkener Leslie ist unberechenbar, weiß ich aus Erfahrung.

„Ich brauch jetzt echt einen Kuss“, stellt er fest. Seine Lider hängen auf halb acht und sein Blick wirkt verschleiert… Schlafzimmerblick, passend zum Raum, in dem wir uns befinden.

Vielleicht lässt er mich gehen, wenn ich ihm kurz gebe, wonach er verlangt. Aber wirklich ganz kurz. Ich drücke also meine Lippen auf seine und will mich danach sofort zurückziehen, woraus allerdings nichts wird, weil er seine Hand an meinen Hinterkopf legt und mir aufreizend die Zunge in den Mund steckt.

Ach du grüne Neune!!

Seine Hand stiehlt sich unter mein Shirt und das geht eindeutig zu weit, wie ich finde.

„Ey, ich kann das grad überhaupt nicht“, murmle ich und mache, dass ich wegkomme.

Der frühsommerliche Wind erfrischt meine hitzigen Wangen, während ich mit schlabbrigen Beinen zur Bushaltestelle wanke und die letzten Meter laufe, weil ich keinen Bock hab, den verdammten Bus zu verpassen. Japsend hangele ich mich durch den Gang, auf der Suche nach einem Platz… es ist wie üblich gerammelt voll um diese Zeit. Als ich Kim erspähe, neben dem noch was frei ist, hab ich erstens ein Déjà-vu und zweitens unterdrücke ich einen hysterischen Lachkrampf. Danach fällt mir drittens ein, dass ich ihn nicht angerufen habe, was mir jetzt, wo ich ihn leibhaftig sehe, irgendwie leid tut. Und viertens habe ich immer noch Leslies Weinspuckegeschmack an meinen Lippen. Bevor ich mich ungefragt neben Kim setze, wische ich mir über den Mund.

„Hey“, grüße ich angespannt.

„Hallo“, sagt er, springt so ratzfatz auf, als hätte ich die Pest, die Pocken, die schwarzen Blattern, und stellt sich an eine freie Stange in der Nähe.

Ich folge ihm und mir ist es so was von egal, ob das auf die übrigen Fahrgäste komisch wirkt.

„Sorry, dass ich mich nicht gemeldet habe“, wispere ich ihm zu.

„Kein Problem“, erwidert er knapp.

„Ich wollte wirklich… also, was mit dir… äh… unternehmen, aber es ging nicht.“

Der Busfahrer latscht an der nächsten Haltestelle dermaßen kräftig auf die Bremse, dass Kim und ich slapstickartig zusammenstoßen.

„Du hast gewonnen“, sagt er dabei. „Ich lass dich ab jetzt in Ruhe.“ Dann hopst er unangebracht beschwingt aus dem Bus und entschwindet meinem Blickfeld.

Einen Tag später kann Leslie sich an nichts mehr erinnern. Dass er mir eine Taube gezeigt hat, erscheint ihm reichlich seltsam.

„Wie schwul ist das denn?“, stöhnt er ins Telefon.

Ich würde sagen, wesentlich unschwuler als die Tatsache, dass er mich unbedingt küssen wollte und es sogar getan hat. Sehr viel unschwuler als die Tatsache, dass er mit unzähligen Typen geschlafen hat. Plötzlich wird meine Zimmertür aufgerissen.

„Mit wem telefonierst du schon wieder?“, brüllt Paps ohrenbetäubend.

„Leslie.“

„Das hört jetzt auf, Freundchen“, warnt er. „Kümmer dich lieber um die Schule.“

„Sind doch eh bald Ferien“, sage ich genervt.

Das war zu viel. Wutschnaubend entreißt er mir das Telefon und wo er schon so günstig steht, schallert er mir auch noch eine, dass es in meinem Ohr laut knallt.

„Deine frechen Antworten kannst du dir sparen, Bursche. Ich hab langsam die Faxen dicke.“

Na fein, ich hab dafür eine brennende Wange, die ich mit zittrigen Fingern befühle.

„Danke schön“, murmle ich aus Versehen.

„Was war das?“, fragt er scharf.

„Entschuldigung.“

„Hier“, er nimmt meine Tasche vom Boden und schmeißt sie mir förmlich ins Gesicht, „Schularbeiten und zwar ein bisschen plötzlich.“

Bums, hat er die Tür hinter sich zugedonnert. Wenn der so weiter macht, ist die bald im Arsch. Wenn der so weiter macht, bin ich bald im Arsch!


