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Zuckersüß

Teil 1

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Vorwort

Eine kurze Warnung: es gibt keinen Sex und (fast) keine dreckigen Wörter! Logischerweise wirkt sich dieser Umstand erheblich auf die Länge der Geschichte aus ;) Wenn sie euch trotzdem gefällt und ihr gar einen weiteren Teil haben wollt...lasst es mich wissen!

 

Diese dumme Sau bescheißt mich! Vermuten tu ich es schon länger, aber erst seit heute hab ich Gewissheit. Ich bin ihm gefolgt. Das war nicht schwierig, weil ich mit meinem Fahrrad im Stadtverkehr fast schneller war als er im Auto. Jedenfalls, ein fremder Typ saß neben ihm (auf meinem Platz!!) und als er auf irgendeinem Hof parkte und die beiden ausgestiegen sind... haben die sich geküsst. Sehr intensiv geküsst. Eigentlich sind die immer noch zugange, während ich hinter Sträuchern auf der Lauer liege. Das war’s. Ich muss mir das nicht länger geben. Der Typ verschwindet ins Haus, mein treuloser Freund besteigt seine verdammte Karre. Fast bescheuert vor Wut trete ich kräftig in die Pedale und rase los. Bis mich irgend etwas stoppt. Heftig und schmerzhaft. Logischerweise falle ich auf die Fresse. Meine Schläfe macht Bekanntschaft mit dem harten Asphalt, dann gehen mir kurz die Lichter aus. Beduselt öffne ich meine Augen und sehe erst mal nur verschwommen. Jemand berührt mich vorsichtig.

„Bist du in Ordnung?“

„Stell mir nicht so schwierige Fragen“, murmele ich schwach und betaste relativ unkoordiniert meinen Schädel.

„Scheiße, ich hab dich echt nicht gesehen...du kamst da plötzlich um die Ecke gebraust und... fuck...“

Langsam blicke ich umher. Ein Auto, die Tür ist offen. Grüner Fiesta. Offensichtlich funktioniert mein Gehirn noch einigermaßen, wenn ich die Marke erkenne. Vor dem Auto liegt mein Fahrrad. Neben mir kniet ein Mensch, der sich gerade mit einem Tuch an meinem Gesicht zu schaffen macht.

„Hast ’ne ziemliche Schramme. Vielleicht fahr ich dich besser ins Krankenhaus. Bist mit dem Kopf aufgeknallt, hast sicher auch eine Gehirnerschütterung.“

„Mein Knie tut weh“, sage ich erschrocken.

„Hat auch was abbekommen“, erklärt der Mensch bedröppelt.

Die Jeans an meinem Knie ist aufgescheuert und blutig.

„Ehrlich, Flocke, es tut mir so Leid.“

Wer zur Hölle ist Flocke?!

„Ich will aufstehen. Hilf mir mal.“

Wie ein tausendjähriger Greis rappele ich mich hoch und stelle fest, dass mir a) die Beine zittern und b) der Schädel brummt. Der Mensch muss mich halten, damit ich nicht umfalle.

„Du brauchst einen Arzt, Flocke, was, wenn du innere Blutungen hast?“

„Es geht mir gut“, antworte ich irritiert. Wieso nennt der mich andauernd Flocke? Ich heiße doch...äh...mein Name ist...also, du lieber Himmel, ich weiß doch, wie ich heiße. Oh Gott...ich komm nicht drauf!!

„Wenn du nicht ins Krankenhaus willst, fahre ich dich aber auf jeden Fall nach Hause. So schwumselig kannst du nicht aufs Fahrrad steigen.“

„Okay“, nicke ich und sofort wird mir übel und schwindlig.

Der Mensch, es ist ein junger Mann, der mir irgendwie bekannt vorkommt, verfrachtet mich ins Auto, schafft mein Rad aus dem Weg, schließt es ordentlich ab und steigt schließlich selber ein.

„Also, wohin soll ich?“

„Nach Hause.“

„Ja, aber wie ist die Adresse?“

„Äh...“ Shit! Ich hab’s vergessen. Verdammt, der Straßenname liegt mir auf der Zunge. Oder war es vielleicht ein soundso Weg? Ey, das gibt’s doch gar nicht.

„Was ist denn?“ Er mustert mich kritisch.

„Ich hab keine Ahnung“, gebe ich zu und glotze angestrengt in den Spiegel. Immerhin erkenne ich meine Visage wieder. Die Schramme an meiner Schläfe glänzt feucht. „Mir fällt grad nicht ein...“

Behutsam streicht seine Hand die Kapuze von meinem Kopf. „Dann fahren wir erst mal zu mir. Du musst dich ein bisschen ausruhen. Alles andere besprechen wir später, Flocke.“

Ob das so was wie mein Spitzname ist? Dann scheint er mich zu kennen. Möglicherweise ist er ein guter Freund? Allerdings sollte er da wissen, wo ich wohne. Das viele Nachdenken ist nicht gut für meinen armen Brummschädel, also lasse ich es einstweilen. Flocke...klingt ganz niedlich, oder? Damit kann ich mich anfreunden.

„Wir sind da.“

Holla, ich muss wohl eingenickt sein. Die Beifahrertür ist auf, der Mensch gerade dabei, mich abzuschnallen.

„Stütz dich ruhig auf mich.“

Sein Arm umschlingt meine Taille, meinen legt er um seine Schulter. Er schleppt mich eine Mauer entlang. Dahinter sieht man komische kleine Bäumchen und...Grabsteine?! Hab ich etwa einen Albtraum? Oder bin ich einfach nur tot?!

„Wo sind wir?“

„Am Westenfriedhof...da vorne wohne ich.“

„Du wohnst gegenüber vom Friedhof? Ach du Scheiße.“

„Ist nicht so gruselig, wie man sich das vorstellt“, lächelt er und schließt die Tür auf.

Der Geruch von gegrilltem Essen steigt mir in die Nase als wir den düsteren Flur betreten. Stimmengewirr, Gläserklirren kommt von irgendwoher.

„Wir haben grad so’n bisschen das Haus voll...Grillparty“, flüstert er mir ins Ohr.

In der Küche setzt er mich auf einen Stuhl, direkt neben den Tisch mit verschiedenen Partysalaten. Ich muss schlimm würgen. Er kniet sich vor mich hin und hantiert an meinem Knie.

„Robin?“

Eine Frau steht in der Tür zum Garten.

„Mom, das ist Flocke. Er hatte einen Unfall. Ich...ich hab ihn aus versehen angefahren.“

„Oh mein Gott“, kreischt Mom, stürzt auf mich zu und begutachtet meine Schläfe. „Wie ist denn das passiert? Du bist also Flocke? Wow, Robin...“, kichert sie, ist jedoch gleich wieder ernst, säubert meine Wunde mit einer brennenden Tinktur und lässt sich von Robin erzählen, was sich zugetragen hat. „Ist dir schlecht? Siehst du doppelt?“

„Ja. Nein. Ich hab Kopfschmerzen“, antworte ich konzentriert.

„Wir müssen seine Eltern anrufen, dass sie ihn abholen“, überlegt Mom.

„Ich fürchte, da gibt’s ein kleines Problem“, entgegnet Robin.

Auf einmal sind wir umringt von Leuten, die wahrscheinlich bis eben noch im Garten Grillwurst und dergleichen gegessen haben. Alle faseln durcheinander, sind erfreut, dass ich Flocke bin, fragen, wie’s mir geht und...bei mir dreht sich alles. Bis Mom Mitleid hat.

„Das ist zu viel für den armen Jungen. Robin, bring ihn ins Bett, sonst kippt er uns gleich vom Stuhl.“


Mein lieber Schwan...war das eine fürchterliche Nacht. Ich hab geträumt, ich hätte einen Unfall gehabt und wüsste nicht mehr, wer ich bin. Der Typ, der mich angefahren hat, wohnte am Friedhof und seine ganze Familie, bestehend aus ungefähr tausend Leuten, laberte auf mich ein. Glücklich, wach zu sein, öffne ich meine Augen, richte mich etwas auf und sehe durchs Fenster...Grabsteine. Oh no!!

