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Runaway
Teil 4
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Teil 4
Wir haben Gesellschaft bekommen. Drei Junkies wohnen jetzt bei uns. Nicht in unserem Zimmer, aber der Gedanke, dass die irgendwo im Haus sind, macht mir echt zu schaffen.
Hinzu kommt das sehr mulmige Gefühl, das mich beschleicht, wenn ich die drei total hinüber vor sich hin gammeln sehe. Einer lag gestern so regungslos rum, dass ich fieses Herzklopfen bekam, weil ich annahm, der Typ sei mausetot. Richtig abgedroschen, wie man sich das vorstellt, sah er aus. Mit der Nadel noch in‘ner Vene. Ich möchte es noch einmal in aller Deutlichkeit sagen: in Büchern kickt das, im wirklichen Leben mag ich damit nichts zu schaffen haben! Hab ich aber jetzt und damit muss ich mich arrangieren. Flip sagt, die seien doch harmlos, aber ich werde die Angst nicht los, dass sie uns eines Nachts im Schlaf abstechen oder ähnlich Schlimmes. Weiß der Fuchs, was denen einfällt, wenn die drauf sind. Oder wenn sie eben nicht drauf sind, aber drauf sein wollen.
So viel zu unserer Wohnsituation. Jetzt zu anderen Dingen. Flip hatte vorgestern eine fiese Saufattacke. Hat sich die Seele aus dem Leib gekotzt und sich anschließend geschämt. Ich konnte auch diesmal keinerlei Mitleid für ihn aufbringen, denn er war wirklich sehr ekelhaft. Hat sich auf den Pulli gebrochen und...mann, ich will gar nicht mehr dran denken. Jedenfalls konnte er am nächsten Tag nicht arbeiten gehen, so krank war er. Ich hoffe sehr, dass sowas nicht noch mal vorkommt.
Meine Hoffnung schwindet als wir im Park sitzen und Flip mit Lunte und den anderen kifft.
Ich kann kiffen nicht ausstehen! Flip weiß das und er tut es trotzdem. Das sagt doch eine Menge über unsere Beziehung aus, oder?! Ziemlich angepisst ignoriere ich ihn und unterhalte mich mit Kiwi. Der ist übrigens irgendwie...besorgt.
„Habt ihr Krach?“
„Nee. Warum?“, frage ich finster.
„Weiß nicht,“, er blickt sich um, „Flips Sauferei und jetzt noch das da...mh, das ist nicht gut.
Zieht er sich sonst noch was rein?“
„Keine Ahnung. Frag ihn doch selber“, murmle ich und lege mich in die Sonne.
„Ich frag dich, Arschloch“, zischt er und legt sich neben mich. „Pass mal auf, Flip neigt dazu, auf bestimmten Sachen hängen zu bleiben...habt ihr echt nicht gestritten?“
„Nein.“
„Dann verstehe ich nicht...ich meine, er war grad weg von dem ganzen Scheiß. Seitdem er dich hat...“
Mist, jetzt mache ich mir aber auch Sorgen. Also gehe ich zu Flip rüber, der mich ziemlich beduselt anlächelt.
„Ähem...willst du nicht mal langsam los?“
Lunte reicht ihm ein zigarettenartiges Irgendwas, an dem er wie bekloppt zieht. Den Rauch bläst er mir netterweise direkt ins Gesicht. Mir wird übel. Und ich könnte ihm in den Arsch treten.
„Was hast du gesagt?“, fragt er schleppend.
„Du musst doch arbeiten, oder?“
Plötzlich fängt er heftig an zu kichern. „Ich...hihi...ich bin gefeuert. Man braucht meine außerordentlichen Putzdienste nicht länger.“
So besonders lustig kann ich das nicht finden. Ich meine, ach du Scheiße...wie sollen wir denn jetzt...was zu essen...und überhaupt?! Als Flip mit seinem unangebrachten Lachanfall fertig ist, nimmt er einen üppigen Schluck aus Luntes Flasche. Keine Ahnung, was da drin ist, aber das Gesöff hat eine bräunliche Farbe.
„Du solltest das nicht...dir geht’s doch immer schlecht, wenn du Alkohol...“
„Mhhh...mein Süßer“, strahlt er, schlingt seine Arme um mich, „so besorgt...pass auf, wenn ich bemuttert werden will, gehe ich wieder nach Hause, okay?“
Ärgerlich befreie ich mich aus seinem Griff. „Fein. Aber erwarte nicht von mir, dass ich nochmal deine Kotze aufwische.“
„Sei nicht böse, Alex“, entgegnet er und schmiegt sein Gesicht an meinen Hals, „Ich will doch nur meinen Kopf mal wieder ein bisschen frei bekommen.“
„Du meinst, deinen Kopf benebeln“, verbessere ich.
„Spielverderber“, murmelt er, schüttelt jedoch den Kopf, als Lunte ihm die Flasche hinhält.
„Okay, lass uns verschwinden.“
Zum Glück sind wir allein, als wir zum Abbruchhaus zurückkehren. Die Junks sind anscheinend ausgeflogen. Ich hoffe nur, die bleiben für immer weg. Flip knallt sich in seinen Isomatten-Schlafsack-Wust.
„Komm her und halt mich ‘n bisschen fest, ja? Bitte...ich brauch dich, Alex.“
Eigentlich ist mir kaum danach, aber, verdammt, er sieht so traurig aus. So bemerkenswert verloren und verzweifelt. Mein Herz geht kaputt. Ich lege mich neben ihn und ziehe Flip in meine Arme. Eine Weile kuscheln wir träge. Seine Hand schleicht unter meinen Pullover, streichelt meinen Bauch, wandert höher und berührt meine Brustwarzen, die augenblicklich hart werden. Und nicht nur die. Er küsst meinen Hals, schiebt seine Hand in meine Hose und fängt an, mir einen runter zu holen.
„Ich lieb dich, Alex“, seufzt er. Seine Hand wird langsamer und...
„Flip?“ Nee, ich glaub das nicht! Er ist...eingeschlafen. Mit der Hand in meiner Hose eingeschlafen.
Am nächsten Morgen, beziehnungsweise Mittag, ist der Platz neben mir leer und kalt. Irritiert begebe ich mich auf die Suche nach ihm. Lange dauert das nicht. Flip sitzt unten mit zwei der Junks zusammen und hat schon wieder eine Flasche am Hals. Der eine hält übrigens grad ein Feuerzeug unter einen Löffel. Um ihn herum Fixerutensilien. Spritze, Zitronensaftfläschchen und...ich komme mir vor wie bei Christiane am Bahnhof Zoo.
„Hey, Babe“, lächelt Flip verschleiert, „Sorry, wegen gestern, ich war echt zu kaputt.“
Allerdings. Kaputt ist das SEHR passende Wort für das alles hier.
„Komm her...“, Flip streckt die Hand nach mir aus.
