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Exsanguis
Teil 2
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Informationen
- Story: Exsanguis
- Autor: Chelsea
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Fantasy und Mystery
Inhaltsverzeichnis
- Sascha >> [jetzt]
- Vico >> [jetzt]
- Sascha >> [jetzt]
- Vico >> [jetzt]
- Sascha >> [jetzt]
- Vico >> [jetzt]
Sascha >> [jetzt]
„Hey, warte mal kurz“, flüstert Nele verschwörerisch und zieht mich ein Stück von Vico, mit dem ich eben das runtergekommene Wohnhaus betreten habe, weg. Vico zuckt mit den Schultern und geht weiter. „Ich hab das mit den anderen schon besprochen“, sagt sie.
Ich blicke sie etwas ratlos an.
„Na ja, das mit … deinem kleinen Problem, und dass du da nicht gern drüber redest. Für die anderen ist es okay.“
„Kleines Problem?“, frage ich.
„Ja.“
„Du meinst meine Potenzstörung?“, scherze ich nicht besonders originell.
Nele lacht auf.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass du auf dem Gebiet Schwierigkeiten hast. Nein, ich meine, das mit deinem Blut.“
„Ach so.“
„Die anderen werden das nicht ansprechen.“
„Cool, danke“, versuche ich erleichtert zu klingen.
„Dann mal los.“ Sie lächelt aufmunternd und öffnet die Tür zum Wohnzimmer.
Viel gibts hier nicht. Einen Tisch, ein paar Sessel, eine abgewetzte Couch und einen dunkelbraunen Vitrinenschrank, bei dem eine Tür nicht mehr richtig schließt. Um ein nettes Ambiente zu schaffen, wurden Kerzen angezündet … champagnerfarbene Altarkerzen, schwarze Leuchterkerzen und auf der mit schwarzem Samtstoff versehenen Kommode stehen rote Grablichter aufgereiht. Dazwischen qualmen auf einem Teelichtgestänge ein paar bunte Brocken Weihrauch. Vico steht etwas abseits, lässig an die Wand gelehnt, und hat die Spinner somit gut im Blick. Julia ist da, Vicos blonder Knutschkumpan Levin, die Pentagramm-Tussi, ein großer Typ mit Snakebites in der Visage, den Nele als Timo vorstellt und ein Kerl mit dunklem Pferdeschwanz und ausrasierten Seiten, der Stefan heißt. Alle schauen irgendwie sehr ernst und wichtig aus der Wäsche. Alle … außer Vico.
„Ich bin dagegen“, erklärt die Pentagramm-Tussi, die sich gerne Janis nennt, wie Nele mir in der Bar mitteilte, ungefragt. „Wenn hier jetzt einfach so jeder irgendwen mitbringen kann“, sie starrt finster in Vicos Richtung, „können wir uns auch gleich ein anderes Hobby zulegen.“
Vico lächelt geringschätzig. Also, die große Liebe herrscht zwischen den beiden schon mal nicht, so viel ist sicher.
„Sascha ist ja nicht irgendwer“, meint Nele mich verteidigen zu müssen, was ich sehr süß finde. „Außerdem haben wir das besprochen und entschieden.“
„Ihr“, widerspricht Janis, „habt das entschieden.“
„Du wurdest überstimmt“, antwortet Nele. „Es ist alles korrekt abgelaufen.“
„Genau“, sagt Stefan, „fangen wir also an.“
Er geht zum Schrank und stellt anschließend einen altertümlich wirkenden silbernen Kelch, auf dessen vorderer Seite sich ein spitz zulaufendes Ankh abhebt, neben die geöffnete Weinflasche auf den ebenfalls mit schwarzem Samt bedeckten Tisch. Des Weiteren steht an zwei Tischkanten jeweils schräg ein Leuchter mit drei brennenden Kerzen. Und neben dem Kelch liegt ein kleiner, silberner Dolch. Ach du lieber Himmel! Ein Blick in Vicos Gesicht reicht aus, um zu wissen, dass ihm das hier mindestens ebenso bescheuert vorkommt wie mir gerade. Dann geht der Spaß endlich los. Stefan ist der Erste, der sich mit dem Dolch ein wenig in die Haut ritzt und zwei, drei Tropfen Blut aus der Wunde in den Kelch quetscht, danach sind die übrigen Spinner dran. Sofort steigt mir der verlockende Duft in die Nase und mein Herz beginnt schneller zu klopfen. Bei jedem Schnitt, bei jedem kleinen Blutstropfen wird es schwieriger, ruhig zu bleiben. Vico schließt für einen kurzen Moment die Augen und dreht leicht seinen Kopf zur Seite. Klar, für ihn muss das gerade genauso unangenehm sein. Leider macht Stefan danach etwas sehr Abartiges … er kippt Wein in den Kelch! Na ja, Spinner eben. Man kann vermutlich schon froh sein, dass die nicht noch in einen gemurmelten Sprechgesang verfallen oder irgendwelche Beschwörungsformeln aufsagen. Ich hätte auch keinerlei Erklärung für meinen gigantomanischen Lachanfall parat. Echt, das hier ist … meine Güte, ein Kelch mit Blut und Wein auf einem zurechtgemachten Altar und ein ritueller Aufnahmedolch, Vico hatte recht, man muss es erlebt haben!
Mit fast schon feierlicher Miene, die mich innerlich zum Kaputtlachen reizt, reicht Stefan mir das Mixgetränk.
„Auf dein Wohl“, sagt er andächtig.
Ich nehme einen Schluck und bin sogleich ein bisschen berauscht. Die anderen, die nach mir trinken, tun wenigstens so. Alle … außer Vico. Das ist irgendwie sehr aufregend, dass es hier noch jemanden gibt, dem es so geht wie mir. Der in diesem Moment die gleichen Empfindungen hat wie ich. Ganz in echt und ohne Spinnerei. Seine blauen Augen sehen mich aufmerksam an, ein kaum wahrnehmbares Lächeln erscheint auf seinem Gesicht, wissend … und verdammt sexy. Der Drang, ihn zu berühren, war noch nie so heftig. Wobei es eigentlich mehr der Drang ist, ihm die Klamotten vom Leib zu reißen und wilde Sachen mit ihm anzustellen. Das machen sicher die verschiedenen Blutsorten, überlege ich. Und ein bisschen doch auch Vico.
„Willkommen“, reißt mich Stefans Stimme aus meinen Gedanken, wofür ich ihm gut aufs Maul hauen könnte, „in unserem Zirkel, Sascha. Willkommen in unserer Familie.“
„Cool“, sage ich, weil ich nicht weiß, was man sonst auf so was Blödes nach so einer blöden Spinnerzeremonie antworten sollte.
Nele legt ihren Arm um meine Schulter und küsst mich glücklich auf die Wange. Ich bin immer noch mit Vicos Blick beschäftigt. Und dem Geschmack des Blutes in meinem Mund.
„Ja“, mischt sich Fräulein Pentagramm ein, „hoffentlich kommen nicht noch mehr Freunde und Mitbewohner, dann sind wir bald ein eingetragener Verein.“
„Ist doch nicht schlecht“, ergreift Levin das Wort und grinst, „dann könnten wir von den Mitgliedsbeiträgen wenigstens ein bisschen mehr Miete für all das hier zahlen. Oder mal einen schönen Ausflug machen.“
Oder ein schöneres Tattoo für Janis kaufen!
Die Spinnergesellschaft zerstreut sich langsam, nachdem sie fachmännisch ihre Schnitte versorgt hat. Janis und Timo verziehen sich nach irgendwohin, Stefan wischt seinen Kelch aus und stellt ihn in den Schrank zurück.
„Nimm das nicht persönlich“, rät mir Julia, „Janis ist von Natur aus anfangs etwas schwierig. Muss man so hinnehmen.“
„Ich werds überleben“, lächle ich.
„Das ist die richtige Einstellung“, findet Levin. Seine verstrubbelten, sehr hellen Haare umrahmen ein wirklich hübsches Gesicht mit großen blauen Augen und einem niedlichen Schmollmund, der total nach Küssen aussieht. „Tja, da du jetzt zur Familie gehörst, fühl dich ganz wie zu Hause.“
Verdammt, ich hab Vico aus den Augen verloren. Und Nele lächelt mich flirtig an. Vielleicht sollte ich ihr sehr bald sagen, was Sache ist. Zuerst muss ich jedoch mit meinen neuen Freunden smalltalken, das gebietet der Anstand. Ich unterhalte mich eine Weile mit Stefan, der ohne seinen Kelch völlig normal wirkt. Zweiunddreißig ist er und Übersetzer von Beruf, arbeitet aber zurzeit als Lektor bei einem kleinen Verlag. Janis war vor ihrer Piercerinnentätigkeit, und wahrscheinlich auch vor ihrem Pentagramm am Hals, Arzthelferin. Was Nele studiert, hab ich vergessen. Ist ja auch egal. Schließlich kommt es hier hauptsächlich auf die gemeinsame Andersartigkeit an.
Okay, genug Interesse geheuchelt. Ich will wissen, was Vico treibt. Mit Julia oder Levin schon mal nichts, die unterhalten sich nämlich gerade angeregt. Nele ist irgendwie abgelenkt, ein günstiger Zeitpunkt, um mich vom Acker zu machen. Ich werfe einen Blick in die Küche, wo Janis mit Timo knutscht, dann gehe ich nach oben.
Im letzten Zimmer auf dem Flur finde ich Vico allein mit einer Flasche Jack Daniel’s auf dem Bett sitzend, seine Beine dekorativ ausgestreckt. Ohne großartig nachzudenken werfe ich mich neben ihn. Wortlos reicht er mir die Flasche.
„Der Kelch war etwas drüber, aber ansonsten … klasse Angelegenheit“, behaupte ich grinsend.
„Ich habs dir gesagt“, sagt er, nimmt die Flasche wieder an sich und trinkt einen beachtlichen Schluck.
„Vom Saufen wirds auch nicht besser.“
„Besser nicht“, entgegnet er achselzuckend, „aber erträglicher.“
Ich glaube kaum, dass er die Spinner unten meint. Irgendetwas muss ihm zu schaffen machen, etwas Schlimmes, was er vergessen oder verdrängen will. Ich hab letztens gesehen, dass er immer noch Diazepam nimmt, dabei ist er momentan wohl alles andere als auf Entzug. Alk und Benzos … die perfekte Mischung, um das Hirn für eine Weile lahmzulegen. Plötzlich fällt mir unser Gespräch in der Küche ein. Also weniger das Gespräch, sondern mehr sein Finger, der mein Bein entlangwanderte. Das war bloß eine total beiläufige Berührung, die ihm vermutlich gar nicht mal richtig aufgefallen ist, aber, ey … ich hab innerlich lichterloh gebrannt! Und jetzt, sein Geruch, seine Finger, die den Flaschenhals umklammern, seine Augen, die halb geschlossen sind, während sein Kopf an der Wand lehnt … und das Blut der Spinner in meinem Körper. Erneut drückt mir Vico die Flasche in die Hand.
„Willst du mich unbedingt besoffen machen?“, frage ich.
„Nein“, antwortet er, „nur höflich sein und teilen.“
„Ich hab eine Idee“, behaupte ich und hab auf einmal tatsächlich eine Idee, die mich regelrecht gefangen nimmt. Beim ersten Mal gings ja doch eher darum, ihm aus einer Art Notlage zu helfen. Heute gehts ausschließlich um den Spaßfaktor. Dazu kann er unmöglich nein sagen. Hoffe ich.
Vico schaut mich an. Halb betrunken, halb interessiert. Ich nehme meinen Ring aus der Hosentasche, setze ihn auf meinen Finger und mich rittlings auf Vicos Oberschenkel. Vico hebt fragend eine Braue, sagt aber nichts. Dann schiebe ich den Ärmel meines Strickpullovers nach oben und streiche langsam über die Innenseite meines Unterarms. Vico schluckt angestrengt, als sich die silberne Ringspitze in mein Fleisch bohrt, trinkt einen letzten Schluck Whiskey und stellt endlich die Flasche weg. Ein dunkelroter Tropfen quillt aus der Wunde, danach ein weiterer, ich spüre, wie mir eine feuchtwarme Linie über den Arm läuft. Vicos Finger umfassen mein Handgelenk, ganz weich und vorsichtig, er seufzt leise, als seine Zunge über meinen Arm gleitet und er gleich darauf an dem kleinen Schnitt saugt. Mmhhh … das beamt mich ziemlich weg. Und ich möchte mal sagen: Das verstehe ich unter einem geilen Trip!
Nach einer gefühlten Ewigkeit lässt Vico meinen Arm los.
„Verdammt“, murmelt er sichtlich in Anspruch genommen, „jetzt schulde ich dir noch was.“
„Das war der Plan.“
Langsam öffnet er die Augen.
„Du hattest einen Plan für mich?“
„Nicht wirklich“, lache ich, „aber es klang ganz cool, oder?“
Anstatt zu antworten, greift er nach der Whiskeyflasche und fährt mit dem Zeigefinger über meinen Ring.
„Hübsches Teil“, bemerkt er, „und so praktisch. Ich nehme an, dass ich mich heute revanchieren darf?“
„Was bringt dich auf den Gedanken?“
„Die Tatsache, dass du immer noch auf meinem Schoß sitzt“, grinst er.
„Oh … soll ich vielleicht …“
„Nein“, sagt er leise und legt seine Hand auf meinen Schenkel.
Langsam schiebe ich sein Shirt ein Stück nach oben und bewege die Finger träge über seinen Bauch, bevor ich den Ring seitlich unterhalb seines Rippenbogens ansetze. Vico atmet geräuschvoll ein, nimmt noch einen Schluck Jack Daniel’s und atmet aus, als ich das scharfe Metall in seine Haut drücke. Seine Augen schließen sich, meine Lippen legen sich auf die Wunde. Zuerst ertaste ich mit der Zunge vorsichtig den Schnitt, aber sein Blut ist zu warm, zu süß und zu reichhaltig … ich sauge fester und spüre seine Finger, die durch meine Haare gleiten.
Vico << [zweieinhalb Jahre zuvor]
Im Nachhinein ist es schon sehr erstaunlich, wie schnell man sich gewöhnt. Wahrscheinlich ist das notwendig, notwendig und gesund, wo käme man hin, wenn man sich jeden Tag aufs Neue darüber wundern würde, dass die Sonne aufgeht oder dass es regnet oder dass man das Glück hat, in einer Zeit zu leben, die bereits das Wasserklosett und den elektrischen Strom kennt. Ohne Gewöhnungseffekt würde man das alles für ziemlich denkwürdige Angelegenheiten halten und käme vor lauter Staunen vermutlich zu nichts anderem mehr.
Insofern war es sicher nicht das Schlechteste, dass ich nach einer wirklich finsteren Phase recht bald wieder einen Alltag hatte, der sich nicht so sehr von meinem alten Leben unterschied, wie man meinen könnte. Ich arbeitete vorwiegend nachts, was ich vorher auch schon häufig getan hatte, traf gelegentlich Bekannte, denen nichts weiter aufzufallen schien, und am Wochenende ging ich auch mal aus. Die Narbe am Handgelenk ließ sich leicht mit einem breiten Lederarmband verdecken und ich konnte schneller wieder richtig laufen, als ich erwartet hatte.
Ich war insgesamt sehr damit beschäftigt, nicht nachzudenken. Insbesondere nicht, wenn ich zu Valeri musste. Etwa zweimal die Woche wurde ich dorthin beordert und ich ging nicht davon aus, dass ich die Wahl hatte, aufzutauchen oder nicht. Und es gab noch ein zweites Problem: Ich hatte keine Ahnung, wie ich die Sache mit dem Blut allein hätte bewerkstelligen sollen. Gar keine. Alle paar Monate hätte man sich vielleicht etwas einfallen lassen können, aber doch nicht alle paar Tage. Ich hatte ja nun schon einiges durch, was man sich wohl besser gespart hätte, aber nichts vergleichbar Aberwitziges.
Ich fuhr also hin, weil es in doppelter Hinsicht nötig war und dachte nicht nach. Ich dachte nicht an den Keller und nicht an Wasjas Messer, nicht an die Angst und die Schmerzen und das Gefühl, in der Hölle gelandet zu sein, für immer und zwar durchaus nicht ganz zu Unrecht. Ohne das lästige Nachdenken war ich imstande, kleinere, halblegale Aufgaben für Valeri zu erledigen und im Gegenzug von der komplizierten Blutbeschaffung befreit zu werden, Valeri und seine Leute hatten da so ihre Methoden. Mir war alles recht, solange ich mich nicht selbst darum kümmern musste.
Und es hatte ja nicht nur Nachteile: Es gab auch ein paar Dinge, die nicht verkehrt waren. Nicht, dass ich auf einmal spazierenfliegen konnte oder übersinnlich in der Sonne geglitzert hätte, so viel Humor hat die Natur dann offenbar doch nicht und mit Sonne war ja sowieso nichts mehr. Aber es machten sich Veränderungen bemerkbar, die ein bisschen dafür entschädigten, dass man am Tag nicht rausgehen konnte.
