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Emotional Hardcore
Teil 4
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Informationen
- Story: Emotional Hardcore
- Autor: Chelsea
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Lovestory
Eine Nacht musste ich im Krankenhaus bleiben, zur Beobachtung, weil ich eine Gehirnerschütterung habe. Und zwei angeknackste Rippen. Von den Prellungen und Hämatomen ganz zu schweigen. Mein Gesicht ist grün und blau und violett, meine Nase, die zum Glück nicht gebrochen ist, dick wie eine Kartoffel. Die kleine Platzwunde über der linken Braue wurde mit Steri-Strips versehen und der Riss in der Unterlippe mit irgendeinem Kleber. Ich kann mich, wegen der Rippen und des Brummschädels, kaum bewegen, liege seit drei Tagen in Leslies Bett, bin völlig durch den Wind und kann nie wieder nach Hause, weil mein Vater weiß, dass ich auf Jungs stehe. Dabei hat der Junge, auf den ich stehe, keinerlei Interesse an mir. Der, auf den ich stehen würde, wenn’s den anderen nicht gäbe, hat mit meinem besten Freund geschlafen, möglicherweise, weil ich ihm signalisiert habe, dass er mich nicht interessiert. Und der Junge, der irgendwann mal auf mich gestanden hat, ist jetzt mit einem Mädchen zusammen und ein notorischer Fremdgänger. Trotzdem, anderen Leuten geht es bestimmt noch schlechter als mir. Leider kann mich das nicht wirklich trösten, weil ich diese Leute nicht kenne und es mir durch Gedanken an sie auch nicht besser geht.
Wenn dein bester Freund dir andauernd helfen muss, beispielsweise aufs Klo zu kommen, weil dein Vater dich windelweich geprügelt hat, ist dir echt scheißegal, ob irgendwer auf der Welt vielleicht grad schlimmer dran ist. Ich meine… was soll denn bloß aus mir und allem werden?
„Hey“, wispert Leslie, der seinen Kopf ins Zimmer streckt, „brauchst du was?“
„Du musst nicht flüstern“, entgegne ich matt.
„Okay“, sagt er in normaler Lautstärke, „brauchst du was?“
„Ja, ein schönes, entspanntes, ruhiges Leben.“
Vorsichtig legt er sich zu mir aufs Bett.
„Wenn ich zaubern könnte, würde ich dir das sofort beschaffen. Aber eins nach dem anderen. Erstmal ist jetzt gesund werden angesagt.“
„Und dann?“
„Sehen wir weiter.“
„Ich kann nicht mehr nach Hause“, murmle ich.
„Sei doch froh.“
„Wie bitte?“
„Jetzt kannst du wenigstens dein Leben so leben, wie du es für richtig hältst.“
Ja, da ist wohl was dran. Allerdings hätte ich lieber Eltern, die nett sind, und einen Vater, der mich nicht verkloppt.
„Jo-Jo… dir ist doch klar, dass du ihn anzeigen musst, ja?“
„Hä?“, mache ich und bekomme sofort einen unangenehmen Spannungsschmerz in der Lippe. „Au, verflucht…“
„Reiß halt die Klappe nicht so weit auf“, rät Leslie. Danach kramt er sein Handy aus der Tasche und…
„Bist du irrsinnig?“, frage ich fassungslos.
„Beweisfotos“, erklärt er und knipst munter weiter. „Für alle Fälle. Mach mal dein Shirt hoch.“
„Nee.“
„Los!“
„Ich kann mich nicht bewegen.“
„Okay“, nickt er, zieht mir sanft die Bettdecke weg, hebt mein Shirt und schießt einige Fotos.
„Ich denke, das reicht. Paps kennt so’ne Schnecke beim Jugendamt und…“
„Du hast bitte nicht mit deinen Eltern über mich gesprochen“, unterbreche ich ihn peinlich berührt.
„Na ja, doch. Aber Paps meint, es reicht nicht, wenn du mit der sprichst. Du sollst den Penner anzeigen.“
Prima! Ich bringe meinen eigenen Vater in den Knast.
„Mein Kopf tut weh.“
„Dann versuch, ein bisschen zu schlafen“, wispert er, küsst meine Stirn und verlässt das Zimmer.
Ich schlafe ein bisschen… allerdings alles andere als friedlich. Dass ich unter den ganzen unschönen Umständen von Albträumen nicht verschont bleibe, ist verständlich. Vielleicht sollte ich einfach nicht mehr schlafen. Aber permanenter Schlafmangel mach auf Dauer irre, da sind fiese Träume wohl doch die bessere Alternative. Leider verschwinden die Albträume nicht, wenn ich aufwache. Im Gegenteil. Wenn ich wach bin, kommen die Erinnerungen. Und die Gedanken… was soll ich machen… was soll aus mir werden? Und Leslie kommt andauernd ins Zimmer, um nach mir zu sehen.
„Deine Mutter hat angerufen, wollte wissen, wie es dir geht.“
Wow! Nach… äh… wie vielen Tagen ist ihr aufgefallen, dass ich nicht zuhause bin, weil mein Vater mich krankenhausreif geschlagen hat? Es ist eine echt bittere Erkenntnis, dass ich meiner Mutter quasi am Arsch vorbeigehe. Leslies Eltern wollten sofort ihren Urlaub abbrechen, als sie davon gehört haben, aber er hat ihnen versichert, dass das nicht nötig ist und er sich um mich kümmert und so. Leslies Eltern hätten für mich alles stehen und liegen lassen, während meine Mutter nach tausend Jahren mal kurz anruft. Was soll man dazu noch sagen?!
„Wahrscheinlich hat sie Angst vor dem miesen Schwein“, antwortet Leslie auf meine Gedanken.
„Ja, wahrscheinlich“, seufze ich.
„Ähem… ich muss gleich mal für’ne Stunde weg, aber ich hab jemanden gefunden, der bei dir bleibt.“
„Ich kann alleine…“
„Und wenn du aufs Klo musst? Oder sonst irgendwas ist?“
„Du meinst, wenn ich aus dem Bett falle und mir den Oberschenkelhals breche? Oder mein Vater hier auftaucht, um sein Werk zu vollenden?“
„So was in der Art.“
„Les, ich…“
Es klingelt und er rennt zur Tür. Sekunden später möchte ich fast, dass mein Vater sein Werk vollendet. Leslie taucht mit Kim auf.
„Hey, Jo-Jo“, murmelt er. Seinen Blick entsetzt zu nennen, wäre glatte Untertreibung.
„Ich bin dann mal weg“, sagt Leslie und… ist dann mal weg.
„Wow, du siehst wirklich…“
„Danke.“
„Shit, ich wusste nicht, dass…“, er setzt sich auf die Bettkante, „na ja, dass es so… also, dass dein Vater so heftig drauf ist.“
„Können wir bitte nicht darüber reden?“, frage ich und verziehe meinen Mund zu einem unglücklichen Grinsen, was dazu führt, dass meine Lippe schmerzt. Dann muss ich husten, was dazu führt, dass meine Rippen schmerzen. Dann zieht Kim seine Schuhe aus und legt sich neben mich, was dazu führt, dass mir heiß und schwindlig wird. Kann aber auch sein, dass das die Nachwirkungen der Gehirnerschütterung sind.
„Du musst nicht bei mir bleiben, egal, was Leslie sagt.“
„Mann, Jo-Jo… hast du’s immer noch nicht gemerkt?“ Seine weichen Finger streichen mir sanft ein paar klebrige Haarsträhnen von der Stirn. „Ich hab dich gern und ich will bei dir sein.“
Kims Gesicht nähert sich meinem.
„Was hast du vor?“
„Dich küssen.“
„Das geht nicht, meine Lippe…“
„Ich bin ganz vorsichtig“, wispert er und haucht mir einen ultrazarten Kuss auf den Mund.
