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Am anderen Ende der Welt
Teil 1
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Informationen
- Story: Am anderen Ende der Welt
- Autor: Christian S.
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Abenteuer, Lovestory
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Noch ein großes Dankeschön an Bingo, 7Drops und Giovi fürs Testlesen sowie die konstruktive Kritik!
1
»Ich wünsche ihnen einen guten Flug.« Die Dame mit dem niederländischen Akzent am Check-In Schalter lächelte mich an und schob mir meine Boarding-Card über die Theke.
»Hast du auch wirklich alles?«
»Ja Mama!« Und selbst wenn mir jetzt noch was gefehlt hätte, es wäre eh zu spät gewesen. Es waren noch 20 Minuten bis zum Boarding. Wir waren reichlich spät dran.
»Und creme dich auch immer gut ein. Die Sonne ist dort unten gefährlich!«
»Ja Mama!«, gab ich leicht genervt zurück. Schließlich war ich doch mit 16 kein kleines Kind mehr.
»Nun lass den Jungen doch endlich in Ruhe. Ich glaube, er kann bereits ganz gut auf sich alleine aufpassen«, kam mir mein Vater zu Hilfe. Auf ihn konnte man sich eben immer verlassen. Danke Papa!
Wir schlenderten schweigend durch den Flughafen Schiphol in Richtung Zoll. Mir war ein wenig mulmig zumute bei dem Gedanken, meine Eltern die nächsten 12 Monate nicht mehr zu sehen.
Am Zoll angekommen legte ich mein Handgepäck auf das Fliessband zum Röntgengerät und schaute meine Eltern an. Meine Mutter hatte etwas feuchte Augen.
»Alles Gute mein Sohn und viel Spaß. Pass auf dich auf.« Mein Vater nahm mich in die Arme und drückte mich fest.
»Machs gut, komm heil wieder«, sprach meine Mutter und tat es meinem Dad gleich. »Und bring uns doch einen hübschen Schwiegersohn mit«, fügte sie grinsend hinzu.
Ich musste schmunzeln. »Och Mama, du weißt doch, dass mein Geschmack, was Männer angeht, nicht unbedingt mit deinem konform geht.« Meine Mum steht unheimlich auf lange Haare bei Männern. Nicht so mein Fall.
»Schade. Machs gut«, lächelte mich meine Mutter an.
»Ihr auch. Ich hab euch lieb!«. gab ich zurück und drehte mich um. In Gedanken versunken passierte ich die Zollkontrolle.
Ich schaute auf meine Uhr. Noch 10 Minuten bis zum Boarding. Ein wenig orientierungslos suchte ich nach meinem Gate. Warum müssen Flughäfen immer nur so unübersichtlich sein?
Dank meiner Orientierungslosigkeit war das Boarding schon in vollem Gange, als ich endlich mein Gate erreichte. Genauer gesagt war ich so ziemlich der Letzte, der eintraf. Naja, immerhin war ich noch zeitig genug und kämpfte mich schließlich durch den engen Gang des Flugzeuges zu meinem Platz.
Dort angekommen schob ich, ein wenig in Gedanken, meinen Rucksack in das Gepäckfach über mir und ließ mich auf meinen Sitz fallen. Wie günstig, ein Platz am Gang, kann ich wenigstens mal die Beine ausstrecken, dachte ich grade so, als mein Blick rechts von mir auf meinem Sitznachbarn hängen blieb.
»Hi Chris, schön dich sehen«, lächelte Benjamin mich an.
Ich kniff die Augen zu. Das konnte nur ein böser Traum sein.
Ich öffnete die Augen, doch Benjamin saß immer noch da. »Wenn es einen Gott gibt, dann frage ich ihn: warum?«, ging es mir durch den Kopf. »Warum ER und dann auch noch ausgerechnet hier?«
»Erde an Chris! Ich sagte: Hallo, schön dich zu sehen!«, Benjamin lächelte immer noch.
»H...hallo.«, stotterte ich. Hey, das war ja mal wieder gelungen. Also, zum Affen machen konnte ich mich immer noch perfekt.
»Na, du freust dich anscheinend nicht besonders, mich hier zu sehen?«, fragte Benjamin. Nein, das konnte ich in der Tat nicht behaupten. War Benjamin doch schließlich der maßgebliche Grund dafür, dass ich eine zeit lang panische Angst davor hatte, morgens zur Schule zu gehen. Merkwürdigerweise klang seine Frage aber eher enttäuscht als sarkastisch, wie ich es erwartet hätte.
»Kann ich nicht behaupten, stimmt«, ranzte ich, ein wenig härter als beabsichtigt, zurück. Ich hatte mich darauf gefreut, die ganzen Idioten die nächsten 12 Monate nicht ertragen zu müssen. Und nun das. Aber egal, so ein Flug dauert ja nicht ewig. 12 Stunden würde ich ihn wohl mit Hilfe eines Buches ignorieren können.
»Schade, wo wir doch die nächsten 12 Monate zusammen...«
»Was?«, fiel ich ihm ins Wort. »Du meinst doch nicht etwa, dass ...«
»... ich auch an dem Austauschprojekt teilnehme? Doch, genau das meine ich«, vervollständigte er den Satz.
Ich sank im Sitz zusammen und spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Alles, nur das nicht. Der Gedanke, dass er dasselbe vorhatte wie ich, war mir noch gar nicht gekommen. Dabei war er naheliegend. Was sollte er sonst am Schuljahresanfang in einem Flieger nach Kuala Lumpur wollen?
Ich drehte den Kopf zur Seite und kämpfte gegen die Tränen an. Dass er mich so sah, war das Letzte, was ich jetzt brauchte. Ich musste kurz schniefen und spürte kurz darauf eine Hand auf meiner rechten Schulter.
»Chris, was ist los?«, fragte Benjamin mit weicher Stimme.
Ich drehte mich ruckartig zu ihm herum und fegte seine Hand von meiner Schulter.
»Das weißt du ganz genau. Lass mich gefälligst in Ruhe!«, fauchte ich ihn heftig an. Eine ältere Dame auf der anderen Seite des Ganges schaute interessiert zu uns herüber.
»Ok, ok.«, gab Benjamin ein wenig kleinlaut zurück, wobei sich seine Miene verfinsterte. Daraufhin wandte er sich ab und starrte aus dem Fenster.
Erfrischungstücher wurden verteilt, die Flugbegleiterinnen gaben irgendwelche Sicherheitsanweisungen und schließlich stand der Start an. Unspektakulär. Ich steckte mir die Kopfhörer meines Walkmans in die Ohren, lauschte den Klängen von Rosenfels und dachte nach.
Ich fühlte mich mal wieder richtig mies.
Ich war in der Schule schon immer ein Einzelgänger gewesen, das war aber nie
ein besonderes Problem für mich. Bis vier Jahre zuvor die Klassen neu
zusammengewürfelt wurden und ich auf Benjamin traf. Da fing der Psychoterror
an. So weit, dass ich mich hinterher gar nicht mehr traute, in die Schule zu
gehen. Und Benjamin war der Anführer gewesen, ich hatte richtig Angst vor
ihm.
Ich hatte dann irgendwann angefangen, im Schwimmverein zu schwimmen und dort
ein paar gute Freunde gefunden. In dieser Zeit wurde mir allmählich klar,
dass ich schwul bin, was anfangs dazu geführt hatte, dass mein ohnehin schon
geschwächtes Selbstvertrauen Urlaub auf unbestimmte Zeit angemeldet hatte.
Durch einen dummen Zufall (oder eigene Dummheit, ich hatte mich in einen
Schwimmkameraden, oder wie man ihn auch immer nennen mag, verknallt und
hatte ihn wohl etwas zu eindeutig angestarrt) kam es dann schließlich in
meinem neuen Freundeskreis heraus. Doch zu meiner Überraschung war die
Reaktion durchweg positiv, meine neuen Freunde unterstützten und motivierten
mich sogar soweit, mich bei meinen Eltern zu outen.