Da war einmal die Sache mit den Verträglichkeiten und Unverträglichkeiten. Auf Grippemittel konnte ich verzichten, das war kein großes Problem, manches andere gestaltete sich dagegen eher unangenehm. Wenn man zum Beispiel in einen Apfel biss und feststellte, dass man in der Zwischenzeit offenbar eine Art Allergie entwickelt hatte und Lippe und Zunge lange nicht aufhören wollten zu brennen. Solche Kleinigkeiten fielen bei jedem anders aus, erklärte Marie, im Gegensatz zur Wirkung von Medikamenten, die bei allen ähnlich war.
Ziemlich gut traf es uns im Hinblick auf Psychopillen und Drogen, heftigere Nebenwirkungen blieben oft aus. Das musste natürlich getestet werden, und ich testete es besonders gern, wenn ich zu Valeri musste, weil es half, das Denken abzuschalten, und ich lernte rasch, was gut und was weniger gut funktionierte. Ich mochte alles, was entspannte und gegen das viele Fürchten half, das mochte ich eindeutig zu sehr, in geringeren Mengen hatte ich es schon früher gemocht, aber hey, jeder hat ja so seine Schwächen.
Wirklich angenehm war die Verbesserung des Allgemeinzustands, die mir erst nach und nach auffiel. Wenn man sich verletzte, heilten Wunden auf einmal schneller, alle Sinne schienen geschärft und die körperliche Leistungsfähigkeit stieg. Und: Man bekam keine ansteckenden Krankheiten, zumindest keine ernsten, höchstens mal eine Erkältung. Hepatitis, HIV, der ganze Scheiß – man steckte sich nicht an. So weit, so überaus gut.
Zu den Nachteilen zählte jedoch noch eine gravierende Sache: Der neue Zustand machte unfruchtbar, Frauen wie Männer. Eine Erklärung für all das hatten sie nicht. Marie sagte, es gäbe bisher nicht mehr als ein paar Vermutungen und Theorien über die besondere Qualität unseres Blutes. Allerdings: Unsterblichkeit Fehlanzeige. Na ja, wär ja auch zu schön gewesen. Es ließe sich jedoch ein eindeutiger Anti-Aging-Effekt verzeichnen, worüber ich lachen musste.
So verliefen meine Tage beziehungsweise Nächte bestimmt ein halbes Jahr lang. Meine kleine Homeoffice-IT-Firma sicherte mal besser, mal schlechter meinen Lebensunterhalt, ich sah relativ viel fern und Valeri half ich, angetrunken und sediert, bei seinen Betrügereien und zwar überraschend effizient. Ich hatte den Weg des geringsten Widerstandes gewählt, aus Bequemlichkeit oder Überlebenswillen oder einer Mischung aus beidem. Tatsache ist jedenfalls, dass man dafür immer einen Preis zahlt und den zahle ich noch heute.
Die Entscheidung, etwas zu ändern, fiel, als Valeri eine neue Aufgabe für mich hatte.
„Es reicht, wenn er sich merkt, dass man uns nicht hintergeht“, erklärte er, als wir die Treppe hinunterstiegen. Mir war mehr als mulmig dabei und obwohl in meinen Adern ein umfänglicher Mix aus den Hervorbringungen der Pharmaindustrie zirkulierte, spürte ich, wie sich mein Puls beschleunigte.
„Ich denke“, fügte Valeri hinzu und lächelte mich an, „du weißt, wie man das macht.“
Ich dachte, dass sich der Mensch auf der anderen Seite der Tür, was immer er sich hatte zuschulden kommen lassen, nach ein paar Stunden im Keller wohl schon gemerkt haben würde, dass man uns nicht hinterging, sagte aber nichts.
„Man darf ruhig etwas sehen“, konkretisierte Valeri seinen Auftrag, „ein paar Kratzer schaden nicht.“
Ich sagte immer noch nichts, aber das war auch gar nicht notwendig, Valeri wusste sehr wohl, dass er auf mich zählen konnte.
Er schloss die Tür auf und betätigte den Lichtschalter. Sofort erleuchtete die Glühbirne die ehemalige Waschküche, wie damals. Auf dem Boden kauerte gegen die Wand gelehnt ein Mann, der uns mit schreckgeweiteten Augen entgegensah.
„Hier“, sagte Valeri und gab mir den Schlüssel. Ich wusste einen Moment lang nichts damit anzufangen, dann steckte ich ihn in die Tasche. „Auf dem Tisch liegt Werkzeug“, fügte er hinzu und ging.
Mit meinem vernebelten Verstand sah ich mich etwas träge um, das war nicht gut. Ich erinnerte mich, ich erinnerte mich sehr genau.
Der Mann blickte mich an, jetzt erst erkannte ich, dass er sich nicht rühren konnte, weil seine Handgelenke mit Kabelbindern an zwei rostigen Ringen an der Wand festgebunden waren. Ganz kurz musste ich an schlechte Filme denken, davon hatte ich eine Menge gesehen in der letzten Zeit, Horrorfilme, Krimis und idiotische SM-Filme, aber das hier war mal wieder kein Film und Valeri meinte es ernst, das tat er immer.
Ich hatte keine Idee, was der Mann getan haben mochte und ich wollte auch nicht fragen. Was hätte das für eine Unterhaltung werden sollen, also echt. Ich trat einen Schritt näher, ohne Werkzeug, was soll ich mit dem Werkzeug, dachte ich in etwa, ich bin doch kein, was weiß ich, kein irrer Serienkiller.
Der Mann trug einen kurzen, rotblonden Vollbart und atmete flach. Genau wie ich damals, bloß mit dem Unterschied, dass ich gar nicht speziell hatte bestraft werden sollen, mich hatten sie für nützlich gehalten, ihn hier wohl eher nicht.
Ich wusste nicht genau, was Valeri sich unter ein paar Kratzern vorstellte, wahrscheinlich war es egal, etwas sehen sollte man, er sollte sich etwas merken, das reichte. Auf keinen Fall wollte ich es mit Blut zu tun bekommen, ich hatte die Sache mit dem Blut noch nicht so im Griff, es machte mich nervös und Valeri hatte nichts davon gesagt, dass ich den Mann als Büfett verstehen sollte.
Also ging ich vor ihm in die Hocke und dachte nach, was mir nicht sehr gut gelang, ich war aber auch wirklich am falschen Ort, hier wollte ich nicht sein, das machte es alles nicht besser. Am besten brachte ich die Sache so schnell wie möglich hinter mich.
Die Lippen des Mannes zuckten, auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen. Ich stand wieder auf, atmete einmal tief durch, griff nach seinem fixierten Handgelenk, platzierte die andere Hand unterhalb seines Ellbogens, woraufhin er sich schwach wehrte und einen kläglichen Laut ausstieß, sammelte mich kurz und brach ihm den Unterarm.
Dass mir in manchen Situationen etwas fehlt, eine Art Widerstand, den man erst überwinden muss, bevor man jemandem wehtut, hatte ich spätestens bemerkt, als ich siebzehn war. Es war um nichts Besonderes gegangen, zuvor hatte es mal eine Auseinandersetzung gegeben zwischen mir und dem anderen, nichts Dramatisches, eher ärgerlich. Und dass es mir überhaupt nichts ausmachen würde, wirklich ernsthaft zuzuschlagen, damit hatte ich nicht gerechnet, ich hatte überhaupt nicht darüber nachgedacht, es war mir ganz folgerichtig erschienen, ich fühlte mich im Recht und wollte gern etwas ausrichten, was dann ziemlich gut geklappt hatte. Es folgte ein Disziplinarverfahren und ich wechselte die Schule.
Seitdem fürchte ich mich manchmal davor, dass ich zu weit gehen könnte, komplett zu weit, das wäre dann nichts, was man noch unter Kontrolle hätte, das wäre einmal mehr das Ende von allem, das ich sowieso ständig in der ein oder anderen Form erwarte.
Nur wenig später bin ich dann weggegangen und zwar ganz weg, endlich. Ich hatte mit Marie darüber gesprochen, was vielleicht ein bisschen blauäugig gewesen war, aber sie hat mich nicht verraten. Ich zog hierher und litt noch eine ganze Weile unter der Angst, dass sie nach mir suchen würden, doch das schienen sie nicht zu tun. Lange Zeit wunderte ich mich darüber, bis ich einsah, dass es eigentlich logisch war. Ich meine, was hätten sie zu befürchten gehabt? Und wenn sie einen Hacker brauchten, würde sich schon jemand anderes finden.
Vico >> [jetzt]
„Okay“, sage ich und bin zugegebenermaßen überrascht, „damit erübrigt sich dann wohl die Frage, was du beruflich machst.“
„Hm“, macht Sascha und kratzt sich am Kinn, „stimmt wohl.“
Interessiert betrachte ich die säuberlich geordneten Tütchen, Päckchen und Schachteln. Ein Eldorado, zumindest für Freunde der verbotenen oder verschreibungspflichtigen Genussmittel.
„Julia hat eine Schmuckschublade“, bemerke ich, „die weniger aufgeräumt ist.“
Sascha zuckt die Schultern.
„Ich suche eben nicht gerne was“, erläutert er.
Er scheint sich insgesamt mit der Materie gut auszukennen, denn auf der Kommode mit der bewussten Schublade und im Regal daneben stapeln sich medizinische Fachbücher, insbesondere zum Thema Arzneimittelkunde.
„Ich muss zugeben“, gestehe ich, „ich bin überrascht. Aber gut zu wissen“, füge ich hinzu und grinse schief.
„Na ja“, relativiert Sascha, „Drogen werden ziemlich überbewertet, so insgesamt, mein ich.“
„Mein ich auch.“ Ich grinse immer noch. „Also, zumindest in der Theorie meine ich das.“
Sascha greift zielsicher in seine Bestände und reicht mir eine Schachtel.
„Danke“, sage ich und schüttle den Kopf, immer noch verwundert, „und ich dachte, du wärst einfach nur gut auf Notfälle vorbereitet.“
„Man kann beides miteinander kombinieren“, grinst er zurück und streicht sich gedankenverloren durch die Haare.
Ganz so drüber sind die lila Strähnen eigentlich gar nicht, stelle ich fest. Schon wieder muss ich an die Idee denken, die er am Abend des schlimmen Aufnahmerituals hatte, das ist mir mittlerweile häufiger passiert, eine gute Idee war das, eine sehr gute. So eine Gemeinsamkeit hat schon was für sich, überlege ich und der Kram mit dem Kajal und dem Stachelhalsband ist schon ganz in Ordnung.
„Aber mal im Ernst“, kommt er auf die Angelegenheit zurück, wegen der wir überhaupt hier in der Landschaft herumstehen, „ob das so eine gute Sache ist mit dem Alk und so …“
„Alles eine Frage der Übung“, erkläre ich und verziehe das Gesicht, „aber ich nehme mir immer vor, das mal zu reduzieren. Hab ich übrigens schon“, füge ich hinzu, „im Vergleich zu früher, Schwester Sascha.“
„Versteh mich nicht falsch“, erwidert er und hebt eine Braue, „das ist deine Sache, okay? Es wäre bloß cool, wenn du auf längere Sicht keine allzu große Risikofreude an den Tag legen würdest, das fänd ich nämlich etwas anstrengend.“
Ich habe nicht vor, mir die gute Laune verderben zu lassen, schließlich sind heute noch keinerlei Katastrophen passiert, ich werde die ganze Nacht über keinen Fuß vor die Tür setzen, sondern ein paar liegengebliebene Arbeiten erledigen, mal ein bisschen die Ruhe genießen und vorher mit Sascha Pizza essen, wie in einer extrem durchschnittlichen WG.
Soweit der Plan.
„Schon klar, keine Selbstmordversuche zu Hause und so weiter, ich erinnere mich“, versichere ich, „übrigens bin ich kein bisschen risikofreudig.“
„Dann ist ja gut“, gibt er zurück.
„Und“, komme ich immer noch nicht drüber hinweg, „du bist dann hier in der Gegend unterwegs und vertickst das ganze Zeug …?“
„Nicht unbedingt nur hier in der Gegend“, antwortet er vage und schließt die Schublade.
Seine Silbergürtel klirren leise, als er sich wieder aufrichtet. Es sieht gut aus, bemerke ich, wie er das macht, er hat da diese spezielle Art, sich zu bewegen, sehr lässig und sehr selbstverständlich.
„Was kriegst du von mir?“, frage ich.
„Ach“, sagt er, „schon okay.“
„Ah“, sage ich, „verstehe, du hast gern was gut bei mir.“
„Man weiß ja nie, wozu es mal nützlich ist“, lacht er.
„Aber …“, beginne ich noch einmal, die Schublade lässt mir einfach keine Ruhe, „du bist schon vorsichtig, oder? Ich meine, wenn das mal irgendwie …“ Vielsagend deute ich auf die Kommode.
„Nee“, er verdreht die Augen, „das ist immer das Erste, was ich den Leuten zeige. Die ich hier ständig zu Besuch habe.“
„Ich bin sowieso gegen Besuch“, sage ich.
„Mit wenigen Ausnahmen“, schränkt Sascha ein.
„Einer“, konkretisiere ich, „mit einer Ausnahme. Was ist das eigentlich?“
Ich hebe die Hand und berühre ganz leicht mit dem Finger die Narbe knapp über seiner linken Braue. Sie ist mir schon vorher aufgefallen, aber ich habe es bisher versäumt, danach zu fragen.
Er blickt irritiert auf, dann schüttelt er den Kopf.
„Nichts Besonderes“, weicht er aus.
„Sag doch mal“, versuche ich es erneut, „wir wollten das doch lassen mit der Geheimniskrämerei.“
„Du wolltest das lassen“, berichtigt er.
„Du auch“, fällt mir ein etwas listiges Argument ein, „sonst hätte ich doch garantiert nicht die Schublade gesehen?“
Er lacht und wirkt ein bisschen verlegen dabei. Dann reckt er sich sinnloserweise, wobei sein Pullover ein Stück nach oben rutscht und einen Streifen heller Haut freigibt. Der ganze Sascha riecht schwach nach Vanille, es ist zum Verrücktwerden. Ich denke an sein Gewicht auf mir und an seinen hübschen Ring und was man damit so alles anstellen kann. Das war eine wirklich gute Idee, die er da hatte, er weiß Bescheid, denke ich, er weiß, was zu tun und zu lassen ist. Er weiß das wirklich gut.
„Das ist lange her“, stellt er fest, „und nicht so sonderlich unterhaltsam.“
„Aha“, nicke ich, „dann sag es mir besser nicht, ich bin ja eher so der lockere Typ, der am liebsten mit andern Stimmungskanonen ständig Witze macht, du weißt schon.“
Sascha lacht wieder, leiser diesmal und beißt sich dabei auf die Unterlippe.
„Tja“, entgegnet er endlich mit belegter Stimme und räuspert sich, „das war mein Vater.“
Ich sehe ihn an und höre zu.
„Tja“, wiederholt er und schiebt die Hände in die Hosentaschen, „ist jetzt keine sehr aufregende Geschichte.“
„Na ja“, wende ich ein, „wahrscheinlich aufregend genug.“
Er hebt die Schultern und nickt gleichzeitig.
„Ja, wahrscheinlich. Ist jedenfalls schon eine Weile her“, wiederholt er.
Ich berühre noch einmal ganz leicht die blasse Narbe und schaue ihn weiter an, ich kann gar nicht wegsehen. Eigentlich, denke ich, würde ich ihn jetzt gern mal küssen, auf den Mund, nur ganz kurz, nur um mal zu sehen, wie das so ist und weil er mir gerade zum ersten Mal etwas anvertraut hat und weil er so gut Bescheid weiß über alles, was wichtig ist und das tue ich dann auch und zwar ganz behutsam.
Er leckt sich ungläubig über die Lippen, als wollte er überprüfen, ob sie noch an ihrem Platz sind.
„Das ist übrigens gut“, erkläre ich und meine es so, „wenn man nicht der Einzige ist, den es nervös macht, wenn sie alle an sich herumschneiden. Das ist schon ganz gut.“
Und dann klingelt es.
„Die Pizza“, stöhnt er etwas heiser.
Keine zwei Sekunden später meldet sich auch noch mein Handy. Na, super.
„Ich geh schon“, sagt Sascha.
„Vico?“, fragt Julia, „stör ich?“
„Nein“, behaupte ich, bin mir aber nicht sicher, ob das stimmt.
„Ich …“, beginnt sie und spricht dann nicht weiter.
Sofort kehrt das ungute Gefühl zurück, das mich seit ein paar Tagen immer wieder ärgert.
„Was ist los?“, frage ich, „ist was passiert?“
Ich höre Sascha an der Tür mit dem Pizzaboten sprechen.
„Nein, nein“, widerspricht Julia eilig, „ich wollte nur fragen, ob …“, sie macht wieder eine Pause, „ob ich bei dir schlafen kann? Heute?“
Ach, verdammt, denke ich.
