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Muss das wirklich sein?

Teil 5

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Vorwort

Da bin ich mal wieder ;-). Im Vorspann zum letzten Teil von »Muss das wirklich sein?« habe ich geschrieben, dass ich kein Feedback von euch bekommen habe und deswegen verunsichert war, ob ich überhaupt an der Story weiterschreiben soll. Dies sollte allerdings weder Mitleid erregen noch Kritik an irgendjemand sein noch sonst etwas. Ich wollte damit lediglich zum Ausdruck bringen, dass ich keine Ahnung hatte, wie meine Story bei euch ankommt. Jetzt weiß ich es ;-). Denn sehr, sehr viele Leute haben mir nach dem vierten Teil gemailt (sehr komisch, oder???) und mich bekräftigt, weiterzuschreiben. Vielen Dank für eure Unterstützung, Leute!

Was bisher geschah:

Chris schlägt das Arschloch Marco nieder, der sich nach seiner »Ansprache« höchstzufrieden mit sich selbst auf seinem Platz niedergelassen hat. Vorher noch rennt der Mathelehrer der Klasse völlig benommen aus dem Unterrichtsraum. Auch Chris verlässt diesen wenig später um nach seinem Schatz Ben zu forsten. Er findet aber lediglich die Spuren eines Gewaltakts auf der Toilette und ist fest davon überzeugt, dass Marco seine Finger dabei im Spiel hatte. Also will er sich bei ihm rächen, kehrt zurück ins Klassenzimmer und schlägt ihn nochmals zu Boden.

Der Schulleiter kommt hinzu, lässt die Klasse nach Hause gehen und redet ein ernstes Wörtchen mit Chris. Wenig später erscheint dessen Mutter völlig aufgebracht und verschleppt ihn eine Erklärung verlangend zum Auto. Dort erzählt Chris seiner Mutter was wirklich geschah. Sie schenkt ihrem Sohn Glauben und so versuchen die beiden nun zu zweit, Ben ausfindig zu machen. Sie klappern vergeblich das Krankenhaus ab und landen schließlich bei Herrn Kohler auf der Matte. Dieser behauptet jedoch, Ben in eine Spezialklinik gebracht zu haben.

Als die beiden Hudelmayers abgezogen sind, überdenkt Kohler nochmals seinen teuflischen Plan: Er möchte Ben »entführen« und ihn als seinen eigenen Sohn zu seinem Freund verschleppen ...

(Bei einigen Lesern hat dieser Schluss ein wenig Missmut erregt, aber Leute, so ist das Leben! Man ist nie vor Überraschungen oder unvorhersehbaren Ereignissen gefeit ...) Nun aber zur Sache!

 

Ich war wie geschockt. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Nach unserer bisher ergebnislosen Suche nach Ben wurden wir nicht mal bei dessen vermeintlichem Lebensretter fündig! Ich hätte heulen können, ich vermisste Ben so sehr. Würde ich sein süßes Lächeln überhaupt wieder zu Gesicht bekommen? Würde ich sein weiches, flauschiges, süßes, blondes Haar noch einmal durchfahren dürfen? Würde ich noch einmal seinen warmen, weichen Körper berühren können? Ich fühlte, wie mich die Gefühle übermannten. Die Tränen rauschten in wahrhaften Sturzbächen aus meinen Augen. Ich konnte nicht mehr an mich halten und warf mich in die grüne, allerdings schon ein wenig ausgedörrte Wiese neben dem Eingang des Hochhauses. Ich schluchzte in den dreckigen Rasen. Das Erlebte nahm mich mehr mit, als ich mir und den anderen zugestehen wollte.

Plötzlich fühlte ich, wie sich ein Arm um meinen Körper legte. Ich sah vorsichtig auf und blickte in das bestürzte Gesicht meiner Mutter.

»Chris, was ist denn mit dir los? Ich weiß, es muss schrecklich für dich sein, Ben immer noch nicht gefunden zu haben. Es muss ein Scheißgefühl sein. Aber sollten wir nicht langsam losfahren, in diese Klinik, von der dein Mathelehrer sprach?« Sie schaute mir auffordernd in die Augen.

Ich war meiner Mutter so dankbar. Sie baut mich immer wieder von Neuem auf, wenn es mir dreckig geht. Meine Tränen versiegten langsam, die Gedanken, Ben vielleicht nie mehr wiedersehen zu würden wurden von tosenden Wogen in die hintersten Ecken meines Gehirns gespült und ich war wildentschlossen, ihn mit allen verfügbaren und nötigen Mitteln aufzutreiben. Jetzt musste erst mal dieses Spital daran glauben. Ich sprang auf und rannte zu unserem Auto. Meine Mutter saß bereits drin und ließ den Motor aufheulen. Auf schnellstem Wege fuhren wir zu der etwa 30km von unserer Stadt entfernt gelegenen Marius-Flippfein-Klinik und währen beinahe einem Truckfahrer in den Allerwertesten seines Brummis gerauscht.

Nach einer halsbrecherischen Fahr kamen wir bereits nach einer Viertelstunde an besagtem Spital an. Die Polizei hatte nur noch den Kondensstreifen unserer alten Mühle gesehen ...

Kohler stellte das Glas mit dem Cognac zurück auf den Schreibtisch. Er hatte es fast geleert und nur noch ein kleiner Rest zeugte davon, dass überhaupt einmal jemand daraus getrunken hatte.

Es war schon spät geworden. Kohler war in Träumen versunken, wie er sich das Leben mit seinem Freund und dem neuen »Sohn« gestalten würde. Er wollte jetzt schlafen gehen, damit er für den nächsten Tag gerüstet sein würde. Er sah Ben nochmals an. Wie friedlich der Kleine doch dalag ... Das Schlafmittel hatte offensichtlich seine Wirkung entfaltet. Der Mathelehrer wälzte sich aus dem Sessel und ging zu Bens Schlafstätte herüber. Er näherte sich dessen Gesicht. Abrupt stockte er. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Doch dann führte er seine Lippen noch näher an Ben heran und presste ihm einen Kuss auf die Wange. Befriedigt lächelte er ihn an, ging zur Tür, löschte das Licht und verschwand aus dem Zimmer.

Wie alleine ich doch auf dieser Welt war. Niemand, an den ich mich hätte anlehnen können, niemand, der mich tröstet, wenn ich traurig bin und Halt brauche, niemand, der mich einfach nur festhält und mich seine Liebe spüren lässt. Gut, da war meine Mutter. Und Sandra, meine Schwester. Und nicht zuletzt Tante Klara. Mein Vater hatte sich ja bereits losgesagt von mir und meiner Familie. Aber das war nicht das, wonach ich mich sehnte. Natürlich überschütteten sie mich alle drei förmlich mit ihrer Liebe, dennoch war das nicht das Gleiche, als wenn mich ein liebevoller Boyfriend ihn seine Arme nehmen würde. Das war meine Familie, aber ich brauchte einen Partner.

Seit etwa einer Stunde waren wir wieder zu Hause. Wir sind alleine wiedergekommen. Kein Ben war mit dabei. Im Krankenhaus überbrachten sie uns die abscheuliche Nachricht, niemanden als Patienten zu haben, der Ben auch nur im Entferntesten ähnlich gesehen hätte oder einen ähnlichen Namen hatte. Wir durften uns sogar alle Neuzugänge des Tages ansehen, ob Ben nicht vielleicht doch dabei war. Aber nichts. NICHTS!

Wie fürchterlich dieses Wort für mich klang. Wir waren den ganzen Tag auf den Beinen und hatten uns die Hacken abgelaufen auf der Suche nach Ben. Und ich war fest überzeugt davon, ihn in dieser Klinik zu finden.

Wie konnte das Schicksal bloß so grausam sein. Uns zwei frisch Verliebte auseinander zu reißen. Wie mir mein Schatz doch fehlte. Ich konnte es gar nicht in Worten ausdrücken, es war ein innerlicher Schmerz, der fürchterlich und unaufhörlich in mein Herz stach.

Ich saß in meinem Zimmer, das ich vollkommen abgedunkelt hatte. Ich lehnte mich gegen die raue Holzwand, deren Spreißel mir in den Rücken stachen und sich dort hineinbohrten. Aber ich spürte den Schmerz nicht. Ich sah einfach nur in die Leere. Ich wusste nicht mehr weiter. Am liebsten wäre ich jetzt aufgestanden und hätte mich von einer Brücke gestürzt. Ich fühlte mich extrem scheiße. Schlimmer hätte es jetzt nicht mehr kommen können.

