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Muss das wirklich sein?
Teil 4
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Informationen
- Story: Muss das wirklich sein?
- Autor: Chris S.
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Lovestory
Vorwort
Hier ist er also, der vierte Teil von »Muss das wirklich sein?«. Der Grund, warum dieser Teil erst jetzt erscheint, ist recht einfach zu erklären: Nach dem dritten Teil meiner Story bekam ich so gut wie kein Feedback. Ich muss zugeben, dass ich ziemlich verunsichert war, ob überhaupt noch jemand meine Story lesen will. Jetzt habe ich mich dazu entschieden, die Geschichte wenigstens zu Ende zu bringen und dann eine neue zu starten. Dies wird jedoch nicht der letzte Teil von »Muss das wirklich sein?« sein (klingt bescheuert, diese beiden ‚sein' hintereinander ;-). Ich weiß natürlich nicht, ob ihr das bedauert oder eher erfreut darüber seid. Kann ja sein ... Es wäre aber sehr schön, wenn ihr mir weiter schreiben würdet. Meine Email-Adresse ist crizi-online@web.de und meine ICQ-Nummer 78830077
Ich werde jetzt versuchen, den letzten Teil zusammenzufassen. Da dieser ‚recht' lang war, kann es passieren, dass ich das eine oder andere Detail vergessen werde.
Christians Vater rastet aus. Er bezichtigt Ben, aus seinem Sohn eine Schwuchtel gemacht zu haben. Völlig darüber geschockt versteckt sich Ben im hintersten Winkel des Hauses. Christian findet ihn, beichtet ihm seine Liebe und alles wird gut ... *g* Alles? Nein, nicht wirklich. Christians Vater beginnt, sich zu betrinken, nicht überall gibt es positive Reaktionen auf das Liebespaar Ben und Chris.
Dann beginnt die Schule. Die ersten beiden Stunden verlaufen verhältnismäßig gut. Nach der großen Pause, in welcher Ben von der halben Mädchengarde der Klasse in Beschlag genommen war, stellt sich der Obermacho der selbigen vor diese und tönt lauthals davon, dass unsere beiden Helden Schwuchteln seien (was ja auch stimmt ...).
Die Lautstärkequellen aus verschiedenen Teilen der Klasse verstummten mit einem Mal. Es herrschte Totenstille. Marco bemerkte, dass Herr Kohler bereits anwesend war, schaute diesen mit einem abfälligen Blick an - als wollte er sagen, was suchst du denn hier; mach, dass du verschwindest - und trollte sich auf seinen Platz. Von dort aus ließ er seinen Blick triumphierend durch die Klasse schweifen, manche starrten ihn an, die meisten aber sahen völlig entgeistert in meine Richtung. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt, der Angstschweiß lief mir in Strömen das Gesicht herunter. Was würde jetzt passieren? Wie fiele die Reaktion der Klasse aus?
Wieso war Herr Kohler noch nicht dazwischen gegangen? Er saß nur mucksmäuschenstill an seinem Platz und schaute schüchtern in die Runde. Sonst legte er es doch auch immer darauf an, seinen Unterricht so pünktlich und so schnell wie möglich durchzuziehen, die Qualität litt, wie ich bereits schon einmal bemerkt habe, merklich darunter. Aber was war nun los? Er ließ sich doch auch sonst nicht von blöden Kommentaren aus dem Konzept bringen.
Niemand traute sich, etwas zu sagen. Die Meisten waren endlich dazu übergegangen, nicht weiter die sensationsgeilen Gaffer zu spielen und senkten ihre Köpfe nieder.
Das Ganze ging nun schon mindestens zehn Minuten so. Plötzlich, wie von der Tarantel gestochen, sprang Herr Kohler von seinem Sitzplatz vor dem Pult, wo er sonst immer vor der Klasse thronte, auf, stieß dabei noch seinen Stuhl um, polterte durch das Klassenzimmer, riss die Türe auf und war verschwunden. Noch immer traute sich niemand, etwas von sich zu geben. Im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, es wäre noch leiser geworden. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.
Jessica sah zu mir herüber. Sie war die einzige, die ich mich traute anzusehen. Sie sah ziemlich traurig aus. Aber ihr Gesichtsausdruck wollte mir etwas mitteilen. Ich konnte deutlich lesen wie sie mich bekräftigte, den ganzen Scheiß durchzustehen und tapfer zu sein. Das gab mir in der Tat Kraft. Ich meinte sogar, meine Gesichtsfarbe, die zuvor das beste Gespenst in Grund und Boden versinken hätte lassen können, veränderte sich wieder zum natürlichen Teint hin. Mehr noch, ich wurde rot wie eine Tomate und unglaublich wütend auf Marco. Was bildete sich dieses Arschloch eigentlich ein, mich vor der gesamten Klasse bloßzustellen? Brauchte er das, um seinen Minderwertigkeitskomplex zu kompensieren? Ich wollte gerade aufstehen und diesem Möchtegern-Macho die Meinung sagen, da stand er selbst schon auf und schaute mit einem Gesicht, das sicherlich aussagen wollte, seht her, ich bin der Größte, ja, zittert ruhig vor mir; durch die Bänke. Dann setzte er an, seine Siegesrede zu halten.
»Schaut euch doch die drei an. Sind doch alles dieselben Schwuchteln. Alles Warmduscher, können sich keiner Auseinandersetzung wie richtige Männer stellen.«
Die gesunde Gesichtsfarbe verschwand so schnell, wie sie auch gekommen war, wieder aus meinem Gesicht und mit einem Mal traf es mich wie ein Faustschlag: Wo war Ben? Er war bis jetzt noch immer nicht aufgetaucht. Ich hatte ihn völlig vergessen. Das was sich ereignet hatte konnte mein Gehirn in diesem Moment nur stockend aufnehmen und verarbeiten.
Aber jetzt konnte ich wieder klar denken. Ich stand ganz langsam von meinem Stuhl auf. Ich stellte ihn fein säuberlich an seinen Platz zurück, um darauf meine Waffe zu zücken, meinen schweren, schwarzen Ledermantel über die Schultern zu werfen und festen Schrittes auf Marco, den kleinen Wichser zuzugehen (oops, ich glaube ich habe zu viel Basketball Diaries mit Leo DiCaprio gesehen - falls das jemandem etwas sagt).
Nein, mir war wirklich nicht zu Scherzen zu Mute. Ich meinte es todernst. Ich war aber wirklich von meinem Sitz aufgestanden und starrte Marco hasserfüllt an. Ich konnte gar nicht sagen, wie abscheulich ich diesen Anblick in dem Moment fand. Marco war eigentlich ganz ansehnlich, aber das größte Arschloch, das man sich vorstellen konnte.
Nachdem ich ihn eine Weile verächtlich angesehen hatte, begann ich langsam zu sprechen: »Was hast du mit Ben gemacht, du verdammter kleiner Wichser? Reicht es dir nicht, Kleinere zu verprügeln, musst du dich jetzt auch noch an Minderheiten vergreifen? Du hast doch wirklich Probleme, Marco. Wenn ich dich nicht so hassen würde, tätest du mir glatt Leid.«
Marco starrte mich verächtlich an und begann zu klatschen: »Wow, habt ihr das gehört? Unser Oberschwanzlutscher hat eine Rede hingelegt. Respekt, Hudelmayer. Das hätte ich nicht von dir gedacht. Schwuchteln sind ja richtig redebegabt. Ach, und jetzt möchtest du auch noch wissen, wo dieser kleine Mistkerl ist? Tja, ich und meine Leute haben sich mal ein wenig mit ihm ‚unterhalten', schade, dass du nicht da gewesen bist, sonst hätten wir super ‚diskutieren' können.«
Die Art, wie er diesen Satz betonte war einfach ekelhaft. Ich hatte wahnsinnige Angst um meinen Schatz und er machte sich einen Spaß daraus, mich zu demütigen.
»Und jetzt möchtest du bestimmt noch wissen, wo der Hinterlader jetzt ist, oder? Aber da frage ich dich doch, wer gibt dir ein Recht zu erfahren, wo er sich befindet?«
Er sah mich erwartungsvoll und mit einem widerwärtigen Grinsen auf den Lippen an.
»Das Recht braucht mir niemand zuzuschreiben. Das habe ich ganz einfach. Ben und ich sind zusammen, und wir lieben uns. Das allein gibt mir schon das Recht zu wissen, wo er ist.« Jetzt hatte ich mich endgültig vor der gesamten Klasse geoutet. Zuvor bestand wenigstens noch ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass nicht alle das Geschwafel von Marco für bare Münze nahmen, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Und das war mir auch so was von egal. Sollte es doch jeder wissen. Ich war glücklich mit Ben. Wieso sollte niemand erfahren, wenn zwei Menschen miteinander glücklich sind? Nur hatte ich mir mein öffentliches Outing etwas anders vorgestellt.
Doch das war jetzt eher unwichtig. Ich musste endlich erfahren, was mir Ben los war.
»Och Gott, wie süß. ‚Ben und ich sind zusammen, und wir lieben uns'.« Marco versuchte, den Satz so klingen zu lassen wie er glaubte, dass Schwule reden. »Habt ihr das gehört? Der Schwanzlutscher glaubt von mir etwas einfordern zu können! Ist das nicht eine Frechheit?«
Die Klasse war immer noch still wie eine Trauergemeinde während der Ansprache des Pfarrers. Niemand traute sich, auch nur ein Wort zu sagen. Sogar diejenigen, die sonst immer so ein großes Mundwerk hatten, schwiegen. Der Einfluss von Marco auf die Klasse war riesig. Natürlich gab es einige, die nicht auf ihn hörten. Aber die hielten auch ihr Maul. Sogar die, von denen ich noch am meisten Unterstützung erhofft hatte, saßen auf ihren Lippen. Nicht einmal meine Freunde zeigten eine Regung. Was sollte ich davon halten? Sind wirklich alle auf der Seite von Marco? Oder sind es einfach alles Schisser, die keine Zivilcourage besitzen?