„Kein Problem“, antworte ich, dabei ist es eins, es ist tatsächlich eins, ich hatte mir die Nacht anders vorgestellt, aber abschlagen kann ich ihr den Wunsch nicht, weil es eben Julia ist und weil man ein bisschen auf sie aufpassen muss, ob ich dafür nun die geeignete Besetzung bin oder nicht, „soll ich dich abholen?“
„Ich bin“, sagt sie, „schon in der Nähe, Nele hat mich ein Stück mitgenommen. Ich könnte gleich da sein, wenn“, etwas rauscht, der Wind vielleicht, „das nicht stört.“
„Das stört nicht“, versichere ich, „du störst doch nicht.“
Einerseits ist das wahr, andererseits auch wieder nicht.
„Okay“, erwidert sie, es klingt erleichtert, „dann bis gleich.“
Ich gehe Richtung Küche und lehne mich gegen den Türrahmen.
„Julia kommt gleich“, informiere ich ihn.
Sascha stellt die Pizzakartons auf dem Tisch ab und sieht auf.
„So viel zum Thema Besuch“, murmelt er.
Ich gehe nicht darauf ein.
„Sie schläft hier“, ergänze ich.
Er wirft mir einen merkwürdigen Blick zu.
„Hast du nicht vor ein paar Tagen erst gesagt, dass du das gar nicht willst? Aber egal“, setzt er eilig hinzu, „ist ja deine Sache.“
„Ja“, bestätige ich, „das ist es wohl.“
Er holt Besteck aus der Schublade und legt es neben die Kartons.
„Wann hab ich das denn gesagt“, frage ich nach einer kurzen Pause, „dass ich das nicht will?“
„Ach, was weiß ich“, antwortet Sascha etwas unwirsch, „keine Ahnung. Letztens, als wir uns unten an der Haustür getroffen haben.“
Ich überlege. Stimmt, denke ich.
„Stimmt“, sage ich und mache mich auf die Suche nach gastfreundlichen Getränken. Ich finde eine Flasche mittelgünstigen Rotwein.
„Sie ist in Ordnung“, erkläre ich, „oder findest du nicht?“
Er setzt sich und stützt das Kinn in die Hände.
„Doch“, erwidert er knapp.
Ich stelle drei Gläser auf den Tisch und setze mich ebenfalls.
„Ich kann mir bloß nicht so richtig vorstellen“, fährt er doch noch fort, „was das für eine Beziehung sein soll. Aber das ist, wie gesagt, deine Sache. Oder eure.“ Es entsteht eine weitere Unterbrechung. „Für mich wär das jedenfalls nichts.“
Ich habe das schlechte Gefühl, dass es mit dem beschaulichen Abend bereits vorbei ist.
„Muss es ja auch nicht“, bleibe ich versöhnlich, lehne mich zurück und strecke die Beine aus, „ich versteh schon, dass das bei dir und deinem Ex was anderes war.“
Ich verstehe es sogar schrecklich gut, speziell seit der Nacht mit dem Aufnahmeritual.
„Wie gesagt“, nimmt Sascha den Faden wieder auf, „ist nur meine persönliche Meinung.“
„Ist ja auch okay“, sage ich, aber so ganz zufrieden bin ich nicht.
Er richtet sich ein Stück weit auf und legt die Hände vor sich auf den Tisch.
„Tut mir leid“, entschuldigt er sich, worüber ich schon wieder überrascht bin, „ist alles noch nicht so lange her. Fünf Monate inzwischen … na ja.“
„Alles okay“, bekräftige ich und dann denke ich, dass man vielleicht etwas sagen müsste. Etwas anderes. „Wegen eben“, beginne ich also und dann klingelt es wieder, heute ist mal echt der Tag des gelungenen Timings. Ich sage: „egal“, und lasse Julia rein.
Sascha will keinen Wein trinken, Julia will eigentlich keine Pizza, isst dann aber doch ein kleines Stück, an dem sie sich erschütternd lange aufhält und ich will meine Ruhe und etwas arbeiten und vielleicht noch ein bisschen nachdenken oder vielleicht auch gerade nicht nachdenken, jedenfalls würde ich gern in erster Linie das schlechte Gefühl loswerden.
Vielleicht ist es doch nicht ganz verkehrt, überlege ich, dass Julia heute hierbleibt, denn viel zu oft kann ich mir kaum vorstellen, was sie so treibt, wenn ich nicht dabei bin, außer zu zeichnen, das tut sie oft stundenlang. Sie arbeitet nicht und macht derzeit auch keine Therapie, was mir zuerst egal war, ich dachte, dass es ihre Entscheidung wäre und fertig, aber ganz sicher bin ich mir diesbezüglich schon lange nicht mehr. Offiziell studiert sie Philosophie, sie ist immer noch eingeschrieben, sonst aber nichts. Manchmal muss ich daran denken, wie ich sie kennengelernt habe und was Levin über sie gesagt hat, dass sie nämlich ziemlich extrem sei, auf ihre Art. Mir war das entgegengekommen, je bekloppter desto besser, hatte ich damals gedacht und automatisch angenommen, dass sich eine engere Bindung auf diese Weise gar nicht erst einstellen würde, was mir recht gewesen wäre. Tja, es war anders gekommen. Ich hatte Julia unterschätzt, eindeutig und zwar viel zu lange.
„Ach so“, sagt sie, schluckt ein winziges Stück Teig runter und sieht Sascha an, „ich soll dich von Nele grüßen. Sie hat mich eben ein Stück mitgenommen.“
„Ah“, sagt Sascha, steht auf, geht zum Kühlschrank und öffnet eine Flasche Bier, was wahrscheinlich kein gutes Zeichen ist und setzt sich wieder, „dann grüß sie mal zurück.“
„Ich find es gut, dass du dabei bist“, spricht Julia weiter.
Sie blickt zwischen Sascha und mir hin und her. Sascha nickt.
„Ich, ähm“, entgegnet er und lächelt etwas gezwungen, „ich … freu mich auch.“
Wir wechseln einen kurzen Blick, mir fällt auf, wie ungewohnt es ist, auf einmal ein Geheimnis zu teilen, das sonst immer nur allein meins war. Es ist eigenartig und ein bisschen beflügelnd.
„Janis wird sich schon noch einkriegen“, erwidert Julia, sie sieht müde aus und blasser noch als sonst, „und Timo wohl auch.“
„Timo?“, frage ich, „wieso?“
Sie blinzelt.
„Ach so“, sagt sie schnell, „er war auch, na ja – dagegen.“
„Aha“, sage ich.
„Das wären dann ja“, fasst Sascha zusammen, „schon zwei.“
„Aber die kriegen sich schon wieder ein“, wiederholt Julia, „wir haben das ja zusammen besprochen. Und Vico“, sie sieht mich an, mit ihrem seltsamen, immer etwas haltlos wirkenden Blick, der bewirkt, dass ich ihr nichts abschlagen kann und sie von allem, was ihr schaden könnte, fernhalten möchte, „würde ja keine Idioten mitbringen und das wissen auch eigentlich alle.“
Sascha hebt kaum merklich die Brauen.
„Man muss sich ja schon …“, sie zögert einen Moment, „vertrauen können.“
Sascha trinkt einen Schluck Bier, stützt die Ellbogen auf den Tisch und atmet vernehmlich aus.
„Dann werd ich mir mal alle Mühe geben, mich würdig zu erweisen“, erklärt er und prostet uns zu.
Das erinnert mich daran, dass unsere Gläser leer sind und ich stehe auf, um die Weinflasche zu holen. Julia lacht.
„Das dürfte nicht so schwierig sein“, findet sie.
Ich würde jetzt gern das Thema wechseln und drehe mich zu ihr um.
„Juli“, frage ich, „willst du noch was trinken?“
„Ein Glas vielleicht“, antwortet sie, legt die Stirn in Falten und reibt sich die Schläfen, „ist es okay, wenn ich dann schlafen gehe? Ich war wohl einfach zu lange wach.“
„Fühl dich ganz wie zu Hause“, sagt Sascha.
Ich sehe ihn an, aber er guckt nicht zurück.
„Ich muss noch ein bisschen was machen“, erkläre ich, „und komme dann später.“
„Ich weiß“, erwidert Julia und hebt etwas bemüht die Mundwinkel, „hoffentlich stör ich nicht.“
„Nein, Quatsch“, sage ich schnell.
Sascha umfasst die Flasche und starrt auf seine Hände.
Hier sind mehrere Dinge auf einmal schiefgelaufen, denke ich und gleich hab ich wohl genügend Zeit zu analysieren, welche.
Sascha >> [jetzt]
Ich weiß gar nicht, was mir mehr auf den Sack geht. Dass Vico mich geküsst hat oder dass seine kleine Freundin jetzt in seinem Bett liegt, zufrieden und satt … von ihrem Ministück Pizza. Man hätte es ahnen können, Mädchen wie Julia essen nicht anständig und wollen andauernd beschützt werden. Jedenfalls hatte sie die ganze Zeit so einen Blick drauf, wie ein scheues Tierchen, das man eben vor der bösen Welt beschützen will. Vielleicht sollte ich mir auch mal so einen Blick zulegen. Vielleicht küsst Vico mich dann noch mal. Vico hat mich geküsst, das hab ich mir nicht eingebildet. Wir haben geredet und er hat mich plötzlich geküsst. Ganz kurz nur und hauchzart und … dann klingelte der verdammte Pizzabote und danach kam Julia. Ich hätte auf beide total gut verzichten können. Besonders auf Julia, die so tut, als sei sie hier zu Hause. Immerhin hat sie uns gesagt, dass Timo auch gegen meine Aufnahme in den Spinnerzirkel war. Na und? Mir doch egal. Schließlich gehör ich jetzt dazu und hatte ja auch nicht unbedingt vor, mich in irgendeiner Art und Weise mit der blöden
Piercingvisage anzufreunden. Ich glaube, Nele ist sowieso noch die Normalste in der Beklopptenrunde. Okay, Stefan ohne Kelch geht ebenfalls. Levin kann ich bisher nicht einschätzen, tja und Julia … die schläft heute hier. Vermutlich sollte mir das nicht so viel ausmachen, vermutlich sollte ich mich dran gewöhnen, immerhin ist sie nun mal Vicos Freundin, was bedeutet, dass sie wohl noch öfters hier herumhängen wird. Aber gerade heute hätte sie sich ihren Besuch verkneifen können. Nach allem, was passiert ist … was sie natürlich gar nicht wissen kann. Ich tappe ja selbst total im Dunkeln, obwohl ich sehr genau weiß, was zwischen Vico und mir passiert ist. Er hat mich geküsst. Die Frage ist nur, warum zum Teufel hat er das getan? Möglicherweise ist er eben doch der Küsschen-Küsschen-Typ, auch wenn ich mir das immer noch nicht vorstellen kann. Aber irgendetwas muss er sich ja dabei gedacht haben. Man geht nicht einfach los und knutscht seinen Mitbewohner auf den Mund. Und wenn er sich nichts weiter dabei gedacht hat, soll der so was in Zukunft lassen, verdammte Scheiße. Ich bin schon verwirrt genug. Die Sache nach der völlig hirnverbrannten Aufnahmezeremonie … die hat ihm gefallen, da bin ich mir sicher. Das muss jedoch nichts heißen, dabei ging es um Blut, außerdem war er betrunken. Heute war er nüchtern und er hat mich geküsst. Ah, ich weiß jetzt, was mir auf den Sack geht. Mir andauernd über Vico Gedanken machen zu müssen!
Erst mal gehe ich in die Küche, um mir was zu trinken zu holen. Oder um nachzuschauen, ob Vico noch mit seinem Computerzeugs beschäftigt ist. Ist er nicht. Okay, ich rufe Nele an, keine Ahnung wieso.
„Hey, schön, dass du dich meldest.“
Sie scheint sich tatsächlich zu freuen.
„Wollen wir uns treffen?“, komme ich deshalb gleich zur Sache.
„Du meinst … jetzt noch?“
Haha, feiner Vampyr, der um elf im Bett liegt.
„Ja“, entgegne ich.
„Cool. Soll ich dich abholen?“
„Ja“, wiederhole ich.
Eine Weile später sitze ich in Neles Wohnzimmer auf der Couch und trinke Stracciatella-Cappuccino. Sie hat Kerzen und Räucherstäbchen angezündet, im Hintergrund läuft Death In June. Offensichtlich findet sie das romantisch. Ich hab zu Hause Bier getrunken und würde eine harmlose Knutscherei sicher irgendwie hinkriegen, aber ich mag ihr nichts vorspielen. Schließlich hat sie sich bei den Spinnern für mich eingesetzt.
„Wolltest du mich aus einem bestimmten Grund sehen?“, fragt sie.
„Einfach so“, gebe ich zurück.
„Verstehe.“
Tja, da ist sie leider die Einzige in der Runde.
„Julia ist bei Vico. Ich …“
„Du hast immer noch Liebeskummer und keine Lust auf ein Pärchen“, vermutet sie.
„So ungefähr“, seufze ich.
„Muss ja wirklich was ganz Großes gewesen sein mit deiner Ex.“
„Ja, aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, weils vorbei ist.“
„Vielleicht solltest du dich langsam nach einem anderen Mädchen umschauen“, schlägt sie lächelnd vor und greift nach meiner Hand
Au je!!
„Wenn ich mich umschaue“, beginne ich, „dann nicht nach einem Mädchen.“
Sie blickt mich an. Und lässt meine Hand los.
„Ist das ein Problem?“
„Auf dem Hof nicht“, erklärt sie, „da treibts doch eh jeder mit jedem.“
Ach so?!
„Und hier? Jetzt?“
Anstatt zu antworten angelt sie aus ihrem Päckchen Luckies eine Zigarette, zündet sie an und raucht nachdenklich.
„Ja, ist es“, sagt sie schließlich, „aber dafür kannst du nichts. Ich scheine ja wohl ein Faible für schwule Jungs zu haben. Es ist zum Totlachen, echt“, kichert sie kopfschüttelnd. „Als ich Stefan kennengelernt hab und ich aufgenommen wurde, wars genauso.“
„Stefan ist schwul?“
„Nein. Aber Levin. Auch wenn er behauptet, dass er für alles offen ist … ich hab ihn bisher noch nicht mit einem Mädchen gesehen. Jedenfalls nicht so, du verstehst?“
Ich nicke.
„Die Sache mit Vico dagegen war irgendwie mehr als eindeutig.“
Mein Herz beginnt dämlicherweise schneller zu klopfen.
„Welche Sache?“
„Na ja, Levin hat ihm einen geblasen.“
„Weiß Julia davon?“, ist alles, was mir in diesem Moment dazu einfällt.
„Ja, sicher.“
„Und es macht ihr nichts aus?“
„Eher nicht“, sagt Nele achselzuckend. „Offene Beziehung. Für mich wäre das nichts. Wenn ich mit jemandem zusammen bin, hat der gefälligst treu zu sein. Eine Information, die dich wohl nicht sonderlich interessiert“, stellt sie fest.
„Tut mir leid“, meine ich mich entschuldigen zu müssen.
„Ist okay. Ich meine, das ändert nichts zwischen uns im Zirkel.“
„Cool.“
Oh Mann, Vico hats echt mit Levin getrieben. Und er hat mich geküsst. Und er kuschelt grad mit seiner Freundin. Vico. So ein kleines Luder!
„Ich bin schon auf Samstag gespannt.“
„Hm?“
„Samstag“, wiederholt Nele, „die Party mit den Donoren.“
Was??
„Wird bestimmt gut. Endlich wieder frisches Blut.“ Ihre Augen glänzen und sie lächelt sonderbar entrückt.
Schade. Gerade wenn man glaubt, es mit einem normalen Menschen zu tun zu haben, kommt so ein Schwachsinn aus dem Mund gebrabbelt. Ist ja irgendwie niedlich, dass Nele und die anderen Spinner ihren Vampyrkram so ernst nehmen und durchziehen, aber … die würden doch sofort schreiend davonlaufen, wenn sie plötzlich so leben müssten wie Vico und ich. Das hat nämlich absolut nichts mit kitschiger Vampyrromantik zu tun. Immer aufpassen zu müssen, dass es keiner mitkriegt, nur im Dunkeln rausgehen, sich niemandem anvertrauen zu können, tatsächlich auf Blut angewiesen zu sein. Klar hat es auch manche Vorteile, die sieht man allerdings nicht mehr, sobald man auf sich allein gestellt ist. Wäre ich nicht dermaßen in Silvester verliebt gewesen, hätte ich mich anders entschieden. Silvi wusste das, deswegen hat es auch ein halbes Jahr gedauert, bis er bereit war, mir das anzutun. Und es war alles andere als sexy. Anders als in den ganzen schwülstigen Romanen und Filmen. Nachdem ich so viel Blut verloren hatte, dass ich fast krepiert wäre und Silvi mir was von seinem Blut gegeben hat, dauerte es ungefähr noch eine Woche und trotz dämpfender Medikamente hatte ich höllische Schmerzen, Fieber und hab mir die Seele aus dem Leib gekotzt. Natürlich hat Silvi mir genau erklärt, was mit mir und meinem Körper passieren würde, aber … das durchmachen zu müssen war noch mal was völlig anderes. Leider hört es danach nicht auf. Nein, man ist gezwungen, sich Blut zu beschaffen. Nicht mehrmals am Tag wie ein Junkie, der an der Nadel hängt, aber oft genug, dass es problematisch wird. Das mit den Kerlen und den Tropfen hab ich von Silvi gelernt, wobei er das immer übernommen hat, als wir noch zusammen waren. Allerdings nicht in den schmierigen Clubs, in denen ich seit unserer Trennung verkehre. Für Silvi musste es immer schick und exklusiv und teuer sein. Und muskulös. Ich hab mich oft gefragt, warum er sich ausgerechnet in mich verliebt hat?!
