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My real life
Teil 2
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Informationen
- Story: My real life
- Autor: Daniel-Alexander
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out
Inhaltsverzeichnis
Uschi
Was fällt dem ein!, dachte Uschi wütend.
Sie war gerade auf dem Weg zur Schule, alles um sie rum war noch dunkel.
Dieser... Dieser kleine, gemeine… ich weiß nicht was! Niemand macht mit mir Schluss. Wenn, dann mache ich mit jemandem Schluss. Dieses kleine Würstchen! Erst auf Sonnenschein spielen und dann abservieren. Der kann heute was erleben!, steigerte sich Uschi noch mehr in die Gedan-ken hinein.
„Guten Morgen, Uschi“, begrüßte sie ihre beste Freundin Elisabeth.
„Halts Maul! Verpiss dich und lass mich in Ruhe, Elli!“, schrie sie ihre Freundin an. Diese kam näm-lich gerade rechtzeitig, um ihr Wutventil zu öffnen, damit Uschi Dampf ablassen konnte. Erschro-cken sprang Elli auf die Seite und ließ Uschi für den Rest des Weges zur Schule in Ruhe.
Dabei hatte alles so schön begonnen, vor drei Monaten auf einer Party, dachte sich Uschi etwas melancholisch…
Die Party war grauenhaft. Zu viele Kiffer, Extremalkoholiker und Kettenraucher. Uschi langweilte sich und hatte schon vor, zu gehen, als Nils zu Tür hereinkam. Er rümpfte die Nase, da die ganze Wohnung voller Rauch war. Aus irgendeinem Raum kam Techno, aus einem weiteren Heavy Metal und aus einem letzten Deutscher Rap. Schrecklich!
Er stach heraus aus dem Getümmel der restlichen Jungs. Er war so anders! Nils begrüßte die ande-ren Jungs und verschwand mit ihnen in einem anderen Raum. Eigentlich wollte Uschi ihm folgen, aber ihr Ex-Freund stellte sich ihr in den Weg. Er konnte nicht einsehen dass sie mit ihm Schluss gemacht hatte. Zuerst machte sie ihn zur Schnecke und dann suchte sie Nils.
Im ersten Raum gab es ein Handgemenge. Ein Technomensch und ein Heavy Metal Fan stritten sich darum, welche Musik man spielen sollte. Der zweite Raum war das winzige, blau geflieste Bad, in dem jemand lag, der stöhnte, und im ganzen Raum stank es nach Erbrochenem. Beim dritten Versuch landete sie im Dunkeln. Hier hörte sie auch ein Stöhnen, aber ganz anderer Art als im Bad.
„Raus hier!“, schrie sie jemand an.
Schnell schloss sie die Tür wieder und machte sich weiter auf die Suche.
In der Küche fand sie Nils endlich. Er stand dort und suchte nach einem Glas, in das er sich seine Cola einschenken konnte. Uschi fand ihn hübsch. Wie er sich bewegte und wie er sprach war so anders, aber so unbergreiflich faszinierend. Seine Schüchternheit die er ausstrahlte war so... so... mysteriös, so doof das auch klang.
„Hi“, sagte sie.
Schnell kamen sie in ein Gespräch. Er war ein wirklich guter Zuhörer. Er sprach so, wie sie es sich von vielen anderen Jungs, mit denen sie zusammen gewesen war, gewünscht hätte. Er verstand sie, wusste, was sie fühlte und hatte den gleichen Humor wie sie. Während des ganzen Abends kamen sie sich immer näher. Es passierte am späten Abend. Beide hatten derweil die Örtlichkeit gewechselt und saßen im Wohnzimmer, das anscheinend schon Anfang des 19. Jahrhunderts un-modern gewesen sein musste, auf einer Couch mit undefinierbarer Farbe. Sie unterhielten sich gerade über ihre Lieblingsmusiker, als sich beide näher kamen und küssten. Lange nahmen sie nichts um sich herum wahr. Für Uschi war es wunderschön, es fühlte sich so gut an!