Es stellte sich allerdings heraus, dass meine Panik davor, meinen Eltern zu
sagen, dass ich schwul bin, völlig unberechtigt war. »Wo liegt jetzt
genau dein Problem?«, hatten sie gefragt. Es hat sich nichts geändert,
wir haben nach wie vor ein prima Verhältnis zueinander. Mein Selbstvertrauen
entschied sich, seinen Urlaub vorzeitig abzubrechen und kam zumindest
teilweise zu mir zurück. Nur in der Schule wusste keiner von meinem kleinem
Geheimnis.
Vor einem halben Jahr bekam ich dann das erste Mal einen Prospekt über
dieses Austauschprojekt in die Finger. Ich war sofort Feuer und Flamme und
auch meine Eltern hielten das Ganze für eine gute Idee, so dass sie ohne zu
zögern bereit waren, die Geschichte für mich zu finanzieren.
Ich war dementsprechend happy. Allein der Gedanke ein ganzes Jahr lang die
Vollpfosten aus meiner Klasse nicht sehen zu müssen, machte mich glücklich.
Meine Freunde vom Schwimmverein hatten eine prima Abschiedsparty organisiert
und alles schien plötzlich so perfekt.
Bis ich in den Flieger stieg und Benjamin traf. Mit einem Mal fühlte ich
mich um vier Jahre zurückversetzt.
Ich ärgerte mich über mich selbst. Wieso hatte ich schon wieder Tränen in
den Augen?
Wollte ich mir jetzt die Chance meines Lebens von so einem Hampelmann
versauen lassen?
Nein!
Aber was tun? Die nächsten 12 Monate würden wir ziemlich eng aufeinander
hocken, ob es mir nun passte oder nicht. Ihn chronisch zu ignorieren war
also keine Lösung.
Was dann?
Irgendwann schlief ich über meinen Gedanken ein.
2
Mir tat ein wenig der Nacken weh, als das Essen serviert und ich wach wurde.
Benjamin saß noch immer neben mir, es war also kein Traum. Ich beschloss,
ihn vorerst zu weiter zu ignorieren und so saßen wir schweigend
nebeneinander und kauten unser Curryhuhn.
Auch er machte keinerlei Anstalten mehr, mit mir zu reden, was mir ganz
recht war. So vertiefte ich mich schließlich ich mein Buch und wartete
darauf, dass der Flug endlich zu Ende ging. Linienflüge sind
stinklangweilig.
Nach einer halben Ewigkeit und einem mäßigen Frühstück sind wir dann schließlich doch noch in Kuala Lumpur angekommen und ich stiefelte grade durch das riesige Satellite Terminal, auf der Suche nach ein wenig Zerstreuung für diefolgenden 6 Stunden Wartezeit auf den Anschlussflug, als mich plötzlich jemand von hinten festhielt. Ein wenig erschrocken drehte ich mich um. Benjamin.
»Hey Chris, warte doch mal.«
»Was willst du von mir?« Ich blickte ihn verständnislos an und merkte, wie ich leicht aggressiv wurde.
»Komm, ich lade dich auf ein Bier oder was auch immer ein«, sagte er freundlich.
»Danke, kein Bedarf!«, gab ich patzig zurück und wollte mich wieder umdrehen. Doch er hielt mich fest.
»Bitte!« Er flehte fast. Und dabei hatte er einen Hundeblick aufgesetzt, der mich beinahe wegschmelzen ließ. Benjamin sah ja auch schließlich nicht schlecht aus, 1,80 groß, schlank und trainiert, tiefblaue Augen, ein süßes Gesicht und dazu die nach oben gegelten, strubbeligen, dunkelblonden Haare. Nein, schlecht sah er meiner Meinung nach absolut nicht aus. Aber Arschloch bleibt eben Arschloch.
»Ich weiß zwar nicht, was das bringen soll, aber nun gut«, ging ich, immer noch ein wenig widerwillig, auf sein Angebot ein.
So fanden wir uns wenige Minuten später in einer recht gemütlichen Bar im oberen Level des Satellite Terminals wieder und hatten jeder ein Bier vor der Nase stehen. Dieses zu bestellen, war, nebenbei bemerkt, für uns 16jährige hier kein Problem gewesen. Versuch macht klug.
Benjamin holte eine Schachtel Zigaretten aus seiner Tasche, zündete sich eine an und legte die Schachtel auf den Tisch.
»Du erlaubst doch sicher ...«, fragte ich, während ich nach der Schachtel griff.
»Sicher, aber ich wusste gar nicht, dass du rauchst«, stellte er erstaunt fest und gab mir Feuer.
»Tu ich normalerweise auch nicht. Aber es gibt Situationen ...«, gab ich zurück.
»OK, verstehe. Ich weiß, worauf du hinaus willst.«
»Ach ja? Tatsächlich?« Den Zynismus in meiner Stimme hätte auch ein Tauber wahrgenommen.
»Hey, das ist jetzt nicht fair ...«, beschwerte er sich.
»Als wenn dich jemals interessiert hätte, was fair ist«, gab ich gereizt zurück.
Er blickte zu Boden. »Ich weiß.« Er zögerte und fügte dann leise hinzu: »Und es tut mir leid.«
Ich wusste nicht, wie ich nun reagieren sollte. Am liebsten hätte ich ihn in der Luft zerrissen. Doch ich atmete tief durch, nahm einen Schluck von meinem Bier und schwieg.
Nach einem Moment schaute er verunsichert in meine Richtung. Irgendetwas stimmte hier nicht. Den reuigen Sünder nahm ich ihm nicht ab. Was sollte das hier jetzt? War das jetzt eine neue, ganz besonders subtile Art um mich mal wieder zu verarschen und mir den Rest meines Selbstvertrauens zu nehmen?
Ich sah in seine Augen. Zu meinem Erstaunen entdeckte ich Unsicherheit in ihnen.
»OK, irgendwas ist hier faul. Also, was willst du?«, fragte ich ihn schließlich bestimmt, nachdem ich einen nervösen Zug von meiner Zigarette genommen hatte.
»Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Ich habe dir lange Zeit übel mitgespielt und möchte mich dafür entschuldigen und einen neuen Start versuchen.« Seine Stimme zitterte ein wenig bei diesen Worten.
Ich war sprachlos. Er stellte sich das alles sehr einfach vor. Ich hatte keine Ahnung, wie ich reagieren sollte. Sollte ich ihn jetzt anschreien? Sollte ich ihm vergeben?
»Also?«, fragte er erwartungsvoll dennoch verunsichert und hielt mir die Hand hin. Ich zögerte. Doch würde ich ihn jetzt abweisen, wäre ich dann besser als er?
Ich nahm einen letzten Zug von meiner Zigarette und drückte sie aus. Dann ergriff ich seine Hand, woraufhin er schüchtern lächelte und leise »Danke!« flüsterte.
Wir sahen uns eine Weile schweigend an. Ich war mir über die Motive seines plötzlichen Sinneswandels nicht so ganz im Klaren. Wieso? Hatte er einfach nur Angst, alleine in eine Gruppe fremder Menschen geworfen zu werden?
»Du traust mir kein Stück, stimmts?«, riss er mich aus meinen Gedanken. Ich nahm einen tiefen Schluck von meinem Bier und musterte ihn.
» Stimmt!«, antwortete ich, nachdem ich das Glas wieder abgesetzt hatte.
»Verstehe ich. Kannst du aber, du wirst es herausfinden.« Na, da war ich ja mal gespannt.
Einen Versuch wars wert, denn zu verlieren hatte ich ja sowieso nichts. Also begann ich, langsam doch ein wenig auf ihn einzugehen, wobei ich ein paar erstaunliche Gemeinsamkeiten bei unseren Ansichten entdeckte. Sei es über unsere Lehrer, Mitschüler oder was auch immer. Ich hatte das Gefühl, einen ganz anderen Menschen als den Benjamin, den ich kannte, vor mir zu haben. So wurden die letzten Stunden Wartezeit auf den Anschlussflug sowie auch der Flug selber recht kurzweilig. Wir hatten recht viel Spaß miteinander.