„Ausgeschlafen?“, grinst Robin aus meinem Traum. „Geht’s dir besser? Was macht der Kopf? Dein Knie?“

Uahhhhhhh...Hilfe!!!!!! Verstohlen zwicke ich meinen Arm. Es tut weh. Scheiße, ich bin definitiv wach. Und bis auf eine Unterhose nackig.

„Wieso bin ich nackt?“

„Naja, deine Klamotten waren schmutzig und deine Jeans kaputt. Außerdem schläfst du doch normalerweise auch sicher nicht angezogen, oder? Mom hat deine Sachen aber schon gewaschen, also keine Sorge. Magst du frühstücken?“

Sollte man bei fremden Leuten irgendwas essen oder trinken? Möglicherweise wollen die einen vergiften, weil’s Psychopathen sind. Allerdings grummelt mir der Bauch.

„Okay“, sage ich skeptisch.

„Fein. Wenn du duschen willst...das Bad ist am Ende vom Flur. Handtücher hab ich dir hingelegt. Komm dann einfach runter, wirst die Küche schon finden“, lächelt er und verschwindet.

Ich schwanke ins Bad, das leider unglaublich geschmacklos eingerichtet ist....handgemalte Folienfische auf vanillefarbenen Kacheln, Klofußumpuschelung in altrosa und auf der Fensterbank steht wahrhaftig so ’ne komische Puppe, unter deren Strickkleid höchstwahrscheinlich eine Rolle Klopapier versteckt ist. Was soll’s...ich muss ja hier nicht einziehen, sondern bloß duschen. Danach mache ich mich auf die Suche nach der Küche, wobei ich einen kurzen Blick aufs Wohnzimmer erhaschen kann. Das sieht auch nicht besser aus. Sehr viel Holz, auch unter der Decke...ich glaube, man nennt das rustikal. In der Vitrine des riesenhaften Schranks sind liebevoll Nippesfigürchen aufgestellt. Sicher haben die im Auto einen Wackeldackel sitzen.

Am Frühstückstisch sitzen Robin, Mom und verschiedene andere Leute, die alle strahlen, als ich mich hinsetze.

„Wie geht’s dir, Junge?“, fragt ein Mann.

„Bin mir nicht sicher.“

„Robin sagt, du bist auf den Kopf gefallen.“

„Wohl eher aufs Gesicht“, antworte ich und befühle meine Schläfenschramme.

„Jedenfalls freuen wir uns, dich endlich kennen zu lernen“, lächelt der Mann, dass mir unheimlich wird. „Obwohl die Umstände etwas glücklicher hätten sein können.“

„Und zweifellos weniger schmerzhaft“, bemerkt Mom. „Ein Glas Saft, Flocke? Komm, ich schneid dir ein Brötchen auf.“

„Mom“, stöhnt Robin, offensichtlich peinlich berührt.

Ich komme mir vor wie in der Twilight Zone. Und warum zur Hölle giggeln alle außer Robin und mir so blöde?

„Was denn? Flocke gehört schließlich zur Familie.“ Sie macht eine lapidare Handbewegung und legt mir ein Nutellabrötchen auf den Teller.

Das Schlimme ist: die könnte sogar Recht haben. Mein Gedächtnis ist leider immer noch ziemlich abwesend. Andererseits kommt mir hier rein gar nichts bekannt und/oder vertraut vor. Weder Mom, noch der Mann, noch die beiden Blagen und die Räumlichkeit auf gar keinen Fall. Das einzige, was vertraut klingt, ist Flocke. Aber vermutlich hab ich mich einfach bloß schnell an den Namen gewöhnt, weil er mir halt gefällt. Mein richtiger Name lungert leider noch hinter einer dicken Nebelwand. Ich meine...ich hab doch wohl einen richtigen Namen, oder?!

„Reden tut er ja nicht viel“, behauptet der Mann.

„Stefan, der Junge ist es vielleicht nicht gewohnt, dass Eltern so locker damit umgehen.“ Sie tätschelt liebevoll meine Hand. „Du brauchst dir keine Gedanken machen, Flocke. Wir sind mit dir mehr als einverstanden.“

„Äh...danke, Frau...“, stammele ich.

„Lisa. Sag einfach Lisa. Oder Mama, wenn du möchtest.“

„Mom, hör auf, ihn zu bedrängen“, zischt Robin. „Sorry“, flüstert er und streicht mir zaghaft eine Ponysträhne hinters Ohr.

Die Blagen kichern behämmert.

„Ich möchte nur, dass er sich wohl und geborgen bei uns fühlt“, erklärt Mom-Lisa-Mama.

„Dann sag den beiden, dass sie aufhören sollen, ihn anzustarren. Er ist kein Tier im Zoo.“

Danke, Robin!

„Leon, Lorenz...geht nach draußen. Spielen.“

Die zwei kleinen Jungs verpissen sich. Mir ist ganz schwabberig. Robins Berührung eben war so...weich.

„Ihr solltet in den Garten gehen“, schlägt Stefan vor, „ein bisschen frische Luft schnappen. Flocke ist etwas blass um die Nase.“

„Genau“, stimmt Mom zu, „wenn nachher die anderen kommen, ist’s vorbei mit Ausruhen. Da werdet ihr erst mal kaum Zeit für euch haben“, zwinkert sie.

Robin zerrt mich hinaus und setzt mich in die rotorangegelbe Siebzigerjahre-Hollywood-Schaukel.

„Deine Eltern sind wirklich...nett.“

„Du musst nicht bleiben.“

„Doch, muss ich. Weil ich nicht weiß, wo ich sonst hin soll.“

„Immer noch nicht?“

„Alles weg. Aber du weißt doch, wer ich bin. Also...wer bin ich?“

Robin knibbelt an seinen Fingern. „Naja, ich kenne dich aus der Schule. Aber wir sind nicht... du hast echt überhaupt keine Ahnung?“

Verzweifelt schüttele ich den Kopf.

„Du...ähem...du bist mein...Freund. Hast du das etwa auch vergessen?“

„Du meinst, wir sind befreundet.“

„Nee, wir sind zusammen.“

„Was?“, kreische ich entsetzt. „Du bist schwul? Und...ich auch? Das kann nicht sein. Niemals. So was vergisst man nicht einmal, wenn einem der Schädel abgehackt wird.“

„Das mit uns...das geht noch nicht so lange.“

„Wie lange?“

„Drei Wochen.“

„Drei Wochen und du weißt nicht, wo ich wohne?“

„Weil du’s mir nicht sagen wolltest.“

„Wieso nicht?“

Er zuckt die Schultern. Ich bin schwul. Ach du Kacke!! Na ja, gibt Schlimmeres. Wenn er mir gesagt hätte, ich sei rechtsradikal oder Tierquäler, DAS wäre übel. Trotzdem. Ich bin homosexuell, das muss ich erst mal irgendwie verarbeiten. Oh Gott, ich küsse Jungs! Und wer weiß, was ich noch alles mit denen treibe!!

„Und deine Eltern wissen, dass wir...verhalten die sich deshalb so...?“

„Ja.“

„Haben wir denn...du weißt schon...“

„Nein“, antwortet er heftig. „Nicht nach drei Wochen.“

Also bin ich keiner, der sofort mit einem Typen in die Kiste hüpft. Sehr beruhigend. Nachdenklich schaukele ich vor mich hin und ergreife Robins Hand.