Ich glaube, es ist nicht die Unzufriedenheit über seinen missratenen Sohn, die meinen Vater zum Schläger werden lässt. Höchstwahrscheinlich hat er einfach Spaß daran, Schwächere fertig zu machen. Auf dem Army-Spielplatz mit seinen Kameraden ist es mir unangenehm aufgefallen. Als er den Parcours absolviert hatte, kam es ihm nicht in den Sinn, die kriechenden und kletternden Kumpane anzufeuern, wie es einige andere Kumpane, die ebenfalls schon durch waren, taten. Nein, er hat sich lautstark über die „Mädchen“ lustig gemacht. Wenn der eigentliche Drillsergeant mal ausfallen sollte, kann er den Job jedenfalls prima übernehmen. Ich sehe ihn schon mit grimmiger Miene, seinen Männern den Code Red befehlen, der an einer armen Wurst, die die Wand nicht hochkommt, auszuführen ist. Weil er aber eben noch nicht zum Drillsergeant aufgestiegen ist, muss er das zuhause ausleben. Mal ehrlich, selbst wenn ich Superstar in sämtlichen Sportarten dieser Welt wäre, ein As in sämtlichen Schulfächern dieser Welt, alle Weiber dieser Welt flachgelegt hätte… er würde mich trotzdem noch wegen irgendwas zur Schnecke machen. Einfach, weil er sich dabei gut fühlt. Wieso meine Mutter dieses Ekelpaket geheiratet hat? Ich weiß es nicht. Vielleicht hat er, zwecks Suche nach einer Ehefrau, das bösartige, tollwütige Ungeheuer, das ihm innewohnt, mit Pillen in Schach gehalten. Fest steht, dass es immer schlimmer wird mit ihm. Beispielsweise hat er das Telefon weggeschlossen und mein Handy bereits vor Wochen kassiert. Man darf gespannt sein, wann es soweit ist, dass ich in mein Zimmer komme und anstatt des Computers auf meinem Schreibtisch nur gähnende Leere vorfinde. Als Strafe für meine freche Klappe. Als Strafe dafür, dass ich auf der Welt bin. Hausarrest hat er mir mal wieder aufgebrummt. Ich schicke Leslie eine kurze Mail, die er vermutlich erst lesen wird, wenn meine Isolationshaft vorbei ist.

Danach lese ich eine Mail von Flo, in der er mir nochmals schreibt, was er bereits am Telefon sagte. Ha, als hätte ich das nicht verstanden. Der muss mich für total zurückgeblieben halten.

Das Blöde ist, dass ich doch wieder verliebt bin. Ich meine, solch ein Gefühl geht ja nun mal nicht von einer Sekunde auf die andere weg, nur weil der Angebetete einem doofen Scheißdreck schreibt. Somit habe ich nicht bloß Hausarrest sondern auch noch Liebeskummer. Und Eifersucht. Denn die Gedanken an Flo mit irgendwelchen anderen Kerlen im Bett, hören genauso wenig plötzlich auf.

Ey, warum kann in meinem Leben nicht mal irgendetwas klappen und schön sein?

Nach einer Woche darf mich wenigstens Leslie in meinem Zimmer besuchen. Natürlich wegen Mathelernen, wie immer. Sein Blick verheißt nichts Gutes. Im Gegenteil, er sieht aus, als hätte Jule ihn beim Fremdblasen erwischt. Schnaufend schmeißt er sich aufs Bett.

„Ey, was für eine völlig verblödete Mistkacke.“

„Was’n los? Hat Jule Schluss gemacht?“

„Hä, wieso das denn?“, fragt er verdutzt.

„Warum bist du dann so angepisst.“

Leslie reibt sich divamäßig die Schläfen. „Die haben The Outsiders neu synchronisiert“, zischt er, als würde das als Erklärung für seine Laune ausreichen.

„Das ist ja wohl das Dümmste, was die machen konnten“, tue ich so, als wäre ich absolut im Bilde.

„Eben. Du musst dir den Scheiß mal reinziehen. Die haben Dallas die Stimme von Bud Bundy gegeben. Dallas spricht wie Bud Bundy, ist das zu fassen?“

„Nein“, behaupte ich und schätze, es geht um irgendeinen Achtzigerjahrefilm, den ich nicht kenne.