Ich heulte stumme Tränen. Ich hätte alles aus mir herausschreien können, aber es kam nichts. Ich war dazu nicht fähig. Die Situation überforderte mich dermaßen.

Es klopfte an die Tür. Ich wollte nicht, dass jemand hereinkommt. Ich wollte allein sein mit meinem Schmerz - niemand hätte mich trösten können. Auf einmal öffnete sich die Türe einen Spalt.

»Chris, darf ich reinkommen? Ich möchte dir etwas mitteilen und dir einen Vorschlag machen!«

Es war Tante Klara. Die hatte mir gerade noch gefehlt. Sie sollte mich gefälligst alleine lassen.

»Verschwinde. Ich will dich nicht sehen.« Kaum hatte ich diesen Satz ausgesprochen, da tat er mir auch schon wahnsinnig Leid. Ich wollte das nicht. Tante Klara jedoch hatte bereits die Tür geschlossen und war dabei, von dannen zu trippeln.

»Klara! Warte, bitte. So habe ich das nicht gemeint. Es tut mir leid.« Schluchzend rief ich ihr hinterher.

Sogleich ging wieder die Türe auf und die massige Tante Klara schob sich herein. Sie watschelte auf mich zu, ließ sich neben mich plumpsen und legte ihren Arm um mich. Ich nahm dies bereitwillig an und kuschelte mich an ihre großen Möpse. Dort war es warm und weich, und ich fühlte mich geborgen.

»Ja mein Kleiner. Kuschele dich ruhig an mich. Du brauchst das jetzt. Du hast mein vollstes Verständnis.«

Eine ganze Weile saßen wir einfach nur reglos da und Tante Klara hielt mich fest. Nach schier endlosen Minuten setze meine Lieblingstante an zu sprechen.

»Weswegen ich auch hier bin, mein Schatz: Vorher hat die Mama bei der Polizei angerufen und versucht, eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Dies war aber leider nicht möglich, da die scheiß Bullen - entschuldige - das nicht vor 24 Stunden Abstinenz machen. Also habe ich mich dazu entschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Und du weißt, deine Tante Klara macht keine halben Sachen.«

Sie richtete mich auf, putzte mir die Tränen aus dem Gesicht und wuschelte mir kurz durch die Haare.

»Ich weiß, wie schwer das ist, aber jetzt lächele einfach mal. Wir gehen nämlich jetzt und suchen auf eigene Faust nach deinem Süßen.«

Ich starrte die frohgemute alte Dame an, die da so belanglos vor sich hingemurmelt hatte, sie würde quasi der Polizei die Arbeit abnehmen, indem sie jetzt, mich im Schlepptau, die Stadt nach Ben durchkämmen würde. Ich muss doof wie ein Lama ausgesehen haben, denn Tante Klara konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

»Na starr mich nicht so ungläubig an! Das ist mein voller Ernst. Obwohl, der ist ja schon vor Jahren gestorben.« Keuchend vor Lachen hielt sie sich den Bauch. »Oh entschuldige. Dir ist wohl nicht zum Lachen zu Mute. Aber jetzt auf, wir müssen los, bevor es zu spät ist.«

»Du meinst das wirklich Ernst? Das ist kein Spaß von dir? Und wie hast du dir das überhaupt vorgestellt?«

Tante Klara war schon fast aus meinem Zimmer heraus gestiefelt. Schwer atmend drehte sie sich um und kam zurück. Sie legte mir ihre Hand auf die Schulter und sah mich mit Nachdruck ins Gesicht. Sie sah äußerst ernst aus, überhaupt nicht zu Späßen aufgelegt.

»Jetzt hör mir mal zu, Großneffe. Dein Freund ist verschwunden, womöglich ist ihm wer weiß was zugestoßen, die Polizei schert sich einen feuchten Kehricht um ihn und dir geht es von Minute zu Minute schlechter. Das muss geändert werden. Und wenn sich unsere sogenannten Freunde und Helfer nicht darum kümmern, müssen wir das selbst in die Hand nehmen. Und ich weiß auch schon wo wir anfangen werden.«

Allmählich begriff ich den wirklichen Ernst der Lage. So wie Tante Klara mir das schilderte, wurde mir erst recht klar, dass wir keine weitere Sekunde zögern durften. Ja, wir waren bereits viel zu spät dran.

»Du hast Recht. Wir müssen etwas tun.« Ich wischte mir die restlichen Tränen aus dem Gesicht und versuchte, einen fröhlichen Gesichtsausdruck aufzusetzen. »Du sagtest, du hättest schon eine Idee. Womit fangen wir an?«

Klara lachte schallend. »Na also, so gefällst du mir schon um Klassen besser. So, und jetzt überleg doch mal. Wer behauptet selbst von sich, der «Erretter» von Ben zu sein? Dein Mathelehrer. Und das ist doch schon erst recht suspekt. Wo er euch überall hingeschickt hat! Ins örtliche Krankenhaus, in das 30km entfernte Spital, und ihr habt Ben immer noch nicht. Na also wenn das kein Grund zur Aufregung ist! Einem wachen Verstand musste das bereits von Anfang an spanisch vorgekommen sein. Aber das kann man verstehen, du bist ja heute nicht so bei der Sache. Also, wir werden jetzt Folgendes tun: Wir fahren zu Kohlers Wohnung. Dort schleusen wir dich ein und du wirst dich unauffällig in der Wohnung umsehen, ob es dort nicht irgendwas Verdächtiges gibt. Dann werden wir gegebenenfalls Herrn Kohler zur Rechenschaft ziehen. Und wenn nichts dabei herumkommt, hauen wir einfach ab und setzen unsere Suche fort.«

Ich wusste ja, dass meine Tante kein Kind von Traurigkeit ist. Aber einen Einbruch hätte ich selbst ihr nicht zugetraut. In diesem Moment fand ich die Idee aber einfach nur cool ... Tantchen und ich als Kriminelle. Der Gedanke, dabei Ben wiederzufinden ließ mein Herz höher schlagen und schickte mich auf einen Höhenflug. Himmelhoch jauchzend am Boden zerstört oder so ähnlich nennt man wohl meinen damaligen Gemütszustand. Ja, ich war begeistert von dieser Idee!

»Wahnsinn Tantchen. Das ist ja eine abgefahrene Idee. Aber ich finde sie cool. Also, lass uns keine Zeit mehr vertrödeln und uns auf die Socken machen!«

»Na klar Chris! Aber sag nicht immer Tantchen zu mir!!!«

»In Ordnung, Tantchen!«

Heute wundere ich mich immer wieder, wie ich damals mitten in der Nacht mit meiner Tante auf »Raubzüge« hatte gehen können. Als wir von zu Hause losfuhren, war es bereits nach Mitternacht und meine Mutter lag längst im Bett. Wo mein Vater war, wusste ich nicht. Es interessierte mich ehrlich gesagt auch kein bisschen.

Wir waren schon eine Weile unterwegs, da fragte ich Klara: »Tante Klara, ich hoffe doch, Mama weiß von unserem nächtlichen Ausflug Bescheid?«

Sie blieb eine Weile ruhig. Ich meinte, ihr Gesicht hätte sich ein wenig gerötet. »Tantchen, ich habe dich etwas gefragt!«

»Ja ja, ähm ich, also das ist so: Also, nein, sie weiß nichts davon. Ich wollte sie nicht noch mehr beunruhigen.«, druckste sie herum.

Ich seufzte. »Du bist wirklich unverbesserlich. Und was ist, wenn uns nun etwas zustößt? Dann weiß sie erst recht nicht mehr, was sie tun soll. Aber gut, lassen wir das. Ich will mich schließlich nicht mitten in der Nacht nicht mit dir anlegen.« Gackernd antworte Klara: »Das sei dir auch tagsüber nicht anzuraten! Und was soll uns schon zustoßen? Ich habe einen kräftigen Mann an meiner Seite und du eine erfahrene Frau! Wir sind ein unschlagbares Team! So, und jetzt Unterredung beendet, wir sind an unserem Ziel angekommen.«

Sie zeigt auf das graue Hochhaus, dessen Silhouette sich am dunklen Nachthimmel beängstigend hoch in die Wolken schraubte. Ich sah auf die andere Straßenseite. Neben unserer altehrwürdigen Schule lungerten einige bedrohliche Gestalten herum. Ich hörte nur Bierflaschengeklapper und fremdenfeindliches Gekrächze. Ich hätte kotzen können. Waren das vielleicht Marcos Kumpane? Ich wollte mir jedoch nicht weiter den Kopf zerbrechen, sondern jetzt mit Tante Klara den Schlachtplan ausarbeiten.