„Flocke, du musst das nicht machen, wenn’s dir unangenehm ist.“

„Wir haben doch sicher schon Händchen gehalten, oder?“

„Hm.“

„Dann ist es okay. Ich kann mich zwar nicht daran erinnern, aber es fühlt sich nicht schlecht an. Sag mal, weißt du zufällig, ob ich Eltern habe?“

„Ich denke schon. Du hast aber nie über sie gesprochen.“

Oh Mann, ich hab einen Freund. Einen wahnsinnig hübschen Freund mit schwarzen Strubbelhaaren, in deren Spitzen sich irgendwas Orangerotes tummelt. Sicher ein misslungener Blondier-Versuch. Sieht punkig aus. Mhhhh...darauf stehe ich total. Äh?! Wieso weiß ich plötzlich, worauf ich stehe? Und warum weiß ich, dass ich ein schwarzes Hundehalsband an Robins Hals umwerfend finde? Besonders wenn er sein Sex-Fiend-Shirt trägt? Das, was so weit ausgeschnitten ist, dass es ihm andauernd neckisch über die Schulter rutscht. Leider fällt mir sonst nichts mehr ein. Das heißt...

„Haben wir uns geküsst?“

Robin wird ganz fürchterlich rot. „Hm“, macht er, ohne mich anzuschauen.

Ich lege ihm meinen Zeigefinger unters Kinn, drehe sein Gesicht zu mir und drücke kurz meine Lippen auf seinen Mund. Oha...das fühlt sich eigenartig an. Vertraut, aber gleichzeitig auch völlig fremd. Und...süß. Zuckersüß.

„Wir sollten nichts überstürzen“, murmelt er und scharrt verlegen mit seinem Fuß über den Boden.

„In Ordnung“, nicke ich, obwohl mir ein längerer Kuss sehr gelegen käme. „Meinst du nicht, dass meine Eltern sich Sorgen machen, wenn ich ewig nicht nach Hause komme? Fuck, wenn ich mich nur erinnern könnte.“

„Das wird schon wieder. Ich hab mal gelesen, dass Gedächtnisverlust bei einem Schlag auf den Kopf häufig vorkommt, aber nicht lange anhält.“

„Vielen Dank, Doktor Robin“, grinse ich horrorartig.

Es ist wirklich ekelhaft, nicht zu wissen, wer man ist, und auf völlig fremde Menschen angewiesen zu sein. Allerdings hab ich bei Robin schon so ein Gefühl von...ich kann’s nicht beschreiben, es ist irgendwie warm und kribbelig.

„Was hat’n deine Mutter vorhin gemeint? Wenn die anderen kommen?“

„Wir hatten abgemacht, dass du heute unsere Familie und Freunde kennen lernst.“

Mir wird wieder erheblich übel. Ich hasse sowas. Der Familie den Freund vorstellen...zum Kotzen.

„Hab ich das nicht gestern schon?“

„Das waren nur die engsten Verwandten.“

„Ich leg mich mal lieber noch hin.“

Am späten Nachtmittag füllen sich Haus und Garten. Robins Eltern flitzen geschäftig hin und her, bereiten Partyfraß vor, grillen sich einen dran lang und so. Robins Freunde...auweia. Die starren mich an, als sei ich ein Außerirdischer, der die Weltherrschaft an sich reißen will.

„Die wissen noch nicht so lange, dass ich schwul bin“, erklärt Robin. „War eine ziemliche Überraschung für alle.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das lange aushalte“, antworte ich leise und schiele beklommen auf meinen Teller mit der Grillwurst. Oder eher angeekelt...bin nämlich Vegetarier. Ich bin was? Na klar, seit dieser schrecklichen Schweine-Schlachthaus-Reportage esse ich kein Fleisch mehr.

„Ich mag kein Fleisch“, flüstere ich Robin ins Ohr und reibe bei der Gelegenheit meine Nase an seinem Hals. Ohhhh...wie gut der riecht. Nach Sommer und Sonne, nach Eis essen und auf einer Wiese liegen, die Wolken ankucken und Lennon hören. Meine Lippen streifen seine Haut. Das Besteckgeklapper der speisenden Freunde stoppt augenblicklich. Achthunderttausend Augenpaare sind auf uns gerichtet. Ich überlege, spontan in Ohnmacht zu fallen, um dieser fürchterlichen Situation entfliehen zu können. Entweder seine Freunde sind sehr militante Fleischesser und haben meine Abneigung gehört oder...ich rücke ein Stück von Robin weg. Das Essen geht weiter. Demonstrativ fahre ich mit dem Zeigefinger Robins Ohrmuschel entlang. Er kichert. Die Freunde starren. Okay, es liegt an uns. Vermutlich haben die noch niemals zwei verliebte schwule Jungs gesehen. Meine Hand streichelt Robins Schenkel während ich ihm einen Kuss auf die Wange drücke...schließlich sollen die Freunde was bekommen für ihr Geld.

„Ich muss mal kurz...“, murmelt Robin, springt auf und verschwindet.

Fuck, jetzt bin ich ganz allein mit der Meute. Das macht allerdings nichts, wie ich feststelle, denn niemand spricht mit mir. Ich hab keine Ahnung, ob mir schon viel Unangenehmes im Leben passiert ist, aber das hier ist bestimmt ein Highlight. Und wo zur Hölle ist mein Freund abgeblieben? Ins Klo gefallen, oder was?

„Ich geh mal kucken, wo Robin ist“, sage ich dem Typen neben mir, weil der irgendwie nett aussieht.

„Brauchst du nicht. Der ist grad weggefahren.“

„Äh...wie bitte?“

„Macht er immer, wenn ihm was zu viel wird. Steigt ins Auto und fährt durch die Gegend.“

Ich breche gleich in Tränen aus.

„Keine Angst“, lächelt der Typ, „bis jetzt ist er immer zurückgekommen. Ich bin übrigens Sascha, falls er noch nichts von mir erzählt hat. Robin ist mein kleiner Bruder. Lust auf ein Bier?“

Dankbar stolpere ich ihm hinterher, dahin, wo’s ruhiger ist.

„Du musst das verstehen“, behauptet Sascha, „Robin eröffnet uns plötzlich, dass er schwul ist und kurze Zeit später hat er auch noch einen Freund. Da sind wir natürlich gespannt, was du für einer bist. Vor allem, weil’s keiner geahnt hat. Du weißt ja, dass Robin sich immer für Mädchen interessiert hat. Ist halt komisch zu sehen, wenn da auf einmal ein Kerl an seinem Ohrläppchen knabbert“, grinst er. „Aber mich stört ’s nicht. Mir war klar, dass die Mädels bloß so ’ne Art Alibi waren.“

Mein Kopf tut weh.

„Die mit den Zöpfen ist Sonja.“

Das hübsche blonde Mädchen stiert mich finster an.

„Äh...?“, mache ich hilflos.

„Seine Ex. Hat wohl noch nicht ganz verkraftet, dass er deinetwegen mit ihr Schluss gemacht hat. Ich vermute, dass sie dich deshalb so angiftet. Eigentlich solltet ihr euch prima verstehen, sie musste das hier nämlich auch durchmachen...vor dir. Meine Familie empfängt Freunde, Freundinnen und Bekannte...sehr mit offenen Armen.“

„Ich würde sagen, die überrollen einen...auf eine sehr nette Art“, lächele ich schwach.

„Ja“, nickt er, „wenn man so was nicht gewohnt ist, ist man schnell überfordert. Meiner Freundin ging’s da echt genauso. Ihre Eltern sind eher Vollidioten. Kümmern sich einen Scheiß um andere Leute, um die eigenen Kinder schon gar nicht. Die wollten tatsächlich auswandern. Kurz vor Julias Abi. Nach Dänemark oder so. Da haben meine Eltern ihr eben Asyl gewährt, und jetzt haben wir eine eigene Wohnung.“

Während Sascha aus dem Nähkästchen plaudert, knallt es plötzlich in meinem Kopf. Als wäre mein Gehirn verrutscht, beziehungsweise wieder an die richtige Stelle gerutscht. Meine Eltern...sind vor eineinhalb Jahren aufs Land gezogen. Traum vom eigenen Gestüt. Mom hatte schon immer sehr viel für Pferde übrig. Jetzt werden sie gezüchtet. Scheiße, meine Eltern sind stinkreich! Und offensichtlich nicht bei Trost, dass sie ihrem damals sechzehnjährigen Sohn gestattet haben, allein in der Stadt wohnen zu bleiben. Zugegeben, ich hab das anfangs extrem ausgenutzt, bis Paps mit meinem Umzug drohte, da riss ich mich dann hübsch zusammen. By the way...Lessingstraße dreiundzwanzig ist meine Adresse.