Der hat wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank. Glaubt der vielleicht, ich setze mich seelenruhig daneben, wenn...der Typ bindet sich grad den Arm ab. Mir wird schlecht. Zittrig streicht er sich über die Armbeuge. Der andere scheint übrigens schon eine Ladung in sich drin zu haben, er sieht aus, als sei er nur noch körperlich anwesend. Bevor sich die Nadel in die Vene bohrt und ich mich spontan übergebe, drehe ich mich um.
„Kommst du mit in den Park?“, frage ich.
„Ähem...nee. Hab nicht so die Lust.“
„Dann...dann gehe ich ohne dich“, sage ich ängstlich.
„Ja...okay. Aber bleib nicht zu lange.“
Das war definitiv nicht die Antwort, die ich gerne gehabt hätte. Traurig schleiche ich nach draußen und muss erstmal meine Tränen niederkämpfen. Und die Übelkeit. Mal ehrlich, als ich kleiner war, so neun oder zehn, fand ich es unheimlich aufregend, wenn im Fernsehen irgendwas über Drogenabhängige lief. Logischerweise hab ich mir das immer heimlich angeschaut, weil ich mich geschämt habe und das alles für total verrucht hielt. Meine Eltern hätten sicher keinerlei Verständnis gehabt. Jedenfalls hat sich diese Faszination im Laufe der Jahre verstärkt. Da hab ich dann Bücher gekauft und Zeitungsartikel gesammelt. Ich hatte echt eine richtige Drogenmappe und die Bilder, auf denen sich jemand einen Schuss setzt, kickten am Allermeisten. Das alles in echt zu sehen, hautnah, ist weder dramatisch, noch faszinierend, sondern einfach nur abartig.
Eine halbe Stunde hocke ich im Park, dann taucht Kiwi endlich auf. Zusammen mit einem strahlenden Tristan.
„Hi, cutie“, lächelt er und lässt die Hand des Jungen los als er mein Gesicht sieht.
„Was ist passiert?“
Ich hab das Gefühl, wenn ich den Mund aufmache, fange ich sofort an zu flennen.
„Wo ist Flip?“
Mein Kopf sinkt gegen seine Brust. Kiwi streicht mir durch die Haare.
„So schlimm, mh?“, er legt mir einen Finger unters Kinn und sieht mich an, „Na komm, sag mir, was los ist.“
Das mache ich aber nicht, sondern schmiege mich einen Moment in seine Arme. Es tut verdammt gut, von Kiwi gehalten zu werden. Dann erinnere ich mich daran, dass er nicht allein hier ist.
„Entschuldigung“, murmle ich in Tristans Richtung.
Der zuckt jedoch nur die Schultern. „Is okay“, lächelt er freundlich und nimmt Kiwis freie Hand in seine.
„Wow, zwei Schnuckel in meinen Armen...heute muss mein Glückstag sein.“
Schniefelnd rücke ich von Kiwi weg. „Flip trinkt schon wieder.“
„Mann, dieser Vollidiot. Wo ist er? Ich werde ihm sofort ein bisschen Verstand in seine Rübe prügeln.“
„Er ist nicht hier“, sage ich und setze Kiwi über die momentane Situation in Kenntnis.
„Shit. Du...du solltest ihn jetzt nicht allein lassen, Alex. Wer weiß, auf was für Gedanken der kommt. Ich hab ihn erlebt, als er...glaub mir, das ist nicht lustig.“
„Das weiß ich selber, aber was soll ich denn machen? Wenn er sich unbedingt zuknallen will...er hört ja auch nicht auf mich.“
„Versuch’s trotzdem. Sag ihm, dass du abhaust, wenn er weiter säuft, keine Ahnung. Er liebt dich doch und wird dich ganz sicher nicht verlieren wollen.“
„Vielleicht solltest du mit ihm reden.“, schlägt Tristan vor.
Kiwi lächelt gequält. „Keine gute Idee. Ich war quasi der Auslöser für seinen letzten Totalabsturz.“
„Deshalb ja. Da könntest du jetzt wenigstens einiges wieder gut machen.“
„Flip ist mein Freund. Wenn ihm einer hilft, dann ich.“ Seufzend stehe ich auf und verabschiede mich von den beiden, obwohl mir davor graut, zu Flip und den Junks zurückzugehen.
„Alex...“, beginnt Tristan leise, „wenn...also, wenn’s mal ganz schlimm wird...du kannst gerne für ein oder zwei Nächte zu mir kommen.“
Ui, ich bin ehrlich überrascht. Kiwi ebenfalls, denn ich höre ein gezischtes „Kann er?“.
„Krieg dich wieder ein. Ich hab schließlich Platz genug und meine Eltern haben sicher nichts dagegen.“
„Und warum darf ich nicht mehr bei dir schlafen?“
„Weil meine Eltern wissen, dass du mich vögelst, Idiot. Wärst du nicht so unanständig laut gewesen, hätten die nichts mitbekommen und würden dich für einen netten Jungen halten.
Jetzt hast du’s dir mit denen verscherzt.“
„Aber es war geil, das musst du zugeben“, grinst Kiwi und stupst mit dem Zeigefinger Tristans Nase.
„Äh...danke für das Angebot. Ich...äh...naja, danke.“ Mist. Ich würde gerne heute schon bei ihm bleiben. Mal wieder heiß duschen und in einem richtigen Bett liegen...aber die Sorge um Flip ist größer.
Den Weg zum Abbruchhaus gehe ich betont langsam. Mir schwirren so viel Gedanken durch´s Hirn. Flip und ich brauchen unbedingt Geld. Und eine neue Bleibe. Dann wird alles besser.
Aber wie sollen wir das anstellen? Ich wünschte, ich könnte zu meinen Eltern. Ich wünschte, ich könnte wieder zur Schule gehen und mich in meinem Zimmer vor dem Fernseher langweilen. Ich wünschte, ich könnte mein jetziges Leben einfach nur lesen, die schrecklichen Sachen auslassen und zu den schönen blättern. Ich hoffe, auf der letzten Seite gibt’s ein Happy End!
Müde steige ich die Treppenstufen hinauf. Die Junks liegen unten...in ihrer eigenen Welt.
Mit klopfendem Herzen betrete ich unser Zimmer.
„Alex!“, Flip, der auf dem Boden hockt, springt auf und fällt mir regelrecht um den Hals. „Ich...Mann, ich hab schon gedacht, du kommst nicht mehr zurück.“ Seine Stimme zittert. Sein Körper auch. Beruhigend streiche ich ihm über den Rücken und finde es erstaunlich, wie schnell sich das Blatt doch wenden kann. Ich meine, dass er jetzt auch mal Angst hat, allein gelassen zu werden.
„Du hast gesagt, ich soll gehen.“
„Tut mir Leid“, murmelt er. „Das war total...ich bin so froh, dass du da bist.“
„Ich war mir nicht sicher, ob ich zurückkommen soll. Und ob es dir überhaupt was ausmacht, ob ich hier bin oder nicht.“
„Schätze, es war in den letzten Tagen nicht so lustig mit mir, mh?“, bemerkt er bedröppelt.
„Hab schon mehr gelacht.“
Flip nimmt meine Hände. „Ich verspreche dir...keinen Alkohol mehr. Und keine Drogen. Ich will dich doch nicht verlieren.“
Ich glaube ihm, weiß allerdings nicht, was er sich reingezogen hat, während ich im Park war.