Von da an waren die beiden ein Paar. Nils wurde in der Schule jetzt halbwegs akzeptiert; vielen war die Kinnlade heruntergefallen, da Uschi eines der hübschesten Mädchen der Schule war. Keiner hatte damit gerechnet, dass Uschi die „Schwuchtel“ zum Freund nehmen würde. Deshalb war das für Nils eine sehr angenehme Zeit in der Schule. So hatte diese Beziehung zumindest auch ein paar Vorteile für Nils. Viele andere Jungs beneideten ihn.
Am Anfang war auch alles wirklich sehr schön und sah nach Sonnenschein aus. Aber die ersten grauen Wolken kamen schnell. Denn Uschi war kein unbeschriebenes Blatt, was Jungs anging. Des-halb wollte sie mit Nils schnell weitergehen, als nur zu kuscheln und zu knutschen. Doch schon der erste und auch letzte Versuch ging schief.
Sie lagen im Zimmer von Nils, überall brannten Teelichter, die eine ganz romantische Atmosphäre erzeugten. Draußen tobte ein Schneesturm, die Schneeflocken wirbelten nur so. Der Winter hatte schwere Geschütze aufgefahren. In Nils’ Zimmer war es wirklich gemütlich, der ganze Raum war erfüllt vom Kerzenschein. Beide lagen auf Nils Bett und kuschelten. Uschi beschloss, aufs Ganze zu gehen und ließ ihre Hand Richtung Nils’ Hose wandern, in sie hinein und... nichts! In der Hose reg-te sich nichts.
Plötzlich riss Nils seine Lippen von ihren und wandte sich ab. Mit erschrockenem Gesicht starrte er in die Richtung des Fensters. Er zitterte und atmete schwer. Einige Zeit war es ruhig.
„Bitte“, sagte er mit dünner Stimme. „Ich kann das nicht... noch nicht.“
Uschi akzeptierte es, trotzdem blieb er sonderbar distanziert und nachdenklich an diesem Abend. Die Tage danach war Nils so komisch, so abweisend. Er beachtete sie nicht mehr, antworte nicht auf ihre SMS, und am Telefon hatte er nie Zeit. Bald darauf machte Nils Schluss. Er rief sie an, sie solle doch bitte bei ihm vorbeikommen. Uschi freute sich, denn sie dachte, dass es wieder aufwärts gehen würde. Sie wollte ihn mit einem Geschenk überraschen, und zwar mit einer CD seiner Lieb-lingsband „Rosenstolz“. Sie hoffte inständig auf eine Überlebenschance ihrer Beziehung. Aber dar-aus wurde nichts, denn schon den Begrüßungskuss bekam sie nicht. Er führt sie in sein Zimmer. Dort erzählte er ihr alles.
„Wir sind im Moment an zwei verschiedenen Punkten in der Beziehung. Du bist weiter als ich. Ich brauche noch Zeit. Versteh das jetzt nicht falsch, du bist ein nettes Mädchen und ich hab dich wirk-lich gern. Stell jetzt bitte keine Fragen, dass würde alles noch komplizierter machen, es geht ein-fach nicht“, sagte Nils. Während des ganzen Gesprächs stand er am Fenster und schaute dem Schnee zu, der vom Himmel fiel. Uschi dagegen saß auf der Bettkante und wusste nicht, wie ihr geschah.
„Du meinst, es ist aus?“, fragte Uschi, eine Träne lief ihr an der Wange herunter.
Ja, es war aus. Uschi war schockiert. Sie hatte sich wirklich in ihn verliebt, auch, wenn es Schwie-rigkeiten gegeben hatte.
Daheim zerbrach sie die CD und warf sie in den Mülleimer. Das war vor zwei Wochen. Gestern hat-te sie Nils mit seiner Freundin Gisela am Weideneck-Spielplatz gesehen. Beide hatten sich unterhal-ten. Über was hatte sie nicht genau verstehen können, aber zum Schluss hatten sie sich umarmt. Da war es in ihr hoch gekommen und die Wut hatte sie übermannt.