„Alles okay?“, fragt Sascha und stupst mich kurz an.

Ich nicke abwesend.

„Na dann...kuck mal, wer da kommt.“

Der kann was erleben! Wütend erhebe ich mich und deute auf meinen Freund, der grad den Garten betritt. „Du...hierher zu mir...sofort!“, brülle ich.

Erschrocken kommt er angedackelt und bleibt vor mir stehen. Die Partygäste, durch mein Geschrei aufgescheucht, belauern uns.

„Der lässt sich ja ganz schön was gefallen“, faucht das Mädchen mit den Zöpfen.

Scheiß drauf. Ich schlinge meine Arme um ihn.

„Wenn du noch mal einfach abhaust, ist was los, ja? Du lässt mich nicht mit einem Haufen wildfremder Menschen allein. Tickst du noch richtig?“, zische ich.

„Tut mir Leid, Flocke.“

„Nimm mich das nächste Mal gefälligst mit, du Arsch. Und überhaupt wirst du heute nicht mehr von meiner Seite weichen, verstanden?“, sage ich versöhnlicher und beiße ihm ins Ohr.

„Autsch“, murmelt er, ein Lächeln unterdrückend.

Und weil die Ex uns besonders blöde anstarrt, schiebe ich Robin zur Hollywood-Schaukel, setze mich, ziehe ihn auf meinen Schoß und fange an, Zärtlichkeiten mit ihm auszutauschen.

Nichts Wildes...ein kleiner Kuss hier und da, Händchenhalten, seinen Rücken streicheln. Robin ist extrem zurückhaltend, was vielleicht logisch ist, weil uns jeder zuschaut. Nicht die ganze Zeit über, aber immer wieder mal.

„Wieso hast ’n du deine Ex eingeladen?“, frage ich.

„Woher weißt du...?“

„Hab mich mit deinem Bruder unterhalten.“

„Das waren meine Eltern. Die mögen Sonja. Haben ja auch keine Ahnung, was sie abgezogen hat.“

„Was ’n?“

„Fremdgeknutscht. Glücklicherweise aber zu dem Zeitpunkt, als ich eh schon dabei war, mich in dich zu verlieben. Da war’s nicht ganz so beschissen, mich von ihr zu trennen.“

„Aha“, antworte ich und habe den zweiten Knall im Kopf.

Diese dumme Sau bescheißt mich! Simon, die alte Kakerlake, trifft sich heimlich mit einem Typen. Bin ihm bereits nach einem Jahr zu langweilig geworden. Vielleicht knutscht und bumst er auch schon länger fremd. Wer weiß?! Jedenfalls hab ich ihn gesehen und das ist wohl Beweis genug. Jetzt muss ich bloß noch dahinter kommen, warum der hübsche Typ auf meinem Schoß behauptet, mein Freund zu sein. Möglicherweise hab ich mich von Simon getrennt, woran ich mich jedoch nicht erinnere, und mir sofort eine neue Beziehung gesucht, woran ich mich aber auch nicht erinnere?!


Good day sunshine...mein Gedächtnis ist wieder da. Halleluja!! Ich heiße Gregor, werde seit dem Kindergarten Flocke genannt, bin homosexuell (was meine Eltern nicht stört), Vegetarier (was meine Eltern für eine Phase halten), stehe auf die Beatles und...normalerweise könnte ich jetzt getrost nach Hause gehen. Aber ich hab beschlossen, noch eine Weile hier zu bleiben. Möchte doch ganz gerne wissen, warum Robin denkt, er sei mein Freund. Eigentlich kennen wir uns nämlich gar nicht. Es stimmt schon, dass wir auf die gleiche Schule gehen, bloß haben wir nichts miteinander zu tun gehabt. Niemals auch nur ein Wort gewechselt. Die kleine Ratte hat mich also eiskalt belogen. Dafür muss es ja einen Grund geben. Und den will ich eben rausfinden. Darüber hinaus gefällt mir die kleine Ratte (weil super mega süß) und der Gedanke, Robin als Freund zu haben, denn ich hab ihn in der Schule schon länger heimlich angeschmachtet. Wenn er in der Pause auf der vollgekritzelten Bank saß, total versunken an seinem Hundehalsband pfriemelte und ihm sein verdammtes Sex-Fiend-Shirt über die Schulter rutschte...da hatte ich so Herzklopfen! Tausendmal hab ich überlegt, ihn anzuquatschen, mich jedoch nicht getraut. Erstens weil ich mit Simon zusammen war und zweitens...ich hätte bestimmt nur Blödsinn geredet und Robin mich für einen Schwachmaten gehalten. Was mich ebenfalls vom Gehen abhält ist der Umstand, dass hier alles so nett ist. Okay, die Wohnungseinrichtung ist echt abartig und die Friedhofsumgebung wirkt gruselig, aber ich werde von Robins Eltern dermaßen betüttelt, dass ich vor Rührung in Tränen ausbrechen will. Meine Eltern sind zwar auch wahnsinnig nett, allerdings weit weg. Es sind grad Sommerferien und bei mir zu Hause gibt’s nichts, was nicht hundert Jahre warten könnte. Sogar auf meinen geliebten Lennon muss ich nicht verzichten, weil Robins Papa Beatles-Fan ist. Es ist einfach so: ich gehöre total hierher!

Momentan liege ich faul auf der Hollywood-Schaukel, die Sonne scheint und mein Freund hockt mit seinem Gartenstühlchen vor mir, obwohl die Schaukel groß genug für zwei Leute wäre. Seine Berührungsängste stören mich ein wenig. Nein, sie stören mich ganz gewaltig.

„Hey. Warum kommst du nicht her zu mir?“

Er zuckt die Schultern, worauf sein T-Shirt gefährlich rutscht. Ich krieg sofort Magenkribbeln und strecke meinen Arm nach ihm aus.

„Komm schon.“

Erfreulicherweise setzt er sich tatsächlich auf die Schaukel, sodass ich ihn auf mich ziehen und umarmen kann.

„Flocke...“, wehrt er sich.

„Wir dürfen kuscheln, denn wir sind verliebt.“

„Ich mag das aber nicht vor meinen Eltern.“

„Die können uns doch gar nicht sehen“, flüstere ich ihm ins Ohr. „Erzähl mal, wie wir uns... näher gekommen sind. Ich weiß es grad nicht.“

„Ist halt einfach passiert.“

„Okay, aber wie genau?“

„Wir kennen uns aus der Schule...“

„Das sagtest du schon.“

„Und eines Tages hat es gefunkt.“

„Spannende Geschichte“, bemerke ich.

„Wir leben nun mal nicht in einem Abenteuerroman.“

Mein Finger fährt langsam über seinen Hals, seine nackige Schulter und malt kleine Kreise darauf. Er schließt für einen Moment die Augen, also küsse ich ihn. Zaghaft öffnet er seinen Mund und tastet mit der Zungenspitze umher bis sie gegen meine stipst. Mein Arm schlängelt sich um seine Taille, unsere Beine sind längst irgendwie ineinander verschlungen, ein sanfter Sommerwind weht über uns hinweg. Ich glaube, das ist der schönste, perfekteste, süßeste Augenblick meines Lebens. Leider ist er viel zu kurz. Robins Lippen entziehen sich meinem Mund und ich hab fast schon wieder vergessen wie ich heiße. Behaglich schmuse ich meinen Kopf an seine Halsbeuge, während er durch meine Haare wuschelt. Ich spüre seinen Pulsschlag an meinen Lippen und sauge vorsichtig an der warmen, weichen Haut. Robins Unterleib drückt sich verstohlen gegen meinen, was ihm ein Seufzen entlockt. Und mir erst recht.