Da musste ich wohl alleine durch. Ich musste Ben finden. Also begann ich, auf die Zimmertüre zuzulaufen. Die Blicke der Anderen folgten mir unausweichlich. Als ich gerade die Klinke heruntergedrückt hatte, spürte ich, wie mir jemand von hinten auf die Schulter griff und mich mit einem Ruck herumzerrte. Wer konnte es anderes sein als Marco? Er starrte mich wütend an.
»Du bleibst hier, Wichser. Du musst auch noch deine Belohnung dafür bekommen, dass du dich als Schwuchtel noch an unsere Schule traust.«
Er lächelte mich total widerlich an.
Die in mir die ganze Zeit über angestaute Wut brach plötzlich aus mir heraus. Ich kann es bis heute nicht fassen, was damals in mich gefahren war. Aber es war richtig so. Ich hatte mich bis zu diesem Zeitpunkt immer fein säuberlich aus Auseinandersetzungen herausgehalten, aber die Show, die Marco heute abgezogen hatte, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Ich nahm alle meine Kraft zusammen, holte weit mit dem Arm aus und rammte Marco meine geballte Faust in dessen Riechkolben. »Ich brauche deine scheiß' Belohnung nicht, du verdammter kleiner Schwulenhasser.« Ich schrie ihm aus vollem Herzen ins Gesicht und setzte mit einem zweiten Faustschlag noch eines drauf.
Marco konnte sich nicht mehr im Gleichgewicht halten, taumelte, und stürzte auf den Fußboden. Ich war sehr zufrieden mit mir.
Ich sah in die versammelte Runde, die meine Klasse darstellen sollte und mich mit großen Augen anstarrte, ließ meinen Blick noch einmal über Marco schweifen, versetzte ihm einen Tritt mit meinem linken Fuß und verschwand dann aus dem Klassenzimmer.
Ben wachte mit höllischen Schmerzen überall an seinem Körper auf. Alles tat ihm fürchterlich weh. Er konnte sich kaum regen, ohne dass ihn sein Gehirn daran erinnerte, an welchen Stellen diese ekelhaften Schmerzmelder stimuliert wurden. Er musste eine ganze Weile geschlafen haben, denn als er seine Augen unter größter Anstrengung zu öffnen versuchte und aus einem Fenster nach draußen sah, bemerkte er, dass die Sonne gerade am Untergehen war.
Was war passiert? Wieso tat im einfach alles an seinem Körper so ekelhaft weh? Ben erinnerte sich nur noch, dass er mit seinem Schatz, Chris, zum ersten Schultag aufgebrochen war, eine weniger interessante Stunde Deutschunterricht und eine ziemlich anstrengende Stunde Erdkunde erlebt hatte und dann von einer Gruppe Mädchen durch die gesamte Schule geführt worden war. An dieser Stelle versiegten seine Erinnerungen. Krampfhaft versuchte Ben, sich an das Geschehene zu erinnern, aber es gelang ihm nicht.
Dann erst bemerkte er den süßen Geruch, der schon die ganze Zeit im Raum gehangen hatte. Was war das? Zimtplätzchen? Marmorkuchen? Ben versuchte sich vorzustellen, welches Gebäck diesen herrlichen Duft verursacht hatte. Aber irgendetwas in seiner zentralen Schaltstelle versagte den Dienst, und Ben konnte beim besten Willen nicht ausmachen, was seine Nase in derartige Schwingungen versetzte.
Mit einem Mal fiel ihm etwas Erschreckendes auf: Er war vollkommen nackt! Bedeckt von einer Wolldecke, aber völlig entblößt, lag er auf einem alten Sofa, das bei jeder kleinsten Bewegung, von welchen Ben lieber nicht allzu viele vollführte, so schrecklich wie eine alte Frau beim Schlafen schnarchte, knarrte und fürchterlich kratzte. Ben hob die Wolldecke an und sah an sich herunter. Überall stachen ihm blaue Flecken in die Augen, an zahlreichen Stellen blutete es sogar ein wenig und es gab eine nicht unter den Tisch fallen zu lassende Anzahl von Stellen, die schon blutig verkrustet waren. Mit anderen Worten: Ben fühlte sich wie ein geschlachtetes Tier (das ja schon nicht mehr fühlen kann), an dem perverse und masochistisch veranlagte Fanatiker ihr abscheuliches Werk vollendet hatten, indem sie ihn grün und blau geschlagen und mit Messern angeschlitzt hatten.
Und auf einmal stürzte es auf Ben ein wie eine Ladung mächtiger Felsbrocken, die niemand mehr aufzuhalten vermochte: Er begann sich daran zu erinnern, was nach dem Rundgang der Mädchen mit ihm durch die Schule passiert war.
Er hatte höflich eines der Mädchen gefragt, wo sich das Jungenklo befinde. Er müsse noch ein Geschäft erledigen. Natürlich zeigten die Girls im bereitwillig den Abort und man sah ihnen in ihren Gesichtern an, dass sie wahnsinnig gerne mitgegangen wären. Aber so viel Anstand besaßen sie dann doch noch, ihr neuentdecktes Schmachtobjekt alleine auf diesen Ort gehen zu lassen. Kaum hatte Ben die Tür der Jungentoilette geöffnet, da rief auch schon die Klingel die gestressten Schüler wieder in die Klassenzimmer. Die Mädchen hätten liebend gerne vor dem Eingang des Klos auf Ben gewartet, die Vernunft siegte aber dann doch (wenn man das Vernunft nennen kann, freiwillig zurück in das Klassenzimmer zu gehen) und Ben sah befriedigt zu, wie die Heerscharen des weiblichen Geschlechts in Richtung ihres Klassenzimmers abzogen. Eine rief ihm noch nach, ob er denn alleine den Weg zum Klassenzimmer finden würde. Ben reckte den linken Daum hoch und signalisierte somit dem liebenswerten Mädchen, dass es absolut kein Problem für ihn sein werde, zurück zum Ort des schulalltäglichen Grauens zurückzufinden.
Ben begab sich also in eines der Klos. Er hatte schon befürchtet, in Deutschland gäbe es auch nur zum größten Teil diese abscheulichen Stehklos wie in Frankreich, woran er sich mit Grauen erinnerte. Da dem bei uns natürlich zum Glück nicht so ist, erledigte Ben schnellstmöglich sein Geschäft um nicht gleich am ersten Schultag zu spät zum Matheunterricht zu kommen. Als er fertig war und die Tür öffnen wollte stutzte er. Sie bewegte sich keinen Millimeter weit, obwohl er das Schloss bereits geöffnet hatte. Langsam schlich sich ein beklemmendes Gefühl bei Ben ein. Er hasste sowieso enge Räume, konnte nicht mit Aufzügen fahren, die ihm keinen Blick nach draußen gewährten und in vollbesetzten Fahr- bzw. Flugzeugen war es besonders schlimm. Zum Glück war das Flugzeug auf dem Hinflug nach Deutschland nicht besonders voll besetzt gewesen und er hatte einen recht angenehmen Flug verbringen können.
In der Hoffnung, dass sich diese nach heftigen Panikattacken öffnete, trat Ben nicht stark, aber bestimmt gegen die Toilettentür. Dies tat aber nichts zur Problemlösung bei, im Gegenteil, nach Bens Behandlung zeigte die Tür schwarze Abriebspuren seiner Schuhe. Dies kümmerte Ben jedoch einen Dreck. Er wollte nur raus. Er begann, an der Klinke zu rütteln. Plötzlich bemerkte er, wie ein Schatten langsam hinter ihm emporstieg. Er wandte blitzartig seinen Kopf nach oben, wo die Kabine etwa einen Meter unter der Decke unmittelbar endete. Dort entdeckte er drei, nein vier schweinisch grinsende Gesichter. Eines davon kannte er bereits, er meinte, diesen Jungen schon einmal in seiner neuen Klasse gesehen zu haben. Die anderen drei waren ihm unbekannt. Allesamt, außer dem Jungen, der vermeintlich in seiner Klasse war, hatten sie fast kahlgeschorene Köpfe.
Was wollten diese Typen von ihm? Hatte er einen von ihnen in seiner Ehre gekränkt? Hatte er ihn schief angesehen? All diese Gedanken kamen Ben auf einmal, als plötzlich der Typ aus seiner Klasse, der der Rädelsführer zu sein schien, zu reden begann.
»So so, du bist also unsere neue Schwuchtel. Hätten wir nicht genug von solchen Problemen an der Schule, jetzt musst auch noch du dazugekommen.«
Bens Herzschlag setzte für einige Millisekunden aus. Verdammt, was wollten die von ihm? Woher wussten sie, dass er schwul ist? Und ganz offensichtlich wollten sie ihn nicht zum Kaffeetrinken einladen sondern ihren ganz eigenen Kaffeekranz mit ihm abhalten.
»Schaut euch diesen Warmduscher an! Hat überhaupt keinen Mumm! Der zuckt ja schon zusammen, wenn man nur den Mund aufmacht. Ich glaube, Jungs, wir müssen dem mal eine Lektion erteilen!«
Allgemeine Zustimmung von allen Seiten. Einer der Jungs klopfte seinem Anführer sogar anerkennend auf die Schulter.
Ben hatte seine Sprache wiedergefunden. Es gelang ihm sogar, einen halbwegs zusammenhängenden Satz zu Stande zu bringen.