Ich bin ganz durcheinander und versuche, ihn auch zu küssen, aber meine Lippe… na ja, es funktioniert nicht. Wahrscheinlich will der Schmerz mich davor bewahren, eine Dummheit zu begehen. Schließlich ist es genau das, was mich in diese Lage gebracht hat. Wenn ich nicht angefangen hätte, mich mit Jungs einzulassen… wenn ich beim theoretischen und heimlichen Tollfinden geblieben wäre… Scheiße ist das alles. Ich wäre am liebsten überhaupt nicht mehr da!
Vorgestern haben die Sommerferien angefangen und wahrscheinlich bin ich versetzt worden. Genau weiß ich’s nicht, weil ich ja krank geschrieben bin und somit nicht in der Schule war.
Nora und Merle waren ein paar Mal da, um mich zu betüddeln, Kim kommt mich fast jeden Nachmittag besuchen und Leslie verschwindet dann nach Irgendwo. Bei Jule ist er sicher nicht, weil die zu Verwandten nach Polen gefahren ist. Leslie macht nicht den Eindruck, als würde er sie stark vermissen, also treibt er es vermutlich mit verschiedenen Jungs. Kranke Beziehung, aber was geht’s mich an?! Kim ist echt süß und wird mit jedem Tag süßer. Das macht mich fertig, weil ich mich doch von Jungs fernhalten wollte. Ach verdammt, ich fühl mich aber so ekelhaft wohl in seiner Nähe. Weil er mich nämlich, im Gegensatz zu allen anderen, nicht drängt. Weder dazu, überall der Beste sein zu müssen, noch dazu, schwul zu sein oder mich die ganze Nacht ficken zu lassen, und schon gar nicht dazu, meinen Vater anzuzeigen. Wenn Kim da ist, kann ich den ganzen Scheiß vergessen. Wir reden über alles Mögliche, was uns grad einfällt. Kim hat einen ausgesprochen guten Humor… er findet beispielsweise Martin Sonneborn lustig. Und er steht auf David Lynch, Johnny Depp und John Malkovich. Allerdings hat Kim es auch nicht immer sehr leicht gehabt. Seine Mama ist gestorben, als er noch klein war, und mit der zweiten Frau seines Vaters hat er sich nie gut verstanden, deshalb ist er mit sechzehn von zuhause weg in eine WG gezogen, eine ganz normale, nicht so was Betreutes, die Miete bezahlt sein Vater. Insgeheim hat mich das ein bisschen beruhigt, weil ich hauptsächlich mit Leuten befreundet bin, die tolle Eltern haben, und da schämt man sich gleich noch mehr für die eigene verkorkste Familie.
„Wieso ist’n dein Typ noch nicht da?“, fragt Leslie ungeduldig.
„Hä?“
„Kim. Kommt der heute etwa nicht?“
„Woher soll ich das wissen?“
„Ihr führt eine recht seltsame Beziehung“, behauptet er.
„Sagt der Experte, mh? Außerdem hab ich mit niemandem eine Beziehung. Kim und ich sind Freunde.“
„Ah, wir sind wieder beim Verdrängen. Willst du echt, dass dein Vater gewinnt?“
Ich komme nicht dazu, ihm zu antworten, weil das Telefon klingelt.
„Was… wer ist da? Ach so… ja, ist er. Hier, für dich“, sagt Leslie eisig, reicht mir den Hörer und verlässt den Raum.
„Hallo?“
„Hi, hier ist Flo.“
Vor Schreck fällt mir der verdammte Hörer beinahe aus der Hand.
„Woher weißt du…“
„Du hast dich ewig nicht gemeldet, auf meine Mails reagiert auch nicht, also hab ich ein paar Mal bei dir angerufen. Dein Vater hat mich aufs Übelste beschimpft und deine Mutter hat mir dann gesagt, wo du bist und mir die Nummer gegeben. Was ist bei dir los, Jo-Jo?“
„Wieso interessiert dich das noch?“
„Ey, dass es bei uns beziehungsmäßig nicht geklappt hat, heißt doch nicht, dass du mir völlig egal bist“, regt er sich auf.
Ich schildere ihm kurz und knapp, was sich ereignet hat.
„Shit, das klingt echt übel. Tut mir total leid, ich meine… fuck, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Kann ich dir irgendwie helfen?“
„Wohl kaum. Aber schön, dass du gefragt hast.“
„Jo-Jo, du kannst mich jederzeit anrufen, okay? Wenn irgendwas ist… ich bin für dich da.“
„In Ordnung. Danke.“
„Ich melde mich wieder.“
„Mach das. Bis dann.“
„Bis dann. Und… gute Besserung, Kleiner.“
Komisch, das war, glaube ich, das erste Mal, dass ich nicht nervös war, mit Flo zu sprechen. Aber nachdem, was er sich geleistet hat, verdient er meine Nervosität ja wohl auch nicht, oder? Trotzdem. Dass er sich um mich sorgt, finde ich wirklich schön.
Noch schöner finde ich allerdings, dass Kim ein paar Minuten später ins Zimmer kommt.
Und da meine Verletzungen langsam heilen, fällt mir auch wieder auf, wie unglaublich hübsch er ist und dass ich eigentlich dringend versuchen möchte, ob das Küssen inzwischen funktioniert. Meine Lippe tut zwar noch weh, aber nicht mehr so ganz doll. Kim trägt seine schwarz-grüne Bondagehose und den löchrigen Wollpulli… das Outfit hat mich beim ersten Mal bereits ziemlich umgehauen. Gut, dass ich grad liege.
„Hey…“, lächelt er, „na?“
„Hallo“, murmle ich.
„Wie geht’s dir?“
„Meine Lippe tut kaum noch weh“, plappert es unkontrolliert aus mir heraus.
„Äh… cool“, findet er und wirkt fast so nervös wie ich mich fühle. „Mann, heute sind echt viele Schnecken unterwegs. Ekelhaft.“
„Na ja“, antworte ich etwas hilflos, „heute ist Samstag, da sind sicher alle mit ihren Familien unterwegs und fahren… besonders vorsichtig.“
Kim sieht mich einen Augenblick völlig entgeistert an.
„Ach so, nee, ich meinte Schnecken… hier vorm Haus wimmelt es davon. Man muss total aufpassen, wo man hintritt, damit man die nicht zertritt.“
„Oh…“, schwitze ich peinlich berührt vor mich hin.
Dann fängt Kim plötzlich sehr heftig an zu lachen.
„Du meine Güte“, gluckst er, zieht seine Schuhe aus und legt sich zu mir, „wenn das mit uns funktionieren soll, müssen wir unbedingt ein bisschen lockerer werden.“
„Das mit uns?“
Er nickt kaum merklich, beugt sich über mich und küsst mich sehr süß auf den Mund.
Mein Hirn verwandelt sich in Brei. Ich küsse ihn zurück. Es fühlt sich außerordentlich schön an. Fast zu schön, um wahr zu sein. Dass mein Vater mich töten würde, wenn er mich grad sehen könnte, blende ich völlig aus.
„Okay, das klappt schon mal ziemlich gut“, seufzt Kim während einer Knutschpause, „und alles andere kriegen wir auch irgendwie hin, oder?“
Soll das etwa heißen, dass Kim jetzt mein Freund ist? Sind wir zusammen? Will ich das überhaupt? Nach allem, was passiert ist? Nicht nur die Sache mit meinem Vater… Kim hat ja auch immer noch mit meinem besten Freund geschlafen.
„Was ist mit Leslie?“
„Was soll mit ihm sein?“
Fein, es war für beide offenbar bloß eine einmalige Angelegenheit. Trotzdem. Ich mag nicht die ablegten Sexpartner meines bestens Freundes abkriegen.
„Ihr habt… du hast doch mit ihm…“
„Was denn?“
„Sex“, japse ich.
Kim reißt seine hübschen Augen so weit auf, dass mir bei dem Anblick beinahe ein wenig übel wird.
„Wie kommst du darauf?“
Hab ich vergessen.
„Jo-Jo, ich wollte nie was von Leslie. Ich will dich. Seit Noras Gartenhausparty.“
„Ehrlich?“
„Zugegeben, als du gekotzt hast, hab ich kurz überlegt, aber… ey, du musst doch bitte gemerkt haben, dass ich dich süß finde. Sonst hätte ich wohl kaum Leslies beknackte Kuppelversuche mitgemacht.“
Wow!