„Wir sollten...“, murmelt er plötzlich, löst sich aus unserer Umklammerung und setzt sich gesittet hin.

„Du hast...“, ich starre frech auf seinen Schritt, „da einen Knutschfleck am Hals.“

„Blödmann“, giggelt er und streicht kurz über die gerötete Stelle.

„Nenn mich einfach Flocke“, grinse ich.

Bis zum Abendessen (Stefan und Lisa achten sehr darauf, dass die Mahlzeiten gemeinsam eingenommen werden) sind noch fast zwei Stunden Zeit, deshalb schlage ich einen Spaziergang vor. Hinter dem Friedhof gibt’s nämlich Felder und Wiesen...da ist man so was von ungestört!! Robin öffnet das eiserne Törchen.

„Du willst doch nicht etwa...“

„Logisch. Oder hast du Angst, die Toten steigen aus ihren Gräbern? Das tun die nicht im Hellen.“

„Du musst aber trotzdem meine Hand halten“, erkläre ich.

Robin schiebt seine Hand in meine und wir schlendern los. Mir ist wirklich mulmig, weil dieser Teil des Friedhofs nicht mehr ganz so neu und gepflegt ist. Verlotterte Gräber, uralte, überwucherte Grabsteine, Engelfiguren mit Grünspan in den Gesichtern, Bäume, durch die kaum ein Sonnenstrahl blitzt...die absolute Kulisse für einen Horrorfilm. Und wenn’s gleich noch mal irgendwo raschelt, bleibt mir das Herz stehen!

„Als wir kleiner waren, haben wir hier immer, wenn es dunkler wurde, verstecken gespielt und so“, faselt Robin. „Das war in der Tat manchmal unheimlich. Und wenn es richtig dunkel war, haben wir da bei dem Brunnen gesessen und Gruselgeschichten erfunden.“

Ich hab mich inzwischen an seinem Arm festgekrallt.

„Da vorne ist der Ausgang“, lächelt er, „hast es gleich geschafft.“

„Können wir bitte nachher einen anderen Rückweg nehmen?“

„Dann müssen wir aber um den gesamten Friedhof laufen und kommen zu spät zum Abendbrot.“

„Okay, hab ich kein Problem mit.“

„Flocke, ernsthaft...was soll schon geschehen? Hier sind alle tot.“

„Das kannst du nicht mit Bestimmtheit wissen.“

Robin bleibt stehen, nimmt seine Halskette ab, an der ein silbernes Kreuz baumelt, und legt sie mir um den Hals.

„Zufrieden?“

„Das hilft ja bloß gegen Vampire. Was ist denn mit den ganzen Werwölfen, Zombies, Ghuls und anderem verwesten Gesindel?“

„Meinetwegen“, stöhnt er, „wir nehmen den langen Weg.“

„Darf ich die Kette trotzdem behalten?“

„Sie gehört dir.“

Hmm, ob es moralisch vertretbar ist, Geschenke von einem Jungen anzunehmen, der vorgibt, dein Freund zu sein, aber du weißt genau, dass er lügt?

„Nein, das geht nicht. Sicher ist das Kreuz total wertvoll.“

„Also eigentlich nicht. Ich hab’s mal für ein paar Euro auf’m Weihnachtsmarkt gekauft.“

„Was kommt denn als Nächstes?“, frage ich beleidigt. „Der Verlobungsring aus’m Kaugummiautomat?“

„Es kommt schließlich auf die Geste an, oder? Ich hab die Kette gerne getragen und jetzt will ich, dass sie an deinem Hals hängt. Damit du immer an mich denkst. Und natürlich, damit dich kein Blutsauger beißt.“

Ich umarme ihn, küsse ihn und schiebe den Gedanken, dass das alles nicht real ist, beiseite.

Nach dem Abendessen stöbere ich mit Stefan durch dessen umfangreiche Plattensammlung. Ich liebe Schallplatten, weil die nicht so ekelhaft steril klingen wie CDs. Wenn Leuten das Knistern auf den Senkel geht, kann ich nur mitleidig den Kopf schütteln. Stefan ist ganz glücklich, dass er endlich jemanden gefunden hat, der seine Leidenschaft teilt. Mit glänzenden Augen erzählt er, dass er sich früher andauernd auf Plattenbörsen rumgetrieben hat, weil... ebay gab’s ja noch nicht.

„Lisa hat immer geschimpft, wenn ich so viel Geld ausgegeben habe“, lächelt er, „aber wer kann schon am original Sgt.-Pepper-Album vorbei laufen? An Revolver, Rubber Soul und... hier“, er drückt mir eine Single in die Hand, „die Beatles auf Deutsch. Komm, gib mir deine Hand...du lachst dich kaputt.“

„Ich wünschte, ich hätte John Lennon gekannt“, seufze ich.

„Ja“, nickt er, „das wär’s gewesen, oder? Wie auch immer, ich geh ins Bett. Schlaf gut.“

„Du auch.“

Robin liegt bereits auf dem Gästebett, denn selbstverständlich schlafen wir hübsch getrennt.

Des weiteren ist er für die Nacht angezogener als die Polizei erlaubt. Das ist einerseits schade, andererseits würde ich wohl über ihn herfallen. Dennoch, ein bisschen kuscheln fände ich durchaus angebracht.

„Magst du dich zu mir legen?“, frage ich.

Erst sieht er mich an, als hätte mindestens einer von uns beiden eine Geschlechtskrankheit, dann nickt er zaghaft und wurschtelt sich noch zaghafter unter meine Bettdecke. Sein Körper ist unglaublich angespannt, also nehme ich ihn in den Arm und streiche beruhigend über seine Brust. Ah...es funktioniert. Robin wird etwas weicher und schmiegt sich an mich. Oh Mann, der riecht schon wieder so nach Sommer, ich werd verrückt. Ich werd ihn küssen. Jetzt sofort, ohne Vorwarnung. Robin ist etwas irritiert, gestattet meinen Lippen jedoch, auf seiner Schnute zu verweilen. Meine Hand schlängelt sich unter sein T-Shirt, streichelt seinen Bauch und gleitet tiefer. In seiner Jogginghose darf meine Hand dann leider nicht verweilen. Na ja, was fall ich auch gleich mit der Tür ins Haus, oder? Jemand wie Robin mag sicher langsam verführt werden. Offensichtlich nicht heute. Und wenn man bedenkt, dass ich auch eigentlich keinerlei Recht habe, ihn zu verführen, weil er ja bloß vorgibt, mein Freund zu sein, sollte ich mich schleunigst bei ihm entschuldigen. Das fällt aus, denn offiziell weiß ich nicht, dass Robin nur vorgibt, mein Freund zu sein. Fuck, so langsam wird’s echt anstrengend! Allerdings hat er sich das Ganze selber eingebrockt, da kann er die Suppe jetzt mal schön auslöffeln. Ich küsse ihn also weiter, grapsche an ihm herum und stelle fest, dass es Robin doch gefällt. Er atmet geräuschvoll und presst sich heftig an mich. Und genauso heftig schubst er mich plötzlich weg.

„Ich...ich bin müde“, japst er.