»Was ... Was wollt ihr von mir? Ich h-hab euch doch nichts getan?«
»Seht euch diesen Wurm an! Ein richtiger Mann würde zumindest noch einen anständigen Satz zusammenbringen, aber der! Na, was soll man von einem Arschficker auch erwarten. Was wir von dir wollen wirst du gleich sehen. Nicht so ungeduldig, Schwuchtel. Los, fangt an.«
Dieser barsche Tonfall, in dem der Anführer seinen ‚Gefolgsleuten' befohlen hatte, ‚anzufangen', ließ Ben richtiggehend zusammenzucken. Er wandte sich von der Tür ab und sprang auf den Spülkasten. Im gleichen Moment wurde die Tür aufgerissen und die drei Glatzen stürmten in hinein. Da sah Ben erstmals, dass es keineswegs nur vier dieser intoleranten Arschlöcher gab, die es auf ihn abgesehen hatten. Neben dem Typ mit den Haaren (also dem Anführer; Ben nennt ihn nur noch ‚Haare') standen noch zwei andere. Bens Herzschlag begann in ungeahnte Dimensionen zu steigen, als er sah, was diese in ihrer Hand hielten. Mit den ausgewachsenen Messern wollten sie bestimmt keine Stöckchen schnitzen und Robin Hood spielen. Bens Herz begann zu rasen. Er hielt sich an der rechten Wand der Toilettenbox fest und versuchte krampfhaft, sich an dieser hochzuziehen und darüber zu springen. Es gelang ihm nicht ...
Auch wenn es ihm geglückt wäre, aus dem Schneider wäre er noch lange nicht gewesen. Die Messer hatten sich nämlich bereits in der Türe des Nachbarklos platziert.
Ben wusste: Er hatte keine Chance gegen diese unfaire Übermacht von sechs machtbesessenen Widerlingen, deren größtes Hobby es wahrscheinlich war, sich gegen Kleinere und Minderheiten zu stellen und diese mit Gewalt einzuschüchtern. Aber es wusste noch etwas: Er würde bis zum Äußersten kämpfen und sich nicht ohne Gegenwehr gegen diese Arschlöcher stellen. Chris sollte schließlich stolz auf ihn sein und ihn nicht als Waschlappen betrachten. Ben war physisch auf den Kampf vorbereitet, der sich ihm stellen sollte. Schließlich trieb er in den USA viel Sport und durch seinen Basketball war er auch dementsprechend trainiert. Aber wie war er mental drauf? Er war von seiner Lebenseinstellung äußerst pazifistisch eingestellt. Seine Eltern hatten ihm immer beigebracht, dass es nichts bringt, sich mit Gewalt Problemen zu stellen. Man sollte seine Auseinandersetzungen immer friedlich regeln. Aber das war praktisch unmöglich, wenn Ben sich so seine Gegner ansah. Die waren nur darauf aus, ihm, dem Schwulen, dem Perversen, der keine Daseinsberechtigung auf dieser Welt verdiente, eine Lektion zu erteilen.
Bevor Ben auch nur einen weiteren Gedanken darauf verschwendet hatte, wie er möglichst heil aus dieser Situation herauskommen würde, landete auch schon die erste Faust in seinem Bauch. Er krümmte sich vor Schmerzen. Nachdem der Schmerz ein wenig nachgelassen hatte und auch schon die nächste Faust in Sichtweite war, war Ben wildentschlossen, zu kämpfen. Er ließ sich doch nicht unterdrücken und schon gar nicht von solchen Wichsern!
Seine nächste Aktion war ein Volltreffer: Er landete seinen schweren Schuh im Gesicht eines der Angreifer. Dieser taumelte zu Boden. Seine Kumpane sahen ihn erschreckt an.
‚Diese Runde ging an mich!' dachte Ben in Angstschweiß ausbrechend.
»Sebastian! So sag doch was! Basti!! Du verdammtes Schwein, du hast ihn getreten. Dafür wirst du büßen. Los, Männer! Greift mal ein bisschen härter durch. Eine Schwuchtel die sich wehrt wird von Vornherein nicht geduldet.« Er funkelte Ben bitterböse mit seinen tiefbraunen Augen an.
‚Oh verdammt, auf was habe ich mich da eingelassen.' Ben hatte auf einmal das Gefühl, um sein Leben bangen zu müssen. Aber weiter kam er mit seinen Gedanken nicht. Die nächste Faust landete in seinem Magen. Auf seinem linken Oberarm spürte er etwas warmes, eine warme, ein bisschen zähe Flüssigkeit. Das tat sogar gut! Doch bevor er begreifen konnte, dass es bei der Flüssigkeit um Blut handelte, lag er schon auf dem Boden der Toilette und wurde durch einen schweren Stiefel auf den Boden gedrückt. Seine Wange schmierte sich im ekelhaften Schmutz der Toilette, die schon seit Ewigkeiten nicht mehr gereinigt worden war. Er roch den widerlich-penetranten Geruch von getrockneter Pisse, musste den Gestank von Ekel erregender Scheiße in Kauf nehmen und wurde zu allem Überfluss noch an die Kloschüssel gepresst, von der in breiten Rinnsalen Pisse lief.
Der nächste Tritt saß tief und schmerzvoll: Einer der Glatzen hatte ihm in seine Familienplanung getreten.
Ben war schon fast nicht mehr bei Bewusstsein, da hörte er Haare sagen: »Los, reißt ihm die Klamotten vom Leib, der ist es doch gar nicht wert, so was Teures zu tragen.«
Bislang hatte Ben die Malträtierung ziemlich ohne mit der Wimper zu zucken hingenommen, es tat zwar höllisch weh, aber ein richtiger Mann weint nicht. Nachdem er aber mitbekommen hatte, was die Arschlöcher nun mit ihm vor hatten, konnte er seine Tränen nicht länger zurückhalten. Das war wirklich unfair. Nicht, dass die Schläge und Tritte nicht unfair gewesen wären, aber das ging eindeutig zu weit. Das war unter die Gürtellinie. Und Ben konnte sich nicht im Geringsten wehren, da nun bereits drei damit beschäftigt waren, ihn daran zu hindern, das Weite zu suchen. Er spürte, wie sie ihm die Hose, danach den Pulli samt Unterhemd und schließlich die Unterhose von seinem von Angst geschüttelten und durch die zahllosen Tritte malträtierten Körper rissen.
Ben kam sich so dreckig vor. Diese verdammten Wichser hatten Spaß daran, ihn leiden zu sehen. Sie stellten ihre schweren Stiefel auf Bens ungeschützten Bauch und drehten voller Schadenfreude ihre Dreckwürste daran ab. Einer ging sogar soweit, dass er seinen Zigarettenstummel an Bens Hüfte ausdrückte. Ben spürte den Schmerz schon gar nicht mehr richtig. Er war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Bevor er endgültig in die Welt absackte, die den Übergang zwischen den Lebenden und dem Reich der Toten darstellte, quasi eine Art Chance, dem Tod doch noch von der Schippe zu springen hörte er einen der Glatzen sagen:
»Schaut euch doch bloß mal den Schwanz von unserem Schwanzlutscher an!« Gleich darauf brach er in wieherndes, kaum enden wollendes Gelächter aus. Die anderen setzten mit ein und lachten sich halb scheckig.
»Was hast du gerade gesagt?« meinte Haare. »Der Schwanz unseres Schwanzlutscher?« Er legte nochmals eine Lachsalve nach. »Also ich kann da an der Stelle, wo der normalerweise sein soll nix ...«
Das waren die letzten Worte, die Ben noch vernehmen durfte, ehe er wirklich vollends dem Bewusstsein entzogen war.
Ben war richtig schlecht geworden, als er am Ende seiner Überlegungen angekommen war. Er konnte von Glück sagen, dass ihm nichts Schlimmeres passiert war, sonst würde er wohl jetzt im Krankenhaus liegen. Moment mal - Krankenhaus? Wenn das nicht das Krankenhaus war, wo war er dann? Auf einmal kam ihm eine ekelhafte Grütze den Hals herauf gekrochen. Ben konnte es nicht mehr zurückhalten. Er kotzte aus vollem Herzen auf die wärmende Wolldecke. Er kotzte alle seine schrecklichen Erlebnisse des Tages auf einmal aus ihm heraus. Er kotzte auf die Typen, die ihm all das angetan hatten. Er kotzte, bis er wirklich richtig leer war. Danach fühlte sich Ben deutlich besser. Die Schmerzen waren zwar noch da, er fühlte aber, das er zumindest ein wenig der seelischen Last herausgekotzt hatte.
»Na, fühlst du dich jetzt ein wenig besser?«
Ben schreckte fürchterlich auf. Wer war das, der da zu ihm sprach? Er sah einen mittelgroßen, schlanken Mann Mitte vierzig. Er sah ihn freundlich lächelnd an. Was wollte er von Ben? Wo war er überhaupt? Ben sah sich erstmals richtig um. Er entdeckte, dass er sich in einem kleinen Zimmer befand, in dem lediglich die Couch, auf der er lag, ein vollkommen leergefegter Schreibtisch mit einer Lampe, ein riesiger Kleiderschrank und ein alter Sessel, der wohl seine besten Jahre schon lange hinter sich hatte, stand. Auf der gegenüberliegenden Seite der Couch war ein großes Fenster, das einen weiten Ausblick auf die Landschaft zu bieten hatte, wenigstens bei Tage. Es war ja bereits Nacht geworden, man konnte jedoch die Straßenlampen von draußen hereinscheinen sehen. Dabei musste Ben feststellen, dass er sich wohl in einem Hochhaus befand. Die Lichter der Straßenlampen drangen jedoch von oben in seine Augen, das konnte also nur bedeuten, dass er im Parterre liegen musste.
Inzwischen hatte der unbekannte Mann das Licht angeschaltet, sich einen Stuhl geholt und neben Ben gesetzt. Obwohl Ben diesen Mann noch nie zu Gesicht bekommen hatte und nicht wusste, was er mit ihm vorhatte, so fühlte er doch, dass er ihm nicht ein Haar krümmen würde.
Ben fand zum ersten Mal an diesem Abend seine Sprache wieder. »Wer sind sie? Wo bin ich hier? Was haben Sie mit mir vor?«
Der Mann lächelte. »Das sind ja gleich drei Fragen auf einmal. Ich werde sie dir auch schnellst möglichst beantworten, aber zuvor möchte ich gerne mit einer Gegenfrage antworten: Du bist doch Ben, oder?«
Ben nickte. »Gut. Warte, ich antworte dir sofort. Aber möchtest du nicht, dass ich dir die Wolldecke austausche? Ich wäre in deiner Situation nicht sehr erfreut über eine große Lache von Spucke vor mir. Das bin ich im Übrigen auch sonst nicht sehr.« Er lächelte wieder.