Vielleicht ist er auf irgendeinem Trip. Ich kenne mich nur theoretisch mit Drogen aus, praktisch könnte ich wohl nur schwer erkennen, ob jemand was genommen hat. Wenn’s nicht grad so offensichtlich wie bei unseren Untermietern ist. Der Gedanke, dass mein Freund im Moment unter dem Einfluss von was auch immer steht und ich keinen Schimmer habe, ist sehr beängstigend. Ich beginne, jede seiner Bewegungen zu belauern. Flip scheint jedoch klar zu sein.
„Ich muss mir einen neuen Job suchen“, erklärt er. „Wir haben kaum noch Geld. Scheiße, es kommt aber auch immer alles zusammen.“
„Wieso bist du denn überhaupt geflogen?“
Er zuckt die Schultern. „Die brauchen mich eben nicht mehr. Hey, keine Sorge, ich find schon was. Bis jetzt ging’s immer irgendwie weiter.“
„Ja, da hattest du mich aber auch noch nicht am Hals.“
Flip zieht mich auf unser Pseudo-Bett. „Mhhh...ich hab dich sehr gern am Hals.“
Ob mir jetzt so danach ist, mit ihm rumzuschnuckeln? Ich küsse ihn trotzdem. Seine Hände auf meiner Haut kann ich ebenfalls angenehm finden. Wir wurschteln uns knutschend aus unseren Klamotten und so ein nackter Flip, der sich an mich drängt...wow!
„Ich mag Sex mit dir haben.“, grinst er. Seine Nasenspitze stupst gegen meine.
„Hauptsache, du schläfst nicht wieder ein.“, antworte ich.
Flips Lächeln schwindet. Dafür wird er sehr rot im Gesicht. Einen kurzen Augenblick sieht er sogar aus, als wolle er losheulen. „Sorry, das war gestern wohl nicht besonders charmant von mir.“
Und ich bin wohl immer noch sauer...wegen allem. Sein verdammter Dackelblick lässt mich jedoch weich werden. „Schon vergessen.“, flüstere ich und küsse ihn.
Flips Versprechen hat gerade mal drei Tage gehalten. Am vierten durfte ich ihn mitten in der Nacht von der Scheune nach Hause schleppen. Das letzte Geld ist für’n Waschsalon draufgegangen, weil er auf unsere Schlafdecke gekotzt hat. Zum Glück lag ich nicht drunter.
Ich stopfte also das eklige Teil in eine Tüte, durfte damit durch die Straßen rennen, darauf warten, dass es wieder sauber wurde und Flip? Als ich zurück kam, lag er weggetreten auf seinem Schlafsack. Komplett angezogen. Bei näherem Hinsehen bemerkte ich, dass er wohl gewisse Körperfunktionen nicht unter Kontrolle gehabt hatte und ich konnte gleich noch mal los, um seine vollgepisste Hose zu waschen.
Anstatt sich dafür in Grund und Boden zu schämen, zu entschuldigen und sich einen Job zu suchen (wie er es ja auch versprochen hatte), ist ihm anscheinend alles scheißegal. Vorgestern hab ich ihn Pillen schlucken sehen. Was das für ein Zeug war...who knows?! Auf alle Fälle etwas, das ihn wahnsinnig entspannt haben muss. Und zwar so entspannt, dass er kaum noch die Augen aufhalten konnte. Beim zeitlupenartigen Zigarettendrehen hatte ich dann so viel Mitleid, dass ich ihm geholfen habe. Es war echt ekelhaft, ihn so zu erleben.
Um wenigstens ein paar wenige Nahrungsmittel kaufen zu können, bin ich schnorren gegangen. Das hat mich einen Nachmittag gekostet, den Flip schlafend verbrachte. Immerhin bedankte er sich abends bei mir und blieb den nächsten Tag nüchtern. Ich weiß trotzdem nicht, wie lange ich das noch aushalte. Aushalten will. Kiwi hat versucht, mit Flip zu reden... jetzt sind die beiden zerstritten. Die Junks sind übrigens nur noch zu zweit. Wahrscheinlich ist der dritte irgendwo verreckt. Ich sag’s nicht gern, aber...eine Hälfte von mir ist längst wieder zu Hause. Bei meinen Eltern. In einer sauber aufgeräumten Wohnung. Ohne Alkohol, Drogen und Kotze. Ohne Flip. Die andere Hälfte liebt ihn abgöttisch und will ihn beschützen. So wie er mich die ganze Zeit beschützt hat. So sehr, dass es weh tut.
„Hallo Suffkopp. Na, brauchst’n paar Pillen, die dich gut drauf bringen?“, spottet Kiwi.
Hab’s tatsächlich geschafft, Flip von seinen neuen Junkiefreunden loszureißen und in den Park zu schleppen. Er trinkt schön brav Cola und stiert Kiwi feindselig an.
„Na, haste deinen kleinen Schnellspritzer mitgebracht?“
Hä? Ich hab mich wohl verhört. Dass Flip sich mit Kiwi zofft ist eine Sache, aber dass er Tristan mit reinzieht...ich muss mich total schämen für meinen Freund.
„Gratulation. Du hast dich in ein totales Bilderbucharschloch verwandelt. Frag´ mich echt, warum Alex bei so einem runtergekommenen Penner wie dir bleibt.“
„Hättest wohl gerne, dass er deinen Schwanz lutscht anstatt meinen, was? Darauf kannst du lange warten.“
Ich krieg Ausschlag von Flips Gefasel. Ist der nicht mehr ganz dicht? „Würde es dir was ausmachen, nicht über mich zu sprechen, als wäre ich eine verdammte Sexpuppe? Danke.“
„Ist doch wahr,“, schnauft Flip, „seitdem er dich kennt, sabbert er dich an. Aber vielleicht findest du das ja toll.“
Ich finde, ich hab das nicht nötig und setze mich zu Tristan.
„Ganz schön gut gelaunt, dein Freund.“, lächelt er mitleidig.
„Entschuldige, ich weiß gar nicht, was...“
Tristan schüttelt den Kopf. „Vergiss es. Übrigens...mein Angebot...du weißt schon. Kannst zu mir kommen, wann immer du willst.“
„Danke.“, sage ich.
„Kein Problem.“
Eine Weile unterhalten wir uns. Schule und so’n Kram. Leider zieht mich das total runter.
Ich möchte auch wieder zur Schule gehen. Mann, ich hätte es nicht für möglich gehalten, mal sowas zu denken. Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube, es müssten bald Sommerferien sein. Als ich tapfer ein paar aufsteigende Tränen niederkämpfe und in Flips Richtung schaue, wird mir übel. Der säuft!!
Tristan legt seinen Arm um meine Schulter. „Hey, das wird schon wieder, mh?“
„Oh Mann“, seufze ich, „warum bist du eigentlich so nett zu mir?“
„Das ist mit Abstand die blödeste Frage, die ich jemals gehört habe.“, lächelt er.
„Ey, du...hör auf, mit meinem Freund zu flirten.“, bölkt Kiwi.