„Das ist ja noch längst nicht alles“, kriegt er sich nicht wieder ein, „die Stimmen passen alle nicht, die Sprecher sind emotionslos und gelangweilt, die Dialoge… zum Kotzen. Zum Beispiel nennen die Ponyboy andauernd Pooooony, so ekelhaft langgezogen, als wär das auf einmal ein Witzfilm. Jedenfalls hat das nichts mehr mit dem Original zu tun.“

„Na ja, wenn man’s genau nimmt, ist das Original doch eh auf Englisch, oder?“

Moment mal, bin ich eigentlich bescheuert, auf Leslies Wahnsinn auch noch einzugehen??

„Ja, verdammt. Na und? Ich kenne den Film seit meiner frühesten Kindheit so und plötzlich reden die alle anders, das nervt. Hat dein Vater sich übrigens wieder eingekriegt?“

„Nicht wirklich.“

„Na toll, endlich wird es Sommer und du hängst in der Bude rum“, grummelt er.

Ich bin schon froh, dass mein Vater mich noch nicht in irgendein Internat oder Erziehungscamp gekarrt hat!

„Ey, schon allein am Anfang, wo Ponyboy und Johnny Dallas fragen, was er vorhat und er sagt… Nichts Legales…“

„Hm?“, unterbreche ich ihn.

„Ponyboy und Johnny“, wiederholt er, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank.

„Ach so… die“, seufze ich und fühle mich ein bisschen krank.

„Jedenfalls muss das geil klingen und nicht wie Bud Bundy.“

„Sag mal, wieso kuckst du dir das eigentlich an, wenn’s scheiße ist?“

„Du hast keine Ahnung, oder?“, schüttelt er den Kopf. „Was soll’s?! Wie lange haste noch Knast?“

„Weiß ich nicht.“

„Auch gut. Ich bin dann mal weg.“

Das ist Leslie. Kommt hierher, labert über irgendeinen dösigen Film und verpisst sich wieder, anstatt zu fragen, wie es mir geht und wie ich damit fertig werde, dass Flo mich nicht liebt. Na ja, zum Glück hat er mich diesmal mit Kim verschont.


YEAH!! Die Gefangenschaft ist vorbei. Warum weiß ich nicht. Ich hab weder eine gute Note geschrieben noch ist etwas anderes Tolles für Paps passiert. Vielleicht ist aber dem Drillsergeant beim Schreien die Halsschlagader geplatzt und Paps darf endlich übernehmen, worüber er sich so freut, dass ihm der verfluchte Loser-Sohn momentan nix ausmacht?! Ist mir alles scheißegal, Hauptsache, ich kann dieses Haus verlassen und zwar nicht nur, um in die Schule zu gehen. Leslie war total aus dem Häuschen und hat gemeint, dass wir unbedingt auf meine Freiheit anstoßen müssen, der alte Säufer. Nachdem ich seine Wohnung betreten und gesehen habe, wenn er dazu noch eingeladen hat, ist meine Laune in die tiefste Hölle gewandert. Nein, nein, er hat Kim nicht als einzigen eingeladen, das war offenbar selbst ihm ein wenig zu blöde. Nora ist da, Jule sowieso und Merle konnte sich tatsächlich von ihrem Königspython losreißen. Okay, wir reden hier von Leslie und da ich ihn gut kenne, kann ich mir vorstellen, wie er die beiden Mädels, speziell Nora, dazu gebracht hat, herzukommen.

Jo-Jo verkuppeln, aber nicht zu offensichtlich… keine Angst, der ist so bescheuert, dass er das nicht durchschaut. Es gibt Augenblicke, da möchte ich meinen angeblich besten Freund vom höchsten Gebäude der Welt schubsen und ihm einen guten Flug wünschen… mit der Stimme von Bud Bundy!!

Ich frage mich gerade, ob Jule vom Geschlechtsverkehr ihres Freundes mit meiner Ex weiß?!

