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Runaway

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Mit einem lauten Knall verabschiedet sich mein Fön aus dieser Welt. Der Tag fängt ja schon mal nicht schlecht an, verdammte Scheiße! Nachdem ich mich von dem Schock erholt habe, werfe ich einen Blick in den Spiegel...das hätte ich lieber unterlassen sollen. Denn, was ich zu sehen bekomme, ist alles andere als der coole, hippe, rothaarige Grinsefressenboy, in den man sich laut Haarfärbepackung verwandeln sollte. Ich hasse die ganze Welt. Die Farbe auf meiner Rübe sieht zum Kotzen aus. Für ein schönes Rot nicht rot genug und für ein knalliges Orange nicht orange genug. Irgendwas Undefinierbares dazwischen eben. Wieso geht bei mir eigentlich grundsätzlich ALLES schief??

Zu allem Unglück bringt der Postbote auch noch einen Brief. Und zwar mit einem fetten Schulstempel drauf. Klar ist der an meine Eltern adressiert, aber die sind nicht da und schließlich wird’s ja wohl um mich gehen. Also. Hastig überfliege ich die Zeilen, mein Blick klebt an einem einzigen Wort: Schulverweis. Super, oder?! Ich meine, das kann sich doch nur um einen Irrtum handeln. Oder ich hab mich verlesen. Aber es steht da, schwarz auf weiß.

Scheiße scheiße scheiße! Ich studiere den Brief noch einmal... aufmerksamer. Da steht was von Drogenhandel und kriminellen Machenschaften. Ich und Drogen... ein guter Witz. Mann, ich hab dem Rektor doch erklärt, dass ich das blöde Päckchen nur für einen Mitschüler aufbewahrt habe. Dummerweise konnte sich besagter Schüler jedoch nicht mehr daran erinnern, als er befragt wurde. Der Rektor faselte noch was von wegen, die Sache würde ein Nachspiel haben und ich weiß bis heute nicht, was zur Hölle in dem verdammten Päckchen gewesen sein soll und warum man bestraft wird, wenn man anderen Leuten einen Gefallen tut?!

Schulverweis... das Wort wabert sich durch mein Hirn. Naja, es gibt schließlich noch andere Schulen. Kein Grund zur Panik. Ich bezweifle allerdings, dass meine Eltern das genauso locker sehen. Die sind nämlich von Natur aus eher total streng und verstehen nicht den kleinsten Spaß. Erstmal zerreiße ich den Brief, spüle die Schnipsel im Klo runter und finde, mein Problem ist deshalb noch lange nicht gelöst. Ich muss mir dringend was einfallen lassen. Nach zehn Minuten bin ich der festen Überzeugung, dass es nur einen Ausweg gibt: Abhauen!

Aus dem Staub machen, bevor meine Eltern nach Hause kommen und mich windelweich prügeln. Das heißt... meine Eltern schlagen eigentlich nicht. Die haben andere Methoden.

Hausarrest bis ich fünfzig bin z.B., oder aber die machen die Drohung war und schicken mich auf dieses blöde Kackinternat. Da wo man Schuluniform tragen muss und wo's nur Jungs gibt und man christlich erzogen wird. Meine Eltern sind sehr für christliche Erziehung. Besonders seit meine Mutter mich beim Onanieren erwischt hat. Aua, war das peinlich. Für sie mehr als für mich. Sie hat tagelang nicht mit mir gesprochen, nur andauernd beim Essen und so weiter angeekelt auf meine Hand gestiert. Das hat mich dann wiederum so nervös gemacht, dass ich die sprichwörtlichen Wichsgriffel verstohlen an meiner Hose abwischte, obwohl ja gar nichts dran war. Mein Gott, es ist doch wohl normal, dass sich ein Fünfzehnjähriger ab und zu einen runter holt, oder? Ich übertreibe es ja nun auch nicht.

Wie auch immer, ich packe schnell ein paar Sachen in meinen Rucksack, haue mein Sparschwein kaputt, greife mir das Geld und verlasse mein Zuhause mit der festen Absicht, niemals wiederzukommen.

Wie sich das für einen waschechten Ausreißer gehört, fahre ich bequem mit dem Zug in die nächst größere Stadt und treibe mich in der Fußgängerzone rum; esse Eis und genieße meine Freiheit. Nach drei Stunden wird mir allerdings langweilig. Sollte vielleicht langsam mal überlegen, wo ich nachher schlafen werde. Hotel ist ja wohl zu teuer. Und uncool. Aber draußen ist es nachts noch ziemlich kalt. Kacke, ich hätte das alles ein bisschen besser planen sollen. Erstmal zurück zum Bahnhof. Warum weiß ich nicht. Oder doch... ich hab nämlich eine Menge Ausreißergeschichten gelesen und weiß deshalb, dass sich immer alles irgendwie am Bahnhof abspielt. Außerdem ist es da hell und man ist windgeschützt.

Während ich also bei den Schließfächern rumlungere, fällt mir auf, dass noch ein paar andere Jungs mit mir lungern. Mann, sind die runtergekommen. Nicht alle aber doch die meisten.

Sicher nehmen die schlimme Drogen. Womöglich sogar Heroin! Auf alle Fälle gehe ich ein paar Schritte weg von denen. Bestimmt haben die ansteckende Krankheiten, weil die sich gegenseitig ihr Spritzbesteck leihen. Ich meine, die spritzen sich ihr Heroin doch höchstwahrscheinlich. Also, damit will ich nichts zu tun haben. Gar nichts!

„Martin?“

Mein Kopf schnellt nach oben. Wieso eigentlich? Mein Name ist nicht Martin, sondern Alexander.

„Oh, entschuldige, hab dich wohl verwechselt“, lächelt ein Mann, der ein bisschen aussieht wie mein Vater.

„Ja, kann sein“, entgegne ich freundlich.

„Äh... wartest du auf jemanden?“

„Nicht unbedingt.“

Er tritt nervös von einem Bein aufs andere und ich frage mich einen Augenblick, ob das vielleicht ein Bulle ist, der nach mir sucht. Allerdings glaube ich nicht, dass meine Eltern meine Abwesenheit schon bemerkt haben.

„Wie... wie alt bist du?“

Hä? Was geht’n den das an? Überhaupt... was will der von mir? „Achtzehn.“

Er mustert mich. „Mh, siehst viel jünger aus. Vierzehn hätte ich geschätzt.“

Irgendwie finde ich es ekelhaft, dass er mich so begafft.

„Du... du siehst aus wie mein Sohn.“

Aha, deshalb. „Martin?“

„Ja... das war sein Name.“

„War?“ frage ich.

„Er ist vor einem halben Jahr gestorben.“

Ach du Scheiße! „Oh, das tut mir leid“, sage ich betroffen.

„Hör mal, nicht dass du denkst, ich will mich aufdrängen aber... wenn du nicht weißt, wo du heute Nacht hin sollst... du kannst bei mir schlafen.“

HAHAHA! Alles klar! „Nicht nötig, ich hab schon...“

„Nein“, unterbricht er mich, „ich bin keiner von den miesen Typen, die hier kleine Jungs ansprechen. Es ist nur... weißt du, mein Sohn... er... ich möchte einfach nicht, dass es dir so ergeht wie ihm. Du kannst auf dem Sofa schlafen und ich frag nicht weiter nach, warum du von Zuhause weggelaufen bist.“

Okay, entweder die Nacht draußen in der Kälte verbringen oder in einer warmen Wohnung bei einem trauernden Vater. Es fällt mir nicht schwer, mich zu entscheiden.

Der Typ macht auch noch einen harmlosen Eindruck, als wir in sein Auto steigen, durch die Stadt fahren und er redet und redet. Seine Frau ist schon vor Jahren abgehauen, sein Sohn, wie schon erwähnt, gestorben und er... mh, er hat es sich wohl zur Aufgabe gemacht, kleine Ausreißer vor einer widerlichen Drogen-Stricher-Karriere zu retten. Hat vermutlich ein schlechtes Gewissen, weil’s bei seinem eigenen Kind nicht geklappt hat. Er tut mir wirklich sehr sehr leid. So leid, dass ich seine Hand auf meinem Schenkel dulde, dann aber doch irgendwie nicht. Sicher war das nur eine väterliche Geste, ich meine, er hat jetzt nicht wer weiß wie rumgefummelt. Trotzdem. Der soll sowas mal lieber lassen.

„Hast du eine Freundin?“ fragt er.

„Nee.“

„Einen Freund?“

Mir ist, als leckt er sich ein wenig die Lippen. Ich schüttele den Kopf.

„Kann ich mir gar nicht vorstellen. Jungs in deinem Alter sind doch verrückt nach Sex.“

Er lacht blödsinnig, als hätte er einen total guten Joke gemacht. Ich kriege langsam doch Beklemmungen.