„Diese blöde Schlampe“, murmelte sie wutentbrannt vor sich hin, „und dieser feige kleine Arsch! Gestern erst den Freund gespielt, der noch nicht so weit ist, und heute macht er mit einer anderen rum. Der kann morgen was erleben!“
Den Schulweg raste Uschi nur so. Es tat noch so weh, wie sie die beiden so gesehen hatte, sie fühl-te einen Stich in ihrem Herzen. Von weitem sah sie ihn schon, wie er die Treppe hinaufging. Oben stand sein Freund Olli. In ihrer Wut merkte sie nicht, dass sie gerade ungelegen kam. Auch den Blick von Olli sah sie nicht, sonst hätte sie vielleicht gemerkt, dass sie gerade störte.
„Herr Schneider, bleib wo du bist und wage es nicht dich zu bewegen!“, schrie sie ihm zu.
Von Amazonen und anderen Problemen
Mist! Wo ist er? Musste die genau jetzt kommen!? Alles war perfekt, und dann bildete sich diese Ex-Freundin ein, sie müsse sich in dem Moment für die Abfuhr rächen! Ging das nicht wann anders, dachte ich mir zornig, drehte mich um und ging weiter auf den Eingang zu.
„Bleib wo du bist! Hörst du!“, hörte ich eine tobende Stimme hinter mir.
Doch ich ging auf die große Eichentür zu. Wenn ich sie durchschritten hätte, wäre ich wieder in der Gefangenschaft der Schule, die mich erst zum Mittagessen freilassen würde. Ich schob die dicke und schwere Holztür auf, und ging hindurch. Die Verwünschungen von Uschi drangen nur dumpf durch die Tür, als diese zugefallen war. Schnell ging ich weiter in die große Eingangshalle, wo reges Treiben herrschte. Man sah viele verschlafene Schüler. In der Mitte an der Decke hing ein riesen-großer Adventskranz. Eine Treppe auf der rechten Seite führte zum Sekretariat. Gegenüber führte ein Gang zu Aula der Schule, vorbei an den Rauchertoiletten. In den Pausen hielten sich dort im-mer ein paar „coole“ Halbstarke auf, die ihre Zigaretten rauchten.
Viele standen auch vor dem Vertretungsblatt der Schule. Das war das Heiligste der Schule. Auf diesem Blatt Papier stand, von welcher Klasse heute Lehrer krank waren und deswegen Stunden ausfielen. Leider erfreuten sich alle meine Lehrer bester Gesundheit, also auf zur Turnhalle, denn es stand Fitness auf dem Stundenplan. Doch zu meinem Nachteil hinderte auch die Eingangstür Uschi nicht daran, mir zu folgen, denn schon bald hörte ich sie auf mich zukommen, mit den übli-chen Beschimpfungen. Ich spürte, wie mich zwei Hände an der Hüfte fassten und mich blitzschnell herumdrehten. Die Augen von Uschi blitzten auf vor Zorn. Sie stieß mich nach hinten, dass ich gegen etwas kaltes Hartes prallte, meine Arme drückte sie mit aller Kraft nach hinten, gegen die Wand, an die sie mich gestoßen hatte. Immer mehr Schüler wandten sich um und schauten zu uns, denn Uschi war ungefähr so unauffällig hereingekommen, wie ein Pottwal durch den Zoll am Flug-hafen.
„Du kleines Würstchen. Wie konntest du es wagen, hier noch einmal aufzukreuzen...“, sagte sie fast flüsternd.
„Wa...?“, wollte ich fragen.
„Lass mich gefälligst ausreden, du kleines Häuflein Scheiße!“, sagte sie mit gepresster Stimme.
Was bildete die sich eigentlich ein!? Als was hatte sie mich gerade beschimpft? Ging es ihr eigent-lich noch gut?
„Du wagst es, mit mir Schluss zu machen! Denkst du, Gisi ist besser für dich, oder warum hast du mit mir Schluss gemacht? Entweder, du kommst zu mir zurück, oder ich erzähle jedem von deinem kleinem Stehproblem!“ Sie kam noch näher auf mich zu als sie das sagte. Unsere Nasen waren vielleicht fünf Zentimeter voneinander entfernt. Aha, daher wehte also der Wind, sie war noch nicht über unsere Beziehung hinweg und sah dies als letzte Chance an, mich wiederzubekommen. Ich sah genau die Wut in ihren Augen, diese aber war nicht echt, denn es war noch etwas anderes in ihren Augen, was genau, konnte ich nicht sagen.