Ben schaute ihn vertrauensvoll an und nickte. »Danke.«
Der Mann nahm die Decke von Ben ab und verschwand kurzzeitig aus dem Zimmer.
Da erst realisierte Ben wieder, dass er vollkommen nackt auf dieser Couch lag. Wie gesagt, er vertraute dem Mann, nicht blind, aber so weit, dass er ihn nicht soweit einschätzen würde, diese Situation schamlos auszunutzen. Aber er schämte sich. Wegen seiner Hilflosigkeit und nicht zuletzt deswegen, weil er völlig nackt war. Ben zog seine Knie an, legte die Arme darum und senkte den Kopf. Wie gerne wäre er doch von seinem liebevollen Boyfriend in die Arme genommen worden.
Der Mann kam wieder ins Zimmer. Ben bemerkte dies zuerst nicht, er schreckte zurück, als ihm eine weiche, mollige Wolldecke übergelegt wurde.
»Du hast viel durchgemacht, nicht wahr?« Ernst sah der Mann Ben an.
Dieser nickte und eine Träne lief seine Backe herunter.
»Ich will dich mal nicht weiter auf die Folter spannen und endlich deine Fragen beantworten. Also, ich bin Karl Kohler, dein zukünftiger Mathelehrer.« Ben schreckte auf und stutzte. Er sah den Mann an, der von sich behauptete, Bens Mathelehrer zu sein. Wieso war er nun bei ihm? Als könnte Herr Kohler Gedanken lesen, begann er ruhig weiterzureden.
»Du fragst dich sicher, was du hier machst. Also, heute Morgen ist Folgendes passiert. Ich kam in der dritten Stunde in meine Matheklasse, in der du eigentlich auch sein solltest. Du bist der Austauschschüler aus Amerika, nur dass ich dabei sicher bin? Du wohnst bei den Hudelmayers, nicht? Ja ja, der Christian. Das ist ein Thema für sich. Aber ich möchte nicht vom selbigen abschweifen. Also, wie gesagt, ich kam in die Klasse herein. Es war, typisch, noch fast keiner anwesend. So langsam füllte sich dann aber die Klasse. Und nach etwa fünf bis sechs Minuten waren alle da, bis auf dich und den Klassenrowdy, Marco. Der Direktor hatte schon das Kollegium, das in deiner Klasse unterrichtet, auf dich vorbereitet. Ich fragte einen Kollegen, wie ich mir dich vorzustellen hatte. Er konnte dich nicht beschreiben, wusste aber, dass du neben Christian sitzt. Als sich dann die Plätze auffüllten, waren alle Plätze bis auf deinen und den Marcos belegt. Plötzlich wurde dann die Türe aufgerissen und er stürmte herein. Er baute sich vor der Tür auf, ließ seinen Blick prüfend durch die Klasse schweifen und ließ dann einen Satz ab, der mindestens zwei Personen in dieser Klasse übel traf. Er sagte: ‚Stellt euch vor, der Hudelmayer und der Ami sind Schwuchteln.'«
Ben schreckte auf. Der Lehrer wurde leiser. Dann begann Ben langsam an zu erzählen.
»Ja, es stimmt, ich bin schwul. Und ich kann doch nichts dafür. Nur diese Arschlöcher haben es schamlos ausgenutzt und haben ihren Hass auf Schwule an mir ausgelassen.« Ben schluchzte, wischte sich aber die Tränen schnell wieder weg. »Sie sagten, dass dieser Satz mindestens zwei Personen in der Klasse schwer verletzt hat. Aber ich war doch nicht da. Wahrscheinlich lag ich zu diesem Zeitpunkt schon zusammengeschlagen auf dem Klo.« Mit großen Augen schaute Ben seinen neuen Mathelehrer erwartungsvoll an.
»Ja, das ist der Knackpunkt. Ben, ich muss dir etwas gestehen. Ich bin selbst schwul. Und als Marco da so in der Türe stand und groß raus posaunte, was er eben über euch herausgefunden hatte, da kam mir plötzlich die Erinnerung hoch, die ich seit Jahren verdrängt hatte. Ich ...« Kohler musste schlucken, setzte seine Erzählung dann aber mit fester Stimme fort. »Ich hatte ähnliches erlebt, als ich in deinem Alter war. Meine Klassenkameraden hatten erfahren, dass ich schwul bin. Für viele war das kein Problem, für die anderen jedoch - du weißt ja, früher waren die Zeiten noch viel intoleranter als heutzutage. Sie lauerten mir auf, als ich, genau wie du, ein Geschäft auf dem WC zu erledigen hatte. Sie traten mich, schlugen mich und spuckten mich an. Ich musste, ebenfalls wie du, das Bewusstsein verloren haben. Zum Glück fand mich mein bester Freund sehr bald. Er brachte mich sofort zu mir nach Hause und kümmerte sich rührend um mich. Nun, im Laufe der Jahre hatte ich diese schrecklichen Erinnerungen verdrängt bzw. konnte mit ihnen leben. Als nun Marco so in der Tür stand und seine Bemerkung abließ, wurde ich sofort daran erinnert. Zuerst war ich wie gelähmt, aber nach einigen Minuten begriff ich, was ich zu tun hatte. Ich tat das, was ich noch nie in meinem Leben zuvor getan hatte:
Ich verließ mitten im Unterricht den Klassenraum. Mich hatte das unheimliche Gefühl beschlichen, dass sie mit dir das Gleiche angestellt hatten wie mit mir damals.. Deswegen lief ich als erstes auf die Toilette, und meine Befürchtungen bestätigten sich leider. Ich sah dich hilflos und nackt auf dem Boden liegen. Ich war total entsetzt über solche Gemeinheiten von Schülern gegenüber ihren Mitschülern. Ich packte dich, so gut es ging in deine überall verstreuten Sachen ein, nahm dich auf den Arm und brachte dich zu mir nach Hause. Falls du dich wunderst, dass ich dich nicht gleich ins Krankenhaus gebracht habe: Dein Puls verlief stabil, dein Atem war normal und ich wohne nur über die Straße von der Schule. Selbst habe ich kein Auto, ich hätte also nur den Krankenwagen anrufen können. Zuvor wollte ich dich allerdings bei mir zu Hause noch ein wenig beobachten, ob es auch wirklich nötig gewesen wäre. Du musst wissen, dass ich in meiner Jugend ziemlich ehrgeizig beim Roten Kreuz mitgemacht habe. Deswegen habe ich auch entsprechendes Wissen und weiß, was man mit verletzten Personen tun muss. Dieses Wissen habe ich später noch mehrmals aufgefrischt. Nun ja, du warst ziemlich ekelhaft verschmiert und hast, mit Verlaub, auch schrecklich gestunken. Da habe ich dir erst mal ein Bad gemacht, dich hineingesetzt und abgeschrubbt. Du bist jetzt wieder wie neu. Und hab keine Angst, ich will mich bestimmt nicht an dir vergreifen. Bitte denke nicht, dass ich so ein notgeiler alter Knacker bin.»
Ben schaute noch etwas verdutzt, schaute den Mann dann aber sehr vertrauensvoll an.
»Weißt du, ich habe nämlich einen Freund. Er wohnt aber ziemlich weit entfernt von hier und wir sehen uns nur selten. Aber damit will ich dich nicht belasten.
Ich hoffe, ich habe dich mit meiner Erzählung nicht in Angst und Schrecken versetzt!»
Ben lächelte zu ersten Mal an diesem Abend. »Nein, ich kann das verstehen. Außerdem war es ja wirklich nicht so schlimm, und mir geht es auch schon viel besser. Vielen Dank auch für alles, was Sie für mich getan haben.« Ben wollte sich richtig hinsetzen, da entfuhr ihm ein Schmerzensschrei.
Der Mathelehrer sah ihn besorgt an. »Dir geht's wohl doch noch nicht so super. Ich glaube, du solltest morgen auf jeden Fall ins Krankenhaus. Und dann werde ich dich bei deiner Gastfamilie abliefern. Ich habe übrigens schon mit ihnen gesprochen und ihnen die größten Sorgen genommen. Sie sind einverstanden, dass ich dich in einer Spezialklinik abliefere, in der ich den Professor kenne.«
Diesem Arschloch hatte ich es gezeigt! Der wird sich hoffentlich nicht mehr so schnell trauen, mich oder meinen Süßen anzumachen. Oh Gott! Mein Süßer! Was war mit Ben? Deswegen stand ich doch hier. Deswegen bin ich während des Unterrichts, der ja keiner war, aus dem Klassenzimmer gestürmt und stand jetzt hier. Was hat der Wichser mit meinem Kleinen angestellt. Ich begann zu überlegen, was ich jetzt tun sollte. Ich hätte mich ohne Plan und sonstiges auf die Suche nach Ben begeben können. Ich hätte aber auch überlegt und nach Plan vorgehen können. Ich entschied mich für Letzteres und dafür, das Gelände und schließlich die Schule Zentimeterweise abzugrasen.
Ich begann mit der äußeren Umgebung der Schule. Zuerst rannte ich in die Raucherecke, wo sich das schulbekannte Arschloch mit seinen Kumpanen meistens aufhielt. Nichts. Ich lief in Richtung des kleinen Wäldchens, das sich nur etwa 20m von der Schule entfernt befand und suchte es vollständig ab. Wieder nichts. Verdammte Scheiße! Wenn meinem Kleinen was passiert war, dann konnte ich mir das niemals verzeihen. Nach etwa einer halben Stunde gab ich die Suche außen auf und setzte sie innerhalb der Schule fort. Nachdem ich nach einer geschlagenen Stunde immer noch niemanden gefunden hatte gab ich es auf. Wahrscheinlich gab es eine logische Erklärung für sein Verschwinden. Er war sicher vor Marco abgehauen und war längst zu Hause. Diese Erklärung wollte mir zwar nicht völlig in den Kopf herein, beruhigte mich jedoch ein wenig. Unterdessen war natürlich eine kurze Pause gewesen und da ich nicht unbedingt Interesse daran hatte, irgendjemandem aus meiner Klasse oder gar Marco zu begegnen, schloss ich mich auf einem Klo ein.