„Äh... ich muss da vorne raus.“

Er sieht mich überrascht an. „Was? Wieso denn?“

„Hab’s mir anders überlegt. Ich... kann vielleicht bei einem Freund übernachten. Trotzdem danke für das Angebot.“

„Unsinn. Du kommst mit zu mir“, erklärt er und legt seine Hand schon wieder auf meinen Schenkel.

„Würden Sie das bitte lassen?“

Seine Hand wandert höher. Okay, Alex, ruhig bleiben und nachdenken. Du musst hier raus aber während der Fahrt ist das ungünstig. Bloß nicht provozieren, wer weiß, vielleicht hat der Typ ein Messer oder Schlimmeres. Ungeniert greift die väterliche Flosse in meinen Schritt.

Ein ekliges Seufzen dringt aus seiner Kehle. Mir wird übel. Dann halten wir plötzlich auf einem Parkplatz oder sowas in der Art. Blitzschnell hat der Typ seinen Gurt gelöst und bedrängt mich. Grapscht nach meiner Hand und schiebt sie zwischen seine Beine.

„Komm... fass mich an“, keucht er hektisch. „Nun mach schon... Junge.“

Mein Hirn setzt aus. Ich schlage wild um mich, treffe seine Wange, finde den Hebel für die Tür, stolpere hinaus und laufe.

Ich renne wie ein Irrer. Bis ich Seitenstiche bekomme und verschnaufen muss. Inzwischen ist es übrigens stockdunkel, ich weiß nicht, wo ich bin und meinen Rucksack habe ich im Pädo-Auto vergessen. SO hab ich mir meinen ersten Tag auf der Straße nicht vorgestellt. Ganz sicher nicht!

Mit Gummibeinen schleiche ich durch die düsteren Straßen. Bei jedem Geräusch drehe ich mich nach allen Seiten um. Angst ist eine schlechte Angewohnheit und ich stehe ihr grad ziemlich machtlos gegenüber. Als ich auch noch Schritte hinter mir höre, bin ich drauf und dran, mir in die Hose zu kacken. Geil, und morgen steht in der Zeitung: ...die Leiche eines Teenagers mit vollgeschissener Hose! Blitzschnell stelle ich mich in einen Hauseingang und hebe eine Flasche, die dort glücklicherweise rumliegt, vom Boden auf. Die Schritte sind jetzt ganz nah.

„Hau ab. Ich kann Karate!“ zische ich in die Dunkelheit und muss fast lachen über diese idiotische Bemerkung.

Mein Verfolger scheint sie ebenfalls sehr lustig zu finden, denn ich höre ein heiseres Kichern.

„Ich bin auch bewaffnet“, setze ich noch eins drauf. Wenn der Typ jetzt nicht Leine zieht, weiß ich’s auch nicht.

„Hey, bleib mal locker... ich ergebe mich.“

Vorsichtshalber hole ich mit der Flasche aus, bereit zuzuschlagen, als sich aus der Dunkelheit eine Gestalt formt und wenige Schritte neben mir gegen eine Laterne lehnt. Ein Feuerzeug flammt kurz auf, eine Zigarette wird angezündet. Komisch, dass der Kerl keine Angst vor mir hat. Wirke ich denn nicht bedrohlich mit der Flasche?

„Warum schleichst du hinter mir her?“ wage ich zu fragen und komme aus meinem Versteck hervor. Die Gestalt unter der Laterne ist ein Mann... äh... ein Junge... naja, ein junger Mann.

Er sieht mich überrascht an. „Ich will nach Hause. Was fällt dir ein, mich so zu erschrecken? Soll ich einen Herzinfarkt kriegen oder willst du mir zuerst deine Flasche über die Rübe ziehen, mh?“

Augenblicklich lasse ich das Teil fallen. Es zerbricht in viele kleine Splitter. „Tschuldige.“

„Is okay“, antwortet er und will weitergehen.

„Warte mal...“

Er dreht sich um. „Was denn? Willste mir vielleicht noch ein paar Karateschläge verpassen?“ grinst er.

„Nee“, sage ich, „ich kann gar kein Karate.“

„Sieht aus, als hätte ich noch mal Glück gehabt, was? Naja... also dann. Mach’s gut.“

„Ich heiße Alexander.“

„Schön für dich“, seufzt er.

„Ich weiß nicht, wo ich hin soll“, entfährt es mir.

„Versuch’s mit deinem Zuhause.“

„Aber... das geht nicht. Ich hab keine Ahnung, wo ich bin und meine Tasche ist weg, weil so ein ekelhafter Typ mich in seinem Auto begrapschen wollte... der dachte echt, ich bin ein Strichjunge oder sowas... jedenfalls hat der von seinem toten Sohn gefaselt, also bin ich mit und dachte, der ist vielleicht ganz nett und lässt mich bei sich schlafen und dann fängt er plötzlich an, so komisches Zeug zu reden... über Sex und so... ja und dann grapscht er mir ans Bein und ich bin raus und...“

„Wow, halt sofort die Klappe, mir wird schwindelig von deinem Gefasel“, unterbricht er mich.

„Aber ich hab meine Tasche in seinem Auto vergessen... da war mein ganzes Geld drin und alle meine Sachen und jetzt weiß ich nicht weiter“, erkläre ich verzweifelt und bin kurz vorm heulen.

„Tut mir echt leid aber ich hab auch meine Probleme“, entgegnet er und geht.

Okay, ich heule. Peinlich aber was soll man in meiner Situation sonst machen?! Nach fünf Schritten kommt der Typ zurück.

„Also schön, du kannst erstmal bei mir pennen.“

„Danke“, schniefel ich und schleiche ihm nach. „Wie heißt’n du?“

„Flip.“

„Wie der Grashüpfer?“

Ich bekomme keine Antwort, was ich sehr unhöflich finde. Na gut, schaue ich ihn mir halt ein wenig genauer an. Er scheint ja wohl eher in die Kategorie Punk zu fallen. Abgewetzte Jeans, hohe Doc’s, grauer Strickpulli, der hier und da eingerissen ist; Gürtel um die Hüften geschlungen, Lederjacke. Sieht reichlich abgefuckt aus. Nicht dreckig aber... mh, freakig, oder sowas. Sicher ist er älter als ich. Vielleicht zwanzig, keine Ahnung, ich kann das nicht so schätzen. Seine linke Braue ist gepierct und am Ohr baumelt ein silbernes Anarchiezeichen.

Nach zehn Minuten bleibt Flip in einem, ich möchte mal sagen, heruntergekommenen Hinterhof stehen. Die Tür des Hauses ist dunkelkackbraun mit einer kleinen Glasscheibe in der Mitte. Sieht irgendwie eher nach Kellertür aus. Er stemmt sie einen winzigen Spalt auf, wobei ein ekelhaft quietschig-schabendes Geräusch entsteht.

„Na, geh schon rein.“

„Äh... wieso?“ frage ich dämlich.

„Ich dachte, du wolltest bei mir schlafen.“

„Ja aber... doch nicht... hier, oder?“

Er zuckt die Schultern. „Okay, kannst dir gerne ein fünf Sterne Hotel suchen. Gute Nacht.“

Unwohl zwänge ich mich durch den Türspalt, durch den Flip bereits verschwunden ist.

Mh... sieht aus wie ein relativ normaler, wenn auch ziemlich abgerissener, Hausflur mit Schachbrettmusterbodenbelag und grauen, teilweise verbeulten, kaputten, Briefkästen neben dem Eingang. Es riecht feucht und muffig. Eine Treppe führt nach oben. Die Farbe am Geländer ist abgeblättert, man muss aufpassen, dass man sich keine Holzsplitter in die Finger jagt. Zwei Türen, eine ist angelehnt. Schätze, da ist meine neue Bleibe. Die Zimmer sind dreckig und unglaublich verwohnt. In einem liegen zwei zusammengeschobene Matratzen mit Kissen und Decken. Die Tapete scheint aus den Siebzigern zu stammen. Blumenmuster. Sehr viel grün, orange und braun. Vor dem Fenster hängt lediglich eine karierte Decke. Ein einsamer Einkaufswagen steht herum, da liegen Flips Klamotten drin, wie mir scheint. Übrigens ist es hier nicht ganz so schmutzig, wie beispielsweise in der Küche. Da möchte ich echt nie wieder reingehen. Jedenfalls gibt’s schon mal weder Fernseher, noch andere Entertainmentgeräte wie z.B. in meinem Zimmer. Aber, naja, diese... äh... Wohnung sieht auch nicht unbedingt aus, als könne hier tatsächlich noch ein Mensch leben.

Flip zündet ein paar Kerzen an, die in Flaschen stecken oder einfach auf dem Boden stehen, schmeißt sich auf die Matratze, zieht seine Schuhe aus und steckt sich eine Zigarette an.