Weiterhin frage ich mich, ob Leslie die Mädels angewiesen hat, sich irgendwann diskret vom Acker zu machen? Ich traue ihm das zu und mir könnte nicht peinlicher zumute sein. Aber ich mache einfach gute Miene zum beschissenen Spiel, unterhalte mich mit Nora und Merle, versuche, Leslie nicht zu killen und Kim zu ignorieren. Letzteres fällt etwas schwer, weil Kim wie immer sehr hübsch aussieht und… heute sogar noch einen Tick mehr als sonst. Warum der allerdings hier ist, nachdem er beim letzten Mal gesagt hat, dass er mich in Ruhe lässt… ich weiß es wirklich nicht. Wie die illustre Runde gerade auf die Zarenfamilie gekommen ist, entzieht sich ebenfalls meiner Kenntnis. Ich glaube, Jule hat irgendwen mit Rübezahl oder Rasputin verglichen.

„Rasputin war ein Scharlatan“, weiß Kim, den ich leider doch nicht gänzlich ignorieren kann. „Das ist ein cooles Wort.“

„So wie straight oder Eucharistie?“, will Merle wissen.

„Nö, ich find’s bloß lustig.“

„Scharlatan war früher ein ganz normaler Beruf“, erklärt Leslie.

„Ja, na sicher“, lacht Kim.

„Genau. Die Bezeichnung war nämlich nicht immer so negativ behaftet.“

„War dann beispielsweise Hochstapler auch ein normaler Beruf?“

„Du bist doch bescheuert“, verzieht Leslie das Gesicht. „Kein bisschen Ahnung von irgendwas. Scharlatane gab es früher in echt.“

„Logisch gab’s die früher in echt. Nur ein ehrbarer Beruf war das nie.“

„Jawohl“, nickt Leslie. „Alchemist war ja auch ein Beruf.“

„Und Quacksalber“, kichert Merle.

„Ihr seid doch alle…“

„Scharlatan kommt aus dem Italienischen“, liest Nora von ihrem iPhone ab, „Stadtstreicher, die den Leuten durch Gaukelei das Geld aus der Tasche ziehen… sagt Wikipedia.“

„Wikipedia ist ja auch so eine super vertrauenswürdige Quelle“, murmelt Leslie augenverdrehend.

„Vertrauenswürdiger als deine Quelle“, entgegnet Kim.

„Unterhosen wurden früher die Unaussprechlichen genannt. Das hab ich in einem Buch gelesen“, faselt Leslie.

„Ja, und zwar in meinem Korsettbuch“, grinst Nora.

„Und was hat das mit Scharlatanerie zu tun?“, fragt Kim.

„Nichts“, antwortet Leslie. „Ich wollte nur mal erwähnt haben, dass man sich auch ohne Wikipedia Wissen aneignen kann. Scheiß Internet-Generation.“

„Ist doch völlig egal, ob man im Internet liest oder in einem Buch… Hauptsache, man liest überhaupt.“

„Halt die Klappe, Kim“, schnauft Leslie und stupst mir plötzlich in die Seite. „Wieso hast du deinen Senf noch nicht dazu gegeben?“

Weil ich damit beschäftigt war, Kim anzustarren, den ich doch eigentlich ignorieren wollte.

„Man reiche mir die Unaussprechlichen und rufe nach dem Scharlatan?“, schlage ich vor.

„Du trägst gerne Damenunterwäsche? Jo-Jo, da tun sich ja Abgründe auf.“

„Du solltest doch am besten wissen, was Jo-Jo drunter trägt“, behauptet Nora und erntet von Leslie einen ultra finsteren Blick. Jule kuckt ein bisschen komisch. „Schließlich… äh… hat er oft genug bei dir übernachtet“, versucht Nora die Situation zu retten, „als dein… äh… bester Freund. Ich meine…“

„Ich hasse Mel Gibson“, verkündet Merle zusammenhangslos.

Die Rhododendren blühen schön, denke ich.

Eine halbe Stunde später machen sich Nora und Merle diskret vom Acker. Und wo sie schon dabei sind, geht Jule gleich mit, weil sie sich noch mit einer Freundin trifft. Wenn Leslie jetzt auch noch verschwindet, werde ich zum Untier!

„Hey, du hast meine Taube noch nicht gesehen“, fällt ihm plötzlich ein.

Kim schaut sehr verständnislos drein und lässt sich aus dem Wohnzimmer führen. Das ist mit Sicherheit eine Falle, aber ich gehe trotzdem hinterher. Die beiden sehen zum Brüllen komisch aus wie die sich die Nasen an der Scheibe platt drücken, um so adleraugenmäßig durch das dichte Blätterwerk zu spähen.