„Blödsinn“, grinse ich, „du bist geil. Wo ist das Problem?“

Er schüttelt den Kopf. „Ich kann das nicht.“

Bevor er aus dem Bett steigt, greife ich nach seinem Arm. „Was zur Hölle ist los mit dir?“

„Ich...scheiße, du wirst mich hassen, ich meine, ich weiß es, weil ich mich selber hasse...“, faselt er befröppelt. „Ich...“, er beginnt zu schniefen, „ich hab dich angelogen.“

„Hä?“

„Flocke, wir...sind nicht zusammen.“

„Was?“, kreische ich und tue ganz entsetzt. „Heißt das etwa, du bist gar nicht schwul? Und... ich auch nicht?“

„Doch, also ich schon. Bei dir weiß ich es nicht.“

„Okay, ich höre.“

Er kauert sich in die eine Ecke des Bettes und nagt an seiner Unterlippe. „Als meine Familie erfahren hat, dass ich auf Jungs stehe, war sie total aus dem Häuschen, verstehst du? Es war überhaupt nicht schlimm, oder so. Im Gegenteil. Ich wurde ich ständig gefragt, was denn nun mein Typ sei und andauernd kam irgend jemand, der mich mit irgend wem verkuppeln wollte. Das ist mir so auf die Nerven gegangen, dass ich mir halt einfach einen Freund ausgedacht habe. Um in Ruhe gelassen zu werden. Und...na ja, da bist eben du mir eingefallen. Dich kannte ja keiner von meinen Freunden und ich kannte dich nur aus der Schule. Das schien mir am Ungefährlichsten.“

DAS ist der Grund? Verdammt...das ist niederschmetternd. Ich hatte gehofft, er würde mir sagen, dass er sich unsterblich in mich verliebt hat und deshalb mein Freund sein wollte.

„Dummerweise wollten dich dann alle kennen lernen“, redet er weiter, „und als ich dich angefahren habe und du dich an nichts erinnern konntest...“

„Hast du die Gelegenheit beim Schopf gepackt, oder was?“, unterbreche ich ihn.

Er nickt unglücklich.

„Aber die Party letzte Woche, die war doch schon länger geplant...hast du mich etwa mit Absicht angefahren? Du konntest doch gar nicht wissen...“

„Das war echt Zufall. Meine Eltern haben das mit der Party organisiert und weil ich ihnen keinen Freund hätte präsentieren können...“

„Bist du ins Auto gestiegen und hast dich auf die Suche gemacht?“, unterbreche ich ihn erneut.

„Nein, ich wollte einfach nur weg. Flocke, es tut mir so leid, dass ich dich benutzt hab.“

Die Geschichte klingt zwar ziemlich absurd, aber ich glaube ihm. Wie ich seine Familie erlebt habe, kann ich mir gut vorstellen, unter was für einem Druck er gestanden haben muss.

„Was, wenn ich mich erinnert hätte?“

„So weit hab ich nicht gedacht“, gesteht er.

„Da hast du ja die letzten Tage Glück gehabt, hm?“

„Flocke, du kannst natürlich sofort gehen, wenn dir das lieber ist.“

Oh nein! Ich will doch gar nicht weg!!

„Ich kann nicht gehen, weil ich nicht weiß, wohin.“

„Shit!“

„Okay, ein Vorschlag: ich bleibe so lange als dein Freund hier bis mein Gedächtnis wieder funktioniert.“

Robins Augen strahlen verhalten. „Wirklich?“

„Das ist der Plan“, nicke ich.

„Dann...dann werden wir so tun als ob, wenn meine Familie um uns herum ist?“

Besser als nix, würde ich sagen. „Meinetwegen.“

„Du würdest das echt machen?“

„Ja, willst du’s vielleicht schriftlich?“

„Nein, das ist...Flocke, das ist nett von dir. Ich meine, dass du mich nicht verrätst. Wenn du dich wieder erinnern kannst, trennen wir uns eben, ja?“

Großartig. Wir sind überhaupt nicht zusammen und er überlegt schon, wann wir uns trennen.

„Wir könnten einen Streit inszenieren, dann haust du einfach ab und wir haben Schluss gemacht“, schlägt er vor und freut sich fast ein Loch ins Knie.

Einfach abhauen, hm?! Ich fühle mich, als hätte mir jemand einen Wischlappen ins Gesicht geschmissen. Abhauen...in meine leere Wohnung. Abhauen...in mein Leben ohne Freund.

Fuck, ey, ich hab mich viel zu sehr an Robins Zuckerküsse gewöhnt. An seine hübsche Visage, ans Händchenhalten und kuscheln. Hat ihm das alles etwa überhaupt nichts bedeutet?

Mann, der sollte Schauspieler werden. Für die Nummer hätte er einen Oscar verdient!

„Schlaf schön“, lächelt er und trollt sich in sein verficktes Gästebett.

Ich ziehe mir die Decke über die Ohren und hoffe, dass ich niemals wieder aufwache.


Hoffnung ist so eine Sache! Bin natürlich doch aufgewacht, worüber ich mich vielleicht freuen sollte. Schließlich ist Totsein kein wirklich erstrebenswerter Zustand. Hat man ja nix von, wenn man in ’ner Kiste liegt, verbuddelt, und über einem welken die Blumen vor sich hin. Ich frage mich gerade ernsthaft, ob ich an so was wie ein Leben nach dem Tod glaube.

Oder eben daran, dass danach alles zu Ende ist. Das hat ja leider noch keiner heraus gefunden. Sicher ist es hilfreich, wenn man darauf vertraut, in den Himmel zu kommen, weil man dann keine Angst haben muss. Meine blöden Eltern hätten mich ruhig mal ein bisschen katholischer erziehen können. Möglicherweise würde ich im Himmel John und George treffen. Das wäre natürlich geil. Ich würde John sagen, dass ich Yoko niemals die Schuld an der Trennung der Beatles gegeben habe...und das wäre keine doofe Schleimerei. Danach würde ich sofort wissen wollen, ob er nun homoerotische Abenteuer mit Brian Epstein hatte. Oder...das könnte ich Brian ja selber fragen, der würde mir doch wahrscheinlich auch mal über den Weg laufen im Himmel. Und George müsste für mich stundenlang „While my guitar gently weeps“ und „Here comes the sun“ spielen. John bräuchte ich nichts sagen, er wüsste genau, was er zu singen hätte. „Imagine“...immer und immer wieder. Das hab ich irgendwie nie satt. Als Erstes würde ich aber Gott bitten, Robins Schutzengel sein zu dürfen. Damit ihm nichts Schlimmes geschieht auf der Erde. Na toll, wenn ich jetzt noch weiter drüber nachdenke, fange ich an zu heulen. Diese Grübelei über den Tod ist auch eigentlich sehr untypisch für mich, ich schiebe sie einfach mal auf die Location. Man wird ja bereits damit konfrontiert, wenn man bloß aus dem Fenster schaut, was ich nach wie vor gruselig finde. Zum Glück liegt auf dem Friedhof niemand, den ich kenne...äh...gekannt habe. Lisas Eltern sind hier begraben. Mal ehrlich, ich könnte das nicht aushalten. Das wäre mir unheimlich, wenn meine Eltern bloß hundert Meter weiter vom Frühstückstisch unter der Erde lägen. Was für eine Vorstellung...uaahhh...mir wird ganz schaurig. Des weiteren will ich mir die Fresse polieren, dass ich Robins Beichte zugelassen habe. Den ganzen Tag über verhielten wir uns praktisch wie Fremde. Er war nett und freundlich, ich wollte knutschen. Das ging noch nicht einmal, während seine Familie dabei war, weil es ihm unangenehm ist, gerade dann Zärtlichkeiten auszutauschen. Lediglich seine Hand durfte ich halten. Allerdings beschlich mich so ein Gefühl, dass ihm das auch nicht in den Kram passte. Na ja, wahrscheinlich möchte er schon auf die Trennung hinarbeiten. Ich möchte dagegen logischerweise auf eine Beziehung hinarbeiten. Leider steht er nicht auf mich. Das kommt einer Tragödie gleich. Simon betrügt mich, was mir inzwischen echt latte ist, und Robin will mich nur als Alibi-Freund. Das Leben ist manchmal ziemlich grausam.