„Kannst dich hier hinlegen“, murmelt er und klopft neben sich. „Hast ja keinen Schlafsack...“

„Danke. Wohnst du schon lange hier?“ frage ich unbehaglich.

„Ein paar Monate.“

„Alleine?“

Er sieht sich um und danach mich an. „Naja, jetzt wohl nicht mehr, mh?!“

Während ich mich neben ihn setze, zieht Flip ungeniert seinen Strickpulli aus, das T-Shirt darunter auch. Ich bin beim Pullover vorsichtshalber schon mal rot geworden. Werde ich immer, wenn sich Jungs vor meiner Nase ausziehen. Also nicht, dass sich ständig Jungs vor meiner Nase ausziehen aber... ich bin halt ein kleiner Schambolzen und hab’s nicht so mit nackter Haut. Flip hat offensichtlich keinerlei Probleme damit, sich vor einem Fremden zu entblößen. Naja, warum auch?! Er sieht ziemlich gut aus. Schlank ist er. Aber nicht dünn. Er ist eher etwas weicher und... äh... naja, hat jedenfalls keinen super flachen Bauch. Da ist eine ganz leichte Wölbung zu sehen. Seine Haut schimmert im Kerzenschein wie Vanillecreme, auf seinem linken Oberarm ist eine schwarze Fledermaus tätowiert. Flips Haare gefallen mir. Blond und verstrubbelt, die Spitzen hellblau... irgendwie plüschig wie bei einem Kuscheltier. Oh Gott! Und ich mit meiner Beknacktenfarbe auf dem Schädel!!

Langsam nimmt er die schweren Silbergürtel ab, die ihm um die Hüften baumeln, schlängelt sich aus seiner Jeans und schlüpft unter die Decke.

„Nacht“, murmelt er. „Mach die Kerzen aus, wenn du fertig bist, okay?“

Als die Kerzen aus sind lege ich mich vollständig angezogen neben ihn und höre mein Herz blödianistisch laut bollern. Ich schätze, es ist normal, dass ich nervös bin. Ist schließlich meine erste Nacht als Straßenkind!


Der zweite Tag fängt mittags an, als Flip mich weckt. Und zwar indem er mir grinsend ein Schokobrötchen unter die Nase hält.

„Hier, ich hab gedacht, du hast sicher Hunger, ja? Hab auch was zu trinken und...“, er kramt kurz in seiner Tasche, „eine Zahnbürste für dich geklaut.“

„Zahnbürste?“ fasele ich verschlafen und wirr.

„Ja, deine Klamotten sind doch weg und meine Oma hat immer gesagt, man soll seine Zähne hübsch pflegen.“

„Äh... danke.“

„Übrigens... wenn du gleich hier raus gehst, die zweite Tür... da ist das Bad. Funktioniert alles noch. Ist zwar reichlich versifft aber man muss wenigstens nicht in die Ecke kacken.“

Mh, hab mich schon gefragt, wie die Leute in meinen Büchern das machen. Aber so viel Realität ist wahrscheinlich Gift, wenn man eine gute Geschichte verkaufen will, oder? Wie auch immer, ich bin SEHR froh, dass es hier doch einigermaßen komfortabel ist!

„Und... schon was vor heute?“ fragt er kauend.

„Nee.“

„Bist das erste Mal von Zuhause weg?“

„Hm-hm.“

„Wow... da haste aber echt Glück, dass du mich getroffen hast. Die meisten Jungs landen ziemlich schnell in der Gosse oder am Bahnhof, was ungefähr dasselbe ist. Lassen sich für’n paar lausige Scheine in den Arsch ficken und enden mit ‘ner Nadel im Arm auf’m dreckigen Klo.“

„Du machst sowas also nicht?“

„Sehe ich aus wie ein Stricher? Oder wie’n verdammter Junkie?“

„Äh... ich weiß nicht genau, wie die aussehen“, gebe ich zu.

„Jedenfalls lasse ich mich nicht für Kohle von irgendwelchen alten Scheißern vernaschen. So tief könnte ich nie sinken, echt nicht.“

„Und wovon lebst du?“ frage ich interessiert.

Flip zuckt die Schultern. „Ach... irgendwas ergibt sich immer. Und du? Was haste jetzt für Pläne?“

„Keine Ahnung“, entgegne ich weinerlich, weil mir grad bewusst wird, dass ich ziemlich am Arsch bin. Ohne Klamotten, ohne Geld, ohne alles.

„Kannst hierbleiben. Is ja genug Platz. Nur, sag’s keinem, sonst kommen die alle an und machen sich hier breit. Das ist aber mein Palast, war schwierig genug, ihn zu finden.“

„Wem sollte ich das denn sagen? Ich kenne niemanden.“

„Ich geh gleich in den Park, ein bisschen rumhängen und so. Wenn du willst... komm mit.“

Naja, hab ja eh nichts Besseres vor.

Als wir aus dem dusteren Hausflur auf die Straße kommen, blendet mich erstmal die grelle Sonne, so dass meine Augen zu tränen anfangen. Ich fühle mich leicht schmutzig und irgendwie klamm. Daran werde ich mich gewöhnen müssen, denke ich. Flip klaut im Vorbeigehen Äpfel von einem Obststand und gibt mir einen.

„Vitamine sind total wichtig, wenn man bei diesem Wetter quasi draußen pennt“, erklärt er, „besonders, wenn man’s nicht gewohnt ist. Willst doch keine Erkältung kriegen, was?“

Ich bin beeindruckt von seiner Fürsorge. So beeindruckt, dass meine Hand zittert, als ich nach dem Apfel greife und aus Versehen seine Finger berühre. Überhaupt bin ich wahnsinnig froh, dass Flip bei mir ist. Er scheint eine Menge Ahnung vom Straßenleben zu haben. Ohne ihn würde ich wahrscheinlich tatsächlich wer weiß wo landen. Das hat die Aktion mit dem Kerl gestern deutlich gemacht. Ich bin schrecklich naiv und viel zu vertrauensselig.

Im Park angekommen steuert Flip auf eine Gruppe von Leuten zu, die in der Nähe eines Denkmals hocken. Laute, bunte abgerissene Gestalten. Ungefähr jeder hält eine Bierdose oder Alkoholflasche in der Hand. Ein Typ kotzt gerade in einen Busch. Bei dem Anblick kommt’s mir auch fast hoch. Insgesamt besteht die Gruppe aus sieben Leuten und zwei Hunden. Drei Mädchen, so weit ich das erkennen kann. Eines von denen strahlt übers ganze Gesicht, als es Flip sieht und hängt sich sofort an seinen Hals.

„Cat“, keucht er, „Cat... nicht so doll, Mann.“

„Wieso kommst du erst jetzt?“

„Sind wir verheiratet?“ zischt er genervt.

Also diese Cat ist mir unsympathisch. Weiß nicht wieso, denn eigentlich hab ich mit ihr ja nix zu schaffen. Hübsch ist sie. Ganz dünn mit kinnlangen tintenblauen Haaren und engen schwarz-weiß gestreiften Hosen. Darüber ein zerrissenes Shirt und eine Lederjacke. Die anderen sind genauso punkig gekleidet. Nur einer nicht, der trägt schwarz und ist vermutlich Gruftie. Der kommt gleich auf mich zu, als ich mich auf die Wiese setze, weil Flip mit den Leuten redet, und bietet mir seine Wodkaflasche an.

„Nein, danke“, sage ich höflich.

Gruftie setzt sich neben mich. „Hast du was zu rauchen?“

„Tut mir leid.“

„Shit... wer bist du überhaupt?“

„Alexander.“

„Hi... ich bin Kiwi“, lächelt er und streckt mir seine Netzhandschuhflosse hin. Dann verdreht er seinen Schädel. „Ey, Flip... wo haste denn den her, mh?“

„Ist mir gestern zugelaufen“, bölkt Flip zurück.

„Dann darfste ihn behalten“, schreit Kiwi und sieht mich wieder an. „Möchtest du, dass er dich behält, ja?“ fragt er leise, streicht mir dabei mit dem Finger über die Wange.

Ich werde knallrot und weiß nicht, was ich darauf antworten soll.

„Ui... der ist ja noch ganz süß schüchtern.“

Mein Schädel steht mittlerweile in Flammen. Flip tritt elegant nach Kiwis Schuh.

„Ey, hör auf damit, ja?“

Zum Glück verzieht Kiwi sich und Flip sitzt plötzlich neben mir und legt einen Arm um meine Schulter. „Der versucht’s bei jedem.“

„Was... was will der denn von mir?“

„Na was schon? Kiwi steht auf Jungs, alles klar?! Und... bist ja nicht grad hässlich“, grinst er und zwinkert mir zu.

Oh Gott! Gruftie ist... schwul?! Ich fürchte, das hier ist alles eine Ecke zu freakig für mich. Ich will nach Hause. Aber das geht leider nicht.