3
Nach zehn weiteren Stunden Flug erreichten wir schließlich Auckland. Während des Landeanfluges quetschten wir beide unsere Köpfe vor das briefmarkengroße Fenster im Flugzeug, um einen ersten Blick auf Neuseeland zu erhaschen. Es war faszinierend. Soviel grün und soviel Wasser ringsherum.
Die Einreise verlief unproblematisch, Lebensmittel hatten wir eh keine dabei, so dass die Spürhunde bei uns natürlich nicht fündig wurden. So standen wir etwa eine halbe Stunde nach der Landung mit unseren Reisetaschen etwas orientierungslos am Ausgang der Zollkontrolle und fragten uns, wie es jetzt weitergehen würde. Wir beschlossen, erst mal der Masse zu folgen und kamen kurz darauf in die große Ankunftshalle, wo eine ganze Reihe Leute mit Schildern, auf denen die Namen von irgendwelchen Schulen oder Nachnamen standen, in den Händen, warteten.
Ich schaute mich ein wenig um und entdeckte schließlich, etwas abseitsstehend, einen braungebrannten Typen, der ein Schild mit der Aufschrift »Capella« in den Händen hielt. »Bingo«, sagte ich und steuerte zügig auf ihn zu, wobei Benjamin mir folgte.
»Moin, ihr wollt zur Capella?«, begrüßte uns der Braungebrannte mit herbem, norddeutschen Einschlag in der Sprache, als wir schließlich vor ihm standen.
»Jup, ich bin der Benjamin.«, ergriff mein Mitstreiter die Initiative, woraufhin ich ein schüchternes »Und ich bin Chris« hinzufügte.
»Schön, ich bin Tjard. Wir warten noch eben auf vier weitere Jungs, die mit euch im Flieger gewesen sein müssten. Dann fahren wir. OK?«
Benjamin und ich nickten synchron. »Natürlich.«
So gesellten sich während der folgenden 10 Minuten noch Rene, ein langhaariger Bombenleger mit mehreren Piercings und Ziegenbärtchen im Gesicht, Martin, ein etwas kleinerer, pummeligerer Junge mit aufgeweckten Augen sowie Kevin und Dustin, offensichtlich Zwillinge im Skaterlook, zu unserer Gruppe. Nachdem wir alle Höflichkeiten ausgetauscht hatten, machten wir uns auf den Weg und saßen schon kurz darauf alle in einem Kleinbus auf dem Weg zu unserem Ziel.
Ich stieg aus dem Bus und sog die frische Seeluft tief in meine Lungen, als ich mich umsah. Dann fiel mein Blick zum ersten Mal auf unser neues Zuhause für die nächsten 12 Monate. Stolz streckte die »Capella« ihre zwei Masten dem Himmel entgegen.
»So, dann holt mal eure Klamotten aus dem Bus und dann ab an Bord.« Riss Tjard mich aus meinen Gedanken.
Hastig rissen wir unser Gepäck aus dem Kleinbus und kletterten über die schmale Gangway an Bord. Dort angekommen verteilten wir uns dann erst mal auf unsere Kabinen. Der im Fachjargon korrekte Ausdruck lautet »Kammern«, was die Größe derselben auch besser repräsentiert. Die Kammern waren knapp viereinhalb Quadratmeter groß, links und rechts befanden sich jeweils Etagenbetten. Der Gedanke, mit 4 Personen auf diesem engen Raum zusammenzuleben, schockierte mich im ersten Moment ein wenig, doch würde ich mich schnell daran gewöhnen.
Ich sollte zusammen mit Benjamin und zwei weiteren Jungs, die allerdings
noch nicht angekommen waren, meine Kammer teilen. Aufgrund der beschränkten
räumlichen Möglichkeiten ließ ich Benjamin den Vortritt, sich häuslich
einzurichten, und wartete an Deck, bis er fertig war. Nach einer guten
halben Stunde war er dann endlich soweit und ich begab mich nach unten.
Ich warf meine Reisetasche auf die obere Koje auf der rechten Seite und
begann, meine Habseligkeiten so gut es ging in den kleinen Schapps
(Schränken) zu verstauen. Ich war schließlich grade dabei, die leere Tasche
unter der unteren Koje zu stopfen, als mir beherzt die Tür von hinten in den
Rücken geschlagen wurde.
»Aua!«, schrie ich laut auf. »Kannst du Idiot nicht aufpassen?«
»Sorry, ich wusste nicht...«, stotterte eine unbekannte Stimme hinter mir. Ich richtete mich vorsichtig auf und drehte mich um.
»Na, schon gut. So schlimm war ...«, setzte ich an, weiter kam ich jedoch nicht. Was ich sah, verschlug mir die Sprache. Vor mir stand der Junge meiner Träume. Ein wenig kleiner als ich, jedoch eine sportliche Erscheinung mit einem absolut niedlichen Gesicht. Ich hatte bis dahin nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt, aber als ich ihn sah, machte es einfach »klick«.
»Tja also dann ...«, sagte er mit einem sichtlich verlegenen Lächeln im Gesicht. »Also ich bin Tjorben.« Tjorben hieß dieses göttliche Wesen also.
»Ich ? äh, also ... ich bin ... Chris.«, antwortete ich verträumt. Mit meiner Stotterei hatte ich mich wohl grade mal wieder voll zum Pfosten gemacht.
»Ja, ich verzieh mich dann mal nach draußen, dann kannst du hier in Ruhe einräumen«, sagte ich schließlich, und versuchte, mich an ihm vorbei aus der Kammer zu quetschen. Doch er hielt mich zurück.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte er, woraufhin ich sofort rot anlief.
»Ja, alles in Ordnung. Wir sehen uns sicherlich noch, bis dann.« Mein Versuch, bei dieser Antwort selbstsicher zu klingen, ist kläglich gescheitert.
»OK!«, gab er grinsend zurück und wuchtete seine Tasche auf die Koje unter meiner.
Ich kletterte den Niedergang rauf und setzte mich an Deck. Ich atmete ein paar Mal tief durch, um den Kopf wieder frei zu bekommen, doch so ganz gelang es mir nicht. Ich blickte verträumt und vermutlich saublöd grinsend in den Abendhimmel. Es dämmerte und die ersten Sterne waren bereits zu sehen.
»Ich fragte, ob du alles untergekriegt hast«, holte mich plötzlich Benjamins Stimme in die Realität zurück.
»Oh, ... äh ... ja!« Ich musste unbedingt etwas gegen diese dauernde Stotterei unternehmen.
»Ist alles in Ordnung bei dir? Du benimmst dich, als hättest du schlechten Shit geraucht«, fragte Benjamin mit einem Grinsen im Gesicht, was mich natürlich auf der Stelle wieder erröten ließ.
»Ne, ist alles OK.«, antwortete ich leicht verlegen.
»Na denn«, sagte Benjamin und hielt mir seine Schachtel mit Kippen unter die Nase. Ich nahm dankbar eine heraus und er gab mir Feuer. Das mit der Raucherei sollte ich ganz schnell wieder lassen, bevor es zur Gewohnheit wird, dachte ich mir.
»Und? Wie ist dein erster Eindruck? Schon jemanden kennen gelernt?«, fragte ich Benjamin, nachdem wir einen Moment lang schweigend nebeneinandergesessen hatten.
»Jup. Hab mich da vorhin mit so einem Typen unterhalten, der auch auf unserer Kammer ist. Sieht ein wenig aus wie Antonio Banderas der Kerl, du wirst ihn erkennen, scheint aber ganz OK zu sein. Und du?«
»Ich hab dann wohl den Vierten im Bunde, was unsere Kammerbesetzung angeht, getroffen. Er hat mir die Tür ins Kreuz geschlagen.«
»Autsch!«, sagte Benjamin. »Was hast du ihm getan, dass er dich gleich umbringen wollte?« Ich schüttelte den Kopf und wir mussten beide lachen.