„Ich… ähem… also, ich fand dich auch süß“, röchele ich mir ab und merke, dass mein Gesicht ultra heiß wird. „Ich hatte bloß Angst, weil…“
„Weiß ich doch jetzt“, wispert er und küsst mich.
Wir knutschen eine ganze Weile, bis…
„Hallelujah!“, brüllt Leslie, worauf Kim und ich kurz erschrocken zusammenzucken. „Das wurde aber auch Zeit“, behauptet er vergnügt und setzt sich aufs Bett.
Mir ist es unangenehm, dass Leslie so deutlich mitbekommen hat, was zwischen mir und Kim gelaufen ist. Ihm nicht. Leslie ist nie was peinlich. Kim zupft sein Shirt zurecht und Leslie starrt angestrengt aus dem Fenster, dann springt er auf einmal auf.
„Sie ist wieder da. Die Taube ist wieder da.“
Großer Gott!
Kim steht ebenfalls auf, um nachzusehen.
„Da ist noch eine“, bemerkt er.
„Die wechseln sich ab“, kriegt Leslie sich gar nicht mehr ein. „Hast du das gesehen? Jetzt hockt die andere auf dem Ei.“
„Da sind zwei Eier im Nest“, berichtigt Kim ihn.
Kopfschüttelnd überlege ich, ob die beiden vielleicht heimlich Brüder sind und die Eltern den einen Sohn zur Adoption frei gegeben haben?!
„Hauptsache, die kümmern sich jetzt vernünftig um ihren halbfertigen Nachwuchs und hauen nicht wieder einfach ab.“
„Wie auch immer, ich hau jetzt ab“, sagt Kim und gibt mir einen Abschiedskuss. „Wir sehen uns morgen.“
Als er weg ist, grinst Leslie bescheuert.
„Hör auf zu grinsen, Blödmann.“
„Ich freu mich einfach nur“, strahlt er. „Sorry, dass ich euch unterbrochen hab.“
„Hast du nicht.“
Sein Lächeln stirbt. „Soll das heißen, ihr wolltet nicht…“ Er macht eine Faust und schlägt zweimal mit der flachen Hand drauf.
„Leslie“, stöhne ich.
„Was? Ich frag doch nur. Kann er gut küssen? Jungs, die gut küssen, können auch gut blasen.“
„Leslie…“
„Hm?“
„Geh und kuck dir deine Taube an!“
In der letzten Zeit ist eine Menge passiert. Kim und ich küssen uns fast jeden Tag und ich hab wieder Kontakt zu Flo. Er ruft mich an und wir reden. Seltsamerweise geht das auf einmal total gut, also ich bin überhaupt nicht mehr nervös oder so. Natürlich hab ich ihm von Kim erzählt, von Nora, die ein paar Mal da war, von dem Taubenpärchen, das inzwischen so was wie eine Attraktion geworden ist… ehrlich, würd mich nicht wundern, wenn Leslie bald Eintritt verlangen würde. Die blauen Flecke an meinem Körper verblassen immer mehr und meine Rippen scheinen sich auch ganz gut zu erholen.
„Ich finde, du solltest langsam mal aufstehen“, findet Leslie, der vorm Fenster hängt und Tauben beobachtet.
„Bitte?“
Er dreht sich um und sieht mich an. „Es geht dir besser, oder? Und der Doc hat dir keine Bettruhe verordnet. Seit Wochen liegst du hier rum wie eine beschissene Diva.“
„Entschuldige, dass ich dein Schlafzimmer blockiere, ich…“
„Ach, darum geht’s doch gar nicht, Jo-Jo. Aber du kannst dich nicht ewig verstecken. Das ist keine Lösung.“
Verdammt! Ich glaube, ich verstecke mich tatsächlich. Weil ich immer noch nicht weiß, wie alles weitergehen soll. Weil ich darüber nicht nachdenken will. Weil es eben viel leichter ist, einfach nur im Bett zu liegen.
„Sag mal, wo treibst du dich eigentlich immer rum?“, wechsele ich das Thema.
„Wechsel nicht das Thema.“
„Wieso machst du so ein Geheimnis daraus?“
Seufzend lässt er sich aufs Bett fallen.
„Kannst du dich an Martin erinnern?“
„Nee, sollte ich?“
„Der hübsche Gothic-Junge ausm Subway“, informiert er mich.
„Du treibst es mit dem? Immer noch?“
Leslie antwortet nicht, aber sein Blick sagt alles.
„Und was ist mit Jule?“
„Die ist in Polen.“
„Leslie, das ist doch ekelhaft“, bemerke ich.
„Ja, aber sobald sie wieder da ist, mache ich Schluss mit ihm. Echt.“
Na ja, wenn er meint… ist schließlich nicht mein Bier, mit wem er rumfickt.
„Wo wir schon dabei sind, Sachen auf den Tisch zu legen… was läuft zwischen dir und dem Superficker?“
„Keine Ahnung, wen du meinst.“
„Der, mit dem du andauernd telefonierst, wenn Kim nicht in der Nähe ist.“
„Wir sind nur Freunde“, erkläre ich und fühle mich blöderweise ein bisschen ertappt, obwohl es dafür keinen Grund gibt.
„Na dann…“
Abends kuschele ich mit Kim. Allerdings scheint er heute nicht so richtig bei der Sache zu sein.
„Hast du dir eigentlich schon mal überlegt, was du machen willst?“
„Wie? Was machen?“
Kim rückt ein Stückchen von mir weg und stützt sich auf seinen Ellenbogen.
„Na ja, so… in näherer Zukunft.“
„Nein. Hat Leslie gesagt, dass du mich fragen sollst?“
„Er findet halt…“
Reflexartig drehe ich mich um und ziehe mir die Bettdecke über die Ohren.
„Ist okay“, wispert Kim und zieht sanft die Bettdecke runter. „Es spielt keine Rolle, was Leslie denkt oder was ich denke… es ist dein Leben und wenn du noch nicht soweit bist, irgendwas zu entscheiden, ist das in Ordnung.“
„Leslie meint, dass das alles total einfach ist. Geh zum Jugendamt, zeig deinen Vater an… ich bin aber immer noch mit der Frage beschäftigt, warum mich meine Eltern so sehr hassen“, murmle ich und spüre, dass sich meine Augen mit Tränen füllen.
Kim nimmt mich sofort tröstend in den Arm.
„Ihr könnt doch gar nicht wissen, wie sich das anfühlt.“
„Tut mir leid, dass ich davon angefangen habe.“
„Ich will jetzt nicht mehr darüber reden.“
„Okay“, antwortet Kim und schlingt seine Arme fester um mich.
Darüber nicht nachzudenken ist leider grad kaum möglich. Ich wäre vermutlich schon längst beim Jugendamt und der Polizei gewesen, wenn ich nicht immer noch so eine scheißverdammte Angst vor meinem Vater hätte. Wenn ich mir vorstelle, dass ich ihn zum Beispiel bei einer Gerichtsverhandlung sehen muss, schlottern mir die Knie. Ein bisschen glaube ich auch, dass er sicher weiß, wo ich bin, und nur darauf wartet, dass ich aus dem Haus komme, damit er und seine Kameraden, die er angeheuert hat, mich fertig machen können.
Am nächsten Morgen ereilt mich nach dem Aufwachen beinahe eine Herzattacke, weil Leslie wie ein Gespenst am Fenster steht.
„Großer Gott“, japse ich.
„Sie sind da“, krakeelt er völlig aus dem Häuschen.
Ich bin nach dem Schock wahrscheinlich um Jahre gealtert.
„Wer?“
„Die Taubenkinder“, kiekst er wie ein Mädchen.
Mühsam begebe ich mich zum Fenster und glotze angestrengt nach draußen.
„Siehst du? Da ist ein kleiner Schnabel und da der eine Flügel.“
Tatsächlich.
Leslie dreht seinen Kopf in meine Richtung.