„Keine Angst, ich sag ihm, dass er dich in Ruhe lassen soll. Wenn du willst.“

Ich nicke heftig.

Keine Ahnung, wie lange wir dann in diesem verdammten Park rumlungern. Sicher sind es mehrere Stunden. Ich hab jegliches Zeitgefühl verloren. Ein paar von den Gestalten kommen ab und zu zu mir rüber und labern mich voll. Außer Kiwi, Flip und Cat gibt’s da noch Dana, ein Mädchen mit wunderschönen rosarot-orangeblonden Haaren, und ich hab schon gemerkt, dass die mit Lunte zusammen ist. Lunte... ich weiß wirklich nicht, woher der seinen Spitznamen hat. Jedenfalls sind die nett aber ziemlich betrunken. Cat bleibt allerdings unsympathisch. Ich glaube, die mag mich nicht, denn sie wirft mir Finsterblicke zu, wann immer sie mal nicht an Flips Hals hängt. Manchmal glotzt sie mich aber auch ekelhaft an, wenn sie Flip begriffelt und abknabbert.

„Wahnsinn, die Tussi is echt zuviel, oder?“ seufzt Kiwi, der mal wieder neben mir hockt.

„Ist sie... seine Freundin, oder sowas?“ frage ich leise.

Er lacht verächtlich. „Exfreundin, und selbst das ist schon zu viel gesagt. Sie schnallt nicht, dass er keinen Bock auf sie hat und Flip ist zu gutmütig, um ihr mal kräftig in den Arsch zu treten. Oder er will sie warm halten, was weiß ich“, erklärt er schulterzuckend und nimmt einen üppigen Schluck aus seiner Flasche. „Magst du echt nichts trinken?“

„Nee, ich... äh... ich vertrag keinen Alkohol“, antworte ich verlegen.

„Oh fuck... du bist echt süß, Alex“, kichert er. „Weißt du, wenn ich dich gefunden hätte, würd ich dich auch nicht mehr hergeben.“

Ey, das wird mir jetzt aber langsam zu blöde. „Hör mal, ich bin keinem zugelaufen und niemand hat mich gefunden, okay? Ein Perverser hat meine Tasche geklaut und ich wusste nicht, wo ich hin sollte. Das ist verdammt noch mal alles. Du und Flip... ihr redet über mich, als sei ich ein Köter. Ich hab das nicht so gerne.“

Kiwi zieht eine Schnute. „Hey, war doch nur Spaß. Ich meine ja auch nicht, dass du ein Köter bist... eher ein... kleines Kuscheltierchen“, grinst er und strubbelt durch meine Haare.

Oh Mann, ich geb’s auf und suche verzweifelt nach Flip. Der ist aber weg. Scheiße. Hat der mich mit den ganzen Knalltüten hier allein gelassen? Verstört stolpere ich durch die besoffenen Punks und zupfe an verschiedene Ärmel. „Hey, wo ist’n Flip?“

Anscheinend weiß das keiner. Oder die sind zu dicht zum Antworten. Von Cat ernte ich nur ein fieses Schnaufen in Kombination mit Augenverdreherei.

Nach zwanzig Minuten hab ich wirklich Panik. Was mache ich denn, wenn er nicht zurück kommt? Zu ihm nach Hause finde ich doch nie im Leben. Wie kann Flip einfach weggehen?

Bedröppelt lasse ich mich wie ein Stein auf die Wiese fallen, ziehe die Beine an meinen Körper und umschlinge sie mit meinen Armen. Ich schließe die Augen, weil ich den Tränen nah bin. Plötzlich legt sich eine weiche Hand in meinen Nacken.

„Hey Alex... alles okay?“

FLIP!!

„Wo... wo bist du gewesen? Ich hab gedacht, du...“

Er stellt mir eine McDonald’s-Tüte auf die Knie. „Hab was zu essen für dich. Hast doch Hunger, oder?“

Jetzt heule ich aber echt gleich los. „Danke.“

„Dachtest du wirklich, ich lass dich allein? Hast Kiwi doch gehört... ich darf dich behalten“, lächelt er.

Komischerweise stört es mich nicht, wenn Flip sowas sagt. Im Gegenteil. Mir wird ganz warm überall.

Wir teilen uns Burger, Pommes und Vanilleshake und dann ist es auch schon fast dunkel und Zeit zu gehen.

Cat hängt sich wie ein nasser Sack an Flips Arm. „Nimmst du mich mit, Baby?“

„Nee.“

„Aber ich brauch was zum Schlafen heute“, bettelt sie, „darfst mich auch ficken.“

„Cat, das hatten wir schon.“

„Und es war geil, haste selber gesagt“, brabbelt sie und knabbert an seinem Hals.

Flip schüttelt sie ab. „Was auch immer. Es ist schon eng genug mit Alex. Zu dritt... das geht echt nicht.“

„Schmeiß ihn doch raus“, schlägt sie vor und ich möchte auch schlagen. In ihre blöde Fresse!

Auf einmal scheint die Kleine wütend zu werden. „Hast du ihn gefickt?“

Als Flip sie ignoriert, stürmt sie auf mich zu. „Hat er dich gefickt?“ Ihre Mädchenfäuste trommeln auf mich ein. „Sag schon... hat er? Und wenn, das bedeutet gar nichts, okay.“

Angeekelt schubse ich die Trine weg. „Mann, bist du besoffen, oder was?“

„Du blöde Arschgeige!“ kreischt Cat, während Flip und ich machen, dass wir wegkommen.

„Ganz schön heftig, deine Exfreundin.“

Flip schüttelt den Kopf. „Weiß der Teufel, was die sich reingezogen hat. Woher weißt du... oh, Kiwi, richtig?“

Ich nicke.

„Der redet auch immer viel zu viel. Hör mal, das mit Cat und mir war nie was Richtiges. Sie phantasiert sich da was zusammen und...“

„Hey, du musst mir nichts erklären. Ist doch deine Sache, was du mit wem hast.“

Flip bleibt stehen und hält mich fest. „Ich will aber nicht, dass du denkst... ich meine...“ Seine Finger streicheln meine Schulter... oder bilde ich mir das nur ein? „Ach vergiss es“, seufzt er und geht weiter.

Ich folge ihm, was mir etwas schwer fällt, weil meine Beine wie Wackelpudding sind. Gott, was ist denn bitte mit mir los?

Nachdem er sich ausgezogen hat und unter der Decke liegt, sieht er mich an. „Sagst du mir jetzt, warum du abgehauen bist?“

„Bin von der Schule geflogen“, entgegne ich und krieche neben ihn, versuche allerdings genügend Abstand zu halten. Mensch, der könnte ruhig mal die Decke nicht so weit nach unten rutschen lassen. Man kann bis wer weiß wo kucken... äh... jedenfalls bis zum Bauchnabel.

Flip zündet eine Zigarette an und stützt seinen Kopf auf den angewinkelten Arm. Die Nieten an seinem breiten Lederarmband glitzern im Kerzenschein. „Was hast’n angestellt?“

Ich erzähle ihm die Sache mit dem Päckchen, er lacht sich kaputt.

„Mann, du bist aber auch ein kleiner Dummkopf. Allerdings kapier ich nicht, warum du gleich so’ne drastische Entscheidung getroffen hast. Schlechte Zensuren, Stress in der Schule... deshalb läuft man doch heutzutage nicht mehr weg.“

„Wenn man meine Eltern hat schon“, seufze ich.

„Wie alt bist du eigentlich?“

„Fast achtzehn.“ Ich weiß wirklich nicht, warum ich ihn anlüge. Besteht ja eigentlich kein Grund aber, naja, gesagt ist gesagt.

„Deine Alten suchen dich doch sicher, oder? Du kannst zwar bleiben, aber ich hab keine Lust auf Bullen. Bin froh, dass die mich in Ruhe lassen.“

„Wieso? Machst du kriminelle Sachen?“

„Nee. Aber, dass ich hier illegal hause, reicht schon. Auf Hausbesetzer stehen Bullen nun mal nicht.“

„Illegal? Du meinst... ohne Miete und so?“ Mein Herz fängt ein bisschen an zu klopfen.

„Denkst du, ich würd für dieses Dreckloch auch noch zahlen? Hast du hier dich mal umgesehen? Aber trotzdem immer noch besser als unter ‘ner Brücke.“

„Du Flip... ist es wirklich okay, dass ich hier bin? Ich meine, du hast doch zu Cat gesagt...“

„Um die Klette loszuwerden“, unterbricht er mich. „Und schließlich... irgendjemand muss doch auf dich aufpassen.“

Mir ist schon wieder so warm im Bauch. „Ich will aber nicht auch eine Klette sein, die sich an dich hängt.“

Ohne Vorwarnung streicht er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich fühl mich total quabbelig. Seine Finger sind ultra weich.

„Schlaf gut“, wispert er.