Einige Zeit später war die neue Besatzung der Capella dann schließlich komplett und alle saßen zum Abendessen in der Messe. Es herrschte gefräßiges Schweigen, während sich die Leute untereinander musterten. Ich war da kein Stück besser und schaute mir ebenfalls die Leute an, mit denen ich nun das nächste Jahr verbringen würde und entdeckte auch relativ schnell unseren vierten »Mitbewohner«, den Benjamin mir zuvor so eindrucksvoll beschrieben hatte, direkt neben Tjorben sitzen. Die beiden schienen sich bereits zu kennen. Benjamin hatte schon recht gehabt, eine gewisse Ähnlichkeit mit Antonio Banderas hatte er schon, wenn auch erheblich jünger. Weiterhin stellte ich erstaunt fest, dass auch vier Mädchen unter den Teilnehmern zu finden waren.
Als der Skipper, dafür hielt ich ihn zumindest aufgrund seines Alters, aufstand, waren soweit alle Teller geleert, so dass sich alle auf die nun folgende, unvermeidliche Ansprache konzentrieren.
»Willkommen an Bord erst mal, ich bin Rolf, Skipper und Besitzer dieses schönen Schiffes. Ich schlage vor, jeder von euch stellt sich jetzt mal eben kurz vor, bevor ich euch mit ein paar unvermeidlichen Details langweile.«
Die Mädchen machten freiwillig den Anfang, doch viel mehr als ihren Namen brachten sie nicht heraus. Die männlichen Teilnehmer waren da allerdings auch kein Stück besser. Es ist doch immer wieder faszinierend, wie schüchtern eine Horde pubertierender Teenager doch sein kann. Naja, wir hatten ja noch lange genug Zeit, uns alle etwas besser kennen zu lernen.
Nachdem der Skipper daraufhin dann auch seine Ansprache zum Thema Wacheinteilung, Verhalten an Bord (Wasser sparen, Strom sparen ...) und Routenplanung (in Richtung Europa über lange Sicht) gehalten hatte, habe ich mich relativ fix in meine Koje verzogen. Der Tag war doch schwer anstrengend und ich war echt fertig.
4
Der nächste Morgen war verregnet und es war mit knapp 10 Grad nicht besonders warm. Benjamin beschwerte sich über das schlechte Wetter mitten im Hochsommer, es war schließlich Mitte August -, bis Falk ihn darüber aufklärte, dass das mit den Jahreszeiten auf der Südhalbkugel nun mal umgekehrt läuft. Tiefster Winter bei 10 Grad sei doch durchaus erträglich. Benjamin errötete leicht und wir anderen lachten herzhaft. In Erdkunde war Benjamin halt noch nie eine große Leuchte gewesen.
Nach dem Frühstück wurden den einzelnen Kammerbesatzungen verschiedene Arbeiten zugeteilt. Proviant besorgen, Segel aufziehen und was sonst noch so anlag. Benjamin, Tjorben, Falk, der Name des Banderas-Typen wie herausstellte, und ich sind zusammen mit Tjard zum Getränkeholen abkommandiert worden. So war der Vormittag auch schneller rum, als uns lieb war. Am Nachmittag bekamen wir dann endlich die erste Einweisung zum Thema Segeln, sprich: An welchem Seil muss ich wann ziehen und was zum Teufel ist ein Palstek? Ziemlich viel und verwirrend, doch Tjard hatte sich alle Mühe gegeben, aus uns Landratten langsam Seeleute zu machen. Ob ihm das nun gelungen war, würde sich später noch zeigen. Falk und Tjorben schien das alles allerdings recht einfach von der Hand zu gehen. Ich hingegen hatte den ganzen Tag nicht so besonders viel mitbekommen, da ich die meiste Zeit damit beschäftigt war, Tjorben anzustarren. Ich bildete mir sogar ein, er habe ein paar Mal zurückgelächelt. Oder war es doch eher Einbildung? Muss wohl, denn das wäre ja auch zu schön, um wahr zu sein. Hoffentlich hatte es niemand bemerkt.
Nach dem Abendessen, übrigens das letzte Abendessen, welches der Skipper zubereitet hatte, in Zukunft würden wir das selber tun müssen, guten Appetit, hatten wir noch ein letztes Mal für die nächsten Tage Landgang, am nächsten Morgen sollte es losgehen, Richtung Neukaledonien. Daher sind wir mit der kompletten Mannschaft in Richtung Americas Cup Village losgezogen, wo es, laut Skipper, einige nette Kneipen geben sollte. Disko konnten wir uns gleich aus dem Kopf schlagen, an einem Dienstagabend im Winter in Neuseeland sind die Dinger geschlossen.
Dadurch, dass wir uns aufgrund unserer Gruppengröße an zwei Tische verteilen mussten, bildeten sich natürlich bedauerlicherweise sofort zwei Grüppchen. An dem einen Tisch saßen Benjamin, Martin, die Zwillinge Kevin und Dustin sowie Rene, ständig belauert von Sandra. Sandra zeichnete sich besonders durch ihre ausgeprägten weiblichen Merkmale in Kombination mit zuviel Make-Up aus. An unserem Tisch saß ich zusammen mit dem Rest der Crew.
Falk saß mir gegenüber, eingekesselt von Susi und Nathalie, ich selbst saß zwischen Falk und Steffi. Es wurden natürlich einige Bier konsumiert und der Abend wurde recht lustig. Von Falk erfuhr ich, dass Tjorben und er wohl schon seit Ewigkeiten kannten und von der Nordseeküste kamen. Sie hatten nebeneinander gewohnt und waren beide als Kinder von Kapitänen aufgewachsen. Falks Vater war Fischer und Tjorbens alter Herr lenkte wohl riesige Containerschiffe über die Ozeane. Das erklärte zumindest, warum den beiden das Knotenüben so leicht von der Hand gegangen war.
Als ich irgendwann mal wieder verträumt zu Tjorben rüberschaute, was ich mir natürlich nicht verkneifen konnte, bemerkte ich, dass Susi, die ich als ein wenig naiv einschätzte, ihn massiv anbaggerte. Tjorben warf mir daraufhin einen leicht hilflosen Blick zu, in den ich hätte versinken können. Ich lächelte verträumt in Tjorbens Richtung, nicht ahnend, dass dieser Blick missverstanden werden könnte. Anscheinend bezog Steffi, die direkt neben Tjorben saß, den Blick auf sich und fing nun an, mir merkwürdige Komplimente zu machen, so dass ich innerhalb kürzester Zeit völlig verunsichert war. Glücklicherweise bemerkte Falk meine Verunsicherung und verwickelte mich in ein Gespräch.
»Nicht ganz dein Fall, die gute Steffi?«, fragte er mich.
»Nee, nicht wirklich ... die geht ja ganz schön ran«, gab ich ein wenig verlegen zurück.
»Kann ich verstehen. Aber keine Angst, ich beschütze dich vor den blutrünstigen Frauen«, sagte Falk mit einem diabolischen Grinsen im Gesicht. Wir mussten lachen und stießen unsere Biergläser zusammen.
Tjorben war grad auf dem Weg zur Toilette, als es am Nachbartisch plötzlich laut wurde. Ich schaute rüber und bemerkte, dass Martin und Rene schon weg waren. Sandra stand wutentbrannt auf und gab Dustin eine Ohrfeige. Dann stampfte sie zu uns an den Tisch rüber.
»Nathalie, wir gehen!«, gab sie in schroffem Befehlston von sich. Nathalie sah zwar ein wenig verwundert aus, machte aber Anstalten aufzustehen. Die anderen beiden Mädchen warfen uns einen fragenden Blick zu. Falk schien allerdings zu verstehen.
»Ist schon gut«, meinte er, »geht ruhig mit, wir regeln das hier.«
Steffi und Susi nickten dankbar und liefen Nathalie und Sandra hinterher, die bereits zur Tür raus waren. Ich war grade dabei zu realisieren, was überhaupt geschehen war, als die drei anderen vom Nachbartisch zu uns rüberkamen. Sie waren sichtlich betrunken.