»Tante Klara« Ich drehte mich zu ihrem Sitz herüber. »Wie hast du dir ...« Ich stutzte. Keine Tante Klara auf dem breitgessenen Autositz. Panik überkam mich. Wo war sie? Sie wollte mich doch wohl jetzt nicht alleine lassen???

Ich schaute aus dem Fenster. Eine nächtliche Gestalt von beträchtlichem Körperumfang watschelte neben den abgedunkelten Fensterscheiben des Hochhauses zielstrebig irgendeinem Richtungspunkt entgegen. Ich musste grinsen. Tante Klara ...

Ich zögerte keinen weiteren Augenblick, sprang aus dem Auto und rannte hinter ihr her. Sie war bereits an ihrem Zielort angekommen und packte etwas aus ihrem schweren Werkzeugkoffer aus, den ich erst jetzt bemerkte, als ich sie eingeholt hatte.

»Na da bist du ja endlich, du Schlawiner. Hat aber lange gedauert, bis du den Weg hierher gefunden hast!«

Vorwurfsvoll strahlte ich meiner Tante mit der Taschenlampe aus dem Werkzeugkoffer in die Augen. »Du hättest ja auch ein Wort sagen können, als du losgegangen bist. Aber kannst du mir mal eines verraten: Warum um alles in der Welt kennst du dich hier so gut aus und weißt, was du machen musst???«

»Tja mein Söhnchen. Nachdem ihr heute Abend zurückgekommen seid und mir deine Mutter alles berichtet hatte, habe ich mich sofort auf den Weg gemacht und mir die Örtlichkeiten etwas genauer angesehen, bevor wir jetzt unserem Plan nachgehen werden. Schließlich soll man nie unvorbereitet eine Sache starten.«

»Aber, aber ...«

»Red nicht so viel, komm lieber mit.«

Sie strebte einem Balkon auf der linken Seite des Hochhauses zu. Ich erkannte, dass er zu Kohlers Wohnung gehörte. Was hatte meine Tante bloß vor? Mir blieb wohl nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.

Inzwischen standen wir beide vor dem Balkon zu Kohlers Wohnung. Was für ein Glück, dass er im Erdgeschoss wohnte.

»So liebe Tante, und jetzt wünsche ich darüber aufgeklärt zu werden, wie wir das ganze anstellen werden.«

»Na wenn du das unbedingt wissen willst, mein Sohn!« Sie kicherte. Scheinbar war auch ihr klar, dass man es bei nächtlichen und vor allem illegalen Ausflügen tunlichst vermeiden sollte, auch nur den kleinsten lauten Ton von sich zu geben. Deswegen unterdrückte sich auch das schrille Gackern, mit dem sie sonst immer ihre Freude an etwas verlauten ließ.

»Also, ich habe mir das folgendermaßen vorgestellt. Ich werde dir eine Räuberleiter machen, du wirst so gestützt auf den Balkon klettern und versuchen, die Balkontüre zu öffnen. Vielleicht hat unser Herr Mathelehrer unvorsichtigerweise die Türe offengelassen. Und selbst wenn das nicht klappen sollte, ich habe noch eine andere Variante ...« Sie grinste verschmitzt.

Tantchen Tantchen, was hast du nur wieder vor? Ich war schon ein wenig misstrauisch, ob dieser feine Plan, den sich Tante Klara ausgedacht hatte, auch so reibungslos funktionieren würde, wie sie sich das vorgestellt hatte. Aber allein die Tatsache, dass sie sich für mich und meinen Freund so einsetzte fand ich einfach bewundernswert.

Inzwischen hatte Klara beinahe ihren gesamten Werkzeugkoffer ausgepackt. Ich sah Hämmer, Meißel, eine Bohrmaschine, Schraubenschlüssel, unzählige Kreuzschlitz- und einfache Schraubenzieher und ein Gerät, dass ich nicht eindeutig identifizieren konnte.

»Sag mal, was willst du denn mit all diesem Zeugs? Damit kann man doch wohl schlecht einen Einbruch verüben. Oder willst du mit der Bohrmaschine ein Loch in die Wand pusten?«

Tante Klara lachte gellend auf. Darauf schlug sie sich sofort die linke Hand auf den Mund.

»Verdammt, ich habe mich mal wieder nicht unter Kontrolle. Hoffentlich hat uns niemand gehört ...!« Sie schaute mich unschuldig an. »Aber das mit der Bohrmaschine wäre gar keine so schlechte Idee, hätte ich nicht schon eine und würde sie nicht so viel Krach machen!«

Inzwischen war sie wohl mit ihren Vorbereitungen soweit, dass wir unser Vorhaben hätten starten können, denn sie winkte mich zu sich und bedeutete mir, in ihre als Räuberleiter verhakten Hände zu steigen. Ich tat wie mir geheißen und stellte meinen Fuß in ihre Hände. Als ich mich am Balkon festhielt hochzog, begann Tante Klara ein wenig aufzustöhnen ... Ich war wahrscheinlich doch nicht so leicht, wie sie sich das vorgestellt hatte.

Als ich oben angekommen war, sah ich mich erst mal um. Auf dem Balkon standen ein einfacher Tisch mit einer Vase, ein Wäscheständer und zwei zusammengeklappte Liegestühle. Alles in allem ziemlich ungemütlich.

»Na was ist denn jetzt, Chris? Hast du nachgesehen, ob die Türe offen ist? Steh nicht so untätig herum, sondern tu etwas!« Nanu, das klang ja richtig vorwurfsvoll. Allerdings wollte ich mein Tantchen und natürlich auch mich nicht unnötig auf die Folter spannen. Also drückte ich vorsichtig gegen die Balkontüre - sie bewegte sich keinen Millimeter. Verdammt, fest verschlossen. Ich lief die zwei Meter zur Brüstung des Balkons zurück und sah Klara in die Augen.

»Keine Chance, Tante Klara. Die ist bombenfest zu. Die bekommen wir nicht auf.«

»Warts ab, mein Schatz. Wir wollen doch wohl nicht aufgeben?« Sie bückte sich kichernd und zog etwas aus ihrem Werkzeugkoffer hervor. Es war das undefinierbare Gerät, das ich vorher bereits gesehen hatte.

»Was ist denn das???«

»Das, mein lieber Großneffe, ist ein sehr wertvolles Werkzeug. Wenn man dieses besitzt, braucht man keine Schlüssel oder Codes mehr, vorausgesetzt, das Zielobjekt ist eine Glasscheibe. Denn dies ist ein Glasschneider ... Frisch aus der Produktion deines verstorbenen Großonkels.«

Mit großen Augen starrte ich sie an. »Ein Glasscheider? Du willst ernsthaft fremdes Eigentum zerstören?«

»Nun hör mir mal gut zu, Christian.« Ihr wisst, was es bedeutet, wenn jemand ‚Christian' zu mir sagt? »Das hier ist eine Notfallsituation. Dein Lehrer hat Ben in seiner Gewalt und tut ihm womöglich schreckliches an. Das ist ein noch viel schlimmeres Verbrechen, als wenn wir mal kurz ein Loch in das Glas schneiden.«

Da hatte sie natürlich Recht. Aber was wäre, wenn ...

»Was ist, wenn Ben gar nicht bei Herrn Kohler ist?«

»Daran habe ich natürlich auch gedacht, aber Ben ist hundertprozentig hier. Ich fühle das. Und jetzt bitte keine Zeit mehr verschwenden. Man könnte ja meinen, du bist gar nicht so scharf darauf, deinen Schnuckel wiederzusehen!«

Und wie scharf ich darauf war. Ich fühlte immer noch diesen stechenden Schmerz in der Brust, ich konnte es kaum erwarten, Ben in meine Arme zu schließen.
Das war auch der Grund, warum ich schließlich Tante Klara den Glasschneider aus der Hand nahm und mich unter ihren Anweisungen an die Arbeit machte.