Die nächsten Tage verlaufen ziemlich genau wie der erste mit Flip. Gegen Mittag aufstehen, im Park abhängen, schlafen. Oh und manchmal gehen wir in den Waschsalon. Das war mir ja total unangenehm, weil ich doch nur die Klamotten hatte, die ich am Leib trug. Nicht mal saubere Unterhosen und so. Ich musste das allerdings überhaupt nicht erwähnen, weil Flip welche für mich... äh... geklaut hat. Wahnsinn, der denkt irgendwie an alles. Naja und sonst darf ich seine Sachen tragen. Seine schwarzen Jeans und seinen Kapuzenpulli mit dem Anarchie-Zeichen drauf. Das ist doch wirklich nett von ihm. Und was zu essen bekomme ich. Jeden Tag. Ich frage mich, woher er das Geld hat?!

Mir ist aufgefallen, dass Flip keinen Alkohol trinkt. Auch wenn die hier mit irgendwelchen abenteuerlichen Drogen hantieren, lehnt er immer ab. Im Laufe der Woche erfahre ich, dass Kiwi und Cat die einzigen sind, die abends schön nach Hause gehen. Wo die anderen schlafen... who knows?! Hier scheinen alle aus ziemlich kaputten Familien zu kommen. Naja, warum sollten die sich sonst rumtreiben und zukippen. Flip erzählt wenig über sich. Nur, dass er halt mit seinen Eltern Stress hatte und lieber auf der Straße pennt als bei denen unterm Dach. Ich frage nicht weiter nach, weil ich ihm unter gar keinen Umständen auf die Nerven gehen will. Hinterher schickt der mich doch weg und dann kann ich aber mal sehen, wo ich bleibe.

Kiwis Annäherungsversuche halten sich im Rahmen, die anderen Punks lassen mich meist in Ruhe. Zwischenfälle gibt’s eigentlich nur mit Cat. Ständig fummelt sie demonstrativ an Flip herum, versucht ihn zu küssen und glotzt mich dabei so komisch an. Ich begreife dieses Mädel nicht.

„Eifersüchtig“, sagt Kiwi und setzt sich neben mich. Wie immer bietet er mir auch Alkohol aus seiner Flasche an und wie immer lehne ich ab.

„Hä?“

Er deutet auf Cat, die grad ihre Klauen unter Flips Pullover schiebt.

„Warum? Auf wen?“

„Au Mann“, seufzt er, „du bist so zum Knutschen. Die Kleine ist angepisst, weil Flip dich in seine heiligen Hallen lässt, obwohl er dich grad mal drei Sekunden kennt. Scheinst es ihm mächtig angetan zu haben“, grinst er und stupst mir in die Seite.

Ich werde rot. Natürlich! Flip mag mich. Dabei mag mich eigentlich nie jemand. Warum auch? Ich bin langweilig und ungesellig. Und wenn er bei mir auch einfach nur gutmütig ist? Mir nicht sagen kann, dass ich doch lieber weggehen soll, weil ich so schrecklich hilflos bin?

Ich will kein Mitleid. Ich will... au weia, ich bin total verwirrt.

„Übrigens brauchst du dringend eine anständige Frisur“, faselt Kiwi, „ey, Flip, komm mal her!“

„Was’n?“

„Der Kleene hat scheiß Haare, oder? Ich find, der braucht eine Veränderung.“

Gott, ist das peinlich! „Ich... ich hab die falsche Farbe erwischt“, murmle ich unglücklich.

„Absolut“, nickt Kiwi.

„Lass ihn in Ruhe“, zischt Flip, „Alex sieht gut aus, so wie er ist.“

„Sicher“, lächelt Kiwi, „sicher. Aber wenn man hier ein bisschen... und da ein bisschen...“, brabbelt er und wuselt meine Haare durcheinander.

„Möchte er das denn?“

Wieso reden die über mich in der dritten Person? Hallo? Ich bin anwesend, verflucht noch eins!

Flip geht vor mir in die Hocke. „Hör nicht auf den Penner. Du bist perfekt.“

Oh nein... wieso sagt der andauernd so nette Sachen? Und warum wird mir jedesmal so heiß?

Also normal ist das nicht.

„Aber wenn du Lust hast... ich kann deine Haare färben. Und schneiden.“

Kiwi schüttet sich aus vor Lachen. „Ja... hahaha... das sieht man, Plüschi“, kichert er und greift in Flips Haarspitzen.

„Arschgeige. Das war total beabsichtigt.“

„Logisch.“

„Mir gefallen deine Haare“, sage ich leise und spüre, wie mir das Blut in die Wangen schießt.

„Ahhhh... cuuuuute“, quietscht Kiwi.

Okay, ich werde von jetzt an lieber die Klappe halten. Bevor ich mich noch komplett zum Trottel mache.

„Samstag abend is Party in’ner Scheune... kommt ihr mit?“

Flip scheint zu überlegen. „Weiß nicht. Ja, vielleicht. Mal sehen.“


Ohrenbetäubender Punklärm, verraucht stickige Luft, Gedränge, besoffene Leute... DAS versteht Kiwi unter Party! Meine Welt ist das sicher nicht, ich fühle mich schrecklich fehl am Platz. Flip hat mich gleich nach fünf Minuten allein hier sitzen lassen, um sich mit Leuten zu unterhalten, zu tanzen, was weiß ich. Ich glaub, der kennt jeden Menschen in diesem... Raum.

Ungeniert knutschen Pärchen rum und begrapschen sich. Ich glaube, es sind sogar Jungs dabei, die das machen. Und alle können es sehen! Das heißt, niemand interessiert sich dafür. Ich bin offensichtlich der einzige. Als mir ein Typ, der original aussieht wie Sid Vicious, mit seiner Freundin ziemlich auf die Pelle rückt, stehe ich verlegen auf und weiß erstmal nicht, wohin. Stolpernd kämpfe ich mich durch die Freaks, suche nach dem Ausgang und stehe plötzlich vor der Klotür. Hier riecht es zwar nicht toll aber die Musik ist wenigstens nicht ganz so laut. Ob ich einfach aus Langweile pinkeln gehe? Wo die Tür doch schon mal einen Spalt offen ist.

„Hör auf, das läuft nicht mehr“, zischt es aus dem Inneren.

„Wow... wieso schaffst du es eigentlich nicht, der kleinen Prinzessin so eine Abfuhr zu erteilen, Mr. Ich-kann-zu-einem-Mädchen-nicht-so-gemein-sein?“

„Wieso lässt du mich nicht einfach in Ruhe?“

Das ist doch... Flip, oder?

„Warum sagst du’s ihm nicht?“

Das muss Kiwi sein. Normalerweise ist mir Lauschen zuwider aber... ich kann grad nicht anders.

„Geht nicht.“

„Bei mir ging‘s doch auch.“

„Da war’s auch irgendwie klar. Was, wenn er das falsch versteht.“

Kiwi lacht. „Wie sollte man sowas falsch verstehen?“

„Der hat doch von nichts eine Ahnung. Bestimmt ist er total verstört, wenn er’s erfährt.“

Mich beschleicht das Gefühl, die reden über mich. Ach du Kacke... vielleicht will Flip mich bitten zu gehen. Klar, er hat die Schnauze voll von mir. Hat keine Lust mehr, sich um mich zu kümmern. Ich bin ein Klotz an seinem Bein und er traut sich nicht, es zu sagen. Mir ist schlecht wie schon lange nicht mehr. Bedröppelt schleiche ich zurück und hocke mich in eine Ecke. Hoffentlich sterbe ich, dann hätte ich es hinter mir. Leider stirbt’s sich nicht so schnell. Und leider knallt sich wie aus dem Nichts Cat neben mich. Sie glotzt mich aus glasigen Augen an. Wie unangenehm. Bevor ich irgendetwas machen oder sagen kann, hat sie sich halb auf meinen Schoß gehievt. Äh... was soll’n das?? Ich öffne meinen Mund... da steckt blitzschnell ihre Zunge drin.

Ich werd bekloppt!!

Sie schmeckt nach abgestandenem Bier und verursacht mir Übelkeit. Ihre Zunge flitscht über meine Zähne, ihre feuchten Lippen sabbern mein halbes Gesicht ein. Ist die krank, die Frau.

Zum Glück kann ich sie nach relativ kurzer Zeit von mir runterschieben und muss mich erstmal ordentlich schütteln.

„Ich hasse dich“, lallt sie mir ins Ohr, „du blöde Schwuchtel.“ Unsicher schwankt sie davon.

Ich bin fassungslos und hab vergessen, wie man denkt. Hilfe! Wo ist Flip? Ich will weg hier.

Stundenlang hab ich gewartet, doch Flip ist wie vom Erdboden verschluckt. Das ist nicht gut.