Als ich wieder zu Hause bin, treffe ich Vico, der eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank holt.
„Du warst noch weg?“, erkundigt er sich.
Irgendwie macht es mich auf einmal total wütend. Dass er mich geküsst hat, dass er mir nichts von Levins Blaserei erzählt hat, dass seine essgestörte Freundin immer noch da ist, dass … er immer noch so verdammt gut riecht.
„Und?“
„Nur so.“
„Ich war bei Nele“, sage ich etwas schärfer als beabsichtigt und verschränke die Arme vor der Brust.
„Aha“, sagt er.
„Das war wirklich … aufschlussreich.“
„Aha?“, fragt er.
„Samstag findet eine Spenderparty statt?“
„Ach du Scheiße!“ Er verzieht das Gesicht, als täte ihm was weh. „Das hab ich total verdrängt.“
Ich starre ihn irritiert an.
Vico überlegt kurz.
„War es schwer für dich, als Stefan seinen Kelch rumgehen ließ?“, fragt er mit gesenkter Stimme. „Dann warte mal ab.“
Mit dieser kryptischen Bemerkung lässt er mich in der Küche stehen.
Einen Abend später besuche ich Vico in seinem Zimmer. Ich finde nämlich, dass jetzt mal ein paar Dinge gesagt werden müssen.
„He, bist du grad beschäftigt?“, will ich wissen.
Vico sitzt auf seinem Bett und schraubt konzentriert an irgendeinem silbernen Teil herum.
„Das ist nur Spielerei“, behauptet er und wirft das Teil mitsamt dem Schraubendreher lässig auf den Sessel gegenüber. „Was gibts denn?“
„Ich wollte … also …“, beginne ich unkomfortabel und schaue im Zimmer umher. Seine Taschen sind inzwischen ausgepackt, auf dem Schreibtisch steht sein Notebook, daneben stapelt sich Computerkram, ich glaub Festplatten und Grafikkarten und so, sicher bin ich mir nicht, weil ich davon null Ahnung habe. Über der Sessellehne hängt sein schwarzes Halstuch. Und der ganze Raum riecht nach Vico … nach blauem Meerbadeschaum mit einem Hauch Patchouli. Plötzlich fällt mir ein, dass ich mich auch erst mal setzen könnte, also setze ich mich neben ihn. Er scheint nichts dagegen zu haben. Auf dem niedrigen Tischchen thront eine halbleere Flasche Whiskey. Meine Güte, was ist bloß los mit ihm, frage ich mich. Heute allerdings nicht ganz so dringend. Ich lehne mich zur Seite und greife über seinen Oberkörper hinweg nach der Flasche, öffne sie und nehme einen Schluck. Das Gesöff brennt wie erwartet in der Kehle, ich nehme einen zweiten Schluck, damit das Brennen nachlässt. Es funktioniert … auch wie erwartet.
„Also“, sagt Vico, „was wolltest du? Außer dich ins Delirium saufen“, grinst er und nimmt mir die Flasche aus der Hand.
„Du hast mich was gefragt, gestern, bevor du mich geküsst hast.“
Die Erinnerung daran scheint ihm unangenehm zu sein, er schließt kurz die Augen und atmet angespannt aus. Fuck, das macht er echt gut. Aber ich beschließe, alles zu ignorieren, was an ihm reizvoll ist. Jedenfalls für den Moment.
„Du wolltest darüber“, ich berühre mit dem Finger die Narbe an meiner Braue, „was wissen.“
„Okay.“
Sein Shirt ist am unteren Rand ein kleines bisschen eingerissen und ich kann gar nichts dagegen tun, dass meine Finger nervös mit dem einen Stoffende spielen. Auch das scheint ihn nicht zu stören. Er schlägt die Beine übereinander und sieht mich aufmerksam an.
„Weißt du, mein Vater“, sage ich und bin mir auf einmal gar nicht mehr sicher, ob er das tatsächlich hören will oder warum ihn ausgerechnet das interessieren sollte, „hatte immer schon einen eher kurzen Geduldsfaden, okay? Und er konnte sich oft nicht so wirklich kontrollieren. Als ich sieben oder acht war, muss ich ihn aus Versehen dermaßen genervt haben, dass …“, ich nehme die Flasche und trinke noch einen Schluck, „na ja, ich hatte danach jedenfalls einen gebrochenen Arm.“
„Scheiße“, zischt er leise.
„Und die Narbe“, rede ich weiter, „da hat er mit der Faust zugeschlagen und weil er einen Ring getragen hat, hatte ich nicht nur eine Gehirnerschütterung sondern noch die aufgeplatzte Braue, die genäht werden musste. Da war ich dreizehn. Logischerweise bin ich offiziell irgendwo gegen gelaufen oder hingefallen. Verstehst du? Dass ich nicht so viel über mich erzähle, hat gar nichts mit Geheimniskrämerei zu tun. Ich hab halt gelernt, dass man besser nicht zu viel von zu Hause erzählt, weil das noch mehr Ärger und noch mehr Schläge gibt. Das wird man nicht so schnell wieder los.“
„Dein Vater ist ein verdammter Wichser“, stellt Vico fest. „Ich nehme mal an, dass er betrunken war, wenn … er so ausgerastet ist?“
„Nee“, entgegne ich, „der hat überhaupt nicht getrunken. Das ist ja das Irre, er hat einfach die Kontrolle verloren oder so was.“
„Scheiße“, wiederholt er. „Wie lange ging denn das?“
„Bis ich mal zurückgeschlagen habe. Danach bin ich abgehauen. Ende der Geschichte.“
Eine gefühlte Ewigkeit herrscht zwischen uns bedrücktes Schweigen. Ich trinke, Vico trinkt. Vielleicht muss man nicht nur besoffen sein, um darüber reden, sondern auch, um sich den ganzen Scheiß anhören zu können.
„Ich finds gut, dass du mir das erzählt hast. Das war bestimmt nicht einfach“, sagt er schließlich.
„Ja, das Gute ist“, grinse ich ein bisschen verunglückt und deute auf die Flasche in seiner Hand, „wenn ich breit genug bin, mache ich so ziemlich alles.“
„Ah, okay“, grinst er ebenfalls, „das werd ich mir mal merken.“
Vico << [zweieinhalb Jahre zuvor]
Levin habe ich in einem Forum aufgetan, das ging überraschend leicht und es kam verdächtig schnell zu einem Treffen. Wenn ich nicht so am Ende gewesen wäre in meiner Pension, in der ich fürs Erste untergekommen war, hätte ich garantiert gedacht, Valeri würde dahinterstecken. Aber so war es nicht, es war alles ganz unkompliziert, das war so ziemlich das Letzte, womit ich gerechnet hatte. Man muss vielleicht einfach mal ein bisschen Glück haben und mit Levin hatte ich das wirklich.
„Man findet nicht so oft Leute, die es ernst meinen“, sagte Levin und rollte seinen T-Shirt-Ärmel nach oben. Es war eine warme Sommernacht, wir hatten uns zuvor in einem Café verabredet und waren dann zu ihm gegangen, in seine kleine, stickige Dachgeschosswohnung, in die er, wie er erzählt hatte, gerade erst eingezogen war, nach einem länger andauernden Streit mit seinen Eltern. Levin war achtzehn, was mir sehr weit weg erschien, ich konnte mich kaum noch erinnern, wie es ist, achtzehn zu sein, in meinem Fall jedenfalls nicht sehr angenehm. Ich war mit neunzehn ausgezogen und hatte seitdem nur noch den nötigsten Kontakt zu meiner Familie gehabt.
„Ja“, bestätigte ich und hielt es kaum noch aus. Die letzten beiden Tage hatte ich einigermaßen gut mit jeder Menge Heparinspritzen überstanden, aber allmählich wurde es unerfreulich. Ich hoffte, dass Levin nicht merkte, wie ungeduldig ich war. Ich musste mich schwer zusammenreißen.
„Hier“, sagte er, nahm eine Rasierklinge aus der Verpackung und gab sie mir.
Das überhitzte Zimmer wurde nur von zwei Kerzen erhellt, sie flackerten im schwachen Windzug, der durch das schräge Fenster hereindrang.
„Danke“, bedankte ich mich und wusste für einen Moment nicht, was ich tun sollte. Wir saßen auf dem Boden und direkt vor mir befand sich dieser Mensch, der mir sein Blut anbot, das kam mir so unrealistisch vor, dass ich mich nicht entschließen konnte, in die matt glänzende Haut seiner Schulter zu ritzen, die er so nett freigemacht hatte.
„Eigentlich mach ich das so nicht“, erklärte Levin, „also, ohne Test und alles, aber ich hab nichts, das kannst du mir glauben.“
Ich nickte. Es war mir völlig egal, was er hatte oder nicht hatte. Ich brauchte dringend Blut, und zwar sofort.
Als ich mich aus meiner vorübergehenden Starre befreit hatte und die Klinge ansetzte, sog er einmal scharf die Luft ein. Ich wartete, bis ein Tropfen erschien, der in der spärlichen Beleuchtung ganz schwarz aussah und senkte meine Lippen über die Wunde. Levin erschauerte. Oh Gott, dachte ich, endlich. Sehr ergiebig war der kleine Schnitt nicht, aber besser als nichts, es war Blut, echtes, warmes, etwas salziges Blut und es half beinahe direkt, es würde dem Entzug vorläufig ein Ende bereiten, oh Gott! Ich war so erleichtert.
Mit einem Seufzer lehnte ich mich zurück, gegen Levins ungemachtes Bett, schloss kurz die Augen und atmete tief ein und aus. Gerettet.
Als ich die Augen wieder öffnete, sah Levin mich neugierig an.
„Hey“, sagte er und grinste. Seine sehr hellen, sehr glatten Haare fielen ihm ins Gesicht, er wischte sie mit einer beiläufigen Geste zur Seite. „Du, ähm …“, begann er, „kannst das ja – echt gut, wenn man das … so sagen kann.“
„Ah“, brachte ich hervor, „ja?“
„Ja, das …“, bekräftigte er, schüttelte einmal kurz den Kopf und drückte ein Taschentuch auf seine Schulter, „war irgendwie echt … überzeugend.“
„Ah“, wiederholte ich und versuchte etwas hilflos zurück zu grinsen, „okay …“
Ich war immer noch sehr mit mir selbst beschäftigt, nach der Erleichterung stellten sich gleich wieder die Sorgen ein. So ein Levin war ja schön und gut, aber was sollte ich auf die Dauer tun, es würde ja alles nicht aufhören, es würde niemals aufhören, es war wie eine verdammte Sucht, bloß schlimmer, weil man es nicht einfach sein lassen konnte. Ich hatte schon über vieles nachgedacht, über zwielichtige Orte und Leute, denen man etwas ins Glas kippt, allerdings war ich völlig außerstande, mir so was im richtigen Leben vorzustellen, es ging einfach nicht, ich brachte es nicht über mich.
„Ich weiß noch jemanden“, sagte Levin, „die musst du eigentlich mal kennenlernen.“
Einen Augenblick lang fühlte ich mich ertappt, aber das war natürlich Quatsch.
„Ja?“, fragte ich und räusperte mich verlegen, „das würd ich gern. Ich kenn hier ja noch niemanden.“
„Doch“, Levin grinste, „mich. Du verschwindest doch nicht einfach wieder?“
„Hab ich nicht vor“, versicherte ich und kam so langsam wieder ein bisschen runter.
Er zog die Packung mit den Rasierklingen zu sich heran und warf mir einen Blick zu.
„Darf ich?“, fragte er.
Ich machte mir etwas Gedanken wegen des ganzen Heparins, andererseits ging es ja nur um einen minikleinen Schnitt. Und ich dachte an etwas, das ich mir nicht genau gemerkt hatte, etwas, das Marie nur angedeutet hatte. Ich war mir nicht sicher, ob es einen Unterschied machte, wenn Levin mein Blut trank. Es war aber auch egal, denn ich konnte in dieser Situation und mit diesen guten Aussichten ja schlecht unhöflich sein.
Ich schob also ebenfalls meinen Ärmel nach oben und Levin beugte sich über meinen Oberarm.
„Ich hab allerdings auch keinen Test oder so was“, gab ich zu bedenken.
Er sah auf und ich erkannte gleich, dass es ihm fast so egal war wie mir eben. Interessant, interessant, dachte ich, das ist ja alles viel besser, als ich es mir überhaupt hätte ausmalen können.
„Macht nichts“, sagte er, und fügte komplett gegenstandslos hinzu: „Ich vertrau dir.“
Dann mach mal, dachte ich und beobachtete gespannt, wie er tätig wurde. Sehr vorsichtig und ein bisschen unbeholfen setzte er einen noch schmaleren Schnitt als ich eben, etwas weiter vorn. Es fing gleich an zu bluten. Egal, dachte ich, ich werd schon nicht dran sterben.
Levin schien sich nicht weiter zu wundern, dass das Zeug so zügig aus mir herausfloss, was ich auf Unerfahrenheit zurückführte, ich meine, er war erst achtzehn, wie vielen Leuten war er da wohl schon begegnet, an denen er so ausgelassen herumschreddern durfte?
Ebenfalls etwas unbeholfen nahm er den herunterlaufenden Tropfen mit seinen Lippen auf, es schien ihn Überwindung zu kosten, doch dann gewöhnte er sich offenbar und saugte noch etwas mehr aus der Wunde. Er hatte jedoch schneller genug als ich und tupfte hilfsbereit mit einem Taschentuch nach. Die ganze Prozedur war mir nicht unangenehm, im Gegenteil, kam mir aber gleichzeitig ein bisschen albern vor, denn es war im Grunde ja völliger Unsinn, dass er unbedingt Blut trinken wollte. Ich presste das Taschentuch noch eine Weile gegen meinen Arm, vorsichtshalber.
Er schluckte und wischte sich die Lippen ab.
„Das …“, sagte er, „war gut.“
Ich grinste schief, da war wieder diese Haarsträhne, die ihm genau vor dem Auge hing, ich streckte eine Hand aus und schob sie zur Seite. Levin sah erstaunt auf. Da geht was, dachte ich, da könnte was gehen und das wäre vielleicht nicht von Nachteil, es würde etwas Zerstreuung bringen und unsere Verbindung demnächst hoffentlich noch etwas festigen.
Mir fiel wieder ein, dass er erst achtzehn war, das war ungewohnt, ansonsten störte mich eigentlich nichts, ich hatte nichts gegen Jungs, es wäre nicht das erste Mal, obwohl ich längere Beziehungen bisher nur zu Frauen gehabt hatte. Aber wir wollten ja schließlich nicht romantisch miteinander werden.
Wo ich also schon mal ganz in der Nähe war mit meiner Hand, massierte ich ihm ein bisschen den Nacken, dann ließ ich meine Finger über seine Brust und seinen Bauch nach unten gleiten und stahl mich unter sein T-Shirt. Da er bis jetzt nicht protestiert hatte, ging ich davon aus, dass es ihm recht war. Gut so.
Seine Haut war weich und angenehm und ich konnte hören, wie sich sein Atem beschleunigte. Mit der freien Hand strich ich ihm über die Wange und zog ihn dann zu mir heran.
Ich lag ausgestreckt auf Levins Bett und hörte, wie er im Bad geräuschvoll mein Blut erbrach. Scheiße.
Auf wackligen Beinen kam er zurück ins Zimmer und ließ sich erschöpft auf der Bettkante nieder. Ich setzte mich auf und fuhr ihm durch die verschwitzten Haare.
„Vielleicht war es zu viel“, vermutete er.
Wohl kaum, dachte ich. Ich musste mir etwas einfallen lassen, so ging das jedenfalls nicht.
„Ich glaub, es liegt an mir“, improvisierte ich und zog mit dem Finger seine Wirbelsäule nach, „beziehungsweise nicht an mir, sondern daran, dass ich Medikamente nehmen muss … neuerdings erst.“ Hoffentlich, dachte ich, hoffentlich, hoffentlich schreckt ihn das nicht ab, hoffentlich habe ich ihn vorher schon genug überzeugt.
„Also, nicht gegen was Ansteckendes. Das ist so eine Autoimmungeschichte … Solange geht es dann wohl nicht.“
Levin griff nach einer Flasche Wasser, die neben dem Bett stand und trank.
„Sieht wohl so aus“, sagte er.
Ich gab mir die allergrößte Mühe, mich einzuschmeicheln, ließ meine Finger noch einmal seinen Rücken hinauf wandern und fuhr ihm durch die Haare.
„Vielleicht kann ich die Tabletten irgendwann wieder weglassen“, log ich weiter vor mich hin.
Levin drehte sich um und sah mich an.
„Ist egal“, erwiderte er, „ich bin froh, dass ich dich kennengelernt hab. Wie gesagt, man trifft nicht so viele Leute, die das … so wollen. Außer Julia. Sie ist ein bisschen extrem, auf ihre Art, aber nett. Die muss ich dir mal vorstellen.“
Sehr gern, dachte ich, Julia klingt gut.