„Da ist nichts“, stellt Kim fest.

„Scheiße, die ist getürmt“, entgegnet Leslie entsetzt. „Wo gibt’s denn so was? Haut einfach ab und lässt ihr Kind allein.“

„Ei“, berichtigt Kim.

„Jau“, nickt Leslie. „Noch schlimmer. Die soll sich verdammt noch mal auf ihr Ei hocken und nicht in der Weltgeschichte rumfliegen.“

„Vielleicht hat sie gemerkt, dass in dem Ei nichts drin ist… genau wie in deinem Kopf?“, überlegt Kim.

„Jo-Jo, was sagst du dazu?“

„In dem Nest liegt ein taubes Ei und vor dem Fenster steht ’ne hohle Nuss“, sage ich dazu.

„Okay, ich gehe sie suchen“, beschließt Leslie.

„Cool, ich gehe nach Hause“, beschließt Kim. „Ich hoffe, du findest unterwegs etwas Hirn.“

„Junge“, verdreht er die Augen, „das war ein Witz. Ich gehe kurz zum Kiosk und hol was zu trinken.“

„Bitte was Hochprozentiges, dich kann man nämlich nur volltrunken ertragen.“

„Du siehst im Suff auch schöner aus als in echt.“

Spielen die hier ’Was sich liebt, das neckt sich’? Mich beschleicht auf einmal ein ganz übler Verdacht. Kann es sein, dass Leslie was mit Kim hatte, während ich in meinem Zimmer gesessen hab? Möglicherweise ist Kim überhaupt nicht meinetwegen hier. Stören würd’s mich nicht, schließlich will ich immer noch nichts von ihm, obwohl er heute total niedlich aussieht, aber wissen möchte ich’s halt. Na ja, ein bisschen würd’s mich doch stören. Allerdings nur, weil… ich Kim eben zuerst gesehen habe und finde, dass man das dann als bester Freund nicht macht.

Die Tür schnappt ins Schloss, Kim begibt sich ohne ein weiteres Wort ins Wohnzimmer. Soll ich jetzt hinterher? Na ja, hier im Schlafzimmer zu bleiben, ist ja auch doof. Ich muss rauskriegen, ob die beiden was miteinander hatten, verflucht. Ich gehe ins Wohnzimmer und setze mich.

„Leslie hat’s schon wieder getan.“

„Bitte?“, schnauft Kim gelangweilt.

„Uns allein gelassen.“

„Keine große Überraschung, oder?“

„Warum bist du dann gekommen?“

„Ich wollte sehen, ob Leslie den peinlichen Scheiß echt durchzieht.“

„Leslie zieht jeden peinlichen Scheiß durch“, entgegne ich.

„Ja, bei ihm weiß man aber wenigstens genau, woran man ist. Im Gegensatz zu anderen. “

Alles klar. Er hat mit ihm geschlafen! Das trifft mich jetzt doch. Kim kann man wahrscheinlich keinen Vorwurf machen, also ich jedenfalls nicht, Leslie schon. Ey, der macht ja wohl vor gar nichts Halt. Erst meine Freundin und dann… Kim. Niedergeschmettert ziehe ich meine Jacke an.

„Bestell der Assel einen schönen Gruß von mir, er soll sich bitte nie wieder bei mir melden“, sage ich und verschwinde.

Im Treppenhaus läuft mir die Assel über den Weg.

„Wo willst du hin?“

„Du bist so ein Arschloch“, zische ich.

„Hä? Was’n?“

„Und ich will niemals wieder was mit dir zu tun haben.“

„Jo-Jo, warte!“

Er greift an meine Schulter, aber ich schubse ihn so kräftig von mir, dass er fast die Treppe runterfällt. Mir doch egal. Ich renne die Stufen hinunter und knalle die Tür hinter mir zu.

In meinem Kopf herrscht ein heilloses Durcheinander. Warum macht der so was? Ich krieg’s einfach nicht auf die Reihe. Allerdings hab ich es ernst gemeint. Ich will Leslie nicht mehr sehen. Unterwegs muss ich einige Male anhalten, weil mir ein Brechreiz im Hals sitzt und ich glaube, mich übergeben zu müssen. Verdammt! Es ist nicht nur wegen Leslie. Es ist wegen Kim. Und wegen Flo. Wegen Paps. Weil ich auf Jungs stehe und weil ich mir das nicht leisten kann. Weil mein Leben scheiße ist.