»Also, pass auf. Du setzt das Gerät vorsichtig auf die Scheibe, in der Nähe des Türgriffs natürlich, nimmst den Griff auf der linken Seite in die Hand und machst eine ganze Umdrehung. Dann sollte ein etwa ein handgroßes Loch neben dem Türgriff klaffen. Du kannst dann hineingreifen und den Griff umdrehen.«

Ich folgte ihren Anweisungen und siehe da, nach ein wenig Mühen war ein schönes, rundes Loch in der Glasscheibe entstanden. Ich konnte gerade so eben mit der Hand hineingreifen und die Türe öffnen. Dieser Teil des Plans wäre also erledigt ...

»Die Tür ist offen, Tante Klara. Ich gehe jetzt hinein, OK?« »Jajajajajajajaja, tu das, mein Sohn. Verliere keine Zeit! Ich werde hier solange warten und Schmiere stehen. Aber jetzt beeil dich!«

Vorsichtig drückte ich die Türe ein Stück nach innen. Sie knarrte ohrenbetäubend als wollte sie die gesamte Nachbarschaft aufwecken. In Sekundenbruchteilen hielt ich sie an. Mein Herz raste. War womöglich Herr Kohler aufgewacht? Ich lauschte einige Sekunden, konnte aber kein Geräusch außer das meines pochenden Herzens vernehmen. Gerade wollte ich die Türe langsam weiter öffnen, da hörte ich etwas.

»Chris, lass das, komm her.« Ein Glück, nur Tante Klara. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Sie hielt eine kleine Kanüle in ihren Pranken.

»Chris, das hier ist Schmieröl. Gib ein wenig davon in die Scharniere der Türe, dann hört sie auf zu quietschen.« Meine Tante war einfach genial. Einfach an alles hatte sie gedacht ... Ich schnappte mir das Öl und schüttete etwas davon in die Angeln der Türe. Ich testete - wow, jetzt glitt sie ohne einen Ton, fast wie mit Flügeln. Ich stieß sie ganz auf und betrat die Wohnung.

Nun stand ich also in der Wohnung Herrn Kohlers. Es herrschte eine Grabesstille. Fast schon ein wenig unheimlich war mir zu Mute. Dann besann ich mich auf meinen Auftrag. Ich wollte ja meinen süßen Lover finden - was stand ich da so blöd in der Gegend herum?

Ich hatte keine Ahnung, wo ich mit Suchen anfangen sollte. Anscheinend befand ich mich im Wohnzimmer. Ich sah mich um. Irgendwie konnte ich nichts erkennen warum wohl? Ach so, es war ja Nacht. Zum Glück steckte noch die Taschenlampe von vorhin in meiner Hosentasche. Ich leuchtete den Raum aus. Keine Spur von Ben. Ich suchte den Weg zur Tür. Nachdem ich sie geöffnet hatte, stand ich auf einer Art Flur. Von hier aus ging es in vier verschiedene Zimmer, einschließlich des Wohnzimmers, und dann war da noch die Wohnungstür.

Ich öffnete die Tür, nur um sie sofort wieder zu schließen - es war die Küche. Als ich vorsichtig die Tür zum nächsten Raum aufmachte, setzte mein Herzschlag kurzzeitig aus. Ich hörte jemanden schwer atmen. Konnte das Ben sein? Behutsam durchleuchtete ich den Raum. Der Strahl der Taschenlampe fiel auf ein riesiges Bett - indem sich unruhig der schwitzende Herr Kohler wälzte. Blitzschnell schaltete ich die Taschenlampe aus - schließlich wollte ich unser Vorhaben nicht durch irgend eine unbedachte Aktion platzen lassen. So leise es mir möglich war, schloss ich wieder die Türe und schlich zum nächsten Raum.

Ich drückte die Klinke herunter, öffnete die Türe einen Spalt und bekam den Schreck meines Lebens. Sie wurde mir äußerst heftig aus der Hand gerissen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich erwartete eine wutschnaubende Person, die sich nun meiner annehmen würde. Ängstlich kniff ich die Augen zusammen. Aber nichts geschah. Da erst bemerkte ich, dass ein starker Wind durch das Zimmer pfiff. Ich machte langsam die Augen wieder auf. Und sah dem Herrn der Winde ins Gesicht. Das Fenster stand sperrangelweit offen und eine kräftige Böe zog durch den Raum. Ich ging hinein und schloss die Türe hinter mir. Nachdem ich den Raum durchquert und das Fenster geschlossen hatte, ließ ich den Schein der Taschenlampe durch das Zimmer gleiten. Dort standen nur ein Schreibtisch, ein großer Kleiderschrank, ein alter Sessel, der wohl seine besten Jahre bereits hinter sich hatte, und ein nicht weniger neues Sofa. Ich leuchtete den gesamten Raum ab, konnte jedoch keine Spur von Ben finden. Sollte ich in den anderen Zimmer etwas übersehen haben?

Ich meinte allerdings, dort nichts Auffälliges bemerkt zu haben. Ich ging herüber zur Couch und setzte mich. Was sollte ich jetzt bloß machen? Tante Klara hatte also doch nicht Recht, als sie sagte, dass Ben hundertprozentig bei Herrn Kohler zu finden sei. Ich stütze meinen Kopf in die Hände und blickte zu Boden.

Da fiel mir etwas komisches auf: Ich erinnerte mich sofort an jenen Morgen, als Ben nicht in meinem Bett lag sondern es bevorzugte, den Boden als Schlafstätte zu nutzen. Auf dem Boden lag ein zusammengekauertes Etwas unter einer Wolldecke. Ich bückte mich herunter, hob die Wolldecke ein wenig hoch - und stieß einen Freudenschrei aus. Es war Ben! Ben, ja Ben! Ich hatte ihn wiedergefunden. Das Glücksgefühl, das mich in diesem Moment durchströmte, konnte ich gar nicht beschreiben. Ich hatte meinen Schatz wiedergefunden, endlich, wo ich schon nicht mehr daran geglaubt hatte.

Ich warf mich auf den Boden und riss Ben die Wolldecke vom Leib. Was war das? Er war völlig nackt! Was hatte dieses Ekel von Kohler bloß mit ihm angestellt. Aber anstatt nun darüber nachzudenken warf ich mich meinem Süßen um den Hals und drückte ihn fest. Ich wollte ihn nie mehr loslassen. Ich wollte ihn für immer in meinen Armen behalten und festhalten. Ich schmiegte mich sanft ganz nahe an Ben und streichelte ihn vorsichtig. Ich saugte den süßen Duft seines Körpers tief in mich ein und das Glücksgefühl, das mich durchströmte, wurde größer und größer ... Ich hätte die ganze Welt umarmen können. Aber in diesem Moment machte ich das nur mit Ben.

Plötzlich drehte sich Ben auf die Seite und stieß einen Laut des Wohlwollens aus. Ganz langsam öffnete er die Augen und sah mir ins Gesicht.

»Wo ... wo bin ich?« Der Arme war völlig verwirrt. »Das bist ja du, Chris!! Mein Schatz, endlich bist du wieder bei mir!«

Er warf sich mir um den Hals und ich spürte, wie ihm die Tränen aus den Augen liefen. Es waren aber keine Tränen der Trauer, Furcht oder Angst, sondern der Freude.

Ich ließ ihn gewähren. Ich konnte mir schwerlich vorstellen, wie Ben sich in diesem Moment hatte fühlen müssen, aber ich war mir sicher, dass es unvorstellbar schwierig gewesen sein musste. Also hielt ich ihn einfach nur fest und streichelte seinen nackten Körper.

Nach einer sehr langen Zeit, es mussten bereits einige Minuten verstrichen sein, löste sich Ben aus der Umarmung und sah mir mit festem Blick in die Augen.

»Ich liebe dich von ganzem Herzen, Chris. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich machen sollte. Ich kann ohne dich nicht mehr leben.«

Dieses Liebesgeständnis war das wunderbarste, was mir je jemand gesagt hatte. Mir liefen die Tränen aus den Augen, als ich Ben antwortete.