Vico >> [jetzt]
Ich hasse es. Ich hasse es. Es ist überflüssig, lächerlich, macht einen nervös und ist unangenehm, außerdem muss ich jedes Mal an einen Haufen Liverollenspieler denken, die sich in ihrer Freizeit als Wikinger verkleiden. Oder als Elfen. Oder, hey, als Vampyre, wie lustig.
„Du musst das unterschreiben“, informiert Janis das große, blonde Mädchen streng, „sonst geht es nicht.“
„Hat sie schon“, erklärt Stefan und hält einen Zettel in die Höhe.
„Ah“, sagt Janis und nickt ernst, „alles klar.“
Ich sitze mit angezogenen Beinen auf dem Sofa an der Wand, der Tür und der Vitrine gegenüber, neben mir liegt Julia, zusammengerollt auf der Seite. Sie war schon dran, obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre, aber sie muss ja immer alles mitmachen. Jetzt ist sie schläfrig und fast ein bisschen benommen, das wollte sie wahrscheinlich erreichen. Sie isst nicht genug, sie schläft nicht genug, sie gibt zu viel Blut ab, wenn man sie lässt. Man sollte sie eigentlich nicht lassen. Aber für diesen Job bin ich irgendwie auch nicht die richtige Besetzung.
„Setz dich“, fordert Janis das blonde Mädchen auf.
Das Mädchen setzt sich, es wurden extra Stühle für die Spender aufgestellt und ein Rollwagen für die Kanülen und die Handschuhe und die Röhrchen mit dem Blut, Stefan denkt in dieser Hinsicht an alles und Janis auch, eine gute Gelegenheit, sich wichtig zu machen. Ganz kurz überlege ich, wie wohl meine Disziplinierungsmaßnahme verheilt ist, Janis trägt seit Tagen lange Ärmel, obwohl es hier drin oft ziemlich überheizt ist. Vielleicht wäre das nicht nötig gewesen. Aber, denke ich, verdient hat sie es.
Es läuft leise Musik, etwas Düsteres mit Gitarren, ich komme grad nicht drauf, was ist es ist und es riecht nach Desinfektionsmittel, Rauch und, was das Schlimmste ist, es riecht ganz fürchterlich nach Blut. Ich kriege schon Kopfschmerzen.
„Jetzt eine Faust machen“, sagt Janis.
Das Mädchen macht eine Faust und lässt die Angelegenheit gespannt über sich ergehen. Janis trifft auf Anhieb fast jede Vene, da hat sie wirklich ein Talent, ein blutrünstiges, und wechselt fachmännisch die Röhrchen. Am Anfang haben wir Kanülen mit dünnen Schläuchen benutzt, aber damit ließ sich das zu verteilende Blut nicht so genau dosieren, also hat sich der Spinnerclub auf Blutentnahmeröhrchen geeinigt. Mir kommt das entgegen, das ist nämlich nicht das Wahre, wenn das ganze Zeug zu lange in offenen Behältnissen vor sich hin riecht und zwar sowas von nicht.
Ich will eigentlich nicht hinsehen, tue es aber trotzdem schon die ganze Zeit, das Mädchen ist die dritte Spenderin, insgesamt sind es heute vier, zwei Männer, zwei Frauen. Sie sieht zu uns herüber, halb schüchtern, halb aufgeregt, sie ist das erste Mal dabei. Am Fensterbrett lehnt Nele, neben ihr Sascha. Timo und Levin besetzen jeweils einen Sessel, Levin raucht, Timo trinkt Tequila und Stefan achtet darauf, dass alles seine Richtigkeit hat.
„Du musst noch ein paar Minuten draufdrücken“, erläutert Janis und klebt ein Pflaster über die Einstichstelle, „das ist wie beim Arzt.“ Sie lacht über ihren originellen Witz, hat sich dabei aber anscheinend nicht richtig konzentriert oder selbst nicht schnell genug draufgedrückt, denn ein Tropfen ist danebengegangen und rinnt unter dem Pflaster hervor. Yeah. Ich werd wahnsinnig.
Ich werfe Sascha einen Blick zu, den er erwidert, es ist fast wie bei seiner Aufnahme, aber nur fast, vor ein paar Tagen war alles noch ein bisschen einfacher oder vielleicht auch nicht, aber es kam mir zumindest so vor.
Julia setzt sich auf, sinkt schwerfällig gegen die Sofalehne und blinzelt.
„Hey“, sage ich, „alles okay?“
Sie blinzelt wieder und antwortet nicht.
„Juli?“, frage ich.
„Ja“, erwidert sie endlich, „mir ist nur ein bisschen schwindlig.“
Janis ist gerade fertig mit dem Mädchen und dreht sich zu uns um.
„Sollen wir mal kurz rausgehen?“, fragt sie.
Überraschenderweise nickt Julia sofort. Ich sehe ihr prüfend ins Gesicht.
„Ja“, antwortet sie, „wahrscheinlich brauch ich bloß ein bisschen frische Luft.“
„Kannst du kurz weitermachen?“, bittet Janis mich mit emporgezogenen Brauen.
Auf gar keinen Fall, denke ich.
„Klar“, sage ich, stehe auf und ziehe Julia ebenfalls hoch.
Janis nimmt sie fürsorglich in Empfang, mit einem Gesichtsausdruck, der in etwa mitteilt: Ich kümmer mich dann mal um deine Freundin, im Gegensatz zu dir weiß ich nämlich, wie das geht, du verantwortungsloses Arschloch.
Widerstrebend setze ich mich auf den Platz, den Janis gerade noch eingenommen hat. Außer Janis und Stefan bin ich der Einzige, der mit dem Blutabnehmen auf fachmännische Weise Erfahrung hat oder zumindest auf fachmännisch erscheinende Weise, dank Valeri, der mir gezeigt hat, wie es geht. Der hat sich allerdings nicht mit ein paar Tröpfchen begnügt.
„Nina“, spricht Stefan die andere Spenderin an, „willst du jetzt?“
Nina war schon ein paarmal da, sie gehört zu den Freaks, die regelmäßig ziemlich weiträumig unterwegs sind, nur um anderen Freaks ein bisschen was zu spenden. Na ja, denke ich, muss ja jeder selber wissen.
„Hallo, Vico“, begrüßt sie mich.
Wir hatten bereits das Vergnügen, ohne Spritze. Nina kann jeder Art von Blutspende etwas abgewinnen, eine wirklich dankbare Veranlagung. Levin ist also nicht der Einzige, der so tickt.
„Hey“, sage ich.
Ich mache mir einen Zopf, damit die Haare aus dem Weg sind, ziehe Handschuhe an, binde ihren Arm ab, desinfiziere die Armbeuge, alles schön nach Vorschrift, wir sind ja hier tipptopp seriös und ertaste rasch eine Vene. Als die Nadel Ninas Haut durchdringt, muss ich schlucken. Langsam aufziehen, sage ich mir und gebe mir alle Mühe, nicht seltsam zu wirken, das ist alles reichlich schwierig. Durch die Kanüle steigen gemächlich ein paar Milliliter verlockend sattroten Blutes auf, dann ist das Röhrchen voll, Zeit zum Wechseln. Krampfhaft halte ich die Nadel fest und versuche beim Abschrauben den Winkel beizubehalten.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Sascha sich auf dem Sofa niederlässt, genau dort, wo ich eben mit Julia gesessen habe. Er beobachtet mich. Auf seine ganz spezielle, lässige Weise sitzt er da, etwas breitbeinig, den Ellbogen auf die Lehne, den Kopf in die Hand gestützt. Seine Augen sind halb geschlossen, ich schaue hin und dann schnell wieder weg, ich kann Nina ja nicht ewig mit der Nadel im Arm warten lassen.
Als das viele schöne Blut auf dem Rollwagen liegt und kalt wird, stehe ich auf und stelle fest, dass meine Knie zittern, nicht sichtbar, aber ich merke es deutlich, es ist mal wieder alles zu viel, wie jedes Mal, zu viel Reiz, zu viel Versuchung, schrecklich. Es ist ja nicht so, dass es notwendig wäre, sich Unmengen von Blut hinter die Binde zu kippen, aber man würde es gern, man würde es einfach abartig gern, das lässt sich mit kaum etwas anderem vergleichen, wenn man es nicht selbst erlebt hat.
„Danke“, sagt Nina und lächelt mich an. Sie hat dunkles Haar, leicht gebräunte Haut und sehr ebenmäßige, sehr weiße Zähne. Ich meine, sie wäre Italienerin, bin mir aber nicht mehr ganz sicher.
„Sehr gern“, erwidere ich, lächle zurück, atme noch einmal tief durch und setze mich neben Sascha.
Mit dem weiteren Prozedere ist Stefan wieder am Zug.
„Ich wusste gar nicht, dass du so was kannst“, sagt Sascha und muss auch einmal tief durchatmen, „Dr. Salinus.“
„Na ja“, sage ich, „es kann nützlich sein. Alles okay bei dir?“, erkundige ich mich und grinse schief, es ist ziemlich gut, denke ich, dass er weiß, wie es ist. Der Einzige unter lauter Spinnern.
„Du hattest recht“, grinst er zurück.
„Das Schlimmste kommt noch“, prophezeie ich flüsternd.
Die Likörgläser sind schon auf dem grausig gefliesten Tisch angerichtet, die Stühle werden zur Seite geschoben, der Rollwagen ebenfalls und alle verteilen sich auf den Polstermöbeln.
Nur die Spender dürfen ins Wohnhaus, die normalen Partygäste, die für meinen Geschmack ebenfalls viel zu häufig kommen, nicht. Die Partys sind ja schon schlimm genug, doch durch diesen Unfug hier ist alles komplett ausgeartet. Aber was will man machen, besprochen ist besprochen und so gern ich in dieser Hinsicht die Spaßbremse wäre, dagegen bin ich machtlos, um mal aus guten, alten Filmen zu zitieren. Ich habe, wie mir mal wieder bewusst wird, keine Ahnung, wieso die Ereignisse genau diese Richtung eingeschlagen haben, warum die Leute nicht lieber privat und unter sich sind. Da steckt wohl eine unglückliche Gruppendynamik dahinter.
Auf dem Tisch und auf dem Fensterbrett brennen Kerzen, Stefan zündet ein paar weitere an.
„Wir warten noch auf Janis und Julia“, erklärt er.
Als hätte er sie damit herbeigerufen, erscheinen sie auch schon im Türrahmen. Zusammen lassen sie sich auf einem Zweisitzer nieder, neben mir wäre noch Platz gewesen, aber meinetwegen. Julia und ich tauschen einen kurzen Blick, sie hält eine Flasche Wasser in der Hand und wirkt immerhin etwas wacher als vor ein paar Minuten. Mir ist es recht, wenn wir jetzt gerade nicht zu nah beieinander sind. Obwohl sie mich tatsächlich besser kennt, als mir lieb ist, weiß sie natürlich nicht alles und das soll auch so bleiben.
„Wir freuen uns, dass ihr gekommen seid“, beginnt Stefan, der als Einziger noch steht, seine Rede, „und wir möchten euch danken, dass ihr als Donoren etwas sehr Persönliches mit uns teilt.“ Er macht eine Pause und sieht jeden der vier Spender verbindlich und wertschätzend an. „Euer Blut.“
Nicht immer Blut sagen, denke ich, es ist schlimm genug, dass es da liegt, das ganze Blut und dass du es gleich in die Gläser füllen wirst, wo es dann zwar schon kalt ist, aber dafür noch viel stärker riechen wird als ohnehin schon. Und dann muss man sich wieder so sehr zusammennehmen, damit man nicht zu gierig wirkt, das würde nämlich einen merkwürdigen Eindruck hinterlassen, einen sehr merkwürdigen und das gilt es unter allen Umständen zu vermeiden.
„Und wie immer“, fährt Stefan fort, „möchten wir auch untereinander teilen. Wir danken euch für euer Vertrauen.“
Dann fängt er an, das Blut der Spender in die Gläser zu füllen, sieben an der Zahl. Sascha beißt sich auf die Unterlippe und zieht scharf die Luft ein. Ich muss wieder an die Nacht des Aufnahmeunsinns denken, an seine Haut und sein Blut und an seine Entschlossenheit, das war nun auch nichts, was ich von ihm erwartet hätte. Und an seine Hingabe, als er an der Wunde unterhalb meiner Rippen gesaugt hat, etwas erhitzt und mit etwas wirren, schwarzlila Haaren und ganz leicht verwischtem Kajal. Diese Erinnerung macht die Situation leider nicht einfacher.
„Bitte“, sagt Stefan, macht eine einladende Geste in Richtung Tisch, nimmt sich selbst das erste Glas und setzt sich.
Alle greifen zu, nur Julia und die Spender nicht, und ich höre, wie Sascha neben mir konzentriert ausatmet. Timo schwenkt seine Portion wie einen Cognac und betrachtet die durchsichtige, hellrote Spur, die das Blut am Glasrand hinterlässt. Es sind vielleicht drei kleine Schlucke für jeden, wenn man es sich gut einteilt.
Alle trinken schweigend und feierlich. Das Blut ist, wie gesagt, leider schon kalt, aber immer noch so geschmeidig wie Sirup und so vielversprechend, wie man es sich überhaupt nur vorstellen kann. Es ist auf keinen Fall gut, in Gesellschaft Blut aus offenen Gläsern zu trinken. Ich schließe die Augen, vorsichtshalber und als ich sie wieder öffne, sehe ich, wie Sascha ganz leicht erschauert, das ist auch nicht gerade tauglich, meine Nerven zu beruhigen. Abgesehen von allem anderem, der ganzen Gemeinsamkeit und so weiter, ist es ziemlich hübsch anzusehen, wie mir auffällt.
Nach dem Umtrunk ist die Feierlichkeit schnell vorbei, es wird wieder gesprochen, der ein oder andere steht auf, Nina unterhält sich mit Stefan, Levin setzt sich zu Julia, Janis zu Timo und ich versuche zu vergessen, dass sich in den Gläsern immer noch Blutschlieren befinden. Die Musik wird lauter gestellt, einer der beiden Heizlüfter eingeschaltet.
„Das war ja mal …“, sagt Sascha leise und schüttelt dann nur den Kopf.
„Ja“, sage ich, „genau.“
Levin ist immer noch mit Julia beschäftigt, gut so, sie ist okay, mehr muss ich im Moment nicht wissen, stattdessen sehe ich wieder Sascha an, dummerweise, denke ich, weiß ich jetzt ziemlich genau, wie sich seine Lippen anfühlen, sehr weich nämlich und ebenfalls sehr vielversprechend und wenn man dann noch bedenkt –
„Und hier“, unterbricht er meine Überlegungen, „treibt es also jeder mit jedem?“
„Was?“, frage ich.
Er wischt sich über den Mund, obwohl es da gar nichts zu wischen gibt.
„Hat Nele gesagt“, erklärt er.
Ach, daher weht der Wind, denke ich.
„In ihrer Phantasie vielleicht“, entgegne ich leise, was gar nicht nötig wäre, denn es ist insgesamt recht laut inzwischen und niemand beachtet uns, „oder ich hab da was verpasst.“
Sascha sieht mich aufmerksam an, als würde er auf etwas warten. „Okay“, füge ich hinzu, „ein paar … Überschneidungen gibts da wohl. Zwischenmenschlicher Kram, wie überall. Aber ansonsten –“
„Und du?“, fragt er.
„Was“, frage ich zurück, „ich?“
Er blickt mich nur forschend an.
„Ach … verstehe. Nele, klar. Ja“, sage ich, „nein. Levin, ähm, kenn ich schon länger. Ansonsten halte ich mich raus.“ Verlegen sehe ich weg. Was für eine Scheiße. Wie muss das klingen? Sascha kann sich gleich mit Janis zusammentun, weil er sehr wahrscheinlich denkt: Na, super, da hast du diese hilfsbedürftige Freundin, die du als deine persönliche Blutspenderin hältst und einen ziemlich jungen Levin zum Vergnügen, und dann noch andere Leute einfach so auf den Mund küssen, das haben wir gern, du verantwortungsloses Arschloch.
„Das hört sich jetzt irgendwie …“, murmele ich, „kacke an, vermute ich mal.“
Wir haben immer noch nicht darüber geredet, dass ich gern wissen wollte, wie es so ist, ihn zu küssen. Nicht, dass ich das vorgehabt hätte, weder das Küssen noch das Darüberreden, es hatte nicht einmal einem bestimmten Zweck gedient, es war also wohl hauptsächlich reine Neugier gewesen, einerseits, andererseits vielleicht auch noch etwas anderes, worüber ich noch nicht genauer nachgedacht habe. Neugier ist aber schon mal kein verkehrter Ansatz, ich hatte gern überprüfen wollen, ob es etwas anderes mit ihm wäre als mit den, na ja, Zirkelspaßvögeln. Oder normalen Leuten.