»Hier ist ja wohl grade frei geworden«, stellte Dustin fest und setzte sich wie selbstverständlich auf den Stuhl, auf dem kurz davor noch Steffi gesessen hatte. Auch Kevin und Benjamin gesellten sich zu uns.
»Was ist denn da grade abgegangen?«, wandte sich Falk mit finsterem Blick an Dustin.
»Ach, die alte Schlampe, die will sich nicht ficken lassen. Dabei sieht man doch, wie heiß die drauf ist, meinen Kolben zu spüren«, lallte dieser daraufhin. Kevin und Benjamin fingen an zu lachen, Falk zog eine gespielt verwunderte Miene.
»Ach? Sieht man das?«, fragte er, die Stirn in Falten gezogen.
»Na sicher. Es sei denn, man ist so ein Versager wie der.« Dustin zeigte auf mich, worauf er einen verständnislosen Blick von mir erntete.
»Na, du brauchst mich gar nicht so blöd anzuglotzen. Benjamin hat mir alles erzählt«, fuhr er grölend fort.
Ich spürte Wut in mir aufsteigen. Ich hätte es mir ja denken können. WAS hatte Benjamin erzählt? Und ich Idiot habe mich auch noch auf ihn eingelassen.
Wut mag ja manchmal ganz hilfreich oder auch erleichternd sein, allerdings neige ich, wenn ich wütend werde, ganz gerne mal zu Kurzschlussreaktionen, weil mein Gehirn sich vorübergehend verabschiedet. So versuchte ich die aufsteigende Wut vorerst zu unterdrücken und schaute zu Benjamin rüber. Der hatte allerdings nichts Besseres zu tun, als mich fies anzugrinsen und zu erklären:
»Ist doch wahr, dass du ein Schwanzlutscher bist. So einer wie du ...« Doch er konnte den Satz nicht mehr zu Ende sprechen, denn die Wut in mir war nun stärker und hatte bereits mein Gehirn außer Betrieb gesetzt. Im nächsten Moment hielt sich Benjamin schon die Hände vors Gesicht und ein wenig Blut quoll zwischen seinen Fingern durch. Ich krallte mir meine Jacke und ging Richtung Ausgang, während mir Dustin noch hinterher rief:
»Das wirst du büßen, dreckiger Arschficker!«
Doch das bekam ich nur noch halb mit. Kaum draußen, begann ich wie in Trance zu laufen. Ich weiß nicht, wie lange ich lief, aber irgendwann stand ich auf einem Kai nicht weit vom Schiff entfernt. Ich blickte ruhig auf das Wasser hinaus, als mein Denkapparat die Arbeit wieder aufnahm und mir langsam klar wurde, was ich getan hatte. Scheiße, ich hatte total die Kontrolle verloren, so was war mir noch nie passiert. Ich hasste mich selber, ich hatte noch nie zuvor einen anderen Menschen geschlagen und wusste nicht, warum das dieses Mal passiert war. OK, Benjamin hatte mir alles versaut. Ade Neuanfang mit unvoreingenommenen Leuten. Mit mir würde doch jetzt niemand mehr was zu tun haben wollen. Auf die Idee, dass die Leute hier genauso tolerant wie die im Schwimmverein zuhause sein könnten, kam ich in diesem Moment natürlich nicht. Das Gegenteil hatte Dustin mir ja schließlich auch grade bewiesen.
Eine Welle der Verzweiflung schlug über mir zusammen. Der Kontrollverlust ich schämte mich, Benjamin geschlagen zu haben, auch wenn er es vielleicht verdient hatte sowie der verpatzte Start und die offene Ablehnung, das war mir zu viel. Ich sackte zusammen und fiel auf die Knie. Während ich den öligen Geruch der Pier wahrnahm, kamen die Tränen und ich konnte nichts dagegen tun.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich wieder beruhigt hatte, doch schließlich versiegten die Tränen und mein Kopf begann wieder klarer zu werden. Ich setzte mich auf einen Poller, starrte aufs Wasser hinaus, bewunderte die Lichter auf der anderen Seite der Bucht und atmete den Geruch von Meer ein. Die Nacht war klar und hell vom Mondlicht. Es war kalt, doch es war mir egal. Es interessierte mich nur eine Frage: Wie sollte es jetzt weitergehen? Würden Falk und Tjorben noch mit mir reden? Ich hatte Angst davor, zum Schiff zurückzugehen, ich hatte Angst vor ihrer Reaktion.
»Hier bist du. Alles OK bei dir?«, Falk stand plötzlich hinter mir.
»Ja, alles in Ordnung«, log ich und drehte mich um.
»Ja, sicher. Das kannst du deiner Oma oder sonst wem erzählen.« Er klang wirklich besorgt. »Mann, du siehst ja völlig fertig aus. Was ist los?«
Er blickte mir in die Augen. Doch ich konnte dem Blick kaum standhalten und wandte mich ab.
»Ich ... ich ... «, begann ich zu stammeln, während mir die Tränen abermals in die Augen stiegen. »Ach, lass mich allein. Ich bin es nicht wert.«
»Was redest du da für einen Scheiß?«, erwiderte Falk bestimmt. »Jetzt erzähl mir endlich, was los ist.« Ich musste wieder heulen. Shit, ich kam mir wie ein kleines Kind vor und es war mir so verdammt peinlich. Ich wollte nicht, dass mich jemand so sieht. Doch Falk nahm mich in den Arm und streichelte mir durchs Haar.
»Hey, starker Mann. Du hast grade Benjamin beinahe die Nase gebrochen und jetzt sitzt du hier und weinst? Was ist los?«, fragte er mich, als ob er mit einem kleinen Kind reden würde. Doch es lag soviel Wärme in seiner Stimme.
»Ach Mist, ich habe die Kontrolle verloren, ich hasse mich dafür. Das hätte nicht passieren dürfen. Aber ... aber ...«, stammelte ich.
»Was aber?«, hakte er sofort nach.
»Naja, Benjamin hat mir den Start total versaut. Dabei hatte ich gehofft, ihn endlich los zu sein. Aber nein, er musste hier ja unbedingt auftauchen.«
»Kannst du mir das genauer erklären?«, fragte er ruhig. Ich starrte auf den staubigen und öligen Boden der Pier unter mir und erzählte von meinem gespannten Verhältnis zu Benjamin und dessen plötzlichem Sinneswandel auf dem Weg nach Auckland. Falk hörte einfach nur zu und sagte kein Wort. Als ich fertig war, stellte er nur eine Frage:
»Also stimmt es, was Benjamin behauptet hat?«
Ich richtete mich auf und starrte ihn ungläubig und ängstlich an. Er meinte doch nicht etwa ...
»Also, du bist wirklich schwul?«, fragte er. Treffer, versenkt. Mir stiegen wieder die Tränen in die Augen.
»Ja verdammt!«, gab ich schließlich, wieder heftiger schluchzend, zurück, »Du hast grade einen dreckigen Schwanzlutscher im Arm gehabt. Zufrieden?« Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen.
Doch er nahm mich wieder in den Arm. Es schien ihm nichts auszumachen. Er streichelte mir wieder sanft durchs Haar und sagte:
»Hey, das ist doch kein Grund traurig zu sein. Wo ist denn das Problem dabei? Hauptsache ist doch, dass du überhaupt in der Lage bist, einen anderen Menschen zu lieben. Was ich gewissen anderen Leuten nicht zutraue.«
»Du meinst ....?«, schaute ich ihn verwundert an.
»Nein, es ist kein Problem für mich. Mein Bruder war ...«, er schluckte merklich, »Mein Bruder ist auch schwul.«
Trotz der einsetzenden Erleichterung dauerte es noch ein wenig, bis ich mich endlich wieder soweit im Griff hatte. Doch dann wollte ich es genau wissen. Wie, zur Hölle, ist Falk darauf gekommen, dass es stimmte?
»Falk, woher wusstest du es? Ist es so offensichtlich?« Das könnte ich ja nun gar nicht gebrauchen.