Erschrocken rücke ich von Tristan weg. Kiwi setzt sich grinsend neben uns.
„Das war ‘n Scherz, Tiger. Übrigens schädelt sich dein Freund total ab. Schon mal über eine Beziehungspause nachgedacht?“
„Mehr als ein Mal.“, entgegne ich ehrlich.
„Vielleicht solltest du ihm das sagen, anstatt ihm liebevoll die Kotze vom Kinn zu wischen.“
Vielleicht hat Kiwi recht?! Nicht, dass ich mich tatsächlich von Flip trennen will, aber...
„Du, Tris, ist es okay, wenn ich heute...mit zu dir...“, frage ich leise.
„Logisch.“, strahlt er, „Meine Eltern sind eh grad ‘n paar Tage verreist.“
„Tatsächlich? Wieso weiß ich davon nichts?“, Kiwi stupst Tris vorwurfsvoll in die Seite.
„Wenn ich’s dir erzählt hätte, würde ich dich doch die nächsten Tage überhaupt nicht aus meinem Bett kriegen, du notgeiler Trottel. Ich schreib aber morgen eine wichtige Arbeit.“
„Na und? Ich kann dir Mathe auch beibringen während ich dich ficke.“, erklärt er schulterzuckend.
„Is aber Französisch und wenn jetzt irgendeine schlüpfrige Bemerkung von dir kommt, haue ich dir eine rein.“
„Ich will dich nicht stören,“, mische ich mich ein, „wenn du lernen musst.“
„Tust du nicht. Willst du Flip sagen, dass du bei mir pennst?“
„Nein. Sieht nicht so aus, als würde ihn das im Augenblick interessieren.“ Der ist nämlich in der Tat schon wieder ziemlich gut dabei. „Können wir jetzt gleich gehen?“
„Klar.“
Tris verabschiedet sich zungenküssend von Kiwi. „Wenn du was mit ihm anstellst, bist du tot, Babe.“, wispert er so laut, dass ich’s nicht überhören kann.
Tristans Wohnung sieht ganz schön...teuer aus. Seine Eltern scheinen jedenfalls keine finanziellen Probleme zu haben, dafür aber sehr viel Geschmack. Spärliche Einrichtung, durch die die Zimmer größer und heller wirken. Kein bisschen Kitsch oder überflüssiger Schnickschnack. Alles total schick aber dennoch behaglich.
„Okay, also...das Bad ist da vorne. Handtücher und so weiter liegen da. Magst du was essen, wenn du fertig bist?“
Wow, mein Magen hängt auf halb acht.
„Ich kann aber leider nur Spaghetti kochen“, lächelt er und errötet leicht. Dann fährt er sich zerstreut durch die Haare. „Ach so...brauchst ja was zum Anziehen...ähem...wart´ mal kurz.“
Er wuselt durch die Wohnung, während ich blöde in der Gegend rumstehe, und drückt mir schließlich schwarze Klamotten in die Arme. „Versuch einfach, ob die passen. Wenn nicht, fühl dich frei, nackt zu bleiben. Sieht ja keiner.“, giggelt er. „Äh...ich koche jetzt.“
Total irritiert mache ich, dass ich ins Bad komme. Und da bleibe ich lange. Das warme Wasser und der nach Mandeln duftende Schaum...mhhh...
Tristans Nudeln sind arg verkocht, die Tomatensoße ein bisschen ZU gut gewürzt. Ich schlinge das Zeug trotzdem runter. Brauche hinterher allerdings ungefähr zwei Liter Wasser, um das brennende Gefühl im Rachen wegzuspülen. Er sieht mich einen Moment an, dann springt er plötzlich auf.
„Scheiße, die Blumen!“
Äh??
Er läuft zum Balkon, dann mit einer riesigen Gießkanne an mir vorbei ins Bad, wo zwei Sekunden später Wasserrauschen zu hören ist. „Mein Vater bringt mich um, wenn er nach Hause kommt und seine Blumen vertrocknet sind.“, ruft er. Kurze Zeit später schleppt er die volle Gießkanne durchs Wohnzimmer, stolpert über seine nackten Füße und schwabbert sich Wasser aufs Shirt. „Fuck.“ Das nasse Shirt landet auf dem Boden. Ich weiß, ich sollte jetzt nicht so auf Tristans Oberkörper starren aber...meine Güte!! Mir wird ganz schön heiß. Ich folge ihm auf den Balkon und gucke ihm ein bisschen verzückt beim Blumengießen zu. Oh mann, seine Nippel sind hart, eine leichte Gänsehaut macht sich bemerkbar...nicht nur bei ihm. Und schließlich macht sich bei mir noch was anderes bemerkbar. Shit! Bitte, dreh dich jetzt bloß nicht um. Wenn wenigstens mein Shirt länger wäre. Ist es aber nicht und Tristan stellt die verfluchte Gießkanne auf den Boden. Ich schwitze mich bekloppt, versuche an etwas Ekelhaftes zu denken. An den fiesen Taschenklauer, den Kerl, der mich am Bahnhof gefragt hat, ob ich’s mit dem Mund tue. Ich denke sogar an Cat.
„Fertig.“, lächelt Tristan. Sein Blick haftet eine Spur zu lange an meinem Schritt. „Lass uns in mein Zimmer gehen.“
Und was dann? Reißen wir uns die Klamotten vom Leib und betrügen unsere Freunde?!
„Mann, das sind wirklich eine Menge Blumen.“, fasel ich nervös.
„Stehst du auf Blumen?“, fragt Tristan, kichert sich jedoch dumm und dämlich, bevor ich antworten kann. „Komm schon, mir ist kalt.“, säuselt er.
Fein, wieso zieht er sich dann nicht einfach was an, oder?! Was denkt der sich eigentlich?
Läuft hier halbnackt rum und wirft mir unanständige Blicke zu. Will der mich anmachen?
Ha! Das kann der aber total vergessen. Ich liebe Flip. Auch, wenn er momentan ein Arschloch ist. Oh wow, beim Vorbeigehen streift mich Tristans halbnackter Körper. Meine Knie werden weich und ich sehe kleine Sterne. Dann klingelt es plötzlich. Und zwar an der Tür.
„Machst du mal auf?“, schreit er von irgendwo.
Na klar, ich bin ja hier auch total zu Hause. Nachdem ich den Türöffner gedrückt habe, höre ich Schritte im Flur. Schritte und Gerassel. Bevor ich Kiwi sehe, rieche ich ihn schon. Ob der in seinem Patchouli-Zeugs badet?!
„Hey, Kleiner.“, lächelt er. Allerdings nur so lange, bis Tristan auftaucht. „Was geht’n hier ab?“
„Was willst du denn hier?“
„Nein nein nein.“, schüttelt Kiwi den Kopf, „Warum läufst du nackt rum?“
Tristan verdreht die Augen. „Weil ich mich mit Wasser beschüttet habe.“, schnauft er.