Ich sah auf die Uhr. Die Pause musste längst zu Ende sein. Also könnte ich mich auf den Weg zu mir nach Hause machen und nachsehen, ob mein Schatz sich dorthin geflüchtet hat. Auf den restlichen Unterricht an diesem Tag schiss ich wirklich. Wer unterrichtsgeil ist soll sich das von mir aus antun, aber ich hatte keinen Bedarf, ich musste sowieso Ben finden. Also schloss ich die Tür des Klos auf und als ich mich schon auf den Weg in Richtung Tür machen wollte fiel mir etwas am anderen Ende des Pinkelzimmers auf: Dort lag eine Unterhose sowie ein halb zerrissenes Unterhemd. Ich ging langsam auf die Sachen zu, da bekam ich plötzlich weiche Knie. Ich war nur noch etwa einen Meter von der Unterwäsche entfernt, da wendete ich meinen Kopf zu einem der Klohäuschen. Und was sich mir dort bot war wirklich abscheulich. Überall war Blut verspritzt, an einigen Stellen sogar ziemlich ekelhaft mit Kacke vermischt und mit Pisse zu einem appetitlichen Gericht angerichtet. Daneben fand sich eine etwas größere Blutlache.
Nicht, dass ich den Anblick von Blut nicht aushalten hätte können, aber ich wusste sofort, was dort abgegangen war. Das konnte bloß Marco gewesen sein. Anfangs noch mit Gefühl von Ekel und Widerwärtigkeit besehen, fühlte ich jetzt bloß noch Hass. Ich fühlte unglaublichen Hass auf Marco. Ich hasste ihn ab diesem Moment abgrundtief und war fuchsteufelswütend auf ihn. Ich musste diesen Perversen finden und zur Rede stellen. Und falls das nicht reichen würde, bekäme er meine Faust nochmals zu spüren.
Wild entschlossen, Marco zu zeigen, was ich von seinem verficktem Verhalten hielt, machte ich mich auf den Weg zu unserem Klassenzimmer. Zu dieser fortgeschrittenen Zeit mussten wir bereits Geschichte haben. Unser Geschichtslehrer war auch so einer von der Sorte, die man unbedingt gern habe musste: klein, fett, Hornbrille auf der Nase, dauernd ein rotes Gesicht und wahnsinnig nett zu den Schülern. Wir brauchen bloß eine mehr oder weniger dumme Frage zu stellen, da rastete er schon vollkommen aus und teilte Strafarbeiten im Akkord aus. Er würde wahrscheinlich nicht sehr erfreut sein, wenn ich ihm plötzlich in seinen Unterricht platzen würde. Aber das war mir so was von scheißegal. Mir ging es nur um Ben, und da kannte ich weder Höflichkeit noch Mitgefühl noch gutes Benehmen noch sonst etwas.
Schließlich war ich an unserem Klassenzimmer angekommen. Ich scherte mich einen Dreck darum, dass es die Höflichkeit gebot, vorher an die Türe anzuklopfen bevor man das Zimmer betrat. Ich riss die Zimmertüre auf. Die Blicke der gesamten Klasse waren auf mich gerichtet. Ich sah Marco zufrieden auf seinem Platz sitzen, mit sich und den anderen völlig zufrieden. Oh, was bekam ich für eine Wut in meinen Bauch. Ich glaube ich schäumte regelrecht, und wenn ich ein Tier mit Tollwut gewesen wäre, dann wäre mir wohl auch noch Schaum aus dem Maul getropft.
»Ah, guten Morgen Herr Hudelmayer! Wie schön, dass wir dich auch noch mal zu Gesicht bekommen. Könntest du mir vielleicht erklären, ...«
»Halten Sie ihre verdammte Fresse, Sie kleines Arschloch.« Ich war selbst von mir überrascht, fand das aber irgendwie cool, die Lehrer so anzumachen.
Ich marschierte festen Schrittes nach hinten auf Marcos Platz zu. Währenddessen rang unser kleiner Geschichtslehrer noch um Luft und keuchte »Ja das ist doch, das ist doch ...!«
Marco machte ein wenig verdutztes Gesicht, als ich auf ihn zukam. Dann grinste er jedoch wieder sein abscheulich diabolisches Grinsen. Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten. Ich schlug ihm in die Fresse, immer wieder und wieder, und ich kann euch gar nicht sagen, wie gut das tat. Ich schlug immer fester zu und schrie zwischendurch: »Was hast du mit Ben gemacht? Wo ist er? Wieso ist das ganze Klo voller Blut, du Wichser?« Zu diesem Zeitpunkt nahm ich meine Umwelt schon gar nicht mehr war, was die anderen machten sah ich nicht, es interessierte mich auch kein bisschen.
Dann begann ich, Marco zu treten. Ich weiß, Gewalt ist keine Lösung, aber in diesem Moment war ich so voller scheiß Angst um Ben und wusste mir nicht anders zu helfen. Nach schier endlosen Tritten in Marcos Richtung wurde ich ganz plötzlich von einer kräftigen Hand zurückgerissen. Ich begann, den Realitätssinn und die Wahrnehmung der Umgebung wiederzuerlangen. Langsam zeichneten sich die Gesichter der Schüler und Umrisse der Schulmöbel wieder deutlich vor meinem Auge ab, die zuvor nur ein undurchdringlicher Nebel waren. Das klingt vielleicht unpassend oder unmenschlich oder wahnsinnig, aber ich fühlte mich relativ gut und vollkommen erleichtert. Dann begann ich endlich zu realisieren, was überhaupt geschehen war: Unser Direktor Schweizer stand plötzlich im Raum, er hatte mich noch fest mit seiner starken Hand an der Schulter gepackt. Ich sah auf den Platz von Marco. Niemand saß dort mehr, allerdings war die ansonsten schneeweiße Sitzfläche mit winzigen Blutströpfchen übersät. Ich ließ meinen Blick am Stuhl weiter nach unten schweifen. Marco lag keuchend und blutspuckend auf dem Boden. Er traute sich kaum, seinen Kopf zu bewegen. Oder konnte er nicht? Hatte ich ihn vielleicht so zugerichtet, dass er vielleicht schwerst verletzt war? Nein, das wollte ich auf keinen Fall. Mir begann klar zu werden, was ich überhaupt getan hatte. Ich wollte Marco doch nur eine Lektion erteilen, ihm vielleicht eins auf die Fresse hauen. Aber keinstenfalls zu übelst zurichten. In meiner Sorge um Ben hatte ich vollkommen überreagiert.
Unterdessen drangen Worte an mein Ohr. Kommentare von entsetzten Klassenkameraden waren zu hören. Entsetzt über mich? Ja, aber auch über Marco. Ich hörte sogar eine sagen, dass es endlich jemand mal diesem Schwein gezeigt hatte. Die kräftige Hand lag immer noch auf meiner Schulter. Mit einem Mal drückte sie noch stärker zu und riss mich herum. Ich starrte in Herrn Schweizers wutverzerrtes Gesicht.
»Christian, bist du denn total durchgedreht? Was erlaubst du dir eigentlich, so selbstherrscherisch und unverantwortlich zu handeln? Wer gibt dir das Recht, auf wehrlose Klassenkameraden einzuprügeln und meinen Kollegen zu diffamieren? Du warst sonst immer so ein ruhiger Schüler, von dir ist mir noch nie etwas zu Ohren gekommen. Und jetzt gleich so heftig. Was ist denn in dich gefahren? So red schon!!!«
Ich hatte überhaupt keine Lust, irgendjemandem Rede und Antwort zu stehen geschweige denn Rektor Schweizer. Aber ich musste. Also begann ich möglichst ruhig und besonnen zu sprechen.
»Müssen wir das hier vor allen Leuten klären? Können wir nicht woanders hingehen?«
»Oh nein, wir werden schön hier bleiben. Soll ruhig die gesamte Klasse deine Beweggründe kennen lernen.« Herr Schweizer war unerbittlich. Widerwillig begann ich zu erzählen.
»Herr Schweizer, Sie werden mir zwar kein Wort von dem, was ich Ihnen jetzt erzählen werde glauben, aber es ist die Wahrheit. Und außerdem ist jetzt sowieso egal, weiß eh schon jeder hier in dieser Klasse. Heute Morgen nach der großen Pause kam Marco ins Klassenzimmer gestürmt und wartete mit der Meldung auf, Ben, Sie wissen, der Austauschschüler aus Amerika, und ich seien schwul. Tja, das stimmt auch. Wir sind zusammen und wir lieben uns.« Schweizer sah mich ungläubig an. Zumindest ließ er mich endlich aus seiner Umklammerung frei. Ob er das jetzt tat, weil ich vor allen gestanden habe, schwul zu sein oder aus welchem Grund auch immer: Es war mir so was von egal. »Als einziger aus der Klasse fehlte dann nur noch Ben. Ich habe Marco auf ihn angesprochen, er sagte mir aber kein Sterbenswörtchen. Dann bin ich aus dem Klassenzimmer gerannt und habe überall nach Ben gesucht. Schließlich fand ich dann auf der Toilette eine Wahnsinnblutlache und zerrissene Unterwäsche. Das gab mir den Rest. Ich bin zurück ins Klassenzimmer und den Rest kennen Sie ja.«
»Nein, den kenne ich nicht. Erzähl' weiter, aber ein bisschen plötzlich.« Er starrte mich finster an.
»Gut, Sie haben es nicht anders gewollt. Ich habe meiner Wut Luft gemacht und den Schuldigen verprügelt. Er hat Ben auf dem Gewissen. Ich weiß es. Er hat ihm das auf der Toilette angetan!«
Schweizer schwieg. Er sah sich die Klasse, dann Marco und schließlich mich eine ewig andauernde Weile an. Dann begann er laut zu sprechen:
»So, meine Damen und Herren. Ihr vergesst bis auf weiteres erst mal, was hier passiert ist. Geht jetzt nach Hause. Der restliche Unterricht fällt aus. Aber morgen will ich alle wieder pünktlich im Unterricht sitzen sehen. Und jetzt raus.« Er machte eine Handbewegung, die wahrscheinlich bedeuten sollte, dass sich die Meute bitteschön aus dem Klassenzimmer bewegen solle. Dies taten auch alle. Jessica versuchte noch, sich ein Lächeln abzuringen, als sie an mir vorbeiging. Aber irgendwie wollte ihr das nicht so recht gelingen.