„Hey, du bist aufgestanden. Supi, geh duschen, zieh dich an und dann gibt’s Frühstück in der Küche. Ich hab nämlich keine Lust mehr, dir alles ans Bett zu bringen“, sagt er vergnügt.
Nach Marmeladentoasts und Kakao schleppt Leslie mich raus in die Sonne. Alle paar Schritte blicke ich mich um, kann meinen Vater und seine Kameraden jedoch nirgends entdecken.
Ich hatte gefragt, ob es nicht reichen würde, im Garten zu sitzen… der ist nämlich von der Straße aus nicht einsehbar… aber Leslie hat bloß die Augen verdreht. Man wird halt leicht paranoid, wenn man krankenhausreif geschlagen wurde. Wäre er an meiner Stelle auch.
Außerdem muss ich mir jetzt zwangsläufig Gedanken über die Zukunft machen. Wo soll ich bleiben? Was soll ich tun? Leslies Meinung zu Letzterem kenne ich. Zum Glück hat er aber eingesehen, dass es allein meine Entscheidung ist, was ich gegen meinem Vater unternehme. Und auf die erste Frage antwortet er total selbstverständlich: „Na, bei mir. Meine Wohnung ist schließlich groß genug.“
„Ich kann doch unmöglich auf deine Kosten leben“, schüttle ich den Kopf.
„Äh… du weißt, dass ich keine Miete und so bezahlen muss, ja?“
„Dann eben auf Kosten deiner Eltern. Noch schlimmer.“
„Jo-Jo, verdammt, mach doch nicht alles so kompliziert.“
„Es ist aber kompliziert. Vor allem, wenn man nicht damit gerechnet hat, plötzlich quasi mit nichts auf der Straße zu stehen. Ich… Mann, ich fühle mich einfach noch nicht erwachsen genug, um für mich selbst zu sorgen.“
„Ist es dir lieber, nach Hause zu gehen und totgeschlagen zu werden?“
„Dann hätte ich wenigstens nicht diese ganze Scheiße am Hals“, murmle ich.
„Wenn du noch mal so was Dämliches sagst, übernehme ich das Verprügeln. Hey, es wird sich schon alles irgendwie finden, mh? Erstmal feiern wir nächste Woche deinen Geburtstag.“
Fuck, den hab ich total vergessen.
„Achtzehn, das bedeutet, du bist frei und kannst selbst entscheiden, bei mir zu wohnen.“
„Toll. Ist ja nicht so, als würden meine Eltern verzweifelt wollen, dass ich zu ihnen zurückkomme.“
„Du solltest deine Mutter anrufen.“
„Wie bitte?“, frage ich entgeistert.
„Damit wir deinen ganzen Kram holen können, wenn das Arschloch nicht da ist. Je eher du das machst, desto besser.“
Ich möchte sofort wieder ins Bett und mich verkriechen!
Leider zwingt mich Leslie bereits nachmittags zu dem Anruf.
„Leg einfach auf, wenn das Arschloch dran ist“, rät er.
Das Arschloch geht zum Glück jetzt nicht ans Telefon.
„Johannes“, begrüßt mich meine Mutter aufgeregt, „wieso meldest du dich nicht? Ich hab mir Sorgen gemacht. Geht’s dir gut?“
„Na ja, wie’s einem so geht, wenn man zwei angeknackste Rippen und ’ne geplatzte Braue hatte. Außerdem wusstest du, wo ich bin. Du hättest dich auch melden können, Mama.“
„Ach, Johannes… dein Vater…“
„Hat Urlaub, oder? Ist er die Woche über vielleicht mal so zwei Stunden weg? Dann würde ich vorbeikommen.“
„Er fährt am Wochenende zum Zelten.“
„Alles klar. Bis Samstag“, sage ich und lege auf.
Obwohl ich weiß, dass mein Vater weit weg ist, schmerzt mein Magen unangenehm, als ich mit Leslie, Kim und einigen Kartons vor der Haustür stehe. Irgendwie ist jetzt alles so real, ich ziehe wirklich von Zuhause aus. Meine Mutter ist relativ überrascht, dass ich nicht allein bin. Tz, was hat’n die gedacht? Dass ich gemütlich mit ihr Kaffeeklatsch mache? Offensichtlich, denn ich höre tatsächlich die Kaffeemaschine blubbern.
„Was hat das zu bedeuten?“, fragt sie, als Leslie und Kim die Treppe raufgehen.
„Wir holen meine Sachen.“
„Wie… deine Sachen? Ich denke, du kommst wieder nach Hause.“
„Entschuldigung“, antworte ich fassungslos, „hast du vergessen, was passiert ist?“
„Dein Vater meint das doch nicht so“, behauptet sie eindringlich. „Du weißt doch, wie er ist, wenn er sich aufregt.“
„Ich hab eine Nacht im Krankenhaus gelegen, weil er sich aufgeregt hat.“
„Das war nicht richtig von ihm, aber… als er diese schrecklichen Sachen gelesen hat… Junge, du… du bist doch nicht wirklich… andersrum.“
„Nein, natürlich nicht“, lüge ich, weil sie das Wort so abfällig ausgesprochen hat, dass ich nicht die geringste Lust verspüre, mich mit ihr darüber zu unterhalten. „Ist deinem Mann eigentlich klar, dass ich ihn wegen Körperverletzung anzeigen könnte?“
„Johannes“, bollert sie entsetzt los, „das tust du uns nicht an.“
„Und was er mir jahrelang angetan hat, spielt keine Rolle?“
„Er ist nun mal so. Hat auch keinen Sinn, dass man was sagt.“
„Nee, wieso auch? Dich hat er ja nicht verprügelt.“
„Wir sind fertig“, ertönt von der Treppe Leslies Stimme. „Dein Computer ist hin, aber du kannst eh meinen benutzen. Oben steht noch ein Karton… Kim und ich wollten nicht in deiner Unterwäsche und so rumwühlen. Beeil dich, wir warten draußen. Oder ist es dir lieber, wenn du nicht allein…“
„Nein, ich mach das schon“, entgegne ich und gehe rauf.
Es ist ein ganz eigenartiges Gefühl, mein Zimmer zu betreten. Die Schränke sind offen und so gut wie leer, Tastatur und Maus liegen kaputt auf dem Schreibtisch. Das Bett ist frisch bezogen… hat sicherlich meine Mutter gemacht. Total behämmert untersuche ich das Bettgestell nach Resten von meinem Blut… es ist nichts zu sehen. Bevor ich den beschissenen Albtraum noch mal durchlebe, stopfe ich mein restliches Zeugs in den Karton und verlasse diese Hölle.
„Johannes…“, meine Mutter legt ihre Hand auf meinen Arm. Ihre Augen schimmern feucht.
„Warte einen Moment“, bittet sie, kramt kurz irgendwo herum und drückt mir anschließend einen Umschlag in die Hand. Langsam stelle ich den Karton ab und öffne den Umschlag. Da ist ein Sparbuch drin und der Betrag ist nicht gerade klein.
„Überleg dir das mit der Anzeige doch noch mal.“
Äh, wie jetzt?
„Soll das die Bezahlung dafür sein?“
Sie schüttelt den Kopf. „Das ist das Kindergeld und was ich so immer mal sparen konnte“, erklärt sie, ohne mich direkt anzusehen. „Es sollte eigentlich für später sein, aber... jetzt ist wohl später. Dein Vater weiß nichts davon.“
„Danke, Mama“, murmle ich und umarme sie. Ja, was soll’s? Ich hab meine Mutter trotz allem noch lieb. Will mich dafür irgendjemand verurteilen??
Nachdem wir die Kartons im Auto verstaut haben, muss ich erstmal einen Moment heulen. Das gerade war echt anstrengend. Übrigens hat Kim sich das Auto von seinem WG-Kumpan geliehen… cool, ich wusste nicht mal, dass er einen Führerschein hat. Zurück in Leslies Wohnung, geht’s dann an die Zimmerverteilung. Soll heißen… Leslie will sein Schlafzimmer wieder haben und ich soll künftig das bisherige Arbeitszimmer bewohnen, in dem er momentan auf einem Gästebett nächtigt.