„Aus Versehen?“
„Nee, extra. Alex und ich wollten neckische Spielchen treiben, Blödmann.“
Kiwi beäugt uns kritisch. „Na, da komme ich ja grad noch rechtzeitig.“
„Du vertraust mir wohl kein bisschen, was?“, grinst Tristan und drängelt sich an seinen Freund.
Der grapscht ihm an den Hüften rum. „Dir? Nein.“, säuselt er und knutscht ihn auf den Mund.
Mich haben die beiden anscheinend vergessen. Deshalb gehe ich in Tristans Zimmer und lege mich auf die Couch, die er mir freundlicherweise zurecht gemacht hat, während ich in der Badewanne lag. Sollen die doch machen, was sie wollen. Ich bin müde und schlafe jetzt.
„Hey,“, wispert es später, „der Kleine schläft schon.“
„Psssst...weck ihn nicht auf.“
„Zum Glück hat er nicht nach seinem Arschlochfreund gefragt.“
Vielen Dank. Bin wieder hellwach, aber das brauchen die nicht zu wissen.
„Wieso? War noch was?“
Ich höre hinter mir Deckengeraschel und Schmatzgeräusche.
„Naja, das Übliche halt. Flip war irgendwann so voll, dass ich ihn in dieses Loch geschleppt habe, wo die beiden jetzt hausen. Mann, das ist echt abartig da.“
„Alex tut mir total Leid.“
„Ja, mir auch.“, grummelt Kiwi, „Hast du ihm deshalb einen Blick auf deine Sahnehaut gewährt?“
„Hör schon auf.“
Unterdrücktes Kichern.
„Du sollst aufhören. Wir sind nicht allein, okay?“
„Na und? Der Kleine pennt wie ein Stein.“
HAHAHAHAHA!!! Meine Güte, was zur Hölle treiben die denn bloß? Ich meine, die werden es doch wohl nicht treiben! Mit klopfendem Herzen lausche ich in die Dunkelheit. Es raschelt und knutscht und giggelt und...stöhnt. Leise. Trotzdem. Können die nicht warten bis ich wieder weg bin? Gedankenlose Arschgeigen!! Gemurmelte Wortfetzen dringen an mein Ohr.
Irgendwas von...'nur’n bisschen fummeln'...und so’n Zeug. Dazwischen Kichern und Schmatzen. Das macht mich echt aggressiv. Ich schnappe wütend meine Decke und stampfe in´s Wohnzimmer. Da gibt’s schließlich auch eine Couch.
Keine fünf Minuten später sitzt ein sehr zerknirschter Tristan neben mir. „Ähem...alles okay?“
„Ja. Wollte euch nur nicht stören.“
„Du störst uns nicht, Alex.“
„Hat sich aber verflucht so angehört.“, entgegne ich ärgerlich.
„Tut mir leid. Wir haben gedacht...“
„Pass auf, ich will einfach nur schlafen. Also warum gehst du nicht zu deinem Freund und...
keine Ahnung, vögelst mit ihm oder was auch immer.“
„Ich schmeiß ihn raus und wir reden ‘n bisschen.“
„Worüber denn?“, frage ich.
„Weiß nicht. Über dich, über Flip. Irgendwas.“
„Danke für das Angebot. Muss aber nicht sein.“
„Shit.“, zischt er, „Ey, ich bin sonst echt nicht so...unhöflich.“
„Unhöflich? Du lässt mich bei dir schlafen. Ich bin der Störenfried.“
„Genau.“, ruft Kiwi und hopst einfach auf mich. „Sorry, ist wohl etwas mit uns durchgegangen. Aber ab jetzt sind wir ganz brav.“, lächelt er und stupst mir seinem Finger in die Rippen.
„Hör auf, das kitzelt.“, schmolle ich.
„Logisch, soll es ja auch.“
Kiwis Kitzelattacke hat dummerweise nicht den gewünschten Erfolg. Ich breche unbeabsichtigt in Tränen aus. Warum, weiß ich selber nicht so genau. Die Anspannung. Die Sorge um Flip. Der Wunsch, mit ihm genau das hier jetzt zu tun. Der Wunsch nach einer normalen Beziehung ohne Drama. Mama und Papa, mein Zuhause. Von Allem etwas.
„Ey, Kleiner...ach du Scheiße.“, murmelt Kiwi erschrocken und nimmt mich in die Arme.
Ich heule wie bekloppt. Huste und japse bis ich einen Schluckauf bekomme. Kiwi hält mich ganz fest. Wuselt durch meine Haare und wiegt mich eine Weile.
„Wieder gut?“, fragt er als ich mich etwas gesammelt habe.
„Nee“, schniefe ich, „aber besser.“
„Dann komm mit rüber. Ich mag dich hier nicht allein schlafen lassen.“, flüstert er und haucht mir einen Kuss auf die Schläfe.
„Ich will euch...“
„Wenn du noch einmal sagst, dass du uns störst, töte ich dich.“, warnt er.
Wir quetschen uns dann zu dritt in Tristans Bett. Die halbe Nacht werde ich von beiden gestreichelt. Nicht sexuell, sondern warm und beruhigend. Ich fühle mich unglaublich geborgen und schlafe irgendwann ein.
Am nächsten Morgen weckt mich süßer Kakaoduft. Neben mir liegt Kiwi und schnauft leise im Schlaf. Tristan sitzt auf dem Boden. Vor ihm ausgebreitet: Teller, Tassen, ein Glas Nutella, verschiedene Marmeladen, ein Korb mit Brötchen.
„Morgen.“, lächelt er, schüttelt eine Sahnedose und sprüht eine beängstigende Menge in die Tassen. „Äh...magst du überhaupt Kakao mit Sahne? Kiwi ist süchtig danach und ich hab jetzt einfach...ähem, du kannst auch Tee haben. Oder Kaffee. Oder lieber Saft? Orange, Blutorange, Apfel, Johannisbeere, Multivitamin...“
„Danke, ich mag Kakao trinken.“, unterbreche ich ihn und strecke mich wohlig.
Kiwi streckt sich ebenfalls und grinst mit geschlossenen Augen. Dann rollt er sich auf die Seite, legt einen Arm um mich. „Ist das nicht geil? Das krieg ich immer, wenn ich hier übernachte. Deshalb bin ich ja so versessen drauf, bei Tris zu schlafen.“
Ich würde am liebsten schon wieder losheulen. Diese ganze Szene ist fast zu viel für mich.
„Vergiss Flip...wenigstens für eine Weile.“, flüstert Kiwi und küsst meine Wange, bevor er sich aufrappelt. „Oh, lecker, Zimtkakao!“
„Wo zum Teufel bist du gewesen?“, brüllt Flip so laut, dass es in meinem Kopf dröhnt.
„Wieso? Ist dir aufgefallen, dass ich nicht da war?“, gifte ich.
„Bist du verblödet? Ich hab dich die ganze fucking Nacht gesucht.“
„Bevor oder nachdem dich Kiwi hierher schleppen musste, weil du so voll warst, dass du’s allein nicht geschafft hast?“
„Ich fasse es nicht. Ich komme um vor Sorge, während du dich mit diesem Wichser vergnügst?!“, schreit er mir ins Gesicht.