Obwohl Schweizer in keiner Weise ein Wort über mich verloren hatte, so war mir doch hundertprozentig klar, dass ich noch ein wenig länger hier harren musste.
Der Schulsanitätsdienst hatte Marco inzwischen in die stabile Seitenlage gebracht. Geschichtslehrer Kneiß hatte bereits den Notarztwagen bestellt, wie er laut und vernehmlich verkündete, als er ins Klassenzimmer zurückkam. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er überhaupt weggewesen war. Ich betrachtete ihn. Sein Gesicht war noch röter angelaufen, als das sonst der Fall war. Überhaupt jedes einzelne kleine Äderchen schien geplatzt sein und dem Gesicht eine unnatürliche, widerliche Rotfärbung zu verleihen. Wie er mich anstarrte. So voller Wut und Zorn über mich. Er hätte mir wohl am liebsten den Kopf abgerissen.
Schweizer und Kneiß waren in einer bedeutungsvollen Unterredung vertieft, sie diskutierten wohl, was jetzt mit mir passieren sollte. Ich schritt langsam auf die beiden zu und versuchte vorsichtig, mir Gehör zu verschaffen.
»Ähm, Entschuldigung! Dürfte ich Sie kurz einmal unterbrechen?«
»Was?« Ärgerlich bedeutete Schweizer mir, meinen Vortrag so schnell wie möglich hinter mich zu bringen.
»Ich wollte Sie nicht stören, aber da gibt es zwei Dinge, die mir auf dem Herzen liegen.« Ich wandte mich Kneiß zu. »Herr Kneiß, zuerst einmal möchte ich mich bei Ihnen für mein äußerst rohes Benehmen vorher entschuldigen. Ich war nicht Herr meiner Sinne, und da ist mir dieser Satz einfach so herausgerutscht. Bitte, nehmen Sie es mir nicht übel. Ich-ich wollte das wirklich nicht, das müssen Sie mir glauben.«
Kneiß sah mich mit einer gewissen Befriedigung an. Dann streckte er seine rechte Pranke aus und reichte sie mir. Er lächelte sogar.
»Na, dann wollen wir mal nicht so nachtragend sein. Aber Christian, vergiss nicht, deine Entschuldigung akzeptiere ich nur, weil du bis jetzt ein Schüler gewesen bist, der kein Aufsehen erregt hat. Die Geschichte mit Marco ist allerdings wieder eine vollkommen andere Sache.«
Ich war erleichtert, dass mir wenigstens Kneiß verziehen hatte. Aber mit welcher Begründung? Was sind Lehrer doch bloß für schauerliche Monster.
Für einige Minuten herrschte bedrückende Stille in unserem kleinen Klassenzimmer. Dann begann Schweizer wieder zu reden.
»Christian, wir müssen uns noch ernsthaft über diese Sache unterhalten. Nehmen wir mal an, das was du mir vorhin über dich und Ben erzählt hast, ist wahr. Nein, bitte unterbrich mich nicht. Also, nehmen wir an das Ganze ist wahr und es hat sich genauso ereignet, wie du es mir geschildert hast. Hast du Beweise für das, was du gesagt hast? Nun gut, Marco ist bekannt dafür, mit seiner Gang kleinere und Andersdenkende zu triezen. Dafür hat er auch schon oft Rektoratsarrest bekommen. Aber dass er mit einer Überzahl einen einzigen zusammenschlägt, bis dieser blutet und ihm die Kleidung von Leibe reißt? Mit Verlaub, das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Aber wir müssen wohl oder übel darauf warten, bis er wieder ansprechbar ist bzw. aus dem Krankenhaus entlassen wird und selbst eine Aussage machen kann.. Mensch, da hast du wirklich was angerichtet. Bete zu Gott, dass dich Marcos Eltern nicht wegen Körperverletzung anzeigen. Sie sind übrigens schon informiert, genauso wie deine Eltern. Deine Mutter wollte um zwei Uhr hier sein.«
Ich sah auf meine Armbanduhr. Es war bereits viertel vor zwei. Meine Mutter würde also bald hereinstürmen und mir schwerste Vorwürfe machen.
Plötzlich ging die Tür auf. Ich erwartete schon eine zähnefletschende Mutter, die ihrem Sohn alsbald an die Eingeweide gehen und ihn wie eine Martinsgans ausnehmen würde. Es war aber nur die Schulsekretärin. Diesmal nicht die ehemalige Schülerin, die sich als Aushilfskraft ein Taschengeld dazuverdiente, sondern die extra für diese Tätigkeit angestellte Dame. Sie ist eine ziemlich große, hagere und wohl auch schon etwas ältere Frau, die innig ihrer Pflicht nachgeht. Ihrem Brötchengeber treuest untergeben zu sein, das war der größte Wunsch in ihrem Leben.
»Entschuldigen Sie, Herr Direktor, dass ich einfach so unangemeldet hier hereingeplatzt bin.« Sie erwartete jetzt wohl Schelte ihres Vorgesetzten. Der rührte sich jedoch nicht, deutete ihr nur an, fortzufahren.
»Entschuldigen Sie nochmals. Aber ich habe Herrn Kohler erreicht.« Als sie den Namen ‚Kohler' aussprach, zuckte ich zusammen. Was heute Morgen in der Mathestunde mit ihm abgegangen war, das hatte ich bereits vergessen. Warum war er so unerwartet aus dem Klassenzimmer gestürmt?
»Also, Herr Direktor, Herr Kohler erzählte mir, dass er einen zusammengeschlagenen Jungen auf dem Klo entdeckt hatte und diesen ins Krankenhaus gebracht hat.«
Ich sprang auf. »Was? Und das sagen Sie erst jetzt?« Die arme Frau schaute mich ganz verschüchtert an. »Wo hat Kohler in hingebracht? In welche Klinik? So reden Sie doch schon! Ich muss wissen, wo mein Freund ist!
»Ja, aber, wer sind Sie denn überhaupt? Sind sie denn verwandt mit dem Jungen? Sonst darf ich Ihnen doch keine Auskunft geben?«
Schweizer sah sie streng an. »Doch, Sie dürfen. Dieser Junge hier, Christian, ist sein Freund. Außerdem können Sie ihn ruhig duzen.«
»Jawohl, Herr Direktor, aber, er ist doch nur ein Freund ...?«
Ich geriet in Rage. »Wollen Sie denn nicht verstehen? Ich bin schwul und der Junge ist mein Freund, mein fester Freund, sowie ein Junge eine Freundin hat, nur dass er kein Mädchen sondern ein Junge ist!!! Ich liebe ihn und muss wissen, was mit ihm los ist!«
Ich war unglaublich stolz auf den Satz, den ich eben fabriziert hatte. Aber wie sollte man einer alten Jungfer erklären, dass es zwischen den Worten ‚Freund' und ‚Freund' einen durchaus zu beachtenden Unterschied gibt?
»Das ist ja ... Ich glaube, ich falle in Ohnmacht.« Sie taumelte ein wenig durch die Gegend. Wenn Kneiß sie nicht aufgefangen hätte, wäre sie wohl gegen die Tafel geknallt und wir hätten die nächste Verletzte gehabt.
»Setzen Sie sich erst mal hin, Fräulein Dauenbächer. Beruhigen Sie sich. Christian, hole doch rasch ein nasses Stück Papier. Ich war schon auf dem Weg. Kneiß legte es der schwächelnden Dauenbächer auf die Stirn. Langsam erholte sie sich wieder von dem ‚Schock', den ich ihr bereitet hatte. In ihrer Welt gab es wohl keine Schwulen. Mann, manche Leute haben echt Probleme ...
»So, und jetzt erzählen Sie noch einmal von vorne. Was hat Kollege Kohler mit dem Jungen gemacht?«
Fräulein Dauenbächer sah ziemlich mitgenommen aus. Mit ziemlich leiser, säuselnder Stimme begann sie dann auch das zu berichten, was sie am Telefon von Kohler erfahren hatte. Kohler hatte Ben auf der Jungentoilette gefunden. Er nahm ihn auf den Arm und brachte ihn schnellstmöglich in das Maria-Kippstein-Hospital unserer Stadt.
Mit einem Mal wurde die Türe des Klassenzimmers mit solcher Wucht aufgerissen, dass sich ausnahmslos jeder im Zimmer in Angst und Schrecken versetzt fühlte. Zuerst dachte ich, die ersten Herbststürme würden einsetzen und sich an der Schule zu schaffen machen. Was ich dann aber an der Türe entdeckte, ließ meine Glieder zittern. Ich wurde schneeweiß, das Blut gerann mir in den Adern und meine Kinnlade klappte bis auf den Boden. Es war schrecklich. Nein, eigentlich war es das zweitschönste auf der Welt. Es war meine Mutter. Aber wie sie sich in Szene gesetzt hatte. Breitbeinig stand sie im Türrahmen, die Haare wild durcheinander gewirbelt und einen alles sagenden Gesichtsausdruck aufgesetzt. ‚Vorsicht!' wollte ich schreien, aber da war es schon zu spät. Ich beabsichtigte, meine Mutter vor der zurückschlagenden Türe zu warnen, die sie so kraftvoll aufgerissen hatte. In diesem Moment knallte sie ihr in den Rücken. Meine Mutter machte einen Satz nach vorne und stand nun mit ihrer gesamten Masse (die ja nicht mal so groß war) im Klassenzimmer.
Frau Dauenbächer musste einen Rückfall erlitten haben, denn blitzartig lag sie wie zurück in eine Ohnmacht gefallen in ihrem Sessel.