»Ich liebe dich auch, Ben. Ohne dich wäre mein Leben so was von sinnlos, ich könnte mich gleich von der nächsten Klippe stürzen. Das ist mir erst jetzt klar geworden. Jetzt, nachdem ich dich solange vermisst habe. Ich ... ich ...«

Ben hatte sich langsam meinem Gesicht genähert und verschloss daraufhin meinen Mund mit seinen Lippen. Er küsste mich so sanft wie nie zuvor. Ich erwiderte seinen Kuss und so fanden sich unsere Zungen nach einiger Zeit jeweils im Mund des anderen wieder und kämpften um die Vorherrschaft.

Nach einiger Zeit lagen wir beide auf dem Boden, ich unten und Ben über mir. Er hatte es sich auf mir gemütlich gemacht und seinen Kopf auf meine Brust gelegt. Eigentlich wollte ich ihm noch so viele Fragen stellen, aber er war so müde, dass er einfach auf mir eingeschlafen war. Ich betrachtete meinen kleinen Schnuckel. Das goldblonde Haar glänzte im Mondlicht und verlieh ihm den Anblick eines Engels ... Ich strich ihm vorsichtig durchs Haar und genoss seine Schwere, denn ein angehender Basketballstar ist nicht gerade das Leichtgewicht der Nation. Die Tatsache, dass Ben vollkommen nackt war und normalerweise bei mir eine vollkommen normale Reaktion ausgelöst hätte, ließ mich zumindest in diesem Augenblick völlig kalt. Wer in diesem Moment an Sex gedacht hätte, wäre wohl nicht mehr zu retten gewesen ...

Ich genoss einfach, dass ich Ben wieder hatte. Mehr wollte ich in diesem Moment gar nicht. Ich war einfach überglücklich.

Doch plötzlich riss mich eine Stimme aus meinen Glücksgefühlen. Sie drang jedoch aus einem der anderen Zimmer.

»Sie ... Sie!!! Was haben Sie in meiner Wohnung zu suchen! Sie sind eine Einbrecherin!« Tante Klara. Oh Gott. »Ich werde augenblicklich die Polizei anrufen, wenn Sie nicht sofort verschwinden.« Verdammt, was hatte sie jetzt wieder angestellt? »Nun machen Sie mal halblang, Herr Kohler. Eigentlich müsste die Polizei ja Sie anstatt mich verhaften. Immerhin liegt bei Ihnen das Delikt der versuchten Kindsentführung vor!«

So leid es mir tat, aber ich musste Ben vom mir herunterstoßen. Durch den unerwarteten Aufprall auf den Boden wachte er auf. Er rieb sich die Augen. »Was ist denn los, mein Schatz? Müssen wir schon aufstehen?«

»Ja, müssen wir. Tante Klara ist in Gefahr. Herr Kohler hat sie entdeckt.« Verwundert sah mich Ben an. »Was ist los? Herr Kohler? Tante Klara?«

»Leg dir die Wolldecke um und komm mit.«

Er tat wie ihm geheißen und so geschürzt zog ich ihn auf den Flur. Die Stimmen kamen näher.

»Wie bitte? Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, meine Dame! Was erlauben Sie sich eigentlich, mich der Kindsentführung zu bezichtigen?«

Wir gingen gerade durch die Wohnzimmertüre. Ich sagte laut: »Na dann drehen Sie sich mal um, Herr Kohler!«

Kohler, der zu uns mit dem Rücken gewandt stand, wandte sich blitzschnell um. Wütend blickte er mir in die Augen. Als er aber Ben neben mir stehen sah, hellte sich sein Gesichtsausdruck wieder auf. Er strahlte regelrecht.

»Ben, mein Sohn! Was tust du denn so spät noch hier? Hat Papa dir nicht gesagt, du sollst morgen ausgeschlafen sein?« Er ging auf ihn zu und umfasste Bens Kopf mit seinen Pranken. Ben schreckte zurück. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?«

»Ist er nicht lustig, mein Großer? Immer zu Scherzen aufgelegt!« Kohler klopfte sich auf die Schenkel. »Aber ich bin's doch, dein Vater! Und morgen wollen wir doch umziehen, hast du das schon wieder vergessen?«

Ben sah Kohler an, als wäre dieser ein Gespenst, das gerade versucht hatte, mit starkem chinesischen Akzent japanisch mit ihm zu reden. Mir ging es jedoch auch nicht viel anders. Hatte ich da eben richtig gehört? Kohler hielt Ben tatsächlich für seinen eigenen Sohn! Der musste doch einen gewaltigen Schlag haben! Das was Tante Klara vermutet hatte, schien also aufzugehen ...

Kohler hatte Ben immer noch fest im Griff und zog ihn näher zu sich heran. Ben versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien, es gelang ihm jedoch nicht. Ich stand immer noch wie erstarrt da, zu keiner Bewegung fähig. Inzwischen umarmte Kohler Ben.

Dann sah ich wie meine Tante auf ihn zuhielt und ihm ihre Pranke auf die Schulter legte. »Ich glaube Sie gehören in die Klapsmühle, Herr ...« Sie konnte ihren Satz nicht beenden, denn blitzschnell wirbelte Kohler herum und hielt Klara eine Pistole an die Schläfe.

»Keine Bewegung, Sie fette Schlampe. Wenn Sie noch einen Ton sagen oder irgendetwas mit ihren Fingern betouchen, werde ich Sie umbringen. So, jetzt langsam die Hände hoch und dort auf den Sessel setzen.«

Woher hatte er so schnell die Pistole?

So ängstlich hatte ich Tante Klara noch nie gesehen. Ihre Augen waren bis zu Bersten angefüllt mit Furcht. Ganz langsam reckte sie ihre Arme gen Zimmerdecke und ging in Richtung des Sessels, auf den sie sich nach Kohlers Anweisung setzen sollte. Schnaufend ließ sie sich hereinfallen und sah Kohler angsterfüllt in die Augen. »So gefällst du mir schon besser, Dicke.« Hämisch grinste er sie an und wandte sich dann uns zu. Ben war bereits zu mir herübergekommen und schmiegte sich an mich. Als Kohler dies sah, begann er zu schreien.

»Ben, lass das! Ich verbiete dir, diesen Bengel anzufassen. In Wolfenbeck wirst du einen geeigneten Freund finden, also lass ihn los, sonst erschieße ich ihn!«

Pfeilschnell ließ mich Ben los und entfernte sich etwa einen Meter von mir. »So ist's gut, mein Kind. Und was dich angeht ...« Er kam auf mich zu und setzte mir die Knarre an die Stirn. »Solltest du auch nur einen Mucks machen, bist du und die Alte sofort tot.« Da sah ich, wie Tante Klara sich leise ächzend aus dem Sessel stemmt und versuchte, zu Kohler herüberzuschleichen. Aber Kohler, dieser Luchs, musste ein Gehör haben, vor dem sich sogar Katzen verneigen müssten.

Er drehte sich um ... Ängstlich schrie Tante Klara auf, als sie sah, dass Kohler sie bemerkt hatte.

»Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst dich auf den Sessel setzen und dich keinen Millimeter fortbewegen? So, jetzt bist du dran.«

Nein, bitte nicht! »Nein, bitte nicht!!« Instinktiv wollte ich meine Tante beschützen und warf mich ohne Nachzudenken hinterrücks auf Herrn Kohler. Aber da war es schon zu spät. Der Schuss zerfetzte die trügerische Stille der Nacht. Wie in Zeitlupe sah ich, wie sich die Kugel aus der Pistole löste und sich ihren Weg durch die zum Schneiden dicke Luft schlug ... Sie raste unaufhaltsam auf Tante Klara zu. Ich sah nur noch, wie sie das nächtliche Gewand meiner Tante durchschlug und Blut in Strömen herausspritzte. Dann knallte ich auf die Dielen des Fußbodens.

Tante Klaras Schrei ging mir durch Mark und Bein. Sie schrie wie ein Tier, das gerade abgeschlachtet wird. Das durfte nicht wahr sein! Meine einzige Tante, sie durfte nicht sterben, nein, das ließ ich nicht zu. Ich rappelte mich auf, ungeachtet dessen, was Kohler anstellte, aber er lag sowieso nur regungslos auf dem Boden.

»Tante Klara, was ist los? Wo hat er dich getroffen? So sag doch etwas!! Ich will nicht, dass du stirbst! Bitte, rede mit mir!« Mir liefen schon die Tränen herunter, als ich in Tante Klaras schmerzverzerrtes Gesicht sah. Sie begann zu sprechen.

»Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht, mein Sohn. Es tut zwar höllisch weh, aber ich besitze viel Fettgewebe. Ich spüre die Kugel, sie sitzt nicht allzu tief. Ich weiß, dass es nichts Ernstes ist. Mach dir um mich keine Sorgen, aber wenn du jetzt zum Telefon gehst und die Polizei anrufst, dann sei doch so gut und verständige auch gleich einen Krankenwagen.« Sie versuchte, mich anzulächeln. So ganz gelang ihr das dann aber doch nicht. Es stand wohl doch schlimmer, als sie zu suggerieren versuchte. Allerdings verstand ich nicht recht, wie sie das mit dem Telefongespräch gemeint hatte. Wie sollte ich telefonieren wenn wir in der Gewalt eines Irren waren? Aber als ich mich zu Kohler umdrehte, wusste ich, was sie gemeint hatte.

Wie ein kleines Baby lag er am Boden und heulte sich die Seele aus dem Leib. Ich musste mir ein spontanes Lächeln verkneifen, denn das wäre in unserer Situation wohl mehr als unangebracht gewesen. Der war außer Gefecht gesetzt.

Plötzlich stürzte Ben auf mich zu.

»Ein Glück, dir ist nichts passiert, mein Schatz.« Sichtlich erleichtert war er sich mir in den Arm. Ich drückte ihn fest, musste ihn aber leider wieder loslassen, um die Polizei zu verständigen. »Und was bin ich froh, dass du unverletzt bist, Ben. Sorry, aber ich muss die Polizei anrufen. Kannst du dich um Tante Klara kümmern?« »Na klar, mach ich.« Er lächelte mich hoffnungsvoll an.

Doch woher jetzt ein Telefon nehmen und nicht stehlen? Ich rannte durch die ganze Wohnung auf der Suche nach einem Telefonapparat, aber ich fand keinen. Ich kam wieder ins Wohnzimmer.

»Verdammt, hier gibt es kein Telefon!!! Was machen wir denn jetzt?«

Leise sagte Klara: »Spring den Balkon runter, Junge. In der Werkzeugkiste liegt mein Handy. Los, beeil dich.« Ich lief nach draußen und sprang behände über das Geländer. Ich schüttete die gesamte Werkzeugkiste auf den Rasen, um die Suche nach dem Handy nicht unnötig zu verlängern. Als ich es endlich gefunden hatte, tippte ich ungeduldig die Notrufnummer. Ich erklärte dem freundlichen Mann am anderen Ende der Strippe unsere Situation und er versprach, sofort einen Einsatzwagen zu schicken. Auch der Krankenwagen sollte alsbald zu Stelle sein.

Am liebsten wäre ich wieder zurück in die Wohnung gegangen, aber ich musste vor dem Haus auf die Rettungswägen warten und diese einweisen.

Sie ließen auch nicht allzu lange auf sich warten, bereits nach vier Minuten sah ich ein Blaulicht durch die stockdunklen Straßen geistern. Es war ein Streifenwagen. Er rauschte in die Einfahrt des Hochhauses und zwei Polizisten stiegen aus. Ich ging auf sie zu.

»Gute Nacht muss man ja sagen, sind Sie derjenige, der uns alarmiert hat?« Ich bejahte. »Was genau ist denn passiert? Der Einsatzleiter hat von einer Entführung gesprochen, die aber glimpflich ausgegangen sein soll.«

Ich erzählte den beiden freundlichen Polizisten die ganze Geschichte, jedoch ließ ich gewisse Stellen aus bzw. schraubte ein wenig den Wahrheitsgehalt in die (für uns) angenehmere Richtung ... Später, wenn Tante Klara wieder auf dem Damm sein würde, würde sie alles erklären.

Wir gingen nun ins Hochhaus herein und befanden uns vor der Wohnungstür von Herrn Kohlers Wohnung. Einer der Beamten drückte gegen die Türe.

»Nanu, warum ist die denn zu? Durch welchen Ausgang haben Sie denn die Wohnung verlassen? Haben Sie denn wenigsten einen Schlüssel?«

Ich wurde rot. Das hatte ich nicht bedacht. »Äähm, tut mir leid, ich habe keinen Schlüssel, die Türe muss wohl hinter mir zugefallen sein. Aber warten Sie, ich werde mal klingeln. Mein - äh - Freund ist auch noch drin und kann uns aufmachen.« Während ich auf den Klingelknopf drückte hörte ich draußen die Sirene des Krankenwagens. Da Ben soeben die Türe geöffnet hatte (er trug komische Sachen; wahrscheinlich hatte er sie sich von Kohler ‚geborgt'), entschuldigte ich mich bei den Bullen und rannte nach draußen, um die Sanitäter einzuweisen.

Kaum war ich draußen, da liefen auch schon drei auf mich zu. Der eine, der wohl das Kommando hatte, sprach mich an.

»Du hast bei uns angerufen, oder? Bitte erzähle präzise aber kurz, was geschehen ist. Wir brauchen prägnante Informationen, um schnellstmöglich den Verletzten zu versorgen.«

»Na dann kommen Sie mal mit.« Wir liefen in den Treppenflur. »Ein Verrückter hat meine Tante angeschossen. Er traf sie in der Bauchgegend. Sie meinte allerdings, dass ihre nun ja, Fettschicht die Kugel abgefangen haben soll und das Ganze nicht allzu schlimm sei.«

»Na die Diagnose sollte sie dann schon uns überlassen.« Wir erreichten das Wohnzimmer. Die Sanitäter kümmerten sich sofort um Tante Klara.

Ben stand bei den Polizisten und musste ihnen erklären, was sich genau abgespielt hatte. Herr Kohler saß mittlerweile auf einem harten Holzstuhl, die Hände in Handschellen, und schluchzte vor sich hin. Sieh an, der vorhin noch so harte Herr Kohler heulte wie ein kleines Kind. Er hätte sich wohl selbst nicht zugetraut, die Waffe abzudrücken. Und dann war es passiert ... Und er hatte die Kontrolle über sich verloren. So was soll ja tatsächlich vorkommen.

Die Sanitäter mussten ihre Arbeit vollendet haben, denn sie hoben Tante Klara auf eine Trage (was nicht sehr einfach aussah) und setzten an, sie aus dem Zimmer zu tragen.

»Was machen Sie jetzt mit meiner Tante?« Ich sah die Männer fragend an.

»Sie muss ins Krankenhaus, junger Mann. Wir können ihr doch hier nicht die Kugel herausoperieren. Sie steckt allerdings sehr wahrscheinlich doch noch etwas tiefer, als deine Tante vermutet hatte.«

»Ich komme mit. Du auch, Ben?« Er nickte mir schweigend zu. Da meldete sich Klara zu Wort.

»Chris, Ben, ich will euch jetzt mal was sagen. So eine alte Schachtel wie ich ist es nicht wert, ins Krankenhaus begleitet zu werden. Was wollt ihr denn dort machen? Ich werde ohnehin operiert, da könnt ihr nicht bei mir sein. Mir ist es recht, wenn ihr morgen früh kommt und eurer alten Tante einen Besuch abstattet. Und für so manche Dinge ist es im Krankenhaus einfach viel zu ungemütlich, nicht wahr?« Sie grinste uns breit an. Diese Klara ... Ich wäre meiner Tante liebend gerne gefolgt, aber wenn sie ausdrücklich etwas dagegen hatte.

»Also gut, Tante Klara. Wenn du es so willst. Aber wir kommen gleich morgen früh vorbei!«

»Bis dann!«, flüsterte sie. »Und treibt es nicht zu heftig ...« Damit war sie aus dem Zimmer verschwunden. Und für mich und Ben war es Zeit, hochrote Köpfe zu kriegen. Die Gesetzeshüter sahen uns irritiert an. Nach einiger Zeit der Sprachlosigkeit fuhren sie mit ihren Routineaufgaben fort.