»Nein, eigentlich nicht, keine Panik«, antwortete er, »Nur, erstens war ... ist mein Bruder auch schwul, daher hab ich deine Reaktion auf Benjamins Behauptung so gedeutet. Aber davon ab ist mir aufgefallen, dass Steffi wohl Blicke auf sich bezogen hat, die für Tjorben gedacht waren. Diese Blicke hattest du nämlich schon den ganzen Tag drauf.« Er grinste.
»Ups. Bitte sag Tjorben nichts, OK?«
»Versprochen!«, lächelte er mich an. »Und jetzt wirds Zeit für die Koje. Los, komm.«
Tjorben und Benjamin schliefen bereits, als wir in unsere Kammer kamen. Ich lag noch einige Zeit wach und dachte nach. Es hatte sich doch noch alles in eine Richtung gewandt, mit der ich soweit leben konnte. Zumindest Falk kam damit klar, das war schon mal ein Anfang. Nur, wie würden die Anderen damit umgehen? Wussten sie es auch? Irgendwann zeigte sich Morpheus doch noch gnädig und nahm mich in seine Arme.
5
Als ich am nächsten Morgen zum Frühstück in die Messe kam, erblickte ich grade noch einen ziemlich verkaterten Benjamin mit einer leicht geschwollenen Nase, bevor mich Dustin auch schon liebevoll begrüßte:
»Na, da ist ja unser kleiner Arschficker. Na? Wo ist Mama heute Morgen?«
Während ich noch überlegte, ob ich mich über den Spruch ärgern oder es einfach ignorieren sollte, war Falk schon aufgesprungen und zu Dustin rübergelaufen. Er packte ihn am Kragen und zog ihn von der Bank, auf der er saß.
»Damit wir beide uns von Anfang an klar verstehen: Wenn du dein dreckiges Maul nicht halten kannst, stopfe ich es dir. Ist das klar?«, sprach Falk so laut, dass alle es mitbekamen. Dustin stieg ganz offensichtlich die Panik in die Augen.
»Hey OK, ich bin cool, Mann«, gab er noch mit leiser, verängstigter Stimme zurück.
»Dann ist das ja geklärt.« Falk setzte Dustin zurück und wandte sich noch Benjamin zu, bevor er zurück auf seinen Platz ging:
»Und für dich gilt das Gleiche. Klar?« Auch Benjamin schien nun eingeschüchtert und nickte nur.
Ich setzte mich zu Falk an den Tisch. Er zwinkerte mir aufmunternd zu und lächelte: »So, jetzt sollte Ruhe sein.«
So ganz konnte ich das noch nicht fassen, was soeben geschehen war. Ich hatte es bisher noch nie erlebt, dass jemand in dieser Form Initiative für mich ergriffen hatte. Ich konnte es noch nicht so ganz deuten, mir wurde allerdings in dem Moment klar, dass ich, allem Anschein nach, einen verdammt guten neuen Freund gefunden hatte.
Als wir schließlich, nach einer Lektion in Grundlagen der Navigation durch den Skipper, gegen Mittag ablegten, waren Tjorben und ich für die Leinen auf dem Vorschiff verantwortlich. Endlich ging es los, aufgeregt waren wir wohl alle.
Ich war grade dabei, die Spring aufzuschießen und auf dem Belegnagel zu sichern, als Tjorben mich ansprach:
»Sag mal, Chris, was war gestern Abend eigentlich genau los? Ich hab nur mitbekommen, dass du Benjamin wohl eins auf die Nase gegeben hast.«
»Ich bin da nicht stolz drauf, kannst du mir glauben«, entgegnete ich, »aber ...«
Tjorben nahm meinen Kopf in die Hände und lächelte mich an. In diesem Lächeln, in den tiefgründigen Augen, hätte ich sofort versinken können.
»Hey«, hob er an, »Benjamin scheint ein Arsch zu sein. Und dieser Dustin ebenfalls. Wenn du Benjamin einen verpasst hast, hatte er es wohl ziemlich sicher auch verdient.« Ich blickte verlegen auf das Holzdeck, da ich mich nach wie vor dafür schämte. Ob er es verdient hatte oder nicht, es war einfach nicht nötig gewesen.
»Du scheinst ein lieber Kerl zu sein«, fuhr er fort, »und wenn du ein Problem hast, komm zu mir, ok?« Er lächelte immer noch und ich versuchte die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken und nickte ihm ein »Danke« zu.
Da unsere Kammerbesatzung für die 8 bis 12 Wache eingeteilt war, verbrachte ich den restlichen Nachmittag in der Koje, um abends ausgeschlafen zu sein. In der vorherigen Nacht war der Schlaf eh etwas zu kurz gekommen. Als ich um kurz vor acht, mit einer Kaffeemug bewaffnet, an Deck kam, waren die anderen drei schon dabei, die Wache von den Mädchen zu übernehmen.
Falk hatte bereits das Ruder in der Hand und die Mädchen machten sich auf den Weg unter Deck, jedoch konnten es sich Susi und Steffi nicht verkneifen, Tjorben und mir einen Klaps auf den Hintern zu geben. Während Steffi mir zuflüsterte: »Viel Spaß, mein Held!«, errötete ich natürlich gleich wieder und warf Tjorben einen hilflosen Blick zu, welcher allerdings nicht minder hilflos zu mir rüber sah. Falk, der die ganze Szene beobachtet hatte, fing an blöd zu kichern.
»Hey, lach nicht so blöd!«, raunzte Tjorben Falk an und stieß ihm seinen Ellenbogen in die Rippen.
»Sorry«, kicherte Falk weiter, »aber eure Gesichter grade waren einfach zu komisch.« Tjorben und ich schüttelten nur die Köpfe und mussten nun ebenfalls lachen. Nur Benjamin stand wie Falschgeld etwas abseits und verzog keine Miene.
»So, wenn die Herren sich dann langsam beruhigt haben«, fiel der Skipper in die gute Stimmung ein, »Benjamin und Chris, ihr geht bitte nach vorn und haltet Ausguck. Wenn was ist, hier ist ein Funkgerät, Kanal 15. Ich denke, ihr wisst, wie man damit umgeht?«
Ich nickte stumm, die gute Stimmung war schlagartig vorbei. Der Gedanke, die ganze Zeit da vorn alleine mit Benjamin rumzustehen, passte mir so gar nicht.
»Falk und Tjorben bleiben hier am Ruder. Wir wechseln aber später durch, Rudergehen ist auf die Dauer recht anstrengend. Alles klar?« Alle hatten verstanden und nickten noch mal kurz stumm, bevor ich mich, gefolgt von Benjamin, nach vorn begab.
Eine Zeitlang standen wir, was mir persönlich am liebsten war, einfach nur schweigend nebeneinander und starrten aufs Meer hinaus. Es war wieder eine mondhelle Nacht mit einem faszinierenden, wenn auch fremden Sternenhimmel. Von hier aus konnte man den Großen Wagen nicht sehen, dafür aber das Sternenbild Skorpion sowie das Kreuz des Südens.
Bis auf das Geräusch des Vorstevens, der sanft durch die Wellen schnitt, war es absolut ruhig. Ich bewunderte die ganzen kleinen Inseln um uns herum, zwischen denen sich der Mond geheimnisvoll auf dem Wasser spiegelte. Was wäre es schön gewesen, jetzt einen Menschen, den man liebt, im Arm zu halten und gemeinsam zu träumen.
»Du hast `nen ganz schön heftigen Faustschlag, weißt du das?«, zerriss Benjamin plötzlich die schöne Stimmung. Ich hatte schon fast vergessen, dass er nur wenige Meter neben mir stand.
»Benjamin, ich wollte das nicht und es tut mir wirklich leid. Ich habe leider überreagiert«, erklärte ich ihm ruhig, als ich mich zu ihm umdrehte.
»Ich habs versaut, was?«, fragte er daraufhin und blickte verlegen nach unten.