Meine Mutter schien das jedenfalls einen Scheißdreck zu kümmern. Sie stampfte auch mich zu, holte aus, und verpasste mir eine heftige Ohrfeige, die wirklich saß.
Ich muss zugeben, meine Eltern hatten mich noch nie zuvor geschlagen. Deswegen kam diese Ohrfeige jetzt auch ziemlich unerwartet und unangemeldet. Es tat zwar höllisch weh, ich unterdrückte jedoch den Schmerz. Der physische Schmerz war nicht das Problem, den konnte ich einigermaßen wegstecken. Aber dass mich meine Mutter zum ersten Mal in meinem Leben so richtig gehauen hatte, das wollte mir nicht in den Kopf hinein. Ich schlich mich einige Meter von der Runde davon und setzte mich auf einen Stuhl.
Mir kamen richtig die Tränen. Ich konnte und ich wollte sie auch nicht zurückhalten. Sie wurden immer stärker, inzwischen waren richtige Sturzbäche daraus geworden. Warum schlug mich meine Mutter auf einmal? Das war doch sonst auch nicht ihre Art! Nicht die Brutalo-Methode, aber auch kein Laisser-faire, das war immer der Grundsatz meiner Eltern bei der Erziehung.
Es muss eine ganze Weile gedauert haben, bis sich meine Mutter mit dem Direktor und dem Lehrer auseinander gesetzt hatte. Ich hörte dem Gespräch überhaupt nicht zu. Ich konnte nur an meinen Schatz denken: Ging es ihm einigermaßen gut? Hoffentlich war ihm nichts Ernstes passiert. Hoffentlich kümmerten die im Krankenhaus sich adäquat um ihn. Hoffentlich ...
Plötzlich riss mich eine starke Hand von meinem Stuhl, zerrte mich durch das Klassenzimmer, schlug die Türe hinter sich zu und stapfte dem Ausgang entgegen. Anscheinend war meine Mutter mit den Pädagogen zu einem für alle Seiten befriedigenden Schluss gekommen. Schließlich kamen wir am Auto an und meine Mutter warf mich regelrecht auf die Beifahrerseite. Dann umging sie schnellen Schrittes das kleine Auto und setzte sich selbst hinein. Irgendwas musste jetzt noch kommen. Das wusste ich.
»Christian, was hast du dir eigentlich bei diesem Scheiß gedacht? Wahrscheinlich gar nichts, oder? Bist du denn völlig wahnsinnig geworden?«
Ups, ich wusste ja, dass es zu dieser Jahreszeit bevorzugt stärkere Stürme gibt, aber im Auto? Nein, das war kein Sturm. Das war ein tosender Orkan, der sich erbarmungslos über seine Opfer stürzte. Meine Mutter schrie in solch unglaublich brüllender Lautstärke an, dass das arme Auto vor Schreck fast einen Satz nach vorne gemacht hätte. So ein zierliches Wesen wie es meine Mutter ist, hat so viel Kraft in ihrem Sprachorgan? Ich zuckte zusammen und starrte meine Mutter erschreckt an.
»Das kennen wir doch sonst nicht von dir! Wie kommst denn dazu, dich mit diesem Jungen zu prügeln? Das heißt, geprügelt habt ihr euch ja noch nicht einmal, DU hast ja die ganze Zeit draufgeschlagen! Weißt du, was das bedeutet? Was ist, wenn Marcos Eltern Anzeige erstatten und gerichtliche Schritte einlenken? Du hast wirklich kein bisschen nachgedacht, Christian. So, und jetzt will ich eine plausible, und wenn ich sage plausibel, dann meine ich das auch so, Erklärung, obwohl das ja jetzt wohl nix mehr an der Sache ändern wird. Also los, ich warte!«
Ich musste erst mal schlucken. Das war eine Abreibung, die sich gewaschen hatte. So etwas war ich von meiner Mutter nicht gewohnt. Sie war richtig in Rage geraten, das Blut staute sich in ihrem Kopf, nur um den Mund war ein weißes Dreieck, so, als ob sie eine Grippe hätte, und unzählige Sorgenfalten legten sich auf ihrer Stirn. Ich begann langsam und ein wenig stotternd meine Verteidigung in Sachen Hudelmayer - Marco.
Während ich schon eine ganze Weile erzählt hatte und jede Einzelheit genauestens schilderte, wurde meine Mutter zunehmend blasser. Nachdem ich meine Rede beendet hatte, starrte sie erst mal erdrückend lange aus dem Fenster, ohne mich eines Blickes zu würdigen geschweige denn ein Wort mit mir zu wechseln.
Ich hatte schon gedacht, sie wäre irgendwie abgestürzt, wie das beim Computer ja häufiger passiert, aber nach schier unendlichen vier Minuten sah sie endlich wieder zu mir herüber. Ihr Gesicht war verzerrt von Zorn, Tränen liefen ihr die Backe herunter.
»Wenn das wirklich wahr ist, was du mir da gerade eben erzählt hast - und du sagtest ja selbst, du kennst nicht mal die ganze Geschichte, wie auch - dann hat dieser Marco deine Abreibung redlich verdient. Wie kann ein Mensch nur zu solchen Gräueltaten fähig sein! Er muss den Verstand verloren haben. Ich kann dich sehr gut verstehen, mein Sohn. Und bitte, entschuldige, dass ich dir eine geputzt habe, es tut mir leid. Ich wollte es nicht, aber ich war so in Rage, da wusste ich mir nicht anders zu helfen. Ich hoffe, du kannst nun darüber hinwegsehen. Und was dieses - entschuldige, aber ich muss das jetzt sagen - Arschloch angeht, darüber ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Ich werde euren lieben Herrn Direktor mit einem weiteren Besuch meinerseits beglücken und auch seine Eltern bleiben von mir nicht verschont. So geht das wirklich nicht.«
Meine Mutter lächelte mich an. Ich lächelte zurück. Meine Mutter ist wirklich einsame Spitze! Sie stellt sich gnadenlos hinter mich, wenn ich was ausgefressen habe. Sie setzt sich mit all ihrem Herzblut für mich ein und verteidigt mich wie eine Wolfsmutter ihr Junges. Und das, obwohl ich ihr so manches Mal ziemlich viel Kummer bereitet habe. Aber dafür sind Mütter nun mal da, oder?
»Ach Mensch, Mama. Ich kann dir doch gar nicht böse sein. Ich habe zwar noch nie erlebt, dass mich meine Eltern geschlagen haben, aber ich glaube diesmal hatte ich es verdient. Ich hätte mich wirklich anders verhalten sollen, aber jetzt ist es nun mal passiert.«
Wir schwiegen beide. Dann riss es mich auf einmal hoch, dass ich fast an die Decke unseres Autos gestoßen wäre.
»Ben! Wir müssen sofort zu ihm. Mann, ich könnt mich ohrfeigen. Wieso fällt mir erst jetzt ein, dass er im Krankenhaus liegt und mich wahrscheinlich dringend braucht. Verdammt, was bin ich bloß für ein Freund.«
Meine Mutter lachte. »Tu's bloß nicht, dich ohrfeigen mein ich. Einer mit 'nem blauen Auge reicht für heute.« Sie startete den Motor. »Und mach dir gefälligst keine Vorwürfe. Du hast heute viel mitgemacht, da kann einem so etwas schon einmal passieren.«
Wir fuhren los, meine Mutter bog um die Kurve, wo es auf die Hauptstraße führte, und begann wie eine Irre durch die Straßen zu jagen.
»Das finde ich nicht. Um was geht es denn den ganzen Tag? Um meinen Freund! Und jetzt liegt er schwerverletzt im Krankenhaus und ich habe nichts Besseres zu tun, als mit dir zusammen im Auto zu hocken und wertvolle Zeit zu vertrödeln. Sorry Mum, aber es ist so.«
Meine Mutter wollte wohl keinen Streit mit mir anfangen, und so fuhren wir die letzte Wegstrecke schweigend durch die Straßen.
Nach einer nicht enden wollenden Zeitspanne von wahnsinnigen zehn Minuten kamen wir endlich am Maria-Kippstein-Hospital an. Ich sprang aus dem Wagen und rannte dem Eingang entgegen. Meine Mutter schloss noch schnell das Auto ab und hastete mir hinterher. Ich war bereits am Empfang angekommen und presste meinen Finger ununterbrochen auf die Klingel, da sich gerade keine Schwester mit nervenden Besuchern am Empfang herumschlagen wollte, da kam meine Mutter keuchend angeschlappt.
»Junge, hör doch mit dem Klingelputz auf. Deswegen kommt die Schwester auch nicht schneller.«
Da watschelte auch schon eine recht korpulente Schwester um die Ecke und starrte mich böse aus ihren Knopfaugen an, über denen sie eine viel zu große Hornbrille trug. Ich hatte die Befürchtung, sie müsste noch die eine oder andere Pause machen, bis sie sich endlich dazu aufraffte, denn Gästen Rede und Antwort zu stehen, denn einen solch massigen Körper fortzubewegen, setzte eine nicht zu unterschätzende Kraftanstrengung voraus. Kurz darauf stand sie dann aber vor uns und baute sich vor mir auf.
»Junger Mann, was erlauben Sie sich eigentlich, den Klingelkopf für Dummejungenstreiche zu missbrauchen? Er ist dazu gedacht, eine Schwester an den Empfang zu rufen und nicht, diese in Angst und Schrecken zu versetzen. Bitte merken Sie sich das. So, was kann ich nun für Sie tun? Übrigens, mein Name ist Schwester Margot.«
»Entschuldigen Sie bitte, aber hierbei handelt es sich um einen Notfall. Mein Freund wurde von mehreren Leuten zusammengeschlagen und wurde von einem Lehrer ins Krankenhaus eingeliefert. Bitte, sagen Sie mir, wo er liegt.« Ich sah die Schwester bittend an.
»Sind Sie Familienangehörige? Sonst kann ich Sie leider nicht zum Patienten lassen, bevor er nicht die Einwilligung gegeben hat.«
»Nein, das nicht. Aber wir sind seine Gastfamilie. Er kommt aus den USA und verbringt ein Jahr bei uns.« Meine Mutter schaltete sich ein.