»Wenn Ihre Tante wieder auf dem Damm ist, muss sie aufs Revier kommen und eine Aussage machen. Von Ihnen bräuchten wir auch noch eine. Diesen jungen Mann haben wir bereits interviewt, es fehlt uns aber trotzdem noch ein schriftliches Protokoll.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Es ist jetzt halb drei morgens. Ich könnte es verstehen, wenn Sie beide jetzt nach Hause wollen. Aber eigentlich wäre es uns lieber, Sie würde noch schnell mit aufs Revier kommen und die Formalitäten erledigen. Dann müssten Sie morgen bzw. in den nächsten Tagen nicht vorbeikommen. Ist Ihnen das Recht?«

Ben und ich sahen uns an. »Also mir ist das Recht. Ich bin putzmunter.«, sagte Ben. Ich hatte auch nichts dagegen einzuwenden, die Nacht war ja sowieso fast vorbei.

»Das ist ja wunderbar. Dann kommen Sie mal mit.«

Der zweite der Polizisten, der bis zu diesem Zeitpunkt nicht viel getan hatte, führte Herrn Kohler ab. Als wir am Streifenwagen angelangt waren, musste Kohler sich nach hinten setzen, der Polizist setzte sich neben ihm. Ich bot Ben den Beifahrersitz an und setzte mich selbst nach hinten. Inzwischen war auch der andere Beamte da. Entschuldigend sagte er, während er denn Motor startete:

»Entschuldigen Sie, aber ich musste noch die Wohnung versiegeln.«

Dann ging es los aufs Revier. Ich musste meine Aussagen machen, Bens wurden nochmals überprüft und nach etwa einer Stunde waren wir endlich fertig. Herr Kohler wurde vorerst in Untersuchungshaft genommen, bis sich ein Staatsanwalt mit ihm beschäftigte. Man bot uns an, uns nach Hause zu bringen, was wir auch dankend annahmen.

Um vier Uhr standen wir dann schließlich todmüde (ich jedenfalls, Ben sah hellwach aus ...) vor unserer Haustüre. Nachdem ich die Türe aufgeschlossen hatte und wir in die Diele gegangen waren fiel mir Ben um den Hals. Er küsste mich direkt auf den Mund ... Ich erwiderte seinen Kuss, und so lagen wir schließlich eng umschlungen auf dem Fußboden.

»Ach Ben, ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich dich liebe und wie ich dich vermisst habe. Möchtest du über das reden, was sie dir angetan haben?« Ich streichelte ihm behutsam über die Wange.

»Ich vertraue dir, Chris.« Ihm lief eine Träne die Wange herunter. »Aber ich kann noch nicht darüber reden. Ich muss erst über alles noch mal nachdenken. Ich ... ich hoffe, du kannst das verstehen?«

Ich wischte ihm die Träne aus dem Gesicht. »Natürlich verstehe ich das. Sag mir einfach Bescheid, wenn du soweit bist und darüber reden möchtest.«

»Klar, mache ich. Aber jetzt, Lover« Er drückte mir einen Kuss auf den Mund. »Sollten wir vielleicht ins Bett gehen. Du fällst mir ja gleich tot um, wenn wir dich nicht sofort hinlegen.« Er grinste.

Wie konnte ich mich so einer charmanten Einladung widersetzen? Ich ließ mich von meinem Süßen vom Boden hochziehen und wir gingen gemeinsam in unser Zimmer. Ich riss mir gerade noch die Kleider vom Leib, da lag ich auch schon im Bett. Ich kuschelte mich eng an Ben und flüsterte ihm ins Ohr: »Jetzt bist du gerade mal drei Tage hier und hast schon das Erlebnispensum eines ganzen Jahres hinter dir.«

Daraufhin war ich eingeschlafen ...

»Chris, so wach doch auf!! Verdammt, was mache ich denn jetzt? Chris!«

In einer entfernten Welt hörte ich jemanden meinen Namen rufen ... Aber ich wollte doch noch gar nicht aufstehen! Was sollte das? Jetzt rüttelte mir dieser jemand an der Schulter. Ich blinzelte, öffnete die Augen und sah meiner besorgten Mutter ins Gesicht.

»Chris, endlich! Sag mir bitte, was ist gestern passiert? Wieso ist Ben wieder da? Und wo ist Tante Klara?

Schlaftrunken richtete ich mich auf. Ben lag noch friedlich schlummernd neben mir in meinem Bett. Meine Mutter stand daneben.

Plötzlich prasselten die gestrigen (bzw. heutigen) Ereignisse über mich herein. Tante Klara und ich waren in Kohlers Wohnung eingebrochen und hatten Ben ‚befreit', woraufhin Kohler meine arme Tante angeschossen hatte.

Mit einem Satz war ich aus dem Bett und zog mich so schnell ich konnte an.

»Tante Klara ist im Krankenhaus, sie wurde angeschossen. Schnell, beeil dich, wir müssen sofort hinfahren.«

Meine Mutter wurde kreidebleich. »WAS? Angeschossen? Und das sagst du so nebenbei? Willst du mich verarschen? WO wart ihr gestern? Was ist passiert? Erzähl schon!«

Mittlerweile war ich komplett ausstaffiert und rüttelte eben noch Ben wach. »Ich erzähle es dir während der Fahrt, Mutti, wir dürfen jetzt keine Zeit mehr verlieren.«

Anscheinend hatte meine Mutter begriffen, dass ich es ernst meinte, denn sie lief aus dem Zimmer und ich hörte, wie sie schlüsselklappernd aus dem Haus eilte. Meine Bemühungen bei Ben zeigten Wirkung, denn er war aufgewacht und machte sich bereits fertig zur Abfahrt. Ich hatte noch nicht einmal etwas sagen müssen, anscheinend verstanden wir uns ohne Worte. Aber das war ja auch nicht weiter verwunderlich unter zwei Menschen, die sich liebten und wie für einander geschaffen waren. Ich sah Ben an, wie er sich die letzten Kleiderstücke überwarf und musste lächeln. Was war ich doch für ein Glückspilz!

Er hatte es bemerkt. »Was ist denn, mein Schnucki?«

»Och nichts, ich habe nur gerade festgestellt, dass ich der größte Glückspilz auf Erden sein muss, weil ich dich als Freund habe.« Er grinste über beide Ohren. »Das geht aber gar nicht, ich habe noch viel mehr Glück als du, denn ich habe dich!«

Ich riss ihn an mich und küsste ihn leidenschaftlich ... Ben erwiderte meine Liebkosungen indem er seine Hand unter meinen Pulli steckte und mich sanft auf der Brust streichelte. Ich genoss es ... Und nach nicht langer Zeit zeigten seine Streicheleinheiten Wirkung: Irgendein bestimmtes Körperteil verhärtete sich ...

Ich wollte Ben gerade das T-Shirt über Kopf ziehen, da riss uns die Hausklingel aus unserer Ekstase. Abrupt ließen wir voneinander ab.

»Scheiße! Tante Klara liegt im Krankenhaus und wir vertrödeln hier die Zeit!« Ich war wütend auf mich selbst, dass ich nicht mehr Verantwortung gezeigt hatte. Aber nun war keine Zeit mehr für großes Kopfzerbrechen. Wir beeilten uns, zum Auto zu kommen. Als wir einstiegen, begrüßte uns eine nicht gerade freundlich gesonnene Mutter.

»Sagt mal, wo bleibt ihr denn so lange? Wer hat denn davon gepredigt, man dürfe keine Zeit verlieren und müsse so schnell als möglich ins Krankenhaus fahren?«

Ben schaltete sich ein. »Es tut uns leid, Frau Hudelmayer. Aber wir - wir mussten noch etwas erledigen.«

»So so, etwas erledigen ...« Puh, Glück gehabt, meine Mutter lächelte wieder. »Na gut, aber jetzt müssen wir wirklich los. Und Ben, wenn du noch einmal Frau Hudelmayer zu mir sagst, schicke ich dich zurück nach Amerika! Du gehörst ja schließlich mit zur Familie, und ich nenne dich ja auch beim Vornamen - also warum solltest du das nicht tun?«

Dankbar lächelte Ben meine Mutter an.

Dieser Unterredung folgte schließlich nur noch Stille. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Ich musste an meine Tante denken - hatten die Ärzte die Kugel entfernen können? Wie ging es ihr? War sie wohlauf? Meine Überlegungen wurden jäh unterbrochen als wir auf dem Parkplatz des Krankenhauses anhielten.

Wir verließen das Auto und rannten auf dessen Eingang zu. Atemlos kamen wir am Empfang. Dort hatte wieder die nette Schwester von gestern Dienst. Ich sprach sie sofort an.