„Na ja“, sagt Sascha, „was heißt kacke. Ist halt ne offene Beziehung.“
„Stimmt“, sage ich, „das klingt irgendwie besser.“
So viel besser, denke ich, klingt es in seinen Augen aber wahrscheinlich überhaupt nicht, wenn er vier Jahre lang mit jemandem zusammen gewesen ist. Vielleicht ist es auch gar nicht besser. Vielleicht sind offene Beziehungen insgesamt nicht das Ideale, weil man nie sicher sein kann, was die übrigen Beteiligten aktuell davon halten und in unserem Fall sind die übrigen Beteiligten ja schon der Kern des Problems beziehungsweise des möglichen Problems, da ich ja nicht mit Hans und Franz ins Bett gehe, sondern nur mit Levin und weil Julia mit niemandem ins Bett geht, sondern nur mit mir. Das sind alles keine guten Voraussetzungen für eine offene Beziehung. Das sind gute Voraussetzungen für eine schlimme Geschichte mit drei Beteiligten.
Mir wird bewusst, dass Sascha mich immer noch ansieht. Das ist auch keine gute Voraussetzung, wird mir klar, für nichts. Es ist etwas gefährlich, überlege ich weiter, dass er so entschlossen ist, wenn es um Genüsse geht und dass er mir die Sache mit seinem Vater erzählt hat und wenn er dann auch noch fragt, mit wem ich es so alles treibe, das ist wirklich nicht gut. Die Sache mit dem Vater hatte ich schon wieder nicht erwartet, genau wie die Sache mit dem Drogenverkaufen, immer überrascht er mich, denke ich und mit Überraschungen kann ich nicht gut umgehen.
Stefan, Timo und Nele bringen Essen und Getränke aus der Küche, vor allem für die Spender. Weil ich nicht warten möchte und weil es mir dringend an der Zeit zu sein scheint, greife ich zu Timos Flasche und schütte Tequila in mein blutiges Likörglas.
Sascha grinst, was vielleicht ein gutes Zeichen ist und hält mir seins hin.
„Wär ja schade drum“, findet er und ich nicke.
Die Sache mit der Gemeinsamkeit ist nicht zu unterschätzen, denke ich. Und ganz am Anfang hat er gleich die richtigen Schlüsse gezogen und verhindert, dass Schlimmeres passiert ist, dafür hat er wohl so ziemlich für immer was gut bei mir.
Mir wird sehr deutlich, dass ich das alles nicht gefährden möchte, dafür ist es einfach viel zu gut, dass er da ist. Es wäre bloß schön, denke ich, wenn man ein besserer Mensch wäre, schon für Julia bin ich nicht so ganz der Richtige und dann taucht da einer auf, der einem so eine Vatergeschichte erzählt, der braucht nun wirklich keinen, der nicht schlafen kann, ständig irgendwelche Paranoia hat, definitiv zu viel trinkt, der die chemische Entspannung liebt, seine eigene Freundin ausspioniert und … dem auch schon mal die Hand ausrutscht, selbstverständlich nicht gegenüber Kindern, versteht sich von selbst.
Natürlich ist aber ja insgesamt überhaupt keine Rede davon, dass Sascha mich brauchen könnte, das ist ja alles Quatsch.
Sascha >> [jetzt]
„Ich muss mal kurz raus“, erkläre ich, nachdem ich meinen blutigen Tequila runtergekippt habe. Vico sieht mich an und zwar so beschissen besorgt, wie er Julia angesehen hat. „Eine rauchen“, füge ich deshalb hinzu und nehme aus Neles Schachtel, die günstigerweise hier rumliegt, eine Lucky Strike.
„Ich glaube kaum, dass das hier jemanden stört“, lächelt er und deutet auf den vollen Aschenbecher auf dem Tisch.
„Trotzdem“, entgegne ich knapp und gehe nach draußen.
Das ist alles irgendwie zu viel. Nicht das ganze Blut, obwohl das auch, es ist Vico. Er ist mir einfach zu nah.
Vor dem Haupteingang des Wohnhauses steht eine alte Holzbank, auf die ich mich setze. Für März ist es nachts noch ziemlich kalt. Fröstelnd ziehe ich meine Ärmel weiter über die Hände, zünde die Zigarette an und stelle fest, dass mir bereits nach dem ersten Zug leicht schwindlig wird.
„Alles in Ordnung?“, fragt Nele, die sich unbemerkt angeschlichen hat.
„Ja. Ich … ähem … wäre nur mal gerne fünf Minuten allein.“
„Klar“, sagt sie, „aber bei dir ist alles okay, ja?“
„Alles cool.“
„Das wollte ich hören.“ Sie lacht und verschwindet ins Innere des Hauses.
Gar nichts ist cool, verdammte Scheiße. Die Spinner, die irgendwelchen Leuten Blut abzapfen und in Gläser füllen, die sogenannten Donoren, die das mit sich machen lassen, weil sie das vermutlich kickt … du meine Güte, wo bin ich da reingeraten? Immerhin verstehe ich jetzt ziemlich gut, was Vico manchmal gegen die ganzen Spinner-Spender-Blödsinnigkeiten hat. Wenn man sich schon Tequila reinkübeln muss, damit nicht auffällt, dass man die schönen Blutreste im Glas nicht verkommen lassen will … überhaupt, wie soll man bei so viel Blut in Röhrchen und Gläschen ruhig bleiben? Und Vico musste, nachdem sich Janis mit Julia verpisst hat, auch noch selbst ran an die Venen und Spritzen. Keine Ahnung, ob ich dazu fähig gewesen wäre. Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich hätte ich an Vicos Stelle das Blut direkt aus den Röhrchen gesoffen. Aber dafür hätte Stefan, der Zeremonienmeister, wohl eher kein Verständnis gehabt. Wir sind ja keine Proleten sondern gesittete Vampyre, die delikat an ihren Gläsern nippen. Oder den Inhalt bescheuert hin und her schwenken, wie Piercing-Timo es getan hat. Und alle hatten diesen entrückten, entzückten Blick beim Trinken, es war an Lachhaftigkeit kaum zu überbieten. Und dann war da Vico. Und das Wissen, was das Blut mit ihm macht. Das Blut in den Röhrchen und Gläschen, der schwere, verlockende Geruch im ganzen Raum, die kaum aushaltbare Gier nach mehr.
„Alles in Ordnung?“, fragt Vico, der sich genauso unbemerkt angeschlichen hat wie Nele vorhin.
Ich starre auf die Zigarette, sie ist bis zum Filter abgebrannt.
„Können …“, ich muss mich räuspern, weil meine Kehle plötzlich total trocken ist, „wir kurz nach oben gehen?“
Er sieht mich einen Moment etwas verwirrt an.
„Äh … klar, meinetwegen“, sagt er achselzuckend.
Mir ist immer noch leicht duselig, als wir das Haus betreten. Vico nimmt eine Flasche Jack Daniel’s mit, die auf einer Art Schuhschrank in der Nähe der Treppe steht. Der kleine Säufer. Das sollte mich vielleicht auch nicht so anmachen. Tut es aber. Erschöpft lasse ich mich in den muffigen Sessel fallen. Die Frage, ob er bewusst ausgerechnet dieses Zimmer ausgesucht hat, schießt mir durch den Kopf. Es ist das Zimmer, in dem wir nach meiner Aufnahme in die Spinnergesellschaft gelandet sind. Schwer zu sagen, ob er sich grad dran erinnert. Mir fallen eine Menge Sachen ein. Alles. Seine halb geschlossenen Augen, seine Hand in meinen Haaren, sein leises Seufzen, als meine Lippen seine Haut berührten. Seine Lippen auf meinem Mund … letztens in unserer Küche, bevor der Pizzabote kam. Und Julia.
„Macht einen ziemlich nervös, hm? Das ganze Blutabzapfen und so.“ Er geht vor mir in die Hocke, stellt die Flasche ab und legt seine Arme auf die Sessellehnen.
Ja, du Vollidiot. Genau das ist der Grund. Das Blutabzapfen. Nicht der Umstand, dass du es mit Julia und mit Levin treibst. Nicht der Umstand, dass ich das absurderweise irgendwie interessant finde. Nicht der Umstand, dass ich keinen blassen Schimmer habe, wie ich dich verdammt noch mal dazu bringen kann, es mit mir zu treiben.
„Aber ich finde, du hast dich gut gehalten … fürs erste Mal“, behauptet er grinsend und streicht mit dem Zeigefinger an der Außenseite meines Oberschenkels herum.
Es ist zum Kotzen. Immer muss der einen anfassen. So beiläufig. Ich kann das jetzt wirklich nicht gebrauchen, echt nicht. Aus seinem Zopf haben sich einige Haarsträhnen gelöst, die über seine Schulter fallen, er trinkt einen Schluck Whiskey und sieht mich an. Sein Blick ist leicht verschleiert, aber nicht betrunken und sein Finger streicht weiter. Nur, dass es inzwischen schon zwei Finger sind. Okay, er bettelt doch förmlich drum! Ich greife nach seiner Hand, lege sie auf mein Knie und schiebe sie ein Stück weiter rauf. Vico beugt sich vor und küsst mich. Sehr vorsichtig, aber das kann der gleich mal vergessen. Meine Zunge teilt zielstrebig seine Lippen. Aufreizend tippt seine Zungenspitze gegen meine, ich spüre seine Finger an der Innenseite meines Schenkels, eine Berührung, die sich jetzt alles andere als beiläufig anfühlt. Lange genießen kann ich den Kuss nicht, weil wir unterbrochen werden. Von Nele.
„Ich hab geklopft“, erklärt sie verlegen, „ähem, Julia möchte wissen, ob du noch lange bleibst, Vico. Ihr gehts nicht so gut.“
Logisch, Madame muss wieder auf Drama Queen machen!
Vico steht auf.
„Okay“, seufzt er, „ich bring sie nach Hause. Soll ich dich mitnehmen?“, fragt er mich allen Ernstes.
„Nein, danke“, entgegne ich angepisst, „ich bleib noch.“
„Dann bis später.“
Weg ist er. Ich halts im Kopf nicht aus und muss erst mal einen kräftigen Schluck Whiskey nehmen.
„Scheiße, ich hab aber auch ein Talent“, bemerkt Nele kopfschüttelnd, „sorry, ich wollte euch echt nicht unterbrechen.“
„Hast du nicht. Ich meine … ist nicht schlimm“, versuche ich gleichgültig zu klingen.
„Äh … kommst du mit runter?“
„Klar, warum nicht?!“
„Ich wusste nicht, dass du was mit Vico hast“, sagt Nele auf der Treppe.
„Na ja“, beginne ich und grinse verunglückt, „ich wollte mich halt in die Gruppe integrieren.“
„Was?“
„Jeder treibts mit jedem.“
„Ja“, gibt sie nachdenklich zurück, „ich hätte nur nicht damit gerechnet, dass du so drauf bist.“
„Bin ich auch nicht. Das mit Vico …“, ich überlege kurz, „war ein betrunkener Kuss. Mehr nicht. Völlig bedeutungslos.“
„Fein“, lacht sie ein wenig zu schrill, „ich habs nämlich satt, dass Vico alle rumkriegt und ich immer leer ausgehe.“
Im Wohnzimmer setzen wir uns zu Levin. Alle anderen sind entweder nicht mehr da oder laufen irgendwo im Haus rum. Die Flasche Whiskey hab ich mitgenommen, weil ich das Gefühl habe, dass ich mich schlimm besaufen will. Nele muss noch fahren, also trinkt sie Cola. Das finde ich sehr vorbildlich. Vico scheint es nichts auszumachen, sich Tequila und Whiskey reinzukippen und dann noch hinters Steuer zu setzen.
„Na, gehts wieder?“, fragt Levin und lächelt freundlich.
„Äh …?“, mache ich ratlos.
„Nele meinte, dir wäre schlecht.“
„Äh …“, mache ich erneut.
„Das ist ganz normal“, erläutert Nele eifrig, „wenn man noch nicht so lange dabei ist.“
Wovon zum Teufel reden die bitte?
„Die ersten Male, als ich noch keine Ahnung hatte, wie viel man verträgt, ist mir auch schlecht geworden.“
„Und ich hab das erste Mal Vicos Blut gleich komplett wieder ausgekotzt“, erinnert sich Levin.
Vico hat ihn sein Blut trinken lassen? Was n das für ein Armleuchter?? Hat er nicht letztens noch behauptet, er sei nicht risikofreudig? Und wie passt das mit seiner geliebten Paranoia zusammen, einem normalen Menschen Vampyrblut zu geben und sich der Gefahr auszusetzen, dass man auffliegt, weil Vampyrblut für normale Menschen eben ungenießbar ist? Ich hoffe, der lässt solche Späße in Zukunft.
„Aber das“, fügt er hinzu, „lag ja an dem Medikament, das er nehmen muss.“
Cool, das war sicher was gegen Schwachsinn!
„Ich hoffe, Julia ist okay“, sagt Nele plötzlich zusammenhangslos und wirkt tatsächlich besorgt.
„Was hat denn Julia?“, frage ich und ärgere mich ein wenig, dass meine Stimme so pissig klingt.
Nele und Levin wechseln vielsagende Blicke.
„Julia hat immer irgendwas“, antwortet Levin schließlich. „Hauptsächlich einen Haufen Probleme. Mit sich und … mit allem.“
„Ja“, bestätigt Nele, „aber momentan ist sie … keine Ahnung, noch merkwürdiger als sonst. Und total verschlossen.“
„Klar, die hängt doch fast nur noch mit Janis und Timo rum.“
Oder bei uns zu Hause. So langsam fange ich echt an, die Tussi zu hassen.
„Wieso wollten die beiden eigentlich nicht, dass ich aufgenommen werde?“, will ich wissen.
Levin trinkt einen Schluck Rotwein und zündet sich eine Zigarette an.
„Janis spielt halt gerne mal die Zicke und Timo … der hat selten eine eigene Meinung.“
„Aha, dann gibt Janis wohl in der Beziehung den Ton an“, vermute ich.
„Nee“, widerspricht Nele, „Timo passt sich immer da an, wo es für ihn grad von Vorteil ist.“
„Er wäre schrecklich gern so wie Vico“, bemerkt Levin grinsend, „aber er hats einfach nicht drauf, das ist sein Problem.“
Irgendwie haben die hier alle ein Problem, ein gewaltiges!
„Außerdem“, fährt Levin fort, „ging das bei dir schon ziemlich schnell. Ich meine, wir kannten dich ja noch gar nicht. Normalerweise reicht es nicht, einmal auf einer Party aufzukreuzen oder mit einem Zirkelmitglied befreundet zu sein.“
„Ja, aber was Janis angeht … die ist doch nur beleidigt, weil sie meint, dass Stefan mit allem einverstanden ist, was Vico sagt, bloß weil er den Hof organisiert hat“, fügt Nele hinzu. „Das stimmt aber nicht. Und Vico ist echt nicht so drauf, dass er das jetzt total raushängen lassen würde … also, das mit dem Hof. Mir war es ja auch wichtig, dass du aufgenommen wirst“, lächelt sie.
„Ich bin auch echt froh“, behaupte ich abschließend, „dass ich jetzt dazugehöre.“
Das entspricht zwar nicht so ganz der Wahrheit, aber egal. Wenn ich drüber nachdenke, sind mir die Spinner hier doch allesamt lieber als die Typen in den Clubs. Die Spinner hier spenden wenigstens freiwillig Blut.
Oh Mann, ich hab mich lange nicht mehr so abgeschossen wie letzte Nacht. Zum Glück hat Markus es endlich geschafft, jemanden herzuschicken, der den Fahrstuhl repariert. Ich glaube kaum, dass Nele es geschafft hätte, mich die Treppen rauf zu schleifen. Vico hab ich gestern nicht mehr gesehen und ich kann nur hoffen, dass er Julia auch wirklich nach Hause gebracht hat. Sollte ich gleich ihre dürre Gestalt hier herumschleichen sehen, garantiere ich für nichts. Diese kleine Bitch. Macht immer auf harmlos, nett und freundlich, aber in Wahrheit spielt sie ganz schön geschickt ihre Beschütz-mich-Karte aus. Klar, wenn sie da so herzzerreißend jämmerlich wie ein kleines, verwundetes Reh zusammengerollt liegt, kann man ja gar nicht anders, als ihr über den Kopf zu streichen. Dann wirkt sie viel jünger, als sie eigentlich ist und gleichzeitig so fertig wie eine vierzigjährige Drogenschlampe. Dass sie sich alle naselang Blut abnehmen oder die Arme zerschneiden lässt, obwohl sie nichts isst, dass sie dann kaum noch hochkommt, das gehört natürlich alles zu ihrem beschissenen Plan, ständig umsorgt werden, ständig im Mittelpunkt stehen zu wollen. Eigentlich passen die beiden hervorragend zusammen. Sie braucht einen Kerl, bei dem sie hemmungslos ihre diversen Dachschäden, die sie sicherlich hat, ausleben kann, er braucht eine Psychoschnalle, die alles mit sich machen lässt. Die perfekte Beziehung aus der Hölle, die bloß in eine Richtung führen kann … in die Klapsmühle! Da sollte ich mich nun wirklich raushalten. Es war vielleicht ganz gut so, dass wir unterbrochen wurden. Ich hab doch keine Lust, mich mit Vico einzulassen, nur um dann mit Psycho-Julia um seine Gunst zu kämpfen. Und dann kommt vermutlich auch noch Levin, der irgendwelche Ansprüche stellt. So was hab ich echt nicht nötig! Sex wird eh total überbewertet. Genau wie Liebe. Ich gehe jetzt erst mal arbeiten.