„Das machen wir nächste Woche, wenn wir ein vernünftiges Bett für dich gekauft haben. Ich kann euch zwei Turteltäubchen ja wohl kaum das olle Klappbett zumuten“, grinst er blöde.
Mir wird vor Peinlichkeit ein bisschen übel und heiß im Gesicht. Kim hat bis jetzt noch nie hier übernachtet, das weiß Leslie ganz genau. Wenn nämlich Kim bei mir schlafen würde, hätte ich total das Gefühl, dass wir auch miteinander schlafen müssten… und so weit bin ich noch lange nicht.
Bei dem Wort Turteltäubchen fallen Leslie übrigens sogleich seine Tauben ein, die er Kim stolz zeigt.
„Und… hast du dir schon Namen überlegt?“, fragt Kim.
„Nee, man weiß ja nicht, ob’s Mädchen oder Jungs sind.“
„Wie wär’s mit Lolek und Bolek? Oder Hulle und Bulle?“
„Wie wär’s, wenn du in dein geliehenes Auto steigst und in die Halt-die-Schnauze-Stadt fährst?“, lächelt Leslie zuckersüß.
„Du meine Güte, was machen die denn da?“
„Das nennt man füttern.“
„Sieht irgendwie ekelhaft aus, oder? Kriegen die… Hochgewürgtes?“
„Kropfmilch, du Hirni“, stöhnt Leslie genervt.
„Echt gierig, die Typen“, schüttelt Kim den Kopf, „wieso musst du mich eigentlich andauernd beleidigen?“
„Weil du mir andauernd auf die Eier gehst, Junge. Wieso kümmerst du dich nicht um deinen Freund und lässt mich in Ruhe?“
„Ähem… weil du mir unbedingt deine Tauben zeigen wolltest?“, schlägt Kim vor.
Während sich die beiden verbal an die Gurgeln gehen, habe ich mich entschieden. Und ich wette, Leslie wird damit nicht glücklich sein, also sag ich’s ihm lieber nur auf konkrete Nachfrage.
Abends hat sich Leslie vom Acker gemacht und Kim kümmert sich um seinen Freund… mich. Ich traue mich auch heute nicht, ihn zu fragen, ob er hier übernachten will, und finde es irgendwie ätzend, dass ich ihn jedes Mal im Dustern nach Hause schicke. Allerdings kann er heute mit dem Auto fahren, also ist’s nicht gar so schlimm.
Irgendwann nachts werde ich wach, weil ich dringend pinkeln muss. Barfuss tapse ich durchs Wohnzimmer und frage mich noch einigermaßen verunsichert, was das für komische Geräusche sind… da trifft mich auch schon der Schlag. Leslie liegt mit einem Typen auf der Couch und ist bei dem untenrum ziemlich beschäftigt.
„Oh… Schande“, kreische ich reflexartig und bedecke meine Augen.
„Jo-Jo“, murmelt Leslie überrascht, hat sich jedoch schnell wieder im Griff. „Das ist Martin. Martin, das ist Jo-Jo.“
„Hey“, lächelt Martin verschämt und versucht, sich zu bedecken.
„Ich…äh… ich muss mal“, stottere ich, renne aufs Klo und danach zurück ins Schlafzimmer.
Oh Mann, ich bin fix und fertig. Mein Herz bollert und in meinen Ohren raucht es ekelhaft laut. Okay, ich weiß, dass Leslie gelegentlich Sex mit Jungs hat, aber gesehen hab ich ihn dabei noch nie. Und ihm ist ja wohl völlig egal, dass er nicht mehr allein hier wohnt, oder? Ich meine, was denkt der sich eigentlich, da quasi wie auf dem Präsentierteller… ja, das muss doch nicht sein. Und schon wieder mit diesem Kerl ausm Subway. Und seine Freundin hockt ahnungslos in Polen. Was für ein Drecksack!
Am nächsten Morgen wage ich mich erst gegen Mittag aus dem Schlafzimmer und hoffe inständig, dass sich der sexbesessene Irre mitsamt seiner Martin-Type inzwischen dahin verzogen hat, wo’s privat ist. Ah, die Couch ist frei und die Tür zum Arbeitszimmer zu, das bedeutet, die beiden pennen noch. Höchste Zeit, den Irren aufzuwecken und ausnahmsweise mal ihm einen gehörigen Schreck zu verpassen. Ich lege eine Brieftauben-CD ein und drehe die Lautstärke bis zum Anschlag auf…
Ich hab genau gesehen wie du mit Stefan Essen gehst
und wie du Martin einen bläst,
wenn ich was dagegen sag, trittst du mir gegen’s Knie
Mann, Aller, das ist Punk, das raffst du nie…
Die Tür fliegt auf, ein verschlafener Leslie stampft zur Anlage und schaltet sie aggressiv
aus.
„Sehr lustig, Arschgeige“, zischt er.
„Ja, genau wie letzte Nacht.“
„Dank dir weiß jetzt die ganze gottverdammte Straße, dass ich Martin einen geblasen habe.“
„Wenn du noch einen Ticken lauter schreist, dann ja.“
„Das ist meine Wohnung, geht dich doch einen Scheiß an, was ich mit wem mache.“
Wow, was’n mit dem los? Normalerweise versteht er Lustigkeit. Normalerweise müsste er sich über gestern und das Lied kaputt lachen.
„Entschuldigung, das sollte ein Scherz sein“, entschuldige ich mich irritiert.
„Haha, ich lach mich tot“, grunzt er.
„Leslie, was ist los mit dir?“
„Leck mich“, ist seine Antwort. Danach verschwindet er ins Arbeitszimmer… wo er den restlichen Tag über bleibt.
Ich fühle mich zum Kotzen. Leslie hat seit Sonntag nicht mehr mit mir gesprochen. Heute ist Dienstag! Klammheimlich überlege ich schon mal, mir so eine Mini-Wohnung zu mieten, wie Flo sie hat. Würde ja für mich reichen, aber… das Geld von meiner Mutter wäre dann ein bisschen zu schnell aufgebraucht. Ich raffe echt nicht, wer oder was in Leslie gefahren ist. Toll, Samstag hab ich Geburtstag und mein bester Freund redet nicht mehr mit mir. Und Kim hat grad keine Zeit, weil er sich mit seinem Vater trifft. Bedröppelt hocke ich im Schlafzimmer, als plötzlich die Tür aufgeht und Leslie hereintorkelt… mit einer Flasche Wein. Unkoordiniert krabbelt er zu mir aufs Bett, säuft und schweigt.
„Les, was ist…“
„Halt den Rand“, unterbricht er mich lallend.
„Okay.“
Nachdem er die Flasche fast geleert hat, starte ich einen zweiten Versuch.
„Soll ich ausziehen?“
„Wieso? Du bist noch nicht mal richtig eingezogen.“
„Leslie…“
„Ich hab mich ficken lassen“, sagt er und kippt ein wenig zur Seite, wurschtelt sich wieder hoch und legt sich auf den Rücken.
„Ja, na und? Ist doch nichts Neues, dass du’s mit Jungs treibst.“
„Mann, Jo-Jo, kapierst du nicht? Ich hab mich ficken lassen. Von Martin.“
„Ja, na und?“, wiederhole ich.
Leslie kippt den letzten Schluck Wein runter.
„Ich hab mich noch nie von ’nem Typen ficken lassen.“
Ich würde gerne schon wieder ’Ja, na und’ sagen.
„Ey, und das war so…“, er robbt ein Stück an mich ran, „so… anders, verstehst du?“
„Ähem… nein“, entgegne ich vorsichtig. „Anders im Sinne von…äh…“
„Scheiße, ich hab mich verliebt“, brabbelt er und rauft sich theatralisch die Haare.
„Und was ist mit Jule?“
„Aber das ist was Anderes. Mit einem Typen zu ficken oder mit ihm Hand in Hand über die Straße zu gehen“, faselt er weiter, als hätte er mir null zugehört, weshalb ich beschließe, nichts mehr zu sagen. Und überhaupt, seit wann verliebt Leslie sich in einen Jungen? Ist doch Blödsinn. Und was soll das Gelaber von Hand in Hand und Straße?