»Na das ist was anderes. Warten Sie bitte einen Moment.« Sie schwankte zu ihrem Computer herüber, so dass ich Angst bekam, sie würde im nächsten Moment zusammenbrechen und röchelnd auf dem Boden verrecken. Die Schwester tippte einige kryptische Zeichen auf der Tastatur, runzelte die Stirn, kratze sich am Kopf (ich sag ja immer ‚waschen, nicht kratzen') und wandte sich wieder an uns.
»Hhm. Wir haben heute noch niemanden hereinbekommen, der auf ihre Beschreibung passen könnte. Wie heißt denn der junge Mann?«
Bereitwillig gab ich der Schwester Auskunft. Sie tippte Bens Namen ein, löschte einige Zeichen, fügte andere hinzu und schüttelte schließlich mit dem Kopf. »Das tut mir leid, ich finde hier leider niemanden mit dem Namen Ben Terrano. Sind Sie sicher, dass er in unsere Klinik eingeliefert worden ist?«
Ich nickte bestätigend mit dem Kopf. »Ja, ich bin hundertprozentig sicher. Geben Sie doch vielleicht mal den Namen des Lehrers ein, er heißt Karl Kohler.
Auch dies tat sie. »Nichts. Es tut mir wirklich leid. Warten Sie, ich werde das Max-Planck-Krankenhaus anrufen und die Schwester dort nach Informationen fragen. Setzen Sie sich doch solange dort drüben auf die Wartesitze.« Sie lächelte uns an.
Wir taten, wie uns geheißen. Schweren Schrittes folgte ich meiner Mutter zu den krankenhausüblichen Wippstühlen. Was hatte das zu bedeuten? Ben war nicht ins Krankenhaus eingeliefert worden. Hatte die Schulsekretärin Herrn Kohler falsch verstanden und wurde er wirklich in ein anderes Hospital gebracht? Oder hatte Schwester Margot nicht sorgfältig genug nachgesehen? Zwecklos diese Spekulationen. Jetzt hieß es erst mal, ihre Suche abzuwarten. Vielleicht würde sich alles aufklären und in Wohlgefallen auflösen. Ich konnte nur noch an Ben denken. Was war wirklich mit meinem Schnuckel geschehen? War er schwer verletzt? Verdammt, wie gerne würde ich dieses süße Gesicht in meine Hände nehmen und ihm einen Kuss auf die Stirn geben. Oder vielleicht auch auf den Mund ...
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen. »Sie, kommen Sie bitte zu mir herüber?« Die Schwester stand wild gestikulierend hinter ihrer Theke und deutete uns an, dass wir uns bitte herüber bewegen sollten.
Sie sah nicht gerade fröhlich aus, als sie zu ihrer Rede ansetzte.
»So, ich habe gerade eben mit Schwester Barbara vom Max-Planck-Krankenhaus gesprochen. Sie hat leider auch keine Einlieferung mit dem Namen Ben Terrano oder einen Jungen, der offensichtlich in eine Schlägerei geraten worden ist. Auch einen Karl Kohler hat sie nicht. Es tut mir wirklich leid, ihnen diese ernüchternde Botschaft übermitteln zu müssen. Aber beim besten Willen, wir konnten ihren Ben nicht finden. Sollte er im Laufe des Tages oder noch später bei uns ankommen, werden wir Sie selbstverständlich darüber informieren. Geben Sie mir bitte noch Ihre Telefonnummer?«
Meine Mutter schrieb der netten Dame unsere Nummer auf einen Zettel, während ich völlig geistesabwesend in die Leere starrte. Ben in keinem Krankenhaus der Stadt? Wo soll er denn sonst sein? Kohler wird ihn wohl nicht in ein Hospital gebracht haben, das kilometerweit von hier liegt. Aber verdammt, das konnte doch gar nicht wahr sein. Ich wusste nicht mehr weiter. Ich spürte, wie mir langsam und unaufhaltsam die Tränen aus den Augen flossen. Plötzlich sah ich, wie meine Mutter auf mich zukam, mich an die Hand nahm und aus der Klinik führte. Schwester Margot stampfte zu uns herüber und winkte.
»Ich wünsche Ihnen viel Glück bei der Suche. Sie werden Ihren Liebsten sicher bald wiederfinden!« Ich meinte, dass sie mir zuzwinkerte, soweit ich das in meinem Zustand beurteilen konnte. Aber woher wusste sie ...?
»Denk nicht so viel, mein Junge. Das ist weibliche Intuition. Wir Frauen merken das nun mal! Und außerdem war die Situation ziemlich offensichtlich. Und jetzt atme tief durch und beruhige dich. Wir werden uns ins Auto werfen und diesem ominösen Mathelehrer einen Besuch abstatten. Nun komm.«
Diese Worte beruhigten mich irgendwie. Ich tat also wie geheißen und setzte mich mit meiner Mutter ins Auto. Als wir schon eine Weile gefahren waren, hielt meine Mutter plötzlich abrupt an.
»Was ist denn los? Fahr doch weiter, wir haben jetzt wirklich keine Zeit zu verlieren.«
»Genau das ist das Problem. Chris, ich weiß nicht, wo Herr Kohler wohnt. Wie soll ich da weiterfahren können? Weißt du es?«
»Oh verdammt, da hatte ich gar nicht dran gedacht. Uhm, nein, sorry, das weiß ich auch nicht. Wir müssen bei der Schule anrufen. Schnell, gib mir mal dein Handy.«
Ich riss meiner Mutter förmlich ihr Handy aus der Hand und tippte zitternd die Telefonnummer der Schule in die Zifferntafel. Frau Dauenbächer, die Schulsekretärin, war anscheinend wieder aus ihrer Ohnmacht erwacht, denn sie gab mir bereitwillig die Adresse von Herrn Köhler.
»Vielen Dank, Frau Dauenbächer. Sie haben was gut bei mir.« Ich legte auf. »So, nun fahr aber los, hier, Sonnenstraße 24 ... Aber wart mal! Das ist ja das Hochhaus direkt gegenüber der Schule. Mysteriös. Dass ich das nicht gewusst habe. Komisch. Aber jetzt drück auf die Tube, Mutti.«
Es war bereits Spätnachmittag, als wir vor dem Haus Herrn Köhlers ankamen. Ich riss die Autotüre auf, hüpfte aus dem Wagen und rannte zur Türklingel. Diesmal hielt ich mich ein wenig zurück mit der Klingelorgie. Ich wollte nicht noch mehr Ärger bekommen.
Ben war inzwischen wieder eingeschlafen, was ja auch verständlich war, nachdem was er alles mitgemacht hatte.
»Ja, das wäre wahrscheinlich das Beste. Schließlich haben wir ja noch viel vor uns, wir Beiden, nicht wahr, mein Kleiner?«
Kohler strich Ben durch das blonde Haar. Er fand diesen Austauschschüler wirklich extrem anziehend. Ein Junge. Ja, einen Jungen hatte er sich immer gewünscht. Er wollte unbedingt ein Kind haben, aber wie sollte er das als Schwuler anstellen? Er konnte doch nicht mal eben zu einer willigen Frau hingehen und sagen, he du, mach mir mal schnell ein Kind. Und wenn's geht, gleich einen Jungen. Und selbst wenn das glatt gegangen wäre, er und sein Lebensgefährte konnten sich beim besten Willen nicht vorstellen, ein kleines Kind großzuziehen: Das Zahnen mitzumachen, die Windeln zu wechseln, der Kindergarten, die Einschulung, die Pubertät.............. Da kam ihm dieser amerikanische Austauschschüler gerade Recht.
Er hatte sich in den Kopf gesetzt, sein Lehramt aufzugeben, aus der Stadt zu verschwinden, mit Ben zu seinem Lebensgefährten zu ziehen und ein neues Leben zu beginnen. Über die möglichen Konsequenzen war er sich nicht im Geringsten im Klaren. Ben würde es sicherlich fantastisch finden, in einer neuen Umgebung aufzuwachsen, zwei Väter zu haben und neue Freunde zu finden. Später würde sein zukünftiger Freund bei ihnen einziehen und sie würden eine 4-Männer-Wohngemeinschaft gründen. Er hatte sich das alles so schön vorgestellt, und jetzt sollte es endlich Wirklichkeit werden.
Wie lange hatte er darauf hingearbeitet? Wie lange war er jeden Tag in die Schule getrottet, hatte seinen Unterricht durchgezogen ohne auch irgendwelchen Spaß dabei zu haben? Wie lange hatte er das alles genauestens geplant?
Nur, perfekt war er in der Planung wohl nicht gewesen. Oder hatte er diesen Gedanken einfach verdrängt? Oder war er vollkommen durch geknallt? Was würde wohl Bens Familie in den USA sagen, wenn ihr Sohn entführt werden würde? Was würde die Familie Hudelmayer in die Wege leiten, um an Ben heranzukommen? Schließlich waren sie für Ben verantwortlich und er und Christian zusammen.
Schmunzelnd dachte Kohler an den Spätnachmittag, als Frau Hudelmayer und Christian vor seiner Türe standen und sich besorgt nach Ben erkundigt hatten. Richtig durch den Wind waren die Beiden. Aber was hätte er machen sollen?
Schließlich erzählte er ihnen, er habe Ben gleich in eine Spezialklinik verfrachtet, um möglichen lebensgefährlichen Verletzungen von Vornherein vorzubeugen. Fräulein Dauenbächer habe ihn falsch verstanden am Telefon. Diese Spezialklinik hätte auch einen sehr ähnlich klingenden Namen, man könnte sie leicht mit dem örtlichen Maria Kippstein Krankenhaus verwechseln. Er schrieb den Hudelmayers die Adresse der Klinik auf einen Zettel, woraufhin die Beiden sofort abgedampft waren.
Zufrieden lächelnd setzte sich Herr Kohler in den alten Sessel und schenkte sich einen Cognac ein ...
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