Wieder zu Hause, gönnt man mir offensichtlich nicht mal für fünf Minuten Ruhe. Es klopft an meiner Tür und Vico latscht ins Zimmer.
„Was?“, frage ich gereizt, weil sein bloßer Anblick mir bereits auf den Sack geht, „Benzos schon alle? Brauchst du Nachschub?“
„Okay, du bist sauer“, stellt Vico fest. „Ich wollte mich … also, ich wollte dir erklären, warum …“
„Gar nicht nötig“, unterbreche ich ihn. „Deiner Freundin gings nicht gut, klar, dass du dich um sie kümmern wolltest. Alles andere wäre ja auch irgendwie … ekelhaft.“
„Ja“, sagt er, „aber ich hätte – ich wäre sonst geblieben.“
Fuck, sofort muss ich mir vorstellen, was dann passiert wäre, ich kann gar nichts dagegen tun, was mir noch mehr auf den Sack geht.
„Bei dir.“
„Was?“
„Ich wäre gern bei dir geblieben“, sagt er relativ laut.
Schön und ich hab beschlossen, mich aus allem rauszuhalten. Das wird nur leider nicht einfach, wenn der mir solche Sätze um die Ohren haut. Gut, dass mir ausgerechnet jetzt das Gespräch mit Levin wieder einfällt.
„Was war denn mit Julia? Hat sie dein Blut nicht vertragen?“
Vico blickt mich irritiert an.
„Wie man hört, bist du, was das angeht, ja echt spendabel. Vielleicht schaltest du mal dein Gehirn ein und überlegst, was ist, wenn rauskommt, dass … wir anders sind als die Spinner.“
„Müsste ich wissen, wovon du redest?“
„Levin“, helfe ich ihm auf die Sprünge.
„Klar“, seufzt er und schüttelt den Kopf. „Das war das erste und einzige Mal. Und auch nur, weil es sich echt nicht vermeiden ließ.“
„Aha und was musst du für ein Medikament nehmen?“
„Gegen meine Autoimmunkrankheit“, grinst er.
„Cool, ich hab ne Gerinnungsstörung“, grinse ich ebenfalls. Bis mir einfällt, dass ich immer noch sauer auf ihn bin. „Die Aktion war trotzdem grenzwertig.“
„Wie gesagt, es war nur das eine Mal.“
Er könnte jetzt doch wirklich gehen, finde ich. Wir haben uns ausgesprochen, es besteht kein Anlass, dass er noch länger bleibt. Das scheint er jedoch anders zu sehen. Interessiert schaut er sich die Bücher im Regal an.
„Ist ja nicht gerade die ganz normale Unterhaltungslektüre, die man so hat, oder?“
„Für mich schon“, entgegne ich. „Ich hatte mal vor, Pharmazie zu studieren.“
„Was kam dazwischen?“
„Erst die Straße, dann Silvester, dann die Tageslichtunverträglichkeit.“
„Verstehe“, antwortet er. „Straße?“
„Nachdem ich von zu Hause weg bin, war ich eine Zeit lang so was wie obdachlos. Können wir bitte das Thema wechseln?“
„Sicher“, sagt er, „wenn du nicht drüber reden willst.“
Sein Patchouligeruch, der sich langsam im ganzen Zimmer ausbreitet, macht mich total schwach. Er sollte jetzt echt gehen. Oh Mann und seine Haare, die ihm seitlich ins Gesicht fallen … ich muss schon wieder an seine weichen Lippen denken, an seine Hand, die sich aufreizend über meinen Schenkel bewegte. Schluss damit! Hab ich nicht vorhin noch beschlossen, mich rauszuhalten, verdammt?! Ich fürchte, das kann ich knicken, wenn wir erst mal … wieso steht der plötzlich so nah vor mir? Er soll gehen, verfluchte Scheiße! Vicos Zeigefinger gleitet langsam über die Stacheln an meinem Halsband, bevor sich seine Hände in meinen Nacken legen, an dem Verschluss nesteln und er mir das Halsband schließlich abnimmt. Ich starre ihn ein wenig belämmert an.
„Was?“, lächelt er sexy. „Du wolltest doch das Thema wechseln.“
Okay, mir fällt offiziell zum ersten Mal in meinem Leben keine passende Antwort ein!
Seine Hand streicht über meinen Bauch, meine Hüften, dann öffnet er die beiden Silbergürtel, lässt sie auf den Boden fallen, schiebt seine Hand leicht unter meinen Strickpullover und streicht mit den Fingerspitzen unerträglich sachte über meine nackte Haut. Dass ich mich eigentlich raushalten wollte, hab ich vollkommen vergessen, dafür hat er die Nummer hier viel zu gut drauf. Und sein Kuss überzeugt mich dann total.
Keine Ahnung, wie wir es geschafft haben, dass wir auf meinem Bett liegen, mein Hirn hinkt etwas nach, weil Vico so wahnsinnig gut küssen kann. Und weil ich unbedingt mehr will. Mehr küssen, mehr anfassen, mehr Haut. Ich setze mich auf seine Schenkel, ziehe ihm das lästige Shirt aus, drücke anschließend seine Handgelenke fest auf die Matratze und lasse meine Lippen über seine Brust gleiten. Vico bewegt sich unter mir und zieht scharf die Luft ein, als er meine Zähne spürt. Ich küsse seine Brust, streiche mit der Hand über seinen Bauch, beiße ihn ein wenig fester, öffne die Knöpfe seiner Jeans und schiebe meine Hand hinein. Vicos Atem wird schneller, geräuschvoller, was mich echt irre macht. Dann ziehe ich seine Jeans ein Stück weiter runter und fange an, ihm einen zu blasen. Langsam. Seine Finger wuseln durch meine Haare, massieren meinen Nacken. Nach einer Weile höre ich auf und mache es ihm mit der Hand. Seine Augen sind geschlossen und er beißt sich kurz auf die Lippe, bevor er kommt. Heftig kommt.
Das war nicht schlecht für den Anfang, finde ich, wische meine Hand ab und sehe interessiert dabei zu, wie sich Vico allmählich entspannt und träge die Augen öffnet.
„Verdammt“, murmelt er und atmet vernehmlich aus, „das war so nicht geplant.“
„Du hattest einen Plan?“, frage ich grinsend. „Für mich?“
Er sieht mich an.
„Allerdings.“
„Cool. Und verrätst du ihn mir?“
Er greift umständlich nach dem Whiskey, trinkt und hält mir danach die Flasche hin. Entschuldigung, aber ich kann meinen Lachanfall nicht unterdrücken.
„Okay, das kommt jetzt irgendwie reichlich verkommen rüber“, stellt er fest und lacht ebenfalls.
„Ein bisschen vielleicht“, entgegne ich und nehme einen Schluck. In Wirklichkeit finde ich Vico grad anbetungswürdig verkommen.
„Das scheint dir aber nichts auszumachen“, bemerkt er und schiebt seine Hand langsam zwischen meine Schenkel. „Gut zu wissen“, flüstert er lächelnd und küsst mich.
Wenn es sein Plan war, mich völlig verrückt zu machen, mir einen zu blasen, dass ich Sterne sehe … wenn es sein Plan war, mich verdammt noch mal darum betteln zu lassen, endlich kommen zu dürfen, dann hat er bestens funktioniert!
Vico << [zweieinhalb Jahre zuvor]
Julia war ein zierliches, blasses Mädchen mit dunkelroten Haaren, grünbraunen Augen, einem immer etwas asymmetrischen Lächeln und komplett zerschnittenen Armen. Mir war nicht ersichtlich, warum man so hausieren ging mit seinen Anomalien, aber es kam mir gelegen. Es würde die Sache einfacher machen, dachte ich.
„Ich muss dann jetzt auch mal“, sagte Levin, stellte seine Teetasse ab, stand auf und warf mir einen vielsagenden Blick zu. Mit Julia war er seit einer ganzen Weile befreundet und er hatte es darauf abgesehen, aus uns ein Paar zu machen, weil er fand, dass wir gut zusammenpassten. Ein absolut irrer Glücksfall, in mehrfacher Hinsicht.
„Pass auf dich auf“, sagte Julia, „schreibst du kurz, wenn du fertig bist?“
Levin jobbte damals bereits mehrmals in der Woche nachts an einer Tankstelle. Er verdrehte die Augen.
„Kann ich machen“, erwiderte er. Ich hatte das Gefühl, dass er es in Wirklichkeit genoss, wenn sich jemand Gedanken darüber machte, ob er heile nach Hause kam.
Er griff nach seinem Rucksack und schob den Glitzervorhang zur Seite, der das Wohnzimmer vom Flur trennte.
„Wir sehn uns“, verabschiedete er sich.
Es war, als müsste ich plötzlich nur noch mit dem Finger schnipsen um zu bekommen, was mir gerade vorschwebte. Levin war ganz offiziell auf der Suche nach einer Freundin, da er, wie er betonte, nicht schwul sei, sondern sich leider bisher körperlich bloß nicht auf Mädchen habe einlassen können. Er würde sich allerdings immer mal wieder in eins verlieben, in Jungs hingegen nicht. Perfekt, hatte ich gedacht, perfekt, perfekt! Körperlich half ich ihm gern gelegentlich weiter, aber romantische Komplikationen mit einem Achtzehnjährigen konnte ich nun wirklich nicht gebrauchen.
Außerdem hatte ich nur zwei Tage nach dem ersten Treffen mit Levin auf Anhieb eine Wohnung gefunden, wenn auch keine schöne. Das Leben gestaltete sich aktuell ganz unverhofft als die große Vico-wünsch-dir-was-Show und ich hoffte sehr, dass es noch ein bisschen so weitergehen würde. Ich konnte ja schlecht von Levin allein leben, was, wenn er mal krank wurde oder wenn man sich mal stritt, das ging alles nicht, und Julia war, wie Levin mir erklärt hatte, zu allem Überfluss auch noch eine sogenannte Donorin, also jemand, der selbst kein Blut trinkt, aber gern welches zur Verfügung stellt. Vielleicht versteht ihr euch ja, hatte er spekuliert, das würde doch echt gut passen, auch vom Alter her und so. Julia war vierundzwanzig, sah allerdings jünger aus, weil sie so zerbrechlich wirkte und im Stehen immer die Füße überkreuzte. Ich würde mir alle Mühe geben, mich mit ihr zu verstehen, so viel stand fest.
„Magst du noch Tee?“, fragte sie und sah mich an. Sie hatte einen herzförmigen Mund und eine ganz kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen, was mir in Kombination recht gut gefiel.
„Danke“, sagte ich, „gern“, und lächelte, man durfte das Lächeln nicht vergessen, jetzt, da man zu zweit war.
Julia schenkte mir Jasmintee nach, der Jasmintee passte zu ihr und zu ihrer Wohnung mit dem Glitzervorhang und den Duftkerzen. Die Duftkerzen rochen etwas aufdringlich nach Beeren.
„Ich wollte dir noch was erzählen“, begann sie, „was dich vielleicht interessiert. Levin weiß das noch nicht, weil – er ist ja noch ziemlich jung, vielleicht sollte er noch ein bisschen warten … Jedenfalls“, fuhr sie fort, „hast du ja sowieso schon … Erfahrung.“ Ich hatte keine Ahnung, worauf sie hinauswollte, war aber sehr neugierig und sah sie aufmunternd an. „Es gibt da noch ein paar Leute, die sich regelmäßig treffen. Levin will ich das auch noch erzählen, aber, wie gesagt, ich glaube, das ist noch ein bisschen früh. Ich meine …“
„Ja“, unterbrach ich sie, bevor sie sich in unangenehmen Rechtfertigungen verstrickte, „versteh ich, er soll sich erst mal ganz in Ruhe klar darüber werden, ob er das wirklich will.“
„Genau“, bestätigte Julia erleichtert und schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr, „das meinte ich.“
Ich sah sie weiter sehr aufmerksam an. Sie senkte verlegen den Kopf, blickte auf und lächelte schief. „Wir waren ursprünglich mal zwei Paare“, erzählte sie weiter, „aber irgendwann dann nicht mehr, mein Freund und ich, wir haben uns getrennt, na ja … Aber wir verstehen uns noch. Man könnte da richtig was draus machen, wir sind ja nicht die Einzigen in der Gegend, also, die da zumindest Interesse dran hätten, aber wir wissen im Moment nicht, wo. Also, wo man sich treffen könnte, zu mehreren.“ Sie pustete in ihre Tasse. „So ein richtiger Zirkel ist ja was ziemlich Festes“, fuhr sie fort, „wie eine Familie eben.“
Okay, dachte ich, okay, das wird ja immer schöner, man kanns ja kaum glauben, aber, hey, man muss die Dinge nehmen, wie sie kommen. Vielleicht hab ich versehentlich eine Glückssträhne beim Universum bestellt, die Wege des Schicksals sind unergründlich. Und an dieser Stelle passten sie gerade wie zwei Puzzleteile zusammen.
„Das klingt gut“, fand ich und meinte es so und zwar dermaßen, „und das Verrückte ist: Mir ist da vielleicht gerade was eingefallen.“ Julia hob interessiert die Brauen. „Wo ihr euch treffen könntet. Oder beziehungsweise“, ergänzte ich, „wir.“
Keine Ahnung, wie das genau aussehen soll, was sie da plant, dachte ich, aber ist ja schon mal super, dass sie überhaupt irgendwas plant, mir ist alles recht, was mit Freaks wie ihr zu tun hat, wirklich alles. Alles, was mich davor bewahrt, fremden Leuten was ins Glas kippen zu müssen oder aus Krankenhäusern Blutkonserven zu entwenden, jetzt mal ehrlich, das geht doch alles nicht. Valeri hatte da ja so seine Methoden, aber die gingen auch nicht, die waren mir entschieden zu kriminell und zwar in einer Weise, die mir nicht behagte, ich konnte das alles nicht, ich war einfach nicht dazu geeignet. Insofern war ich, wie ich annahm, mit allem einverstanden, was Julia so im Sinn hatte. Man soll sich, wie ich mittlerweile weiß, sehr genau überlegen, was man sich wünscht und wie gut man denn eigentlich persönlich mit seinen eigenen Wünschen harmoniert.
„Jetzt echt?“, fragte sie und schüttelte ungläubig den Kopf. „Levin war schon so, na ja, begeistert von dir“, sie lachte kurz und hell auf, „das fügt sich aber auch alles irgendwie zusammen, ist ja echt verrückt …“
Ich lächelte, aber nicht zu sehr, und nickte dazu. Wir sahen uns an. Zwei Verschworene, zwei künftig einem Geheimbund Angehörende, schicksalshaft zusammengeführt. Wenn ich die nicht rumkrieg, dachte ich, dann weiß ich es auch nicht.
Zu Hause probierte ich Peters alte Handynummer aus, die ich noch gespeichert hatte und hoffte, dass sie funktionierte. Es war garantiert drei, vier Jahre her, dass ich das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte. Es ertönte ein Freizeichen. Freizeichen ist ja schon mal gut, dachte ich, und dann ging tatsächlich jemand ran.
„Dass man von dir mal wieder was hört“, sagte Peter sehr laut und schien sich zu freuen.
„Ich bin gerade erst wieder hier hergezogen“, sagte ich.
„Und“, erkundigte er sich, „wie gehts dir?“
„Ganz gut soweit“, gab ich zurück, „ich wollte mal fragen, ob du den Hof noch hast?“
„Ja, klar“, erwiderte er, immer noch sehr laut, „im Moment ist da aber nichts.“
„Wie“, fragte ich, „da ist nichts?“
„Ich mach da nichts mehr mit“, erklärte er, „ich hatte da mal ein paar Leute einquartiert, das hat aber nur Ärger gegeben, die sind schon wieder weg.“
„Und du?“, hakte ich nach.
„Ich bin grad länger auf einem Seminar“, antwortete er.
„Aha“, sagte ich.
„Extraktion und Heilung“, erläuterte er.
„Ah“, machte ich ratlos.
„Schamanismus-Ausbildung“, löste er das Rätsel.
Ich konnte es mir bildlich vorstellen: wie Peter, der alte Hippie, auf magisch machte. Das passte nicht schlecht zu den Pilzen. Wie schön, dass ich noch etwas gut hatte bei ihm, wo der Hof gerade so ganz und gar ungenutzt vermoderte.
„Aha“, wiederholte ich, „interessant. Ich kenn eine paar Leute, die suchen was, wo sie mal feiern können und so.“
„Das ist doch gar kein Problem“, willigte Peter sofort ein, „das ist doch spitze, wenn da mal wieder einer was mit macht. Echt. Und sowieso, für dich doch immer, mein Freund. Da könnt ihr mir ja einfach ab und zu ein bisschen was für geben. Lilo ist meistens zu Hause, ich sag ihr, dass sie dir den Schlüssel geben soll, ja?“
Vico >> [jetzt]
„Ich hab mir schon irgendwie so was gedacht“, sagt Levin und lässt seinen Stift zwischen den Fingern kreisen, wie ein Schlagzeuger seine Sticks.