„Ich… ey, ich kann das nicht… so öffentlich“, wird er etwas konkreter.
„Warte mal, du treibst es mit wildfremden Typen auf Discoklos, also wenn das nicht öffentlich ist…“
„Das ist okay, das ist nur Sex. Aber Händchen halten und küssen und so… jeden Tag und alle kriegen das mit.“
„Wer denn alle?“, frage ich verzweifelt, weil ich wirklich nicht raffe, was sein Problem ist.
„Alle. Ich hab keinen Bock, eine Schwuchtel zu sein.“
Ach du Scheiße, ich glaub es nicht. Ich meine… ich glaub, es hackt!
„Du, Arsch, zwingst mich die ganze Zeit dazu, meine Homosexualität nicht zu verleugnen und hast in Wahrheit was gegen Schwule?“
Leslie glotzt mich an, als hätte ich nicht mehr alle Latten am Zaun.
„Ich hab doch nichts gegen Schwule. Ich will nur keiner sein.“
Wow, das muss ich erstmal verarbeiten.
„Ich brauch was zu trinken“, stellt er fest und holt eine neue Flasche Wein, die er sich reinkübelt. Mann, der ist vielleicht trinkfest. Ich wäre nach der Hälfte schon völlig hinüber gewesen und lehne dankend ab, als er mir die Flasche hinhält. Umständlich rückt er mir auf die Pelle. „Mmmhh… komm schon“, flüstert er mir betrunken ins Ohr, wobei seine Lippen meine Haut berühren und ich augenblicklich Magenkribbeln kriege, „der ist total süß und macht sofort breit.“
„Ich mag nicht breit sein.“
Kurzerhand setzt er mir die Pulle einfach an die Lippen.
„Einfach mal nicht über irgendeine Scheiße nachdenken müssen, mh?“
Na ja, was soll’s?!
„Okay“, beginne ich angeschickert, „jetzt erklär mir noch mal... du schläfst mit Typen, das ist in Ordnung, aber schwul sein ist schlimm?“
„Meine Güte, wenn du es dir aussuchen könntest, würdest du dich für schwul entscheiden?“
Nein, auf gar keinen Fall.
„Eben“, antwortet er meinem Schweigen. „Schwule sind doch immer noch eine Lachnummer für alle Normalen. Schwule werden diskridimi… dings. Und gemobbt.“
„Wenn dich einer mobbt oder diskriminiert oder auslacht, haust du dem doch sofort auf die Fresse.“
„Wieso müssen die aber auch ständig mit dieser Gleichstellungskacke kommen und den Heten auf den Sack gehen? Schwule sind nun mal anders, sonst wären sie ja hetero.“
Ich fürchte, ich hab den Faden verloren.
„Überall labern die, dass sie heiraten und Kinder adoptieren wollen. Wozu? Um so spießig zu leben wie die blöde breite Masse? Die Homos… infiltrieren den Mainstream.“
Au je, jetzt hat er sicher eine Alkoholvergiftung und redet im Delirium!!
„Leslie, das ist Schwachsinn.“
„Ach ja? Als Schwuler muss man immer besser sein als alle anderen. Das setzt Heterokerle unter Druck, weil die dann meinen, noch besser sein zu müssen, und deshalb werden Schwule von denen gehasst. Weil es den Homos nicht reicht, homo zu sein, nein, die wollen den Heten ihre Normalität wegnehmen.“
Mehr Wein, ich brauche dringend mehr Wein!
„Und was ist falsch daran, für gleiche Rechte zu kämpfen?“
„Alles“, findet er, „wenn es um Hetenspießigkeit geht.“
„Also“, fasse ich zusammen, „du willst mit einem Typen nicht auf der Straße Händchen halten, weil irgendwelche Homos, die du nicht kennst, heiraten und Kinder haben wollen und das für dich spießig ist.“
Leslie scheint angestrengt zu überlegen und genehmigt sich erstmal noch einen ordentlichen Schluck.
„Was du da faselst, macht überhaupt keinen Sinn“, seufzt er und kuschelt sich an meine Seite.
„Denkst du über mich eigentlich auch so?“
„Hm?“
„Na ja, ich bin ja wohl ’n Homo, immerhin hab ich einen Freund.“
„Hat er dich schon flachgelegt?“
„Nein.“
„Wieso nicht?“
„Ich bin noch nicht so weit?“, schlage ich vor.
„Wenn ich dein Freund wäre, hätte ich dich schon längst…“, seine Hand wandert über meine Brust, „total romantisch verführt, Jo-Jo.“
Oh Gott, mir wird schwindlig.
„Warst du nicht eben noch in Martin verliebt?“
„Wow, der kann verführen“, schwärmt er. „Und sein Schwanz ist absolut perfekt. So was hab ich noch nicht gesehen… außer bei mir vielleicht.“
„Ähem… muss ich das so genau wissen?“
„Entschuldigung, aber mein Schwanz ist halt…“
„Leslie…“, schnaufe ich genervt.
„Was? Deiner ist auch okay. Mehr als okay.“
„Danke“, nuschle ich fix und alle.
„Hast du ihm wenigstens einen geblasen?“
„Kim? Nee.“
„Wird ihm gefallen… du bläst irre gut“, grinst er und… küsst mich auf den Mund. Danach kuschelt er sich noch enger an mich und schnarcht zwei Minuten später vor sich hin.
„Mich würde interessieren, warum du mich immer nur küsst, wenn du besoffen bist?“, flüstere ich.
„Weil ich mich nüchtern nicht traue“, antwortet Leslie und schnarcht danach sofort weiter.
Ich muss wohl ebenfalls eingeschlafen sein, denn als ich meine Augen öffne, ist es hell draußen und vermutlich Mittwochmorgen. Leslie liegt immer noch neben mir, wacht aber jetzt auch langsam auf.
„Wahhhh… mein Schädel“, jammert er sofort los.
„Das kommt vom Saufen.“
„Ich brauch ’ne Dusche. Und Aspirin.“
Mühsam rappelt er sich auf und verschwindet einstweilen.
Mir reicht ’ne Dusche, so arg schmerzt mein Schädel nicht. Während Leslie in der Küche sein Aspiringebräu runterkippt, trinke ich Kakao.
„Warum hast du dich gestern eigentlich so abgeschossen?“, will ich wissen.
„Aus vielerlei Gründen.“
„Weil du in einen Jungen verliebt bist und die Homos den Mainstream infiltrieren?“
„Hab ich etwa so einen Schwachsinn erzählt?“
„Äh… ja.“
„Na, dann werde ich das gestern wohl so gemeint haben“, zuckt er die Schultern.
„Heute nicht mehr?“
„Keine Ahnung. Ich kann nicht denken, mein Kopf fühlt sich irgendwie quadratisch an.“
„Das ist dann wohl der berühmt-berüchtigte Quadratschädel“, lache ich ihn aus.
„War sonst noch was?“
„Du hast mir Martins perfekten Schwanz beschrieben und mich geküsst.“
„Fuck“, zischt er und reibt seine Stirn, „hab ich dich angemacht?“
„Geht so.“
„Jo-Jo, lass uns das mal kurz klarstellen, ja? Du weißt, dass ich dich liebe. Seit immer und für immer, aber… ich bin nicht verliebt in dich oder so. Verstehst du? Es wird ganz sicher auch immer wieder Momente geben, in denen ich dich will, und wenn du grad niemanden hast und ich solo bin, ist das völlig in Ordnung.“
In meinem Bauch kribbelt es gewaltig. Scheiße, ich sollte mir nicht wünschen, dass jetzt so ein Moment wäre. Schließlich haben wir grad beide jemanden. Ich Kim und er Jule. Letztere hat er bereits mit mir betrogen, das brauch ich eigentlich nicht noch mal. Dass er sich tatsächlich in diese Martin-Type verliebt hat, halte ich für ausgeschlossen. Das war bloß versoffenes Gelaber… so wie das mit den Schwulen und dem Mainstream.