»So kann man es nennen«, gab ich zurück und wandte mich ab. Meiner Meinung nach war alles gesagt, was gesagt werden musste. Nach weiterer Konversation mit ihm stand mir nun wirklich nicht der Sinn. Benjamin sah das aber anscheinend etwas anders:
»Mensch Chris, ich weiß selbst nicht, was in mich gefahren ist. Ich ... ich wollte das nicht. Ich hatte wohl zu viel getrunken. Bitte, entschuldige, es kommt nie wieder vor«, stammelte er und schluckte. Ich spürte langsam wieder Wut in mir aufkeimen, was ich grade gehört hatte, konnte ich kaum glauben. Er stellte sich das Ganze mal wieder sehr einfach vor. Ich schluckte meine Wut so gut es ging herunter einen weiteren Kontrollverlust wollte ich keinesfalls riskieren und wandte mich ihm wieder zu.
»Pass auf«, begann ich ruhig, »du wolltest einen neuen Start und hast es vermasselt. Ich will auch gar nicht wissen, warum. Nebenbei bemerkt finde ich es ziemlich daneben, dass du versuchst, es mit deinem Alkoholkonsum zu erklären. Ein wenig mehr Selbstbeherrschung hätte ich dir dann doch zugetraut. Aber das ist mir letztlich egal. Fakt ist, du hast eine ziemlich üble Show abgezogen und ich hab dir was auf die Nase gegeben, was ich nicht hätte tun sollen. Ich hab mich entschuldigt, du hast dich entschuldigt, ich denke wir sind soweit Quitt. Ansonsten möchte ich dich bitten, mich in Zukunft ganz einfach in Ruhe zu lassen. Wir verstehen uns auf Dauer wohl nicht.«
»Aber ...«
»Nichts aber. Lass mich bitte einfach in Ruhe, OK?« Ich kämpfte schwer mit mir, um nicht aggressiv zu werden. Waffenstillstand war OK, doch mehr war bei aller Liebe nicht drin. Selbst wenn ich es gewollt hätte.
»Tu mir bitte einen Gefallen und halt mir wenigstens Falk vom Leib. Sag ihm, dass wir cool sind, ok?« Er bettelte fast ein wenig.
»Sorry, aber damit hab ich nichts zu tun. Das musst du schon selbst mit ihm klären.« Ich schaute wieder aufs Wasser hinaus. Der Mond wanderte in Richtung Horizont und nahm langsam eine rötliche Farbe an. Irgendwie sind Monduntergänge viel faszinierender als Sonnenuntergänge. Oder liegt es nur daran, dass man sie nicht so häufig beobachtet?
»Was hast du denn mit Benjamin gemacht?«, hörte ich auf einmal Tjorbens Stimme hinter mir, Benjamin war weg.
»Nichts. Wir haben uns lediglich ausgesprochen«, antwortete ich.
»Hmm, er kam reichlich verstört nach achtern geschlichen und bat Falk, ihn doch in Zukunft in Ruhe zu lassen, da ihr beide, ich zitiere: cool seiet. Hab ich was Wichtiges verpasst?«
»Nicht wirklich. Er hat sich nur für gestern Abend entschuldigt und ich habe ihn daraufhin gebeten, mich in der nächsten Zeit einfach in Ruhe zu lassen. Das war soweit alles.«
»Soweit? Komm, da steckt doch noch mehr dahinter. Ihr kennt euch doch schon länger«, stellte Tjorben nachdenklich fest. Dieser Schnuckel war absolut nicht auf den Kopf gefallen. Ich erzählte ihm also die ganze Geschichte von Benjamin und mir und berichtete ihm ebenfalls von den Hoffnungen, die ich in diese Reise gesteckt hatte, dem Schock, als ich Benjamin im Flieger traf, sowie von der Panik, die ich seit dem Abend zuvor davor hatte, niemand würde mehr mit mir reden wollen.
»Egal was Andere behaupten: Ich mag dich! Also hör auf zu grübeln, OK?«, war alles, was Tjorben mit diesem Lächeln, welches prädestiniert für die Waffenscheinpflicht war, antwortete. Ich hätte auf der Stelle dahinschmelzen können.
Wir standen noch eine ganze Weile schweigend dort vorne und genossen die Stimmung dieser faszinierenden Nacht. Am Himmel waren jetzt, da der Mond hinter dem Horizont verschwunden war, viel mehr Sterne zu erkennen. Tjorben mag mich also, dachte ich während ich aufschaute. Sollte er am Ende auch schwul sein und etwas für mich empfinden? Wohl eher unrealistisch, der Gedanke. Ich entdeckte eine Sternschnuppe und wünschte es mir dennoch.
6
Die folgenden 2 Tage waren relativ unspektakulär. Steffi und Susi baggerten Tjorben und mich weiter ein wenig an, Benjamin ging mir größtenteils aus dem Weg und ich hing meistens mit Falk und Tjorben zusammen. Ob beim Deckschrubben oder während unserer Wachen, wir hatten tierisch viel Spaß miteinander, und mir wurde so langsam klar, dass ich mich ziemlich heftig in Tjorben verliebt hatte. In dem Bewusstsein, dass die Chancen darauf, Tjorben könne ebenso empfinden wie ich, faktisch gleich Null waren, hatte ich natürlich auch die Sternschnuppe während der einen Nacht völlig vergessen. Immerhin konnte ich mit ihm zusammen sein und Spaß haben.
Dann wurde das Wetter schlecht, nachts hatte es schon ganz schön angefangen zu schaukeln. Das Frühstück war grade vorbei, als der Skipper die gesamte Mannschaft zum Segelreffen an Deck rief. Der Wind hatte merklich zugenommen, es war kalt und nieselte leicht.
»Eine Kaltfront zieht genau auf uns zu und der Wetterbericht prognostiziert bis zu 9 Beaufort Wind. Es wird also die nächsten 36 Stunden ziemlich unangenehm werden. Versucht alle genug Schlaf zu bekommen, damit ihr zu euren Wachen fit seid. Außerdem möchte ich hier oben niemanden mehr ohne Rettungsweste sehen, die See kommt jetzt schon teilweise an Deck. Wer was gegen Seekrankheit braucht, bei mir gibts Zäpfchen«, erklärte der Skipper anschließend und schickte alle, die keine Wache hatten, wieder nach unten.
Tjorben, Falk, Benjamin und ich beschlossen, uns noch eben dem Wetter entsprechende Kleidung anzuziehen und standen schließlich, gerüstet für die nächsten 4 Stunden Wache, wieder alle an Deck. Der Ruderdruck war bereits so groß geworden, dass wir nun zu zweit steuern mussten. Wir hielten uns daher alle in der Nähe des Ruders auf, am Bug Ausguck zu gehen wäre ohnehin unmöglich gewesen, da immer wieder Gischt über das Deck spülte, wenn das Schiff wieder mit einem harten Schlag in die Wellen tauchte.
Der Wetterbericht sollte recht behalten, schon zwei Stunden später war die Windstärke auf 8 bis 9 Windstärken angewachsen. Die See war über und über mit weißem Schaumkronen übersäht, die sich in Streifen in den Wind legten. Das Wasser erschien schmutzig dunkelgrau und immer wieder kamen riesige, fast schwarze Wasserwände auf uns zugerollt und harte Schläge gingen durch das ganze Schiff. Es war unmöglich geworden, sich zu bewegen ohne sich ständig irgendwo festzuhalten. Falk und ich standen zusammen am Ruder, Tjorben und Benjamin saßen schweigend neben uns. Unterhaltungen waren sowieso nur noch schreiend möglich, das Getöse aus Wind und Regen war einfach zu laut. Außer uns und dem Skipper war niemand mehr an Deck.
Plötzlich sprang Benjamin auf und hing einen Moment später über der Reling. Das erste Opfer, dachte ich ein klein wenig schadenfroh, unwissend, was unter Deck los war. Der Skipper ging zu Benjamin, sie unterhielten sich kurz und Benjamin bekam etwas in die Hand gedrückt. Daraufhin verschwand er unter Deck.
»Alles OK mit euch?«, rief der Skipper uns zu, wir nickten alle. Tjorben sah allerdings auch nicht mehr so ganz fit aus, was sich ein paar Minuten auch als korrekt beobachtet rausstellte. Auch ihm wollte der Skipper schließlich etwas in die Hand drücken, doch Tjorben lehnte ab und blieb an der Reling stehen.