„Mit dir kann ich mich ja nicht mehr vergnügen, weil du immer besoffen bist.“, schreie ich zurück. „Außerdem war ich nicht bei Kiwi, sondern hab bei Tristan geschlafen.“
„Fein, ich hoffe, du hattest Spaß.“
„Deine Eifersucht kannst du dir sparen. Es ist nichts gelaufen.“
„Und das soll ich dir glauben?“
Ich weiß nicht warum, aber ich bin auf einmal ganz mutig. „Es ist mir vollkommen egal, was du glaubst und was nicht.“ Ich meine das wirklich ernst, was mich sehr erschreckt. Im Augenblick haben sich alle meine Gefühle für Flip in Luft aufgelöst. Das da ist nicht mehr mein Flip, mit dem ich stundenlang geknutscht und gekuschelt habe. Mit dem ich händchenhaltend in der Sonne saß. Den ich verliebt anlächelte und der mich genauso verliebt anstrahlte. Vor mir steht nur ein verkaterter Kerl, der mir eine Szene macht. Weg sind die Schmetterlinge im Bauch, das Herzklopfen, der wahnsinnige Drang, ihn zu umarmen, ihm nah zu sein.
Flips Hände zittern. Ich denke nicht, dass es an unserem Streit liegt. Er ist blass, oder eher gräulich im Gesicht, unter seinen Augen haben sich tiefe dunkle Ringe gebildet. Er schwitzt und stinkt und unter seinen Fingernägeln sind schwarze Ränder.
Logischerweise hat er sich nicht über Nacht so verändert. Nur fällt es mir heute zum ersten Mal richtig auf.
„Ich hab dich wirklich gesucht.“, flüstert er und setzt sich auf den Boden. „Und ich hatte Angst, dass du nicht zurück kommst. Dass du dich wieder am Bahnhof rumtreibst. Dass ich vielleicht diesmal zu spät komme und du...“, er schüttelt den Kopf.
Seine Jammerigkeit geht mir gehörig auf den Geist. Was will der mir denn von Angst erzählen, hä? Ich bin doch derjenige, der sich ständig um ihn sorgen muss. Bevor ich ihm das sagen kann, lässt mich ein Rascheln inne halten. Irritiert drehe ich mich um und bemerke einen riesigen Käfig mit gelblicher Streu und einer Trinkflasche am Gitter. In einer Ecke hockt ganz verschüchtert ein kleines Viech. Schwarzweiß mit langem rosa Schwanz und rosa Füßchen.
„Was ist das denn?“ Ziemlich blöde Frage.
„John Lennon. Es gab auch eine Yoko Ono aber die hat die Schlange gegessen.“
„Schlange?“
„Ja, Kais Pythonschlange bekommt doch kleine Ratten und Mäuse zu essen. Gestern war Yoko dran aber auf John hatte sie anscheinend keinen Appetit mehr. Kai meinte, das sei ein Zeichen und hat John begnadigt. Naja und weil sich niemand um ihn kümmern wollte, hab ich ihn halt genommen.“
„Aha“, ist alles, was mir dazu einfällt. Dann fällt mir auf, dass John Lennon zwar diesen gigantischen Käfig hat aber sonst nichts.
„Willst du ihn nicht mal rausnehmen?“
„Nee, ich besorg dem armen Vieh erstmal was zu essen.“, erkläre ich. „Hättest auch schon drauf kommen können.“
Zwei Stunden später joggt John bereits in seinem Laufrad. Dazu hab ich ihm noch ein Holzhaus geklaut und eine Tüte Nagetierfutter. So weit ist es also schon gekommen. Ich stehle für eine Ratte. Naja, das Tierchen soll sich schließlich wohl fühlen und keinen Hunger leiden müssen.
Alles andere als wohl fühlt sich der Flip. Jetzt zittern nicht nur seine Hände, sondern der ganze Körper. Hauptsache, der fängt nicht wieder an, zu kotzen oder pinkelt sich an. Das kann ich nämlich echt nicht gebrauchen. Ich breite eine Decke über ihn und hocke mich auf den Boden. Beobachte abwechselnd ihn und die Ratte im Käfig.
„Du musst ihn so oft wie möglich rausnehmen und bei dir haben, sonst wird der nicht zahm.“, klappert Flip mit den Zähnen.
Na toll. Jetzt hab ich zwei Viecher, um die ich mich kümmern muss. Da John momentan ausgesprochen viel Spaß an seinem Marathonlauf hat, krauche ich zu Flip und flöße ihm ab und zu ein bisschen Wasser ein.
„Mir ist kalt...kannst du dich zu mir legen, bitte?“, fragt er weinerlich.
Auch das noch. Zu diesem stinkenden, schwitzenden...aber zur Hölle, ich liebe Flip. Vielleicht ist das Gefühl im Augenblick sehr tief verborgen aber es ist bestimmt noch da.
Und was wäre das für eine Beziehung, in der man sich nur liebt, wenn es allen Beteiligten gut geht?! Ich ziehe meine Schuhe aus, schlüpfe zu ihm unter die Decke und halte ihn fest.
„Es tut mir Leid.“, nuschelt er. „Ich wollte es nicht so weit kommen lassen.“
Das glaube ich ihm sogar. Nur...was nützt das?
„Oha...von den Toten auferstanden, was? Na, da haben wir ja noch mal Glück gehabt.“, schnauft Kiwi.
„Allerdings.“, antwortet Flip und setzt sich neben ihn. „Tut mir leid, wenn ich in der letzten Zeit etwas daneben war.“
„Guter Witz. Versprich mir, in Zukunft die Finger von gewissen Substanzen zu lassen und ich verliere kein Wort mehr über dein arschlochartiges Benehmen.“
„Versprochen.“
Flip hat sich erstaunlich schnell erholt. Ich hab immer gedacht, so ein Entzug von Alkohol und Drogen würde länger dauern, aber ich hab von solchen Dingen eben überhaupt keine Ahnung. Jedenfalls ist Flip seit einer Woche clean und ich kann endlich wieder verliebt sein.
Sauber und frisch ist er auch. Er geht nämlich ab und zu in so eine Einrichtung für jugendliche was auch immer. Da kriegt er zu essen, kann duschen und sich mit den Sozialarbeitern unterhalten. Leider darf ich da nicht mit hin, weil es immerhin nahe liegt, dass meine Eltern sämtliche Anlaufstellen für Straßenkinder mit meinem Foto versorgt haben. Deshalb gehe ich zu Tristan, wenn ich es vor Dreck nicht mehr aushalte. Eine Dauerlösung ist das aber sicher nicht.
„Sag mal, Alex...hast du Flöhe oder warum krabbelst du andauernd an dir rum?“, fragt Kiwi angeekelt. „Hör sofort auf damit, mich juckt’s schon überall.“
„Keine Flöhe aber...“, ich greife in meinen Ärmel und setze mir grinsend John Lennon auf die Schulter.