Zuhause angekommen, ist mir immer noch schlecht. Bloß schnell in mein Zimmer und niemanden mehr sehen. Die Tür steht sperrangelweit auf und Paps mitten im Raum. Er scheint nach etwas gesucht zu haben, denn das Zimmer sieht aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Mein Computer sieht übrigens auch so aus. Mir schwant Schreckliches als ich dann seinen Gesichtsausdruck sehe. Eine Mischung aus Wut, Abscheu, Hass. Mein Leben zieht in sekundenschnelle an mir vorbei, während ich reflexartig einige Schritte rückwärts mache. Das heißt, eigentlich ziehen bloß gespeicherte Mails und diverse halbnackte-Jungs-Clips an mir vorbei. Zählt man alle Fakten zusammen, kommt man unweigerlich zu dem Ergebnis, dass Paps sie gefunden hat. Scheiße, verdammte! Wer hätte denn damit gerechnet, dass er tatsächlich meinen Computer durchschnüffeln würde?!

„Ich denke in jeder Sekunde an dich… ich vermisse dich… ich blas dir einen…“, zischt er und hat sichtlich Mühe, sich unter Kontrolle zu halten.

Okay, die Mails hat er schon mal gelesen.

„Ein Schwanzlutscher bist du also, was?“

„Das… äh… das ist nicht so… wie… du denkst“, stottere ich panikartig.

„Halt dein Maul“, brüllt er, stürmt auf mich zu, packt mich und schleudert mich durchs Zimmer. Im Fallen macht meine Visage Bekanntschaft mit der Bettkante. Ich spüre, wie mir Tränen in die Augen schießen und wie mir Blut aus der Nase läuft. In meinem Mund breitet sich ein metallischer Geschmack aus.

„Paps… bitte…“, jaule ich.

„Paps… bitte…“, äfft er mich nach und schlägt mir ins Gesicht. „Treibst es mit Kerlen, hä? Wohnst unter meinem Dach und treibst es mit Kerlen wie eine gottverdammte Schwuchtel. Dir werd ich’s zeigen!“

Das ist der Startschuss für seine Attacke. Ich versuche, mich gegen die Tritte und Schläge zu schützen. Zwecklos. Er ist stärker. Und rasend vor Wut. Wenn ich das hier überlebe, hab ich noch Glück. Die Schmerzen sind irgendwann zu mächtig, seine Stimme dringt nur noch entfernt zu mir durch.

„Ich schlag dich tot, du Missgeburt… Arschficker…“

„Du bringst ihn um“, höre ich auf einmal Mom hysterisch kreischen. „Bitte… er ist doch dein Sohn…“

Daraufhin kriegt Mom, glaub ich, auch eine von ihm gelangt. Vielleicht schubst er sie auch bloß weg, keine Ahnung, ich bin momentan mit mir selbst beschäftigt. Allerdings scheint er durch ihre Anwesenheit wieder zu Verstand zu kommen, denn er lässt mit einem letzten Tritt von mir ab und verschwindet.

„Johannes… oh Gott“, brabbelt Mom, während sie mir hilft, aufs Bett zu kommen. Danach weiß sie offenbar nicht mehr, was zu tun ist. Sie kann nur heulen und mir über den Kopf streicheln.

Deshalb muss ich mich zusammenreißen und meinen beduselten Schädel anstrengen. Hier bleiben geht nicht. Wenn der Typ zurückkommt, bin ich tot. Ich rapple mich mühsam vom Bett, schleppe meinen geprügelten Körper unter Schmerzen durchs Haus, finde das Telefon und wähle Leslies Nummer.

„Was willst du?“, meldet er sich unfreundlich. „Dich für deinen Auftritt im Treppenhaus entschuldigen? Spar’s dir. Ich bin sauer.“

„Les…“, röchele ich, muss husten und kurz aufjaulen, weil das scheiße weh tut.

„Jo-Jo?“

„Ich… ich glaub, ich bin verletzt“, presse ich hervor, „kannst du…“

„Wo ist das miese Schwein?“

„Weg.“

„Okay, ich bin sofort da.“

Gefühlte drei Stunden später ignoriert Leslie meine immer noch heulende Mutter, verfrachtet mich ins Auto seiner Eltern und bringt mich ins Krankenhaus.

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