Zwar hab ich mir genau den Weg in seine Behausung gemerkt aber ich mag da allein nicht auftauchen. Wo ich doch eh unerwünscht bin.

„Los, Casanova, hilf mir mal“, bölkt Kiwi böse und reißt mich grob hinter sich her.

„Aua“, schreie ich.

„Halt’s Maul. Hast schon genug angerichtet.“

Ich finde, Flips Freunde sollten nicht so viele Drogen nehmen. Was faselt der wieder?

Verwirrt lasse ich mich von Kiwi nach draußen schleifen und da sitzt Flip auf der Treppe.

Er lächelt. „Hey... da biste ja endlich.“

Bevor ich antworten kann, dreht er seinen Kopf in die andere Richtung und übergibt sich exzessiv. Ich muss mich sehr dazu zwingen, Mitleid für ihn zu haben, weil ich kotzende Menschen widerlich finde. Oh Gott, ob Flip krank ist? Mann, der Gestank ist unerträglich.

„Schön, oder?“ faucht Kiwi, geht in die Hocke und wischt Flips Gesicht sauber, weil der selber dazu wohl nicht mehr in der Lage ist.

„Was... was hat er denn?“

„Hör mal, Kleiner, ich hab jetzt echt keinen Bock auf deine blöden Fragen. Bring ihn nach Hause und pass auf ihn auf, ja? Und wenn er nach Pillen fragt... gib ihm keine.“

Hätte doch eh keine gehabt.

„Schaffst du’s, ihn ein bisschen zu stützen?“ Kiwi zieht Flip vorsichtig hoch und lehnt ihn in meine Arme.

„Weiß nicht.“

„Naja, muss wohl.“

Anständig laufen kann Flip nicht grad, ich schleppe ihn mehr. Unterwegs übergibt er sich mehrere Male und brabbelt unverständliches Zeug. Scheiße, der mach mir echt Angst. Was ist bloß mit ihm? Ich würde ja auf zu bis zur Halskrause tippen, was aber nicht sein kann, weil er doch gar keinen Alkohol trinkt.

Irgendwann haben wir es tatsächlich geschafft. Völlig erschöpft lege ich ihn ins Bett. Weiß nicht, ob ich ihn nun ausziehen soll, also breite ich nur die Decke über seinen zitternden Körper. Ich selber setze mich mit Kissen und Decke etwas abseits auf den Boden. Möglicherweise muss er noch mal kotzen und wenn ich neben ihm liege... nee, das ist ekelhaft. Das will ich lieber nicht riskieren. Einen Eimer oder sowas gibt’s hier auch nicht. Ich bete zu Gott, dass Flip die Nacht durchschläft und ich nicht noch Erbrochenes aufwischen darf.

Ab und zu döse ich weg, wache aber sofort wieder auf, wenn ich ein Geräusch von Flip höre.

Gute Nacht!

Am nächsten Morgen ist mein Körper kalt und steif. Das Ausstrecken der Beine verursacht einen unglaublichen Schmerz. Mein Nacken tut weh, mein Kopf auch, und meine Augen kriege ich kaum auf. Vorsichtig schiele ich zu Flip rüber, der sich träge räkelt.

„Ey“, räuspert er, „was sitzt du denn da auf dem kalten Boden? Komm her.“

Ganz wohl ist mir dabei nicht aber ich lege mich neben ihn. Sein Arm umschlingt mich, Flips Kopf kuschelt sich an meine Schulter.

„Geht’s dir besser?“ frage ich leise.

„Nein.“ Plötzlich setzt er sich schwungvoll auf. „Ich muss kotzen.“ Hastig rennt er aufs Klo, ich höre schlimmes Würgen.

Als er nach einer Weile zurück kommt sieht er bleich und elend aus. Er zieht die Decke über die Ohren und ist sofort eingeschlafen.

Das Ganze geht ungefähr bis zum späten Nachmittag. Schlafen, kotzen, schlafen, kotzen, schlafen. Ich mache mir langsam Sorgen.

„Du, Alex... in meiner Tasche da ist’n bisschen Geld. Hol mal irgendwas zu essen, ja? Aber nicht so’n Junkfood, das vertrag ich grad nicht.“

Ich kaufe Toast, Nutella, Milchreis ohne alles, ein wenig Obst und etwas zu trinken. Glücklicherweise behält Flip die Nahrung bei sich.

„Hast jetzt sicher einen tollen Eindruck von mir, was?“ lächelt er matt.

„Kannst doch nichts dafür, wenn du krank bist.“

„Ja, genau. Krank. War... war ich sehr eklig?“ fragt er mit gesenktem Blick.

„Nee“, lüge ich.

„Weißt du, ich hab gedacht... also... möglicherweise ist es besser, wenn... naja, wenn du wieder nach Hause gehst.“

So! Jetzt ist es raus. Flip will mich nicht mehr. Meine Augen werden gefährlich feucht. „Aber...“

„Ja, deine Eltern waren sicher bei den Bullen. Und wenn die deine Tasche finden, dann wissen die doch, dass du hier inner Stadt bist und irgendwann finden die dich und... das gibt einen Haufen Probleme. Ich kann das nicht gebrauchen, echt nicht. Tut mir wirklich leid.“

„Soll... willst du, dass ich jetzt gleich gehe?“

Er nickt. „Je eher du wieder zu Hause bist, desto besser. Das alles hier ist doch eh nichts für dich, Alex.“

Da bildet sich grad so’n Kloß in meiner Kehle. Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht loszuflennen. Selbst wenn ich wollte... wie soll ich nach Hause kommen? Ich hab gar kein Geld.

„Geh am Besten direkt zu den Bullen und erzähl denen, wer du bist und was passiert ist. Die rufen dann sicher deine Eltern an und heute Nacht liegst du in deinem warmen Kuschelbett.“

Ich... ich möchte neben Flip liegen. Alles andere kann ich mir im Augenblick nicht vorstellen.

„Was ist denn mit deinen Sachen?“ frage ich schluchzend und zupfe am Anarchiepulli, den ich trage.

„Kannste behalten. Als Erinnerung oder so.“

„Wir sehen uns nicht wieder?“

Flip schüttelt den Kopf. Okay, ich hab wohl hier nichts mehr verloren.


Tja, da sitze ich nun also an einer Bushaltestelle und hab zum ersten Mal seit Tagen Zeit, zum nachdenken. Mir kommt es eigenartig vor, dass ich bei Flip nicht mal überlegt habe, was meine Eltern wohl machen. Ich glaub, die sind besorgt. Auch wenn sie streng sind und spießig... Arschlöcher sind sie nicht. Sie haben mich lieb und ich sollte ihnen die Angst ersparen und nach Hause kommen. Wenn ich Geld hätte, würd ich sie anrufen, sagen, mir geht’s gut usw. Shit... Mama heult bestimmt andauernd, weil sie denkt, ich sei tot. Vielleicht muss sie Medikamente zur Beruhigung nehmen. Alles wegen mir. Die köpfen mich, wenn ich jetzt plötzlich wieder auf der Matte stehe. Erst umarmen, dann Rübe ab!

Lustlos rappel ich mich auf die Beine, irgendwo muss ich schlafen. Kann ja nicht die ganze Nacht an ’ner Bushaltestelle verbringen. Wo pennt man als Obdachloser? Unter einer Brücke? In einem Hauseingang? Es ist so kalt, dass ich vermutlich morgen totgefroren wäre. Ich beschließe, zum Bahnhof zu gehen, um mich da irgendwo hin zu hauen.

Viel ist nicht mehr los. Die Läden sind mitten in der Nacht natürlich alle zu. Ein paar Penner duseln vor sich hin. Es wirkt total gespenstisch. Wann geht hier wohl der Betrieb los? In zwei, drei Stunden vielleicht. Bei Tag ist alles weniger schlimm. Da laufen Leute rum und man fühlt sich nicht so verdammt allein. Die Minuten zähen wie Kaugummi dahin. Ich bin todmüde aber gleichzeitig hellwach. Wie gut ging es mir noch vor einigen Stunden. Da hatte ich Flip. Und hat er nicht versprochen, auf mich aufzupassen? Tränen kullern mir über die Wangen. Flip fehlt mir. Und ich fürchte, nicht nur, weil er weiß, wo’s langgeht. Da ist noch was anderes. Ich kann’s nicht erklären aber es tut weh. Ob er böse wär, wenn er wüsste, wo ich grad bin? Wahrscheinlich hat er mich längst vergessen.

Vielleicht wär das Internat doch nicht so schlimm gewesen. Vielleicht hätten meine Eltern mir auch geglaubt, dass ich nichts mit Drogen zu tun habe. Ob der Kerl mit seinem toten Sohn mich vergewaltigt hätte? Ob der öfter Jungs befummelt? Wie armselig muss sein Leben sein, wenn er sowas braucht? Ein alter Mann, der Teenagern nachschleicht. Was der wohl mit meiner Tasche gemacht hat? Er kann doch nichts damit anfangen. Außer vielleicht an meinen Unterhosen schnüffeln, wenn er drauf steht. Wie krank ist eigentlich diese Welt? Und wann ist endlich die Nacht vorbei?