„Oh Gott.“, stöhnt Kiwi. „Du mutierst wohl jetzt total zum Punk, ja? Und morgen haste ‘nen Iro und dir eine Sicherheitsnadel durch die Backe gezogen.“
„Autsch.“
„Hör mal, Babe...ich besorg uns ‘n bischen Geld, okay?“ Flip gibt mir einen Kuss und lässt
John Lennons Schwanz durch seine Finger gleiten. „Ich komm dann wieder hierher.“
Geld besorgen bedeutet momentan schnorren. Flip kann das viel besser als ich.
„Gib mal her, das Vieh.“ Kiwi nimmt mir die Ratte vorsichtig von der Schulter, setzt sie auf seine Hand und mustert sie kritisch. „Und...wie läuft’s so bei euch?“
John knirscht laut mit den Zähnen, schnuffelt in die Luft und läuft über Kiwis Arm.
„Naja...Flip trinkt nicht mehr. Seit einer Woche.“
„Aber?“
„Keine Ahnung.“, seufze ich.
Kiwi hebt fragend eine Braue.
„Ich hab das Gefühl, dass...dass irgendwas kaputt gegangen ist. Ich kann‘s nicht erklären.“
„Willst wieder nach Hause, oder?“
„Nein. Ja. Ein bisschen vielleicht.“, gebe ich zu.
„Und das Baby soll jetzt eure Ehe retten.“, lächelt er und überreicht mir John Lennon, den ich unter meinen weiten Pullover stecke, weil er sich da am liebsten aufhält.
„Das Schlimme ist, dass ich Flip nicht mehr vertraue. Was weiß ich, ob er sich nicht grad wieder irgendwas reinzieht und der ganze Kack von vorn anfängt. Er hat’s mir versprochen und er hält sich bis jetzt dran aber ich hab trotzdem Angst.“
„Dumme Sache.“, nickt Kiwi und hilft mir damit auch nicht weiter.
„Wahrscheinlich dauert es eben eine Weile, bis alles wieder in Ordnung ist.“, sage ich hoffnungsvoll.
„Ich weiß, ich hab Flip ganz gemein weh getan und das tut mir wirklich Leid aber ich denke nicht, dass er sich auch nur ansatzweise vorstellen kann...mann, wie oft hab ich ihn aus seiner eigenen Kotze gezogen, hab ihn nach Hause geschleift, die dreckigen Klamotten ausgezogen, ihn gewaschen, aufgepasst, dass er nicht an seiner verdammten Kotze erstickt. Der blöde Idiot hat doch keine Ahnung, wie man sich dabei fühlt. Ich hab ihn verdammt gern aber ich werde ihm nicht mehr helfen, wenn er so drauf ist. Ich kann das einfach nicht mehr. So wie du ihn erlebt hast...glaub mir, das war noch harmlos.“
„Willst du mir Angst machen, damit ich mich von ihm trenne?“
Kiwi schüttelt den Kopf. „Das musst du selber wissen. Ich sag dir nur, es gibt keine Garantie, dass er clean bleibt. Obwohl ich dachte, er schafft es, wenn er dich hat. Naja, hast ja selber gesehen...kaum tauchen irgendwelche Probleme auf...“
„Er braucht einfach nur einen Job und was zum Wohnen.“
„Und du?“, fragt er. „Ich meine, was hast du vor? Mit ihm rumgammeln, für den Rest deines Lebens? Ich will mich bestimmt nicht als Papi aufspielen aber überleg doch mal, so langweilige Sachen wie Schule und Ausbildung sind schon wichtig irgendwie. Ohne das kannst´e dich echt nur noch an ‘n Straßenrand setzen. Deine Eltern mögen vielleicht spießige Idioten sein, aber möglicherweise könnte man das noch ein paar Jahre aushalten. Jedenfalls so lange, bis man halbwegs für sich selber sorgen kann.“
Seit wann ist Kiwi so vernünftig? Verdammt, es macht schon Sinn, was er sagt. Und doch... „Ich lasse Flip nicht allein.“
„Vielleicht hilft es ihm gar nicht, wenn er weiß, dass du immer da bist, egal wie ekelhaft er sich benimmt?“
Der soll die Klappe halten. Ich will sowas jetzt nicht hören.
„Denk mal drüber nach, Kleiner. Ich gehe zu Tris. Bis morgen oder so.“
Eine halbe Stunde später taucht Flip auf.
„Hab was zu essen.“, strahlt er und schwenkt eine weiße Plastiktüte. Er beißt ein Stück von einem Apfel und hält es an meinen Hals. John Lennon steckt seine kleine Schnute raus, greift blitzschnell nach dem Obststück und verschwindet wieder.
„Gierschlund.“, kichert Flip. „Komm, lass uns nach Hause gehen.“
Nach Hause...schön wär’s. Zurück in das Dreckloch mit dem verfluchten Drogenfreaks.
Die beiden Heroinkonsumenten hängen stark apathisch in der Ecke.
„Mann, sind die kaputt.“, schimpft Flip.
Viel lebendiger hat er aber vor zwei Wochen auch nicht ausgesehen. Ist ihm wahrscheinlich spontan entfallen. Oder er hat's selber nicht mitgekriegt, weil er sowieso gar nichts mehr mitgekriegt hat. Weiß der Fuchs.
„Hast du Hunger?“, fragt er, während er unter meinen Pulli greift und die Ratte in ihren Käfig setzt.
„Eigentlich nicht.“
„Iss trotzdem. Du bist so dürr geworden, das ist echt beängstigend.“
Um weiteren Diskussionen aus dem Weg zu gehen, zwinge ich mir zwei Nutellatoasts rein.
Danach hab ich komischerweise Magenschmerzen. Nicht doll, aber...ich leg mich vorsichtshalber mal hin.
„Hey, ich hab aus der Arche noch was mitgebracht.“, grinst er und drängelt sich an mich.
Arche ist da, wo er immer zum Duschen hingeht. Hoffentlich nicht noch mehr zu essen.
Flip kramt in seiner Hosentasche und wirft mir ein paar Kondome auf den Bauch. Ach du Kacke!
Langsam schlängelt sich seine Hand unter meinen Pullover. „Mhhh...wir haben total lange nicht mehr...“, flüstert er an meinem Hals knabbernd.
Naja, wie auch. Entweder war er zugeballert oder er hat geschwitzt und gestunken. Oder wir haben gestritten.
„Ich mag jetzt nicht.“, erkläre ich und schiebe seine Hand weg.
Das muss ihn sehr verletzen, denn er rückt traurig von mir weg. „Okay.“, sagt er leise.
Ich weiß doch selber nicht, was los ist. Normalerweise bin ich so scharf auf Flip, dass ich’s kaum aushalte. Es ist nur...ich bin schrecklich müde. Nicht zum Schlafen müde, sondern, keine Ahnung. Ich fühl mich schwach und ausgelaugt. Das Gespräch mit Kiwi schleimt sich durch mein Hirn. Den Rest meines Lebens mit Flip rumgammeln. Nee, das will ich nicht.