„Hey“, grüßt Robin, der ins Zimmer latscht, „magst du spazieren gehen?“

„Wozu?“, murmele ich schwächlich. Vielleicht auch irgendwie aggressiv...wenn wir allein unterwegs sind, hält der eh wieder drei Kilometer Sicherheitsabstand.

„Weiß nicht, draußen ist es noch ganz warm und ich dachte...aber wenn du keine Lust hast, auch egal.“, zuckt er die Schultern.

So ein dämlicher Blödmann. Ich krieg fast Atemnot, weil ich ihm nah sein will, und er bemerkt das nicht.

„Hattest du eigentlich überhaupt keine Skrupel, einfach auch eine Schwuchtel aus mir zu machen?“

Es ist sicher dieses fiese ’auch’, das ihn verletzt. Wie wenn einer sagt „Ich bin zu dick“ und du antwortest „Ich doch auch“. Du meinst es nicht so, gibst dem anderen aber aus versehen damit zu verstehen, dass er tatsächlich zu dick ist. Ich hab das gerade allerdings genauso gemeint, denn, wie bereits erwähnt, verspüre ich schlimme Aggressionen.

„Es ist dein gutes Recht, mich zu beleidigen“, entgegnet er leise.

Ich flippe gleich aus! „Nein, ist es nicht. Jemanden Schwuchtel zu nennen ist abartig. Ich sag zu einem Farbigen auch nicht Nigger.“

„Ähem...ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst.“

Ja, da ist er nicht der einzige. „Ich hab dir eine Frage gestellt.“

„Logisch hatte ich ein schlechtes Gewissen. Erst fahre ich dich über den Haufen und dann nutze ich deinen Zustand dermaßen aus. Es tut mir leid, Flocke.“

„Deine ewigen Entschuldigungen machen’s nicht besser“, zische ich.

„Okay, was willst du hören?“

Dass du mich liebst, du arschgesichtiger Vollblödian!!

„Gar nix. Total egal, spielt alles keine Rolle, verstehst du?“

„Ehrlich gesagt...nee“, lächelt er unsicher.

„Lass uns raus hier.“

„Willst du jetzt doch spazieren?“

„Nein, nur in den Garten.“

„Da sind aber meine Eltern.“

„Und?“, brülle ich.

Robin beißt sich auf die Lippe. „Ich mein ja nur...“

Klar, es könnte ja sein, dass wir Händchen halten müssen. Noch ein Wort, und er kriegt meine Faust in die Fresse!

Im Garten sitzen Stefan und Lisa verliebt in der Abendsonne. Mann, sind die zu beneiden.

Weiß gar nicht, ob meine Eltern sich auch noch so anstrahlen, ich sehe die ja eher selten.

Meine Eltern neigen aber eh nicht zu übertriebenen Liebesgesten. Weder untereinander, noch mir gegenüber. Das hat mir eigentlich nie was ausgemacht...bis ich in diese Familie stolperte. Inzwischen bin ich total süchtig nach den kleinen, unaufdringlichen Berührungen. Ein bisschen durch die Haare strubbeln hier, kurz mal über den Rücken streichen da...so was machen Robins Eltern eben. Einfach so.

„Na, ihr beiden“, grinst Lisa, als wir uns setzen und ich wie selbstverständlich nach Robins Hand grapsche.

„Flocke“, beginnt Stefan, „wir haben uns überlegt, ob wir nicht mal deine Eltern einladen.“

Robin wird ein wenig nervös.

„Keine Ahnung, die sind immer sehr beschäftigt.“

„Vielleicht können sie sich am Wochenende mal Zeit nehmen. Wir würden sie jedenfalls gerne kennen lernen. Das heißt...sie wissen doch hoffentlich, dass du einen Freund hast, oder?

Und sie haben doch hoffentlich nichts dagegen. Ich meine, das gibt’s ja, dass Eltern nicht damit klar kommen, wenn ihr Kind...“

„Meine Eltern haben keine Probleme mit ihrem schwulen Sohn“, unterbreche ich Lisas Befürchtungen. „Ich konnte ihnen nur noch nicht sagen, dass ich einen Freund habe, weil Robin und ich noch nicht so lange zusammen sind.“

Lisa kichert gefährlich. „Also Robin hat uns sofort von dir vorgeschwärmt.“

„Mom“, kreischt er, „tut das jetzt was zur Sache?“

„Schatz, das muss dir nicht peinlich sein. Ist doch schön, dass ihr zwei so verliebt seid. Da darf man schwärmen.“

„Was hat er denn erzählt über mich?“

„Immer nur wie hübsch du bist und wie gern er dich hat“, erklärt Lisa.

Ich schmatze ihm einen dicken Kuss auf die gerötete Wange. „Oh, das ist so süß, Babe.“

„Hör schon auf“, murmelt er verlegen.

Ganz im Gegenteil. Ich fange grad erst an und gebe dem verdutzten Robin einen Zungenkuss, der sich gewaschen hat. Der arme Kerl könnte mit seinem roten Gesicht prima als Leuchtrakete herhalten. Und ohne es zu wissen, spielt Stefan mir total in die Hände.

„Flocke, darf ich fragen, was deine Eltern beruflich machen?“

„Mein Vater...ähem...also der hat eine...eine Werbeagentur, ja, genau“, stottere ich, „aber da arbeitet er nicht mehr selber. Oder bloß selten. Hauptsächlich züchten meine Eltern...äh... Pferde.“

„Das ist mal was Exotisches“, stellt Lisa fest.

„Ist das Verhör beendet?“, zischelt Robin. „Ist doch wohl völlig egal, womit die ihr Geld verdienen.“

Stefan ignoriert die Bemerkung. „Dann müsst ihr aber ziemlich weit außerhalb wohnen, oder?“

So langsam wird’s echt spaßig. „Ähem...ja, meine Eltern schon. Aber ich bin in der Stadt geblieben, wegen der Schule und so.“

„Du wohnst ganz alleine?“

„Yep.“

„Das ist doch sicher manchmal schwierig“, überlegt Lisa.

„Geht so. Eigentlich ist es gut, weil man früh lernt, Verantwortung zu übernehmen.“

„Und weil man sozusagen immer sturmfreie Bude hat, was?“, zwinkert Stefan.

„Es hat seine Vorteile“, nicke ich und lasse meine Finger über Robins Schenkel krauchen.

„Unsere Einladung steht. Sag einfach Bescheid, wenn du mit deinen Eltern gesprochen hast.“

Die beiden wünschen eine gute Nacht und verschwinden ins Haus. Robin stiert mich finster an.

„Etwas sehr dick aufgetragen deine Geschichte, findest du nicht?“

„Hä?“

„Eigene Wohnung und dieser ganze Pferdekram, kaum zu glauben, dass sie dir das abgekauft haben.“

„Na ja, was hätte ich denn auch für einen Grund, sie anzulügen?“

„Trotzdem. Warum hast du dir nicht gleich zusammenphantasiert, dass deine Eltern in ihrem Raumschiff durchs All fliegen? Oder als Spione für den KGB arbeiten? Übrigens musst du mir nicht mehr so auf die Pelle rücken. Wir sind allein. Kannst mit dem Spiel aufhören.“

Ich rücke ihm noch viel mehr auf die Pelle.

„Wer spielt denn hier?“, wispere ich und küsse ihn.

„Warte“, er schiebt mich weg, „wie meinst du das?“

„Du stehst ja echt auf der Leitung. Okay, pass auf...mein Name ist Gregor, ich wohne in der Lessingstraße dreiundzwanzig und was ich von meinen Eltern erzählt habe, war die Wahrheit.“

Oha, die arme Maus ist total verwirrt. „Dein Gedächtnis...ich meine, du erinnerst dich wieder?“

„Allerdings.“

„Seit wann?“

„Eine ganze Weile...eigentlich schon seit der Party“, gebe ich zu.