Gegen sechs beginnt es langsam lebhaft zu werden. Klar, alles Leute die zur Arbeit müssen. Oder zur Uni oder was weiß ich. Als der Bäcker öffnet, knurrt wie aufs Stichwort mein Magen. Einfach ignorieren. Kann eh nichts machen. Mann, jetzt einen heißen Kakao! Irgendwas. Mir ist schweinekalt und meine Gelenke schmerzen. Zum Rumlaufen bin ich viel zu fertig aber für den Fall, dass Bullen auftauchen... mit meinem Anarchiezeichen auf der Brust, der Kapuze auf dem Schädel sehe ich doch aus wie ein typischer Straßenbengel. Oder wie ein Autonomer, nur ohne Vermummung. Jedenfalls wirke ich sicher verdächtig oder sowas in der Art.

Auf’m Klo klatsche ich mir kurz Wasser ins Gesicht und erschrecke ein bisschen über meine Visage im Spiegel. Ich hab echt Augenringe bis zum Fuß. Wow... nach einer einzigen Nacht!

Möchte mir gar nicht vorstellen, wie ich in drei Tagen aussehe... wenn ich dann noch lebe.

Planlos schleiche ich durch die Stadt, wo meine Blicke begehrlich über Obststände und dergleichen wandern. Leider bin ich zu feige, um einfach zuzulangen. Dabei kann ich vor Hunger kaum noch geradeaus denken.

Mittags bin ich so tief gesunken, dass ich Leute nach Kleingeld frage. Ich hätte nicht gedacht, dass es so viel Überwindung kostet, das zu tun. Wenn mich irgendwelche Punks angehauen haben, wirkte das immer so locker. Die haben freundlich gelächelt, einen lustigen Spruch gebracht und schwupps hab ich denen ‘nen Euro in die dreckige Flosse gedrückt. Heute stehe ich jedoch auf der anderen Seite und schäme mich zu Tode. Sicher ist es mein verzweifelter Blick, der mir nach Stunden immerhin vier Euro zwanzig einbringt. Davon kaufe ich mehrere Schachteln Billigkekse (die reichen dann wenigstens bis morgen) und eine Flasche Kakao.

Als mein Magen ein kleines bisschen gefüllt ist, weiß ich nichts mehr mit mir anzufangen.

Ich muss scharf nachdenken, wann ich das letzte Mal solch eine grässliche Langeweile verspürt habe. Zuhause würde ich jetzt Schularbeiten machen, Musik hören, lesen, im Internet surfen oder mich vor den Fernseher knallen. Vielleicht sogar mit Schulfreunden rumhängen, obwohl ich das selten mache, weil ich die alle nicht wirklich leiden kann. Es drängt mich, zum Park zu gehen. Aber was soll ich da? Flip wird mir nicht vor Freude um den Hals fallen.

Flip... was würde ich geben, um sein lächelndes Gesicht zu sehen! Statt dessen starre ich in kalte, fremde Visagen. In Fernsehreportagen oder Filmen sieht man Straßenkinder nie allein. Die rotten sich zusammen und haben Spaß. Ich weiß es jetzt besser. Das ist alles eine dicke fette Lüge. Kack Ausreißer-Romantik. Drauf geschissen. Was ist bitteschön toll daran, nicht zu wissen, wo man bleiben soll, wo man was zu essen her bekommt? Was ist romantisch daran zu frieren und niemand kümmert sich um einen? Aber darüber denkt man halt nicht nach, wenn man in seiner warmen Bude hockt und gierig „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ liest. Überhaupt, von was für ’nem Luxus man umgeben ist bei Mama und Papa. Eine heiße Dusche, ein schaumiges Bad, saubere Klamotten und wenn man Hunger hat, macht man den Kühlschrank auf und schlägt sich den Bauch voll. Alles Sachen, die selbstverständlich sind und mir jetzt total abgehen. Fast hab ich ein schlechtes Gewissen, weil mich das Elend der Personen aus meinen Büchern derart gekickt hat. Vielleicht ist das hier die Strafe dafür, was weiß ich.


Hab die letzten zwei Nächte wieder im Bahnhof geschlafen. Auf einer Bank. War reichlich unbequem aber ich war so müde, dass es dann doch ging. Grad noch die letzten Kekse gegessen. Wie’s weitergehen soll, weiß ich nicht. So dreckig und abgefuckt wie ich bin kann ich niemanden um Geld bitten. Stinken tu ich auch inzwischen, das ekelt mich total an.

Was mich aber noch mehr ekelt, ist die Tatsache, dass mich häufig so Typen ansprechen.

Ich hab das Gefühl, je erbärmlicher man aussieht, desto geiler sind die auf einen. Einige der Jungs, die mit den Kerlen verschwinden, sehen jedenfalls aus wie durch den Gulli gezogen. Krank, fertig, stinkig, abgemagert. Wie kann man sowas denn vögeln wollen... oder was auch immer die mit denen machen? Schätze, jeder muss kucken, wo er bleibt, oder? Wenn ein alter Sack nun mal seine sexuelle Befriedigung nur bei einem Dreizehnjährigen findet... da ist’s dann vermutlich egal, wie der Junge aussieht. Hauptsache, er macht, was er soll und hält die Fresse. Nehmen, was man kriegen kann. Das ist so abartig, ich könnte kotzen! Und ich schwöre: bevor ICH mich auf sowas einlasse, verhungere ich lieber. Mich kriegt keiner der geilen Kerle!


Mir ist schlecht vor Hunger. Seit zwei Tagen hab ich nichts mehr gegessen, außer einem Schokoriegel, den ich aus lauter Verzweiflung geklaut habe. Das Wasser steht mir langsam bis zum Hals und wenn nicht bald was passiert, gehe ich unter. Ständig wird mir schwindlig. Das schlappe Gefühl, das durch meinen Körper kraucht, krieg ich überhaupt nicht mehr weg.

Meine Nase läuft und der Hals tut weh. Am Bahnhof kann ich mich fast nur noch zum Schlafen aufhalten, weil mich zwei Bullen im Visier haben. Oder hatten. Keine Ahnung, die tauchen immer mal wieder auf und ich haue ab. Ich muss essen. Ich muss mich waschen. Aus den stinkenden Klamotten raus. Eine Nacht mal wieder durchschlafen. Aufhören, an Flip zu denken. Aufhören zu denken, ich könne doch wieder nach Hause. Meine Eltern stecken mich ins Heim. Die werden nicht froh sein, sondern sauer, weil ich so viel Stress verursacht habe.

„Martin?“

Ach du Kacke! Bitte nicht!!

„Sieh mal an... bist also doch ein kleiner Stricher, was?“

Ich fasse es nicht. Das ist wirklich der Kerl. Wenn ich nicht so’ne Angst hätte und körperlich nicht am Stock ginge, würde ich ihm sein fieses Grinsen aus der Fresse schlagen.

„Wo ist meine Tasche, du perverses Schwein?“ schaffe ich zu sagen.

„Die kannst du kriegen, allerdings kostet dich das was, Alexander.“

„Behalt sie meinetwegen, Scheißkerl.“

Er lächelt überlegen. „Ja... ich könnte natürlich auch deine Eltern anrufen. Die machen sich doch sicherlich Sorgen, was meinst du?“

„Ich könnte auch zu den Bullen gehen und sagen, dass du mich vergewaltigen wolltest, was meinst du?“

„Wir beide wissen, dass du das nicht tust, Alexander. Die Polizei bringt dich wieder nach Hause und da scheinst du ja nicht hin zu wollen.“

Ich hasse dieses Dreckschwein zutiefst!

„Warum sträubst du dich, mh? Du hast es doch sicher schon mit vielen gemacht. So ein hübscher Junge wie du weiß genau, was ein Mann braucht.“

Bei seinem Gefasel kommt mir fast die Kotze hoch. „Verpiss dich, ich steh nicht auf alte schwule Säcke“, sage ich so böse wie es eben geht.

„Wirst mein Angebot schon noch annehmen, Freundchen“, zischt er und verschwindet einstweilen.

Ich fühle mich dreckig. Ich meine... noch dreckiger als ich schon bin. Ist das ein ekelhafter Mensch. Und wenn ich doch... einfach mitgegangen wäre? Nicht, dass ich das auch nur eine Sekunde vorgehabt hätte. Aber mal angenommen. Was hätte der von mir verlangt? Dass ich ihm einen runterhole? Blödsinn, das wär ihm bestimmt zu wenig gewesen. Das ist ein skrupelloses Schwein. Man muss ja nur mal überlegen, wie er mich angelockt hat. Der tote Sohn ist mit Sicherheit seine Standardgeschichte. Will ich meine Unschuld vielleicht an so einen Kerl verlieren? Ganz sicher nicht! Flip würd mich verachten, wenn er wüsste, dass ich es für Geld mache. Au Mann, schon wieder spukt er mir durchs Hirn.