Ich möchte zur Schule gehen, mittags was zu essen kriegen und abends in meinem Bett schlafen. Gleichzeitig möchte ich aber auch mit Flip zusammensein. Allerdings scheinen diese beiden Welten nicht miteinander verknüpfbar. Ich meine, mal ehrlich...wenn ich wieder zu Hause wäre und meine Eltern mir verzeihen würden, dass ich ihnen so viel Stress und Kummer bereitet habe, die würden mir niemals erlauben, mit Flip...auf gar keinen Fall. Selbst, wenn sie nicht spontan ins Koma fallen würden, weil ich auf Jungs stehe. Flip ist für Mama und Papa Gosse.
Zwei kleine Junkies die knallten sich was rein, der eine hat zu viel geknallt, jetzt ist der andere ganz allein. Ja, die Zahl unserer Mitbewohner hat sich drastisch reduziert. Einen haben sie tot im Park gefunden und der dritte ist deshalb schon so lange weg, weil er im Knast sitzt.
Ist irgendwo eingebrochen und hat sich erwischen lassen. Ein bisschen erschrocken bin ich, weil uns der Tod des Junkies so kalt lässt. Immerhin haben wir ihn fast jeden Tag gesehen. Flip hat die Nachricht auch irgendwie nur mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen. Der noch verbliebene Junk hat sich erstmal einen Schuss gesetzt. Mal ehrlich...wie abgefuckt und abgestumpft ist das denn bitte? Schließlich war der Typ vor seiner Heroinsucht bestimmt ein ganz normaler netter Mensch. Und jetzt ist er tot. Weg. Für immer. Vielleicht fand er es selber scheiße, so drauf zu sein. Vielleicht wäre er gerne von dem Zeug losgekommen. Vielleicht hat er gedacht, es sei besser, tot zu sein als ein abgehalfterter Junkie.
Wahrscheinlicher ist, dass er falsch dosiert hat. Oder es war schlechtes Heroin. Ich frage mich, wie und warum er wohl da gelandet ist, wo er zum Schluss war? Möglicherweise hatte er eine ähnliche Vergangenheit wie Flip. Nur, dass er eben nicht so stark war, aufzuhören.
Jedenfalls hab ich eine wahnsinnige Angst, dass Flip wieder einen Drogenschub bekommt und irgendwann genauso endet. Ich hatte schon die ganze Zeit Angst, aber das war eher so ein schwammiges Gefühl, das in mir rumschwabberte. Jetzt ist dieses Gefühl sehr viel dringender und konkreter. Und das Schlimme ist...ich merke, wie ich anfange, Flip dafür zu hassen.
“Wir müssen echt hier weg.“, bemerkt Flip. „Morgen gehe ich los und komme nicht eher zurück, bis ich wenigstens einen Job habe. Und wenn ich Klos putzen muss. Ist auch nicht schlimmer als in der Schweinefabrik.“
Klos putzen...wenn er damit zufrieden ist. Mir reicht das leider nicht. Ich habe längst eine Entscheidung getroffen. Hab nur noch nicht die Kraft gehabt, sie in die Tat umzusetzen. Und weil Flip davon nichts weiß und morgen einen Job bekommt, ist er ziemlich gut gelaunt. Er spielt eine Weile mit dem Rattenvieh und legt sich schließlich zu mir unter die Decke.
„Alles okay? Du bist so still.“
Ich schlucke meine Tränen runter und schmiege mich in seine Arme. Einmal noch. So tun, als wär alles in Ordnung. Die letzten Wochen vergessen und Flip einfach wieder lieb haben.
Wir küssen uns lange, was sich sehr schön anfühlt aber als wir miteinander schlafen...ich bin fast gar nicht da. Flip ist total zärtlich und gibt sich Mühe. Ich fühle...nichts. Ich meine, er steckt verflucht nochmal in mir und ich spüre nichts. Mein Körper funktioniert. Mein Herz und mein Gefühl hab ich ausgeschaltet. Musste ich wahrscheinlich ausschalten, weil ich es sonst wieder nicht schaffe, was ich mir vorgenommen habe.
„Babe, du...ey, warum weinst du denn?“, fragt Flip besorgt als wir fertig sind.
„Halt mich fest.“, murmle ich und klammere mich an ihn. So ganz ausgeknipst hab ich mich wohl doch nicht.
Als Flip eingeschlafen ist, stehe ich auf und hole John aus seinem Käfig. Ich lasse ihn unter meinen Pullover krabbeln und betrachte Flip. Er sieht so süß aus, wenn er schläft. Das werde ich wirklich vermissen. Leise packe ich meinen Rucksack, schleiche ich die kaputte Treppe hinunter, stolpere an dem einen verbliebenen Junkie vorbei und laufe durch die kühle Nacht. Ich weiß, es ist richtig. Weh tut es trotzdem.
Eine Stunde später werfe ich Steine an Tristans Fenster. Es ist fast Mitternacht. Hauptsache, ich wecke seine Eltern nicht auf. Es dauert ein paar Minuten bis sein verschlafenes Gesicht erscheint.
„Alex? Was ist passiert?“
„Ich muss mal telefonieren.“, zische ich.
„Okay...warte, ich lass dich rein. Aber leise...meine Eltern.“
In seinem Zimmer reicht er mir verwirrt das Telefon. „Sagst du mir, was los ist?“
„Gleich.“, antworte ich und wähle.
„Ja?“ meldet sich eine gehetzte, ängstliche Stimme.
„Papa...ich bin’s, Alex. Kann ich nach...kannst du mich bitte abholen?“
Oh mann, ich hab meinen Vater niemals weinen gehört. Das macht mich total fertig. Er schluchzt so laut, dass ich den Hörer etwas vom Ohr weghalten muss und ruft nach meiner Mutter.
„Kannst du herkommen, bitte?“, frage ich nochmal.
„Alex...Junge...sag mir, wo du bist und rühr dich nicht von der Stelle. Geht...geht es dir gut? Oh mein Gott, Junge...“ Ein erneuter Schluchzanfall unterbricht seinen Satz. Vielleicht hätte er aber auch sowieso nicht gewusst, was er noch sagen sollte.
„Gib ihn mir.“, höre ich die Stimme meiner Mutter. „Alexander...“, stammelt sie und heult genauso wie Papa. Oder eher noch schlimmer.
Ich muss die Adresse zweimal wiederholen, bevor sie richtig angekommen ist.
Tristan lässt sich aufs Bett fallen. „Du gehst also wirklich nach Hause.“
„Sieht so aus.“
„Und was ist mit Flip?“
Ich zucke unglücklich die Schultern. „Der schläft.“
„Du meinst...er weiß nicht, dass du...shit!“ Dann sieht er mich an. „Bleiben wir in Kontakt?“
„Keine Ahnung. Ich weiß doch nicht einmal, was mich erwartet, wenn ich...wenn meine Eltern...“
„Meld dich einfach, wenn dir danach ist, ja? Versprich mir das. Kiwi dreht sonst durch.“ Er senkt den Kopf. „Und...ich auch.“, fügt er leise hinzu.
„Danke, Tris. Für alles. Ich warte lieber draußen. Deine Eltern müssen nicht unbedingt was mitkriegen.“
„Okay.“, flüstert er. Nimmt mein Gesicht in beide Hände und küsst mich süß auf den Mund.
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