„Aber...aber dann hast du doch gewusst, dass ich dich angelogen habe und...und du hast nichts gesagt. Wieso?“, kreischt er.

„Weil’s mir hier gefallen hat. Ich mag deine Eltern.“

„Das ist alles? Du wolltest bloß eine Familie haben, oder was?“

„Warum empört dich das so? Du wolltest doch auch einen Freund haben und hast mir deshalb diesen Mist eingeredet. Ich finde, wir sind quitt.“

Robin schnappt verzweifelt nach Luft. „Du...du bist ja nicht ganz dicht.“

„Sagt der Typ, der sich einfach einen Freund ausgedacht hat, hm?“

„Und...das viele Küssen?“, fragt er leise.

„Was soll damit sein?“

Seine Augen glitzern feucht. „Weiß nicht, ich hab...gehofft...weil es doch meistens von dir ausging...oh Mann, bin ich blöd gewesen.“

Verdammt, anscheinend bin ich derjenige, der jetzt auf der Leitung steht. Will er mir etwa sagen, dass...

„Du hast mich die ganze Zeit verarscht“, schnieft er.

Wie? Was? Nein, hab ich doch gar nicht.

„Was hast du gehofft?“

„Gar nichts.“

„Sag schon.“

„Nein, du Arsch“, brüllt er und läuft ins Haus.

Supi, jetzt haben wir wohl unseren Streit, der eine Trennung nach sich ziehen könnte. Aber ohne mich! So leicht lasse ich mich nicht abservieren. Kaum bin ich ihm gefolgt, höre ich die Haustür zuschlagen, drei Sekunden später heult ein Motor auf. Ich bin fassungslos und möchte Robin schlimme Dinge antun.


Der blöde Sack ist irgendwann mitten in der Nacht zurück gekommen, hat sich ins Bett gelegt und geschlafen. Ich war dermaßen bekloppt vor Wut, dass ich mich nicht bewegen konnte. Denn wenn ich es getan hätte, wäre Robin nicht mehr aufgewacht. Totschlag im Affekt oder so was wäre es gewesen. Verminderte Zurechnungsfähigkeit. Was weiß ich. Kenne mich mit dem Strafgesetz nicht aus. Jetzt ist es draußen hell und sonnig, ich hab ein wenig Lennon gehört und meine Aggressionen laufen auf Sparflamme. Ein günstiger Augenblick, um mir darüber klar zu werden, was ich will. Also, eigentlich weiß ich das ja, halt nur noch nicht genau, wie ich es bekomme. Ich beschließe, dass Angriff und direkt immer gut ist. Und zur Abwechslung mal mit offenen Karten zu spielen. Ich schleiche zu Robin ins Gästebett, krauche unter die Decke und schmiege mich an seinen Rücken.

„He!“ Er wirbelt herum, dass ich mich festhalten muss, um nicht auf den Boden zu knallen, und schaut mich wild an. „Was soll ’n das werden?“

„Hab ich dir nicht gesagt, dass du mich mitnehmen sollst, wenn du abhaust?“

„Bist du verrückt?“, fragt er skeptisch.

„Wenn ich es bin, dann bloß deinetwegen.“ Mein Arm schlängelt sich um seine Taille und ich rücke näher an ihn heran. „Sonst fall ich raus“, erkläre ich grinsend.

„Was willst du überhaupt?“, schüttelt er den Kopf.

„Darf ich sagen?“

„Ja“, grummelt er, „ich hab dich schließlich gefragt.“

Und ich hab ihn blitzschnell auf den Mund geküsst. „Das. Für immer und ewig.“

„Flocke...“

„Du wolltest es wissen, oder?“

„Ist das jetzt wirklich echt?“

Meine Hand streichelt an ihm hoch und wuselt durch seine schwarz-orangen Haare. „Ich glaube, das war es schon von Anfang an. Wir haben uns bloß nicht getraut, es zuzugeben.“ Damit lehne ich mich natürlich sehr weit aus dem Fenster, aber ich hoffe einfach, dass ich Recht habe. Sein Lächeln bestärkt mich.

„Du bist also nicht geblieben, weil meine Eltern so nett sind.“

„Und du hast mich nicht nur ausgesucht, weil mich niemand kannte und es deshalb ungefährlich war.“

„Dann sind wir jetzt ganz richtig zusammen“, strahlt er.

Mir wird schlecht! Ich hab...fuck, ich hab Simon vergessen. Der weiß ja noch gar nicht, dass er nicht mehr mein Freund ist, weil ich inzwischen Robin liebe.

„Noch nicht. Ich...äh...ich müsste mich vorher noch offiziell von jemandem trennen.“

„Wie bitte?“

„An dem Tag, als du mich über den Haufen gebrettert hast, hab ich kurz vorher den Beweis für die Untreue meines Freundes bekommen. Ich hab ihn einen Typen knutschen sehen.“

„Du hast einen Freund?“

„Exfreund. Er weiß es nur noch nicht.“

„Dann sag ihm das gefälligst. Und zwar schnell. Ich will nämlich kein Verhältnis sein. Und jetzt...raus aus meinem Bett.“

„Was?“

„Du bist noch nicht frei.“

„Kann ich kurz dein Handy haben? Meins ist zu Hause.“

Er reicht mir sein Telefon, ich wähle Simons Nummer...und kriege die Mailbox. Egal. „Hey, Arschloch, hier ist Flocke, dein Exfreund, denn mit dir bin ich fertig, du Mistvieh. Unsere Beziehung ist hiermit beendet und falls du wissen willst, wieso: ich liege grad mit einer total süßen Maus im Bett und da kannst du leider nicht mithalten. Einen schönen Tag noch.“

„Wow“, staunt Robin, „das war böse. Ich hoffe, du machst mit mir niemals Schluss.“

Zufrieden schmuse ich mich in seine Arme. „Das ist sehr ausgeschlossen. Schon allein, weil es keine süßere Maus als dich gibt.“

Er kichert verlegen, was mich dazu veranlasst, ihn zu küssen.

„Moment mal...was soll denn das heißen? Wenn es eine süßere Maus gäbe, würdest du mich ohne mit der Wimper zu zucken genauso abschießen?“

„Logisch“, grinse ich.

„Weißt du, Flocke“, er zieht die Nase kraus, was unbeschreiblich niedlich aussieht, „in meiner Vorstellung warst du irgendwie netter. Und absolut treu.“

„He, ich bin total nett und super treu. Ich hab erst mit dir geknutscht, als klar war, dass Simon schon längst seine Zunge in andere Hälse gesteckt hat. Und ich hätte doch nie was mit dir angefangen, wenn mein Ex nicht so eine fiese Sau wäre...ich meine...äh...also ich hätte natürlich was mit dir angefangen, denn ich bin verliebt in dich, aber wenn wir uns unter normaleren Umständen kennen gelernt hätten...und überhaupt, in meiner Vorstellung warst du auch keiner, der einem hilflosen Jungen, der sich an nichts erinnert, einredet, sein Freund zu sein, nur um ihn hemmungslos küssen zu können.“

Robins Fingerspitzen malen kleine Kreise auf meinen Bauch. „Ich hab dich zwar geküsst, aber ich war nicht hemmungslos. Dafür hatte ich ein viel zu schlechtes Gewissen. Du warst derjenige, der immer mehr wollte.“

„Nur um herauszukriegen, wie weit du gehen würdest.“

„Also war das alles eine Art Test?“

„Nee, eigentlich nicht“, gebe ich zu.

„Dann möchtest du...“

Auf jeden Fall“, unterbreche ich ihn ein bisschen sehr schnell.

„Bloß ins Bett mit mir.“

„Ich bin bereits im Bett mit dir, Robin.“

Er stupst mir seinen Finger in den Bauch. „Du weißt, was ich meine. Außerdem will ich so was nicht...im Haus meiner Eltern.“

„Das trifft sich gut. Ich will so was nämlich auch nicht...direkt gegenüber vom Friedhof.“

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