„Tut mir leid dass ich ‚zurückgekehrt’ bin, aber falls es dir noch nicht aufgefallen ist, dieses Gebäu-de nennt man Schule“, antwortete ich.
„Spar dir deinen Zynismus, der ist genauso falsch wie du...“
Ich konnte nur den Kopf schütteln, denn das war alles so lächerlich.
„..aber was rede ich. Wahrscheinlich hast du mich schon während der ganzen Beziehung betrogen, und mit Gisi ’rumgemacht. ODER???“, das letzte Wort schrie sie schon förmlich. Die anderen Schü-ler schauten sich erschrocken zu uns um, hinter Uschi hatte sich schon eine Menschentraube gebil-det. Alle sahen sich fragend an, denn keiner wusste, was hier vorging.
Uschi hatte ihren Kopf gesenkt.
„So, jetzt mach mal halblang!“, fing ich an. „Was fällt dir ein mir zu unterstellen, ich hätte etwas mit Gisi gehabt? Das stimmt doch gar nicht!“
„Lüg nicht so schamlos, ich hab euch gestern am Weideneck-Spielplatz gesehen, wie ihr euch um-armt habt. Du weißt ja gar nicht, wie ich mich gefühlt habe. Hintergangen... betrogen... Es war ein Stich, als ich euch beide gesehen habe…“ Ihre Stimme wurde immer weinerlicher als sie das sagte. Sie sah mich auch wieder an, hob den Kopf, Tränen glitzerten an ihren Wangen, die Augen zeigten Trauer. Der Druck auf meine Hände wurde weniger, sie zog ihre Hände zurück und wischte sich die Tränen ab. Ihre Schminke verwischte. Mit ihrem Mund formte sie ein lautloses „Warum“. Die Men-schen um uns herum nahmen wir gar nicht mehr wahr.
„Es lag nicht an dir. Ich habe auch keine Beziehung mit Gisi, sie ist lediglich meine beste Freundin. Es liegt daran, dass du ein Mädchen bist...“
Die Worte hatte ich ausgesprochen, bevor ich etwas dagegen tun konnte. Uschi sah mich mit er-schrockenem Gesicht an und schlug die Hände vor den Mund.
„Nein!“, hauchte sie.
Mist, musste immer ich in alle möglichen Fettnäpfen treten! Erst denken, dann sprechen. Das alles ging mir zu schnell.
Ich schob sie weg von mir, sie taumelte mehr, als dass sie ging. Ich lief an ihr vorbei. Jetzt be-merkte ich erst, dass es in der Eingangshalle totenstill geworden war. Absolut jeder starrte mich an. Mir wurde heiß, ich musste weg. Ich hatte nicht laut gesprochen, aber anscheinend musste jeder die Worte verstanden haben. Mir wurde erst jetzt bewusst, was ich angerichtet hatte.
Schnell weg, ich brauche jetzt Ruhe!, dachte ich panisch.
Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge, keinem sah ich in die Augen. Was sollte ich schon Neues sehen, von Ekel, Ablehnung oder Schadenfreude mal abgesehen. Nachdem ich die Men-schenmassen hinter mir gelassen hatte, fing ich an zu rennen.
„Ich hab’s doch gewusst“, glaubte ich zu hören.
Den erstbesten Gang entlang, die nächste Treppe hinauf, dann wieder ein Gang, ein paar Stufen hinunter. Ein paar mal hatte ich einige Schüler angerempelt, die mir zornige Bemerkungen hinter-her riefen.
Irgendwann stand ich im Neubau der Schule. Dieser Teil war wie ein Krankenhaus, steril und peni-bel sauber. Im Gegensatz zum Rest der Schule hatten sich die Putzfrauen hier Mühe gegeben. Hier stand mein Spind. Ich sperrte ihn auf, stopfte meine Schulsachen hinein und zerrte meine Sportsa-chen heraus.