»Ich gehe Tjard wecken, kommt ihr einen Moment alleine klar?«, fragte uns der Skipper, woraufhin Falk und ich wieder nickten. »Und habt ein Auge auf Tjorben!«, fügte er noch hinzu und verschwand.
Kaum 2 Minuten war er auch schon wieder zurück. Grade als ein wenig später dann auch Tjard an Deck erschien und uns zusammen mit dem Skipper am Ruder ablösen wollte, sank Tjorben an der Reling in sich zusammen. Falk und ich liefen sofort zu ihm hin, doch der Skipper hielt mich zurück.
»Bringt ihn nach unten in seine Koje. Und gib ihm das hier!«, sagte er und drückte mir ein Zäpfchen in die Hand. Falk und ich trugen Tjorben, der ziemlich geschwächt und grün im Gesicht war, unter Deck. Bei dem Seegang stellte sich das als gar nicht so einfach raus, wir wären beinah die Treppe im Niedergang runtergefallen.
Unter Deck war es stickig, alle Luken waren schließlich geschlossen, und ein unverwechselbarer Geruch schlug uns entgegen, so dass ich schwer schlucken musste. Tjorben und Benjamin waren anscheinend nicht die Einzigen, die es erwischt hatte. In unserer Kammer lag Benjamin in seiner Koje und schief bereits. Wir halfen Tjorben noch, aus den klammen Klamotten rauszukommen, bevor wir ihn ebenfalls in die Koje verfrachteten. Ich hielt ihm das Zäpfchen hin.
»Brauch ich nicht«, flüsterte er.
»Red kein Blech, du hängst doch total in den Seilen«, antwortete ich bestimmt.
»Nein ... ich ...«
»Keine Wiederrede!«
»OK ... aber ... kannst du .... also ...?«, fragte er nun sichtlich verlegen. Daher wehte also der Wind, deshalb hatte er sich gesträubt.
Ich nickte Falk kurz zu, der daraufhin aus der Kammer verschwand und versorgte Tjorben.
»Bleib noch hier«, bat Tjorben schließlich, als ich grade wieder gehen wollte, und griff nach meiner Hand. Er zitterte am ganzen Körper und ich griff nach seiner Hand. Sie war eiskalt an. Kurze Zeit später war er eingeschlafen. Diese Zäpfchen zogen einem anscheinend echt die Schuhe aus.
Abgesehen von Skipper und Tjard sowie Falk und mir, waren Rene und Martin die Einzigen, die man noch als fit bezeichnen konnte. Den gesamten Rest der Mannschaft hatte es mehr oder weniger schlimm erwischt und die meisten lagen daher, betäubt von Skippers Drogen, in ihren Kojen und schliefen. So haben wir also mit sechs Mann die folgenden 24 Stunden an Deck gekämpft. Wir hatten die Segel weiter gerefft, dass was übrig geblieben war, war nicht mehr als ein paar Taschentücher, an denen der Wind zerrte. Vom Rudergehen und Segelreffen taten mir sämtliche Knochen weh. In meinem ganzen Leben zuvor hatte ich mich noch nie so stark nach einem heißen Kaffee gesehnt. Wir waren alle, trotz Regenkleidung, vom Regen und der Gischt mehr oder minder klatschnass, durchgefroren und übermüdet. Von Zeit zu Zeit war ich zwischendurch kurz eingedöst, an richtigen Schlaf war allerdings absolut nicht zu denken.
Als der Sturm dann 24 Stunden später endlich nachließ und der Rest der Mannschaft, Tjorben erschien als Erster wieder an Deck, sich soweit wieder erholt und ausgeruht hatte, fielen wir wie die Steine in die Kojen und schliefen sofort ein. Ich träumte von Tjorben.
7
Der Strand erschien mir unendlich und ich war ganz allein dort. Ich saß am Wasser und beobachtete die Wellen, die so gerade waren, als hätte sie jemand mit einem Lineal gemalt, während sie auf langsam auf den Strand zuliefen, glitzernd brachen und mir schließlich um die Füße spülten. Plötzlich tauchte mitten in der Brandung eine Gestalt auf und kam auf mich zugelaufen. Ich erkannte nach einem Augenblick, dass es Tjorben war. Ich stand auf und ging auf ihn zu. Er hatte wieder dieses traumhafte Lächeln im Gesicht, welches mich auf der Stelle wieder weich werden ließ. Wir schauten uns tief in die Augen und er streichelte mir sanft durchs Haar, es fühlte sich unheimlich real an. Dann zog er mich zu sich heran, gab mir einen Kuss auf die Stirn und flüsterte:
»Hey, wach auf. Zeit zum aufstehen.« Och nö ... wo es doch grad am schönsten ist!
Ich wurde wach und schlug die Augen auf. Das Erste, was ich sah, war Steffi, die sich über mich beugte.
»Es tat mir richtig leid, dich wecken zu müssen. Du hast so süß ausgesehen, während du schliefst.« Erklärte sie völlig verzückt.
Ich blickte sie mit großen Augen an.
»So, jetzt aber hoch mit dir. Du hast schließlich fast 18 Stunden geschlafen«, versuchte sie mich aufzumuntern und gab mir einen weiteren Kuss auf die Stirn. Perplex wie ich nun mal war, richtete ich mich auf und bedeutete ihr, verstört lächelnd, doch bitte hinauszugehen.
»Hach wie süß. Ist auch noch zu schüchtern, sich vor einer Frau zu zeigen«, kicherte sie nur, verschwand dann aber.
Ich beschloss, nicht weiter über das grade Erlebte nachzudenken und besser den Tag in Angriff zu nehmen. So fand ich mich, nach einer kurzen, kalten Dusche und einem ausgiebigen Frühstück, mit einer Kaffeemug bewaffnet an Deck wieder. Fasziniert blickte ich über das Meer, welches sein Gesicht komplett verändert hatte, seit ich es zum letzten Mal vor ein paar Stunden gesehen hatte. Das Wasser war bis auch ein leichtes Kräuseln, hervorgerufen von einer leichten Briese, sowie eine sanfte Schwell spiegelglatt und tiefblau. Die Sonne schien, am ansonsten klaren Himmel waren nur ein paar vereinzelte Wölkchen zu sehen. Die Segel waren bis auf das Letzte alle wieder gesetzt, jedoch bewegte sich das Schiff nur recht langsam. Ich begann zu lächeln, der Tag versprach perfekt zu werden.
Ich nutzte die Gunst des guten Wetters und kletterte nach vorne ins Klüvernetz, um ein wenig zu entspannen. Ich hatte zwar grade Wache, aber Benjamin stand am Ruder und ansonsten war es ruhig. Tjorben hatte anscheinend dieselbe Idee, denn nach wenigen Minuten folgte er mir.
»Danke übrigens für.... na, du weißt schon«, sagte er ein wenig verlegen, nachdem wir eine Weile einfach nur so dagelegen und geträumt hatten.
»Da nich für. Wofür sind wir denn sonst Freunde«, erwiderte ich und lächelte ihn an.
»Freunde? Meinst du das ernst?«
»Ja sicher, oder siehst du das etwa anders?«
»Nein nein, ich dachte nur nicht, dass du ... ach ist ja auch egal. Freunde!« Er hielt mir glücklich grinsend die Hand hin. Ich ergriff sie und schaute ihm einen Moment lang in seine faszinierend blauen Augen. Der Knabe machte mich porös.
Kurz darauf zog er seine Hand jedoch ruckartig zurück. Der fröhliche Gesichtsausdruck war verschwunden und ein Schatten legte sich über sein Gesicht.
»Was ist los?«, fragte ich.
Doch Tjorben antwortete nicht, stattdessen sah ich, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Auf einmal stand er auf, kletterte nach oben und verschwand. Und ich lag da, sagte kein Wort und verstand die Welt nicht mehr. Was hatte ich falsch gemacht? Ich stand völlig auf der Leitung.
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