Während ich mich auf eine weitere kalte einsame Nacht vorbereite, wird mir auf einmal sehr dringend klar, dass ich nur drei Möglichkeiten habe. Gosse, nach Hause oder zu Flip. Okay, zwei Möglichkeiten. In der Gosse bin ich bereits. Wie lange noch, bis ich wirklich Sachen mache, die mir hinterher leid tun? Die ganze Bahnhofsatmosphäre wirkt plötzlich total beklemmend, so dass ich kaum atmen kann. Ein widerlicher Brechreiz kraucht mir in den Hals. Ich muss hier weg. Egal wohin. Nur raus!

Draußen fange ich an zu laufen. Mir ist, als müsse ich mich übergeben. Allerdings habe ich eh nichts im Magen, also versuche ich nicht weiter drüber nachzudenken. Ich laufe schneller, weiß nicht, wo ich ankommen will. Und dann wieder weiß ich’s doch ganz genau. Mein Puls rast, mein Herz klopft wie verrückt. Ich spüre, wie mir unter den Klamotten der Schweiß überall entlang rinnt. Da vorne ist der Park. Flip! Ich erkenne schon das kleine Denkmal, dahinter die Wiese. Doch da ist... niemand, meine Welt soeben zusammengebrochen. Ich hocke mich auf die Wiese und flenne los. In meinem ganzen Leben hab ich mich noch nie so einsam gefühlt. In meinem ganzen Leben war ich noch nicht so verzweifelt. Und ich kann mich nicht erinnern, dass ich mich jemals so unglaublich nach einem Menschen gesehnt habe, wie jetzt gerade nach Flip.

Langsam lege ich mich ins Gras, ziehe die Beine eng an meinen Körper und mache mich so klein es geht. Ein kalter Wind weht über mich hinweg, vielleicht hab ich Glück und wache morgen nicht mehr auf.

Sonnenstrahlen kitzeln meine Nase, Vogelzwitschern dringt an mein Ohr. Ich kann das aus verschiedenen Gründen nur bedingt angenehm finden. Vorsichtig versuche ich mich zu strecken, jeder Muskel meines Körpers will vor Schmerz aufjaulen. Wenigstens hat es die Nacht über nicht geregnet, meine Klamotten sind kalt aber trocken. Mein erster Gedanke gehört Flip und der quälenden Frage, wann er kommt und ob überhaupt. Und wenn er da ist... wird er mich wieder wegschicken? Jetzt heißt es warten. Keine Ahnung wie lange. Es dürfte noch früh am Morgen sein. Flip steht nie vor Mittag auf. Mein Magen knurrt bedrohlich, aber das ist das kleinste Problem.

Die Zeit vertreibe ich mir damit, Löcher in die Luft zu starren und Gras auszurupfen, vor mich hin zu singen und zu überlegen, was ich Flip sagen will. Vielleicht „Nimmst du mich bitte mit und lässt mich für immer bei dir bleiben“? Oder „Hey, ich hab meine Unterhosen bei dir vergessen, können wir zu dir gehen und wo ich schon mal da bin, darf ich doch sicher bleiben“. Ich bin schon so durch, dass ich mir ausmale, wie er mich ganz zärtlich in die Arme nimmt, seine Lippen gegen meine Stirn drückt und... nein, das geht zu weit, richtig?! Ich meine, mir vorzustellen, mit einem Jungen zu kuscheln. Selbst wenn dieser Junge Flip ist. Oder gerade deshalb. Ob die Kälte mein Gehirn geschädigt hat? Allerdings... diese wahnsinnige Sehnsucht, Flip nah zu sein, die kommt von woanders her. Irgendwo tief in mir drin hat sie sich festgesetzt wie ein verfluchter Blutegel, wird größer und größer und droht mich zu zerreißen. Okay, wahrscheinlich steigere ich mich da hinein, weil ich ein pathetischer kleiner Vollidiot bin. Hungrig, frierend, dreckig und allein.

Letzteres bleibe ich immerhin nicht mehr allzu lange. Die ersten bunten Gestalten trudeln ein, grüßen mich, als sei es völlig normal, dass ich total kaputt hier rumhänge, und widmen sich ihrem Alkoholsuff. Um die blöden Gespräche kümmere ich mich nicht. Ich bleibe still sitzen und warte.

„Alex? Ach du Scheiße, was machst du denn hier?“

Müde hebe ich meinen Kopf und sehe direkt in Kiwis Kajalaugen. Er hat sich zu mir runter gebeugt und rüttelt an meiner Schulter.

„Hey.“

„Was tust du verdammt noch mal hier?“ fragt er relativ böse.

„Ich... ich warte auf... Flip.“

„Neinneinnein“, schüttelt er den Kopf, „du solltest schon längst wieder zu Hause sein. Was zum Teufel ist los mit dir? Und wo hast du gesteckt?“

„Am Bahnhof“, murmle ich und schaue auf den Boden.

„Oh mein Gott“, seufzt er, „genauso siehst du auch aus. Was hast’n da gemacht?“

„Geschlafen.“

„Wieso bist du nicht nach Hause gegangen? Ey, wenn Flip dich hier sieht... so... ich möchte echt nicht in deiner Haut stecken.“

Die Hoffnung auf ein freudiges Wiedersehen schwindet mit Kiwis Worten gänzlich.

„Hier...“, er hält mir seine Flasche unter die Nase, „trink mal was.“

„Nee, ich...“

„Ja, scheißegal. Das wärmt dich ein bisschen.“

Ich nehme einen Schluck und muss mich schütteln, so widerlich schmeckt das Zeug. Aber mir wird tatsächlich warm im Bauch.

„Wann hast’n das letzte Mal gegessen?“

„Weiß nicht.“

Kiwi kramt in seiner Tasche und zaubert ein Bounty hervor. Ich schlinge es dankbar hinunter und spüle mit einem kräftigen Schluck aus seiner Flasche nach.

„Was meinst du, wann Flip kommt?“

Er streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr. „Mh, kann ich echt nicht sagen. Die letzten Tage war er kaum hier. Möglicherweise taucht er gar nicht auf heute.“

Mir wird spontan schlecht. Und als mir die Abwesenheit einer gewissen Person auffällt, noch viel mehr. „Ist... ist er vielleicht mit Cat...“

„Nee, ganz bestimmt nicht“, unterbricht mich Kiwi schnell. „Die Kleine hat Hausarrest. Hat sich anscheinend zu viel rumgetrieben. Mann, die geht mir vielleicht auf’n Sack.“

„Warum?“

„Weil sie vorgibt, etwas zu sein, was sie eben nicht ist. Weil sie es cool findet, auf Straßenkind zu machen. Ich weiß, was du jetzt denkst... ich hänge schließlich auch jeden Tag hier rum, richtig?! Aber ich erzähle keine Geschichten über meine fiesen Eltern und bettle jeden um einen Platz zum Schlafen an, obwohl ich den nicht brauche. Cats Eltern sind stinkreich. Sie ist ‘ne kleine Prinzessin. Darf alles und kriegt alles. Sie kommt nur her, weil sie gelangweilt ist. Naja, und weil sie Flip becircen will.“

„Und warum kommst du hier her?“

Kiwi lächelt. „Aus dem gleichen Grund... nur ohne Langeweile.“

Au weia, soll das heißen...

„Aber sag mal... du weißt doch, wo Flip pennt, warum bist du nicht einfach hingegangen, anstatt am Bahnhof... was hast du da nochmal die ganze Zeit getrieben?“

„Er hat mich doch weggeschickt und ich hab am Bahnhof gar nichts getrieben. Jedenfalls nicht das, was du dir vielleicht vorstellst“, entgegne ich aufgebracht.

Kiwi hebt abwehrend die Hände. „Hey, is ja schon gut. Wollte nur sicher gehen, dass du nicht auf dumme Gedanken gekommen bist. Man macht einiges, wenn man verzweifelt genug ist.“

„Du vielleicht. Ich ganz sicher nicht.“

„Naja, ich bin dann mal weg.“ Schwungvoll springt er auf, streicht seine schwarzen Klamotten glatt und zuppelt an seinem Silberkettengürtel.

„Aber...“

„Muss noch was erledigen. Bist ja sicher nachher noch da, oder?“

Oh nein... er geht. Ich lasse meinen Kopf auf die Arme fallen und döse stumpfsinnig vor mich hin. Ab und zu kommt eine von den Punk-Tölen angerannt und beschnüffelt mein Hosenbein.

Mir ist nicht danach, mit den Kötern zu spielen.

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