»Guten Morgen Schwester Margot. Es handelt sich um einen Notfall. Meine ...«

»Ahh, guten Morgen, Sie sind es.« Sie lächelte uns freundlich an. »Na, haben Sie Ihren Gastschüler wieder gefunden?«

Ich zerrte Ben neben mich. »Ja, haben wir. Hier, das ist er. Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Durch einen unglücklichen Zufall ist meine Tante gestern Nacht angeschossen und ins Krankenhaus eingeliefert worden. Könnten Sie bitte nachsehen, wo sie liegt? Wir müssen sofort zu ihr.«

Schwester Margot, die bis dato nur kaffeeschlürfend an der Empfangstheke gelehnt hatte, sah mich mit großen Augen und ließ sich auf den Bürostuhl fallen. »Aber selbstverständlich. Wie ist denn der Name?« Eifrig tippte sie bereits einige Zeichen in den Computer. »Sie heißt Klara Liebersteiner.«

»Moment, Klara Liebersteiner, Liebersteiner ...« Sie brauchte einige Zeit, bis sie wieder zu uns aufsah.

Aber wie sie uns ansah - ich bekam einen Schock. Aus ihrem Gesicht war jegliche Farbe gewichen und sie sah uns mit traurigen Augen an.

»Es ... es tut mir leid, Ihnen schon wieder eine traurige Nachricht übermitteln zu müssen. Aber ... ihre Tante ist heute Morgen leider verstorben.«

Ben hielt Chris einfach nur fest. Er glaubte ihm allein durch die Tatsache, dass er bei ihm war, helfen zu können. Und so war es auch. Chris fühlte sich bei Ben unheimlich geborgen. Er gab ihm Kraft, wenn er mal wieder von Erinnerungen an Tante Klara übermannt wurde. Seitdem sie die schreckliche Nachricht im Krankenhaus empfangen hatten, waren zwei Tage vergangen. In diesen zwei Tagen lief nichts bei der Familie Hudelmayer. Jeder saß in seinem Zimmer und trauerte auf seine Art und Weise der verstorbenen Lieblingstante nach. Chris' Mutter überhäufte sich selbst mit Arbeit und stellte ihr Zimmer auf den Kopf.

Sandra lag reglos auf ihrem Bett und starrte die Decke an. Dabei ließ sie extrem traurige Balladen in ihrem CD-Player dudeln.

Und Chris wie gesagt, saß einfach nur in seinem Zimmer auf dem Boden und ließ sich von Ben trösten.

Nachdem der Familie die schreckliche Nachricht überbracht worden war, fragte man sie, ob sie die Verstorbene noch einmal sehen wollten. Die drei entschieden sich aber dagegen. Sie wollten Tante Klara in guter Erinnerung behalten - so wie sie in ihren besten Tagen war - immer ein Lächeln auf den Lippen, immer freundlich, immer gut gelaunt. Sie konnten es nicht realisieren, dass Klara nun tot war. Selbst den Ärzten gab dieser unterwartete Tod große Rätsel auf. Der Einschuss war wirklich nicht schlimm gewesen, man hatte die Kugel ohne Probleme und große Komplikationen entfernen können. Schließlich schob man die Todesursache auf Klaras schwaches Herz, das den Stress nicht hatte aushalten können. Eine Obduktion kam jedoch überhaupt nicht in Frage.

Sandra hatte hingegen den großen Wunsch, ihrer Großtante die letzte Ehre zu erweisen, was dann allerdings nicht mehr möglich war. Als Chris ihr die Schreckensbotschaft überbrachte, war der Leichenwagen bereits auf dem Weg zum Krematorium.

Man entschied sich für eine Feuerbestattung. Diese sollte schon morgen stattfinden. Die meisten Verwandten wollten Tante Klara Lebewohl sagen und waren für den nächsten Tag angekündigt.

Ben fragte sich, ob Chris das ganze überstehen würde. Ob er nicht am Grab zusammenbrechen würde. Immerhin hatte er eine ganz besondere Beziehung zu seiner Tante gehabt. Die beiden waren unzertrennlich gewesen.

Aber was auch immer passieren würde, Ben wusste, er würde Chris mit all seiner Kraft und Aufopferungsgabe in diesen schrecklichen Momenten unterstützen.

Chris war aus seinem Trancezustand erwacht. Er wandte seinen Kopf zu Ben hin und sah ihm lange in die Augen. Dann sagte er:

»Oh Ben, wie froh bin ich, dass du bei mir bist. Ohne dich würde ich das nicht aushalten, ich würde mir wahrscheinlich das Leben nehmen.« Sie schwiegen beide für eine ganze Weile. Dann begann Chris wieder zu reden:

»Weißt du, als du noch verschwunden und in der Gewalt von Herrn Kohler warst, da war ich genauso down wie jetzt. Und da hat sich Tante Klara zu mir gesetzt und sich rührend um mich gekümmert. Genauso wie du das jetzt machst. Ihr beide gebt mir Kraft. Ihr seid zwei ganz besondere Menschen.«

Ben lief ein Schauer über den Rücken. Wie Chris das gerade eben gesagt hatte. Er, Ben, sollte ein ganz besonderer Mensch sein. Das erfüllte Ben mit großem Stolz. Aber gleichzeitig fühlte er, dass er sich noch mehr für seinen Boyfriend anstrengen musste, um diesem zu helfen.

Ganz vorsichtig streichelte er ihm übers Haar und hauchte ihm sanfte Küsse auf die Wange.

Chris fühlte sich an Tante Klara erinnert. Aber es waren positive Erinnerungen. Er erlebte nochmals die schönen Stunden, die sie ihm bereitet hatte. Und den Wahnsinnseinsatz, den sie immer für ihn gezeigt hatte. Zuletzt die Befreiungsaktion für Ben, die wohl ihre letzte große Tat vor ihrem Heimgang war. Und natürlich, wie sie seinen Vater so vortrefflich die Meinung gesagt hatte.

Chris fühlte, mit Bens Hilfe würde er leichter über den Tod seiner geliebten Großtante hinwegkommen.

Der Tag war gekommen. Der Tag der Beerdigung von Tante Klara. Der Trauergottesdienst war bereits vorüber, nun war man auf dem Weg zum Grab. Ben hatte den Eindruck, die Worte des Pfarrers hatten die Familie Hudelmayer wieder ein wenig aufgebaut.

Chris hatte fast drei Tage lang nichts gegessen. Er war sehr schwach und Ben musste ihn stützen, damit er auf dem Weg zum Grabe hin nicht umklappte.

Ben drückte seinem Schatz einen Kuss auf die Wange. Daraufhin murmelte die Trauergemeinde aufgeregt und einige starrten teils erfreut, teils ärgerlich herüber. Aber das kümmerte den jungen Amerikaner nicht. Alles, was er wollte, war Chris so gut als möglich zu unterstützen.

Womit habe ich bloß so ein Goldstück wie Ben verdient? Wie er sich um mich kümmerte, es war einfach phantastisch. Er machte mir diese Schritte um unendliches leichter. Wie gerne hätte ich ihm meine Liebe gezeigt, aber das ging jetzt nicht.

Wir waren am Grab angelangt und der Pfarrer segnete den Sarg. Langsam ließen ihn die Sargträger hinab in die weiche, kühle Erde ...

Der Pfarrer setzte zur Grabesrede an. Es erschauerte mich, meine Beine wurden weich. Fast wäre ich zusammengesackt, hätte Ben mich nicht aufgefangen. Ich hörte nur noch ein undefinierbares Rauschen in meinen Ohren. Mein Blick verschwamm zu einem Mischmasch und ich konnte nichts mehr sehen. Ich fühlte nur noch Bens starken Griff, der mich hielt und niemals loslassen würde.

Auf einmal wurde mir die Hand geschüttelt. » ... herzliches ...leid, Christian.« »Sie wird ewig weiter ...« »Sie war ... starke Frau, ... niemals vergessen.«

Eine schrille Frauenstimme ließ mich aufschrecken. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und wandte mich um. Die gesamte Trauergemeinde stand mit dem Rücken zum Sarg und starrte in ein und dieselbe Richtung. Unter dem Schatten eines großen Baumes stand eine sehr korpulente Frau und fuchtelte wild gestikulierend mit ihren Armen in der Gegend herum.

»Was ist denn das für eine Trauergemeinde hier? Was soll ich denn bitteschön davon halten, wenn ich lebendig begraben werde?«

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