Heute ist Geburtstag. Meine Mutter hat angerufen, um mir alles Gute zu wünschen und zu fragen, wie’s mir geht. Ich fühle mich kein bisschen anders als mit siebzehn. Ist ja nicht so, als sei mein Leben über Nacht auf einmal toll geworden. Ich bin nach wie vor der schwule Loser-Sohn, der von seinem Vater ins Krankenhaus geprügelt wurde. Flo hat sich übrigens bisher noch nicht gemeldet, aber ich glaube, der weiß auch gar nicht, wann mein Geburtstag ist. Vorgestern haben wir angefangen, das Arbeitszimmer umzugestalten, Leslies Eltern sind mit uns in ein nicht besonders günstiges Möbelhaus gefahren und kauften für mich ein Bett und ein paar andere Sachen für mein neues Zimmer… als verfrühtes Geburtstagsgeschenk.
Wollte ich natürlich nicht annehmen, immerhin wohne ich schon umsonst in ihrem Haus und außerdem hätte ich das alles selbst bezahlen können. Allerdings hab ich aus irgendwelchen Gründen noch gar niemandem von dem Sparbuch erzählt. Ich weiß, was Leslie sagen würde… dass sich meine Mutter von ihrer Schuld freikaufen wollte, weil sie es doch zugelassen hat, dass mein Vater… na ja, manchmal denke ich das auch. Dann wieder tut mir meine Mutter leid, weil sie es offenbar nicht schafft, sich von dem Arschloch zu trennen, und ich frage mich, ob sie jemals in ihrem Leben glücklich war?!
Am frühen Abend kommen Nora, Merle und Kim… ich hatte Leslie verboten, tausend Leute einzuladen, die ich eh kaum gekannt hätte. Zum Glück hat er sich dran gehalten. Oder auch nicht, denn es klingelt, als wir bereits vollzählig sind. Da Leslie mit irgendwas beschäftigt ist, gehe ich zur Tür. Au je, es ist die Martin-Type… mit einem riesigen Karton in den Händen.
Blöderweise fällt mir als Erstes ein, dass ich neulich nachts seinen Penis gesehen hab, und ich schwitze mich vor Peinlichkeit fast kaputt.
„Hey“, strahlt der Kerl heller als die verdammte Sonne. „Happy Birthday.“
Ich bin dermaßen überrascht, dass ich etwas sage, das sich verdächtig nach „Hmpf“ anhört.
Hmpf?? Ach du Scheiße, hab ich nicht mehr alle beisammen? Martin lächelt geduldig.
„Cool, die Torte ist da“, krakeelt Leslie, der soeben an der Tür auftaucht. „Hey, Tiger“, säuselt er.
Äh… Tiger?
„Hast du dieses Zuckerdingens drumrum gemacht?“, fragt er. „Ich hab ihm gesagt, er soll dieses Zuckerdingens drumrum machen, weil du das magst. Auf keinen Fall so ’ne eklige Marzipanummantelung.“
„Krieg dich wieder ein, Schätzchen“, antwortet Martin lässig und schlendert mitsamt seinem Riesenkarton in die Küche. „Übrigens nennt man dieses Zuckerdingens Fondant.“
Die Torte ist mit bunten Sternchen und Blümchen verziert, mein Name steht drauf und eine Achtzehn. Und er scheint sie gemacht zu haben.
„Ähem… danke“, bedanke ich mich. „ Das… äh… war sicher viel Arbeit.“
„Der Tiger ist professioneller, staatlich geprüfter Zuckerbäcker“, erklärt Leslie, „der macht so was hundertmal am Tag.“
„Jaha“, lacht Martin etwas gequält, „tausendmal. Mindestens.“
Tiger??
„Außerdem bin ich noch kein Konditor. Erst nächstes Jahr, wenn ich die Prüfung bestanden habe.“
„Was auch immer“, zuckt Leslie die Schultern und drückt mir ein Messer in die Hand. „Das Teil wird auf jeden Fall jetzt gegessen.“
Ein Jammer, dieses Kunstwerk zu zerstören, aber… es schmeckt gigantomanisch!
Während die kleine Geburtstagsrunde die Torte verspeist, hat Leslie mal wieder sein Lieblingsthema hervorgekramt.
„Ich hab echt keine Ahnung, warum du so einen Hype um ein paar dösige Tauben machst“, sagt Merle, „die Viecher übertragen Krankheiten und scheißen alles voll. Und vermehren sich wie die Vollidioten.“
„Du bist doch selber dösig“, regt Leslie sich sogleich auf. „Womit haben dich denn Tauben schon angesteckt? Blödheit oder was?“
„Taubenscheiße ist also nicht gefährlich für die Gesundheit?“
„Ach, und deshalb darf man Stacheln auf Häuser bauen, an denen die sich aufspießen, oder Netzte spannen, in denen die sich verfangen und elendig sterben? Denkst du vielleicht, den Tauben tut es nicht weh, wenn die sich in den Netzten die Füße abreißen und so?“
„Nee, das find ich auch abartig.“
„Und deine fucking Würgeschlangen sind ja wohl völlig harmlos, mh?“
„Mich hat noch keine Schlange gewürgt“, entgegnet Merle. „Außerdem hab ich doch gerade gesagt, dass ich…“
„Sag doch lieber gar nichts mehr heute“, schlägt Leslie beleidigt vor.
„Okay, Taubenflüsterer“, lacht sie sich kaputt.
Während Nora und Martin in die Unterhaltung mit einsteigen, macht mir ein bisschen zu schaffen, dass Kim die ganze Zeit schon meine Hand hält und auch sonst sehr anschmiegsam ist. Möglicherweise begreife ich jetzt Leslies Problem… jeden Tag öffentlich schwul sein… zwar ist es hier nicht so wahnsinnig öffentlich und Nora und Merle wissen eh Bescheid, aber irgendwann will Kim sicher auch mal rausgehen mit mir. Allerdings habe ich beispielsweise eine gute Entschuldigung dafür, dass ich eigentlich nicht schwul sein möchte… Leslie nicht, der ist nämlich total anders aufgewachsen als ich, mit Eltern, die nett sind und nichts gegen Homosexualität haben.
Nachdem Merle und Nora gegangen sind und Leslie sich mit seinem Tiger ins Schlafzimmer verzogen hat, beschließe ich, dass es heute so weit ist… Kim darf hier übernachten. Wieso auch nicht? Ist doch das Normalste auf der Welt, dass man mit seinem Freund in einem Bett schläft. Leslie macht das schließlich auch, nur dass Martin nicht sein Freund ist. Egal. Kim klaubt grad seine Tasche und seine Jacke zusammen.
„Du… ähem… du kannst hier bleiben, wenn du willst“, sage ich leise und werde wahrscheinlich rot im Gesicht.
Kim starrt mich überrascht an.
„Ist schon okay.“
Er will nicht? Wieso will er nicht??
„Ich möchte, dass du bleibst.“
Augenblicklich lässt er Jacke und Tasche auf den Boden fallen.
„Überredet“, strahlt er so umwerfend niedlich, dass mir schwindlig wird. Der Schwindel liegt aber vielleicht auch daran, dass wir, glaube ich, beide wissen, dass es nicht einfach nur ums Übernachten geht. Also, ich weiß nicht hundertprozentig, ob ihm das klar ist, mir ist es das allerdings. Es ist doch so: Ich bin jetzt achtzehn und hatte bloß ein eigentlich vergurktes Erstes Mal mit Merle. Man sollte es also endlich hinter sich bringen, dann hat man nämlich nicht mehr den Druck, es machen zu müssen. Leslie macht es sicher gerade… nicht zum ersten Mal. Und ich hab keine Lust mehr, der kleine Schwuli zu sein, der sich aus lauter Angst vor seinem Schlägervater nicht traut. Kim ist echt süß und lieb und so, aber wie er mich manchmal ansieht… so mitleidig und verständnisvoll… das geht mir langsam auf den Sack. Ich will nicht das scheiß Opfer sein, das man mit doppelten und dreifachen Samthandschuhen anfassen muss! Und mein Vater, das alte Arschloch, kann mich mal kreuzweise!