„Nichts für ungut“, entgegne ich.
Levin hebt die Brauen und legt den Stift ab, auf die Zettel vor ihm. Er macht gerade sein Abi nach und lernt gern in dem kleinen Raum mit dem Tisch und dem Spiegel, den sonst fast nie jemand benutzt.
Okay, das war ein Scheißspruch, denke ich.
„Okay, das war ein Scheißspruch“, füge ich hinzu.
„Allerdings“, bestätigt er.
Ich seufze, lehne mich zurück und verschränke die Arme vor der Brust.
„Zu mir hat sie nichts gesagt“, erklärt er nachdenklich und pustet sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht, „aber irgendwie …“
„Sie sagt so was ja auch nicht so schnell“, bemerke ich und kaue auf meiner Unterlippe.
„Ja“, Levin nickt bedächtig, „das stimmt. Manchmal ist sie echt …“
„Schscht“, mache ich.
Ich möchte nicht wissen, was Julia in seinen Augen ist oder nicht ist.
Levin atmet genervt aus.
„Hau mir doch eine rein“, murmelt er und verzieht das Gesicht.
„Autsch“, sage ich und verziehe ebenfalls das Gesicht.
„Jetzt echt mal, Vico“, sagt er.
„Ich hab mich doch schon entschuldigt“, erinnere ich ihn.
„Nein“, entgegnet er, „ich meine – ach, ist ja auch egal. Jedenfalls dachte ich in letzter Zeit auch schon mal, dass sie da irgendwie nicht so … keine Ahnung. Ist ja dann auch scheiße.“
„Ja“, stimme ich zu und stütze die Ellbogen auf die Tischplatte.
Ich hätte es wissen können, denke ich, nein, schlimmer, ich hätte es wissen müssen. Ich hätte wissen müssen, dass das nicht hinhaut auf die Dauer, mit Julia und Levin und mir und vielleicht habe ich es geahnt, aber wenn etwas so dermaßen praktisch und behaglich und angenehm ist, dann will man mit irgendwelchen nebulösen Ahnungen lieber nichts zu schaffen haben.
„Aber sonst“, spricht er weiter, „ändert sich doch nichts?“
„Was soll sich denn sonst ändern?“, frage ich.
„Was weiß ich.“ Er zuckt die Schultern.
„Da ändert sich sonst nichts“, beteuere ich, „von meiner Seite aus.“
Eine Pause entsteht. In der Wand rauscht eine Leitung, wahrscheinlich war gerade einer auf dem Klo nebenan.
„Ich hab übrigens vielleicht jemanden kennengelernt“, Levin nimmt den Stift wieder in die Hand und malt Kreise auf den Rand des zuoberst liegenden Zettels, „mit der treff ich mich jetzt mal. Da passt das vielleicht gerade ganz gut. Macht ja irgendwie einen schrägen Eindruck, wenn man gleichzeitig noch so nebenbei ein bisschen Freundschaft plus praktiziert“, grinst er, „und von vornherein lügen ist ja auch nicht das Wahre.“
„Tja, dann wünsch ich dir viel Glück“, grinse ich zurück.
„Wird schon“, sagt er und klingt dabei, als müsste er sich selbst erst überzeugen, „sie ist ziemlich interessiert.“
„Das glaub ich“, erwidere ich.
Er lächelt geschmeichelt.
„Kann ich dir mal was sagen?“, fragt er, „so ganz ehrlich? Und raste nicht wieder aus oder irgendwas.“
„Nein“, versichere ich, „klar“, und reibe mir die Stirn.
„Du bist manchmal echt scheiße“, erklärt er, „also, so richtig.“
„Oh“, sage ich, „vielen Dank.“
„Ich war noch nicht fertig“, ergänzt er. „Trotz allem ist mir das echt … wichtig, dass ich hier sein kann und so. Und überhaupt, damals war das nicht so die super Zeit für mich und außer Julia … war ja keiner da, mit dem man über alles reden konnte. Ich fänds also gut“, schließt er, „wenn wir das beibehalten würden mit der Freundschaft, also, auch ohne plus.“
Einen Moment lang weiß ich nicht, was ich sagen soll. Ich bin gleichzeitig ein bisschen gerührt, ein bisschen erschüttert und froh, dass es so einfach ist.
„Ja“, bestätige ich endlich, „das ist doch – klar, ich meine … ja“, ich muss kurz lachen, eine reine Übersprungshandlung, „natürlich.“
Levin sieht erleichtert aus.
„Gut“, sagt er, „dann ist ja alles geklärt.“
Unten steht die Tür zur Küche offen, Stefan und Timo gehen eine Liste durch und blicken auf, als sie mich sehen.
„Ist Levin noch oben?“, fragt Stefan.
Ich nicke.
„Wir wollen nämlich gleich los“, teilt er mir mit, „hier fehlt noch einiges fürs Wochenende.“
Ach ja. Eine weitere Party. Wenigstens keine mit Spendern. Mir geht es trotzdem ganz fürchterlich auf die Nerven. Allein, ich kann es nicht ändern.
„Kommst du mit?“, erkundigt sich Stefan.
Ich schüttle den Kopf. „Nein“, sage ich, „ich muss noch was für einen Kunden machen.“
„Okay“, erwidert er und notiert etwas auf der Liste, „ich dachte nur, wo du gerade da bist.“
„So viel ist es aber auch gar nicht“, fügt Timo hinzu und sieht mich freundlich an, „ist also gar kein Problem.“
Er lehnt sich gegen den Kachelofen und fährt sich einmal durch die kurzen, dunklen Locken.
„Gut“, nicke ich, „dann bis später mal.“
Vielleicht sollte man das alles hier einfach mal abbrennen, denke ich, aber was dann? Es gibt keine Lösung, es gibt kein ganz normales Leben, es wird alles immer so weitergehen, man wird es für immer mit diesen Leuten zu tun haben und wenn nicht mit diesen, dann mit ähnlichen. Wobei, ein paar von ihnen würde ich wohl vermissen. Wenn nur die ganzen Partys nicht wären und der ganze Aufwand und das Verheimlichen der wirklich wesentlichen Angelegenheiten. Ich öffne die Tür zur Scheune.
„Ich finde, er könnte sich auch mal wieder ein bisschen für den Zirkel engagieren“, höre ich Timo mit gedämpfter Stimme sagen, „er kann sich ja nicht ewig drauf ausruhen, dass er den Hof klargemacht hat. Ich meine, wie lange ist das jetzt her? Über zwei Jahre?“
„Ach“, sagt Stefan, „jetzt lass ihn mal.“
Zu Hause kann ich mich dann tatsächlich überwinden zu arbeiten, es hat sich einiges angesammelt in den letzten Tagen, das muss jetzt mal wirklich aufhören, denke ich, mit den Exzessen und dem ganzen Scheiß, das reicht, man kommt ja zu nichts, man kann sich überhaupt nicht konzentrieren, es reicht wirklich.
Ich schicke eine letzte E-Mail ab, betrachte den albernen blassrosa Küchentisch und frage mich, wer sich diese Einrichtung ausgedacht hat und ob sie sich überhaupt jemand ausgedacht hat oder ob sie einfach aus dem Kram besteht, der eben gerade da war. Der Schrank hat schon was, der Tisch hingegen ist echt etwas drüber und dann fällt mir auf, dass man über solche Sachen nur dann nachdenkt, wenn man sich vor etwas drückt oder auf jemanden wartet. Es ist schon ziemlich spät, ich habe endlich die Sache mit Levin beendet, ich habe ziemlich viel erledigt gekriegt, restlos komplett legale Aufträge, ich habe nichts getrunken, alles sehr ungewöhnlich.
Draußen fängt es an zu regnen, ich fahre das Notebook herunter, der Regen wird stärker und prasselt gegen die Scheibe.
Es dauert, denke ich, bis Julia mal was sagt, was in etwa bedeutet, dass sie schon länger, vielleicht schon sehr lange oder vielleicht sogar schon immer nicht mit Levin einverstanden gewesen ist. Aber wie, frage ich mich, hat sie es dann geschafft, mit ihm befreundet und mit mir zusammenzubleiben?
Das ist jedenfalls nur eine Sache von vielen, die aufhören musste. Auf Blut zu verzichten ist im Moment allerdings keine Option seit dem letzten Mal und eigentlich war es auch vorher nie eine oder höchstens für ganz kurze Zeit, für ein oder zwei Tage, wo ich dann das Gefühl hatte, besser nachdenken zu können und klügere Entscheidungen zu treffen, zumindest früher mal irgendwann oder vielleicht habe ich mir das nur eingeredet, weil ich nicht wahrhaben wollte, dass es auch damit immer so weitergehen wird.
Der Regen lässt allmählich nach, es war anscheinend nur ein Schauer, es wird bald Frühling, die Tage länger, die Nächte kürzer, Zeit, Saschas Augentropfen auszuprobieren, dann haut es vielleicht hin, ein bisschen früher am Abend mit Sonnenbrille wie ein Vollidiot durch die Gegend zu spazieren.
Außerdem, denke ich, außerdem müsste man unbedingt mal mit Sascha reden und zwar ernsthaft.
Ich stehe auf und sehe im Kühlschrank nach, was wir so haben, erstaunlicherweise haben wir Kirschsaft, das finde ich so eigenartig, dass ich mir gleich etwas davon nehme, fehlt ja eigentlich nur noch Bananensaft, überlege ich und das ist doch schon wieder so ein Schwachsinnsgedanke und wo bleibt eigentlich Sascha, es ist halb fünf oder schläft der heute woanders? Bei dieser Vorstellung stellt sich ein unangenehmes Ziehen ein, irgendwo zwischen Hals und Magengegend. Hey, rufe ich mich innerlich zur Ordnung, kein Grund enttäuscht zu sein, nur weil der Mitbewohner nicht erscheint, man darf das nicht überbewerten, was da nach der Spenderparty passiert ist, das wäre kompliziert, das würde alles nur noch komplizierter machen. Das Schlimme ist, dass ich es schon die ganze Zeit überbewerte, wenn man mal ganz ehrlich ist und dann komme ich jedes Mal zu dem Schluss, dass es sehr wohl eine Alternative gäbe zu den Spinnern und den Spendern oder zumindest etwas, das die Spinner und Spender erträglicher macht, Saschas Gesellschaft nämlich, seine bloße Anwesenheit eigentlich schon, wenn man sich gemeinsam irgendwo aufhält, weil er weiß, wie es läuft und worum es geht und wie es ist. Und weil er ziemlich hübsch ist, trotz oder wegen der ganzen Stachelhalsbänder, Silbergürtel und Vanilledüfte und weil er Dinge beherrscht, die Julia und Levin nicht einmal zusammengenommen in ähnlicher Weise beherrschen, und weil er immer so entschlossen ist und weil er gar nichts dagegen zu haben scheint, wenn man auch mal ein bisschen entschlossen ist. Unten fällt die Haustür zu. Ich sollte das alles nicht denken, auf gar keinen Fall, schon gar nicht den Teil mit Julia und Levin oder wenigstens nicht den mit Julia.
Ich bekomme schon wieder Kopfschmerzen, wie bei der Spenderparty mit dem ganzen Blut und dem Sascha, der sich genauso schlimm zusammenreißen musste wie ich, bloß dass es daran jetzt nicht liegen kann. Ich sollte aber auch wirklich nicht mit allem auf einmal aufhören, das kann ja nicht gutgehen.
„Hi“, grüßt Sascha, „ist irgendwas passiert?“
Er zieht seine durchnässte Jacke aus. Seine Haare sind ebenfalls nass. Ich stehe immer noch ziemlich ratlos in der Küche herum, mit einem Glas Kirschsaft in der Hand und mache offenbar den Eindruck, als sei etwas passiert.
„Ja“, sage ich, „nein, ich hab – auf dich gewartet.“
„Aha?“, fragt er.
„Ja“, wiederhole ich, „können wir reden?“
„Wein oder Kirschsaft?“, will er wissen und deutet auf mein Glas.
„Kirschsaft“, antworte ich.
Man könnte sagen, dass wir uns in den letzten zwei Tagen aus dem Weg gegangen sind oder es war einfach Zufall, dass wir uns so gut wie gar nicht gesehen haben. Kann ja alles mal vorkommen.
„Wär wahrscheinlich nicht verkehrt“, stimmt er zu, atmet einmal tief durch und setzt sich auf den Stuhl vor dem Fenster.
Ich lehne mich gegen die Arbeitsplatte, etwas Sicherheitsabstand kann nicht schaden.
„Also“, beginne ich, und das ist selten ein guter Anfang, das zeigt wieder nur, dass man nicht weiß, was man sagen soll, „ich wollte ja mal ein bisschen Ordnung schaffen, so insgesamt.“ Sascha sieht mich an, mit seinen ziemlich hübschen braunen Augen und ein paar nasse Haarsträhnen hängen ihm in die Stirn. „Bei mir ist wohl alles ein bisschen …“, ich überlege, wie ich es am besten ausdrücke und was überhaupt genau, „viel gewesen in letzter Zeit.“ Und schon weiß ich nicht weiter. Sascha sagt nichts und schaut nur. „Dazu gehört auch …“, fahre ich endlich fort, „dazu gehört auch … Das ist wohl auf die Dauer nichts mit, ähm“, ich trinke einen Schluck Kirschsaft, „mit der offenen Beziehung.“ Sascha hebt die Brauen und sagt immer noch nichts. „Deshalb“, erkläre ich, „hab ich heute mit Levin gesprochen, das ist ja nicht fair, wenn einer darunter leidet, dass …“
„Für Julia“, unterbricht Sascha mich, „ist das nichts mit der offenen Beziehung?“
„Genau“, bestätige ich und setze mich nun doch, auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches, Sascha gegenüber.
„Okay“, sagt er, es klingt distanziert.
„Das heißt also auch, dass – es jetzt nicht besonders nett wäre …“, spreche ich weiter.
„Was“, fragt er, „wär nicht besonders nett?“
Es ist nicht gut, denke ich, zu wissen, wie sich so ein Sascha anfühlt und eigentlich würde ich ihm gern etwas ganz anderes sagen und am liebsten auch etwas in der Art zurückgesagt bekommen, etwas, das zum Ausdruck bringt, dass es doch etwas anderes ist mit ihm und mit mir als vielleicht mit den meisten Leuten, mit denen man mal kurz zusammenwohnt, dass es da diese Dinge gibt, die man mit kaum jemandem teilen kann und dann auch noch ein paar weitere, die man grundsätzlich mit vielen anderen teilen kann, aber die miteinander doch ganz gut funktionieren und damit meine ich nicht nur die Entschlossenheit und das alles, sondern auch, dass man zum Beispiel weiß, worüber man lachen kann und worüber nicht, und dass man sich ab und zu nur anzusehen braucht, um zu wissen, was der andere denkt, bevorzugt bei Spinnerzeremonien, was ja dann durchaus auch im normalen Leben nicht ausgeschlossen wäre. Wenn es, denke ich, ein normales Leben gäbe.
Oh Gott, ich glaub, ich vertrag schon wieder meine guten Vorsätze nicht.
„Ich meine, das ist es ja nicht …“, sage ich, „wert, oder?“
„Nein“, erwidert Sascha kalt, „ist es nicht.“
Ich nicke. Absurderweise kommt es mir so vor, als wäre jetzt wirklich etwas passiert oder eingetreten, eine schlechte Nachricht oder eine böse Überraschung.
„Du verstehst das, oder?“, vergewissere ich mich etwas sinnlos, „das war ja eine längere Geschichte bei dir und deinem –“
„Das war keine Geschichte“, unterbricht er mich erneut.
„Okay, falsches Wort“, sage ich, „sorry.“
„Ja“, gibt er zurück, „versteh ich. Ich versteh das.“ Er legt beide Hände auf die Tischplatte. „So eine große Sache war das jetzt auch nicht“, ergänzt er, „vorgestern.“
„Nein“, sage ich, „genau.“
Sascha sieht aus dem Fenster. Inzwischen hat es aufgehört zu regnen.
Ich trinke den Kirschsaft aus, es hilft kein bisschen gegen das schlechte Gefühl zwischen den Rippen und natürlich auch nicht gegen die Kopfschmerzen und die Kälte, die mir vorher gar nicht aufgefallen ist. Das wurde Zeit, denke ich, das wurde alles mal Zeit, das ist schon alles richtig so und dann fürchte ich mich vor dem Schlafengehen, noch mehr als sonst, vor den vielen, langen Stunden bis zum nächsten Abend, die man ganz allein durchstehen muss, weil an ein gemeinsames Einschlafen und Aufwachen, mit wem auch immer, gar nicht zu denken ist. Weil Julia sowieso schon zu viele eigene Probleme hat und weil Sascha mich leider nicht brauchen kann, was ja verständlich ist, wozu auch, mit Spaß hätte das dann nicht mehr viel zu tun. Und das habe ich jetzt gerade überhaupt nicht gedacht, den letzten Teil des Satzes, den mit Sascha, meine ich. Ende der Durchsage.
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