Als Kim und ich zusammen im Bett liegen, bin ich reichlich nervös. Denn Kim hat offenbar doch keine Ahnung, dass er nicht nur hier pennen soll. Verdammt, wenn ich ihn jetzt verführen muss, obwohl er viel mehr Erfahrung mit Jungs hat als ich… na gut, ich kuschle mich erstmal an ihn, küsse seinen Hals und schiebe meine Hand vorsichtig unter sein T-Shirt.
Kim seufzt leise, es scheint ihm zu gefallen, aber so richtig verstanden hat er vermutlich immer noch nicht, weshalb ich etwas deutlicher werde. Ich küsse ihn und wandere mit meiner Hand tiefer. Kurz bevor es für meine Hand interessant wird, unterbricht Kim den Kuss und schiebt mich ein Stück weg.
„Jo-jo… wir müssen nicht… ich meine, ich kann echt warten.“
„Ich nicht“, antworte ich und lasse meine Fingernägel sanft über seinen nackten Bauch gleiten.
Kims Kopf fällt aufs Kissen.
„Ich eigentlich auch nicht, wenn du so weiter machst“, stöhnt er, zieht mich in seine Arme, küsst mich und… übernimmt anschließend ein bisschen die Führung.
Blöderweise fällt mir mittendrin ein, dass ich gar keine Kondome hab, und ich muss doch tatsächlich, vor Peinlichkeit fast sterbend, an Leslies Tür klopfen. Spontan ist halt manchmal nicht so eine ganz gute Idee. Er gibt mir gleich noch ein Gleitgel und ein paar Ratschläge mit… dass ich mich entspannen soll, wenn Kim… du großer Gott, mein Schädel steht mittlerweile sicher in Flammen und mein Mut verpisst sich irgendwie nach Sibirien. Ich könnte Kim bestimmt sagen, dass ich’s mir anders überlegt habe. Nee, das wird jetzt durchgezogen!
Okay, wir haben es durchgezogen und in meinem Kopf herrscht das totale Durcheinander. Wenn ich drüber nachdenke, wie ich es mir vorgestellt hätte, wenn ich es mir vorher mal vorgestellt hätte, dann war es in der Realität vollkommen anders. Ich war zu blöd und hab alles falsch gemacht. Noch falscher als bei Merle. Da bin ich wenigstens im richtigen Moment… bei Kim nicht… vielleicht sollte ich Sex einfach generell lassen?!
„Jo-Jo“, wispert er mir ins Ohr und streichelt an mir rum, aber das kann ich grad gar nicht haben. Nicht, nachdem ich die Sache so vermasselt habe. „Was ist?“, fragt Kim, als ich quasi aus dem Bett flüchte.
„Ich hol was zu trinken“, murmle ich und renne in die Küche.
Wo ich erstmal einen gescheiten Herzinfarkt kriege, weil Leslie im Dustern am Tisch hockt.
„Scheiße“, japse ich, „hast du etwa drauf gelauert, dass wir fertig werden?“
„Nee, ich hatte Hunger“, erklärt er und verspeist in aller Ruhe die Reste meiner Geburtstagstorte. „Aber wo du schon da bist… wie war’s denn?“
„Du erwartest doch nicht, dass ich dir erzähle…“ Fuck, natürlich erwartet er das. Es ist Leslie.
Dass das Ganze eben erst passiert ist und ich möglicherweise Besseres zu tun hab, als ihn in sämtliche unschönen Details einzuweihen, scheint ihm nicht in den Sinn zu kommen.
„Mach, ich bin echt gespannt“, drängelt er.
„Es… war ganz okay“, versuche ich auszuweichen.
„Wie bitte?“, schnauft er genervt.
„Ja, es war toll.“
„Hä?“
„Supergeil und…“
„Was denn jetzt?“, unterbricht er mein irres Gefasel. „Ganz okay, toll oder supergeil? Mann, Jo-Jo, rede mit mir!“
„Ich bin nicht gekommen“, zische ich. „ist es das, was du wissen wolltest?“
„Wie… nicht gekommen?“, fragt er und schiebt sich eine Gabel voll Torte in den Mund.
„Was gibt’s daran nicht zu verstehen?“
„Seit wann hast du da Schwierigkeiten?“
„Woher zum Arsch soll ich das wissen? Hab ich vielleicht schon mit zwanzig Typen geschlafen?“
„Als ich dir einen geblasen habe, hattest du keine Probleme.“
Herr im Himmel, darf ich bitte zuerst ihn erschießen und danach mich selbst?!
„Das war doch was völlig anderes.“
„Ja? Hm, verstehe ich nicht.“
„Du hast mich nicht gevögelt, Idiot“, verliere ich langsam die Contenance.
Leslie knabbert nachdenklich an seiner Gabel herum.
„Warte, ich hab’s gleich“, verspricht er. „Also…äh… ach so. Kim hat aber schon dafür gesorgt, dass du abspritzen konntest, als er fertig war, oder?“
„Geht’s bitte noch ’ne Ecke ordinärer?“
„Klar“, grinst er, „krieg ich mit Leichtigkeit hin. Wieso jaulst du wie ein Kind, dem man den Lolli geklaut hat? Er ist gekommen, du bist gekommen… alle sind gekommen.“
„Ich gehe jetzt.“
„Mal ehrlich, Kleiner, das Entscheidende ist nicht wann und wie… sondern ob ihr beide Spaß dabei hattet.“
„Gute Nacht“, wünsche ich völlig geschafft, „und iss nicht den ganzen Kuchen auf.“
Kim sitzt angezogen auf dem Bett, als ich das Zimmer betrete.
„Ich wollte nicht einfach abhauen, ohne was zu sagen“, erklärt er finster und steht auf.
Cool, er hatte ja wohl keinen Spaß.
„Und mir zu sagen, dass du abhauen willst, nachdem wir zum ersten Mal Sex hatten, macht’s besser?“
„Ey, was soll ich denn denken? Wir schlafen miteinander, du sagst danach kein Wort, verpisst dich für Stunden irgendwohin… ich weiß überhaupt nicht, was los ist, Jo-Jo.“
„Das war doch nur, weil…“
„Wenn’s dir nicht gefallen hat… wenn ich was falsch gemacht habe…“
Au je, der ist ja genauso unsicher wie ich. Das ist ja unglaublich!
„Hat es. Hast du nicht“, entgegne ich schnell.
„Was dann?“
„Es war alles ein bisschen… überwältigend.“
Kim sieht aus, als würde er noch überlegen, ob er nun gehen oder bleiben soll, deshalb nehme ich ihm die Entscheidung ab, indem ich ihn umarme und ihm sage, dass er sich gefälligst wieder ausziehen soll. Danach liegen wir zusammengekuschelt unter der Decke.
„Hat’s dir gefallen“, frage ich so leise, dass ich hoffe, er hat es nicht gehört.
„Scheiße“, seufzt er, „wie könnte einem das mit dir nicht gefallen?!“
Oh… okay, das beruhigt mich. Und zwar so sehr, dass mir total kribblig wird.
„Dann können wir das… irgendwann noch mal…“
„So oft du willst“, lächelt er unwiderstehlich.
„Ja… die Frage ist nur, ob… du auch so oft kannst, wie ich will“, grinse ich.
Ernsthaft, ich hab selbst nicht die geringste Ahnung, wo das plötzlich herkommt, was ich hier gerade so raushaue. Kim stiert mich einen Moment an, dann schüttelt er den Kopf.
„Du bist eindeutig zu viel mit Leslie zusammen. Bringt er dir so was bei?“
„Nee, das hab ich mir ganz allein ausgedacht.“
Plötzlich wirbelt er mich herum, sodass ich auf dem Rücken liege, und drückt meine Handgelenke fest auf die Matratze.
„Ich hoffe, du kannst mit der Antwort umgehen, Schätzchen“, wispert er und küsst mich.
Nachwort
Verwendeter Songtext:
Abstürzende Brieftauben
Stefan
(Bogumil)
Oton Musikverlag
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