Hier war niemand, es war totenstill. Es war so schön angenehm. Jetzt ließ ich das gerade Erlebte Revue passieren. Was würde jetzt in der Eingangshalle los sein? Lachten sie mich aus? Hatten sie Verständnis? Würde Uschi die anderen gegen mich aufhetzten?
Everything’s shit.
Ich lehnte mich gegen den Spind und atmete tief ein und aus. Erst jetzt bemerkte ich, dass meine Hände schmerzten, da ich sie zu einer Faust verkrampft hatte. Ich bekam sie fast nicht wieder auf. Der Rest meines Körpers war angespannt. Mein Herz hörte ich schlagen, so laut war es. Die Schul-glocke läutete. Obwohl mir die Lust auf Schule vergangen war, musste ich mich auf den Weg ma-chen. Ich knallte meinen Spind zu, so fest, dass man es bestimmt noch am anderen Ende der Schule hörte.
Doch da sah ich ihn. Er stand da. Einfach so. Er stand da und schaute mich an. Im ganzen Trubel hatte ich Olli völlig vergessen. Er war vielleicht drei Meter von mir entfernt. Ich hatte ihn gar nicht kommen hören. Er schaut mich mit seinen Augen an. Nein, er starrte mich an. Mehr nicht. Kein Wort, keine Geste, nichts. Langsam kam Olli auf mich zu.
Was wollte er? Mich wieder fertig machen? Mir die Freundschaft kündigen? Näher. Er kam immer näher. Diese Szene war wie ein Déjà-vu für mich. Ich hatte sie gerade in der Eingangshalle erlebt, und es war nicht gerade ein positives Erlebnis für mich gewesen. Jetzt war er vielleicht noch einen Meter weg.
„Hey...!“, sagte er zur Begrüßung.
Ich wollte etwas sagen, aber mein Mund wollte sich nicht bewegen.
„Das gerade eben in der Eingangshalle ist ja nicht so prickelnd gelaufen. Uschi ist fast zusammen-geklappt, als du weg warst. Du bist jetzt mehr oder weniger das Schulgespräch. Tja, die Klatschre-porter der Schule sind immer noch die besten!“ Das alles sagte Olli in einem Tonfall, dem ich nicht zuordnen konnte, ob er jetzt positiv oder negativ war.
„Naja, was tut man nicht alles für ein bisschen Publicity...?“, konnte ich mich sagen hören.
„Ich wollte dir nur sagen, dass das jetzt eine schwere Zeit für dich werden könnte, und du kannst immer auf mich zählen. Ich weiß, das klingt etwas komisch. Aber, als du mir gestern gesagt hast, dass du schwul bist, hab ich mich irgendwie hintergangen gefühlt, weil du mich die ganze Zeit an-gelogen hast, obwohl ich dein bester Freund bin. Bitte nimm es mir nicht allzu übel, aber da hat einfach für kurze Zeit mein Verstand ausgesetzt. Erst im Nachhinein, als ich darüber nachgedacht habe, ist mir aufgefallen, dass dir das alles wahrscheinlich auch nicht leicht gefallen ist. Außerdem bist und bleibst du mein bester Freund und einer der Menschen, die mir am meisten bedeuten. Klingt kitschig, aber wie sollte ich es anders sagen? Ich möchte mich entschuldigen für das, was ich gestern gesagt habe, und für meine Reaktion. Es tut mir Leid“, sagte Olli.
Ich wollte antworten, dass das nicht so schlimm sei, aber ich konnte nicht. Irgendwas hatte ich im Hals. Ich schwieg anscheinend sehr lange, denn ich sah Ollis Gesicht an, dass er ungeduldig wurde und mein Schweigen missinterpretierte.
„Mensch Nils! Was erwartest du noch von mir? Du weißt, dass ich’s nicht so mit Worten habe. Oder willst du jetzt auf immer und ewig sauer auf mich sein?“, fragte er mich.
Der Kloß wurde immer größer.
„Jetzt sei nicht so stur. Was soll ich denn noch tun, um dir zu beweisen, dass ich es ernst meine? In Regenbogenfarben ’rumlaufen? Den CSD besuchen? Ich weiß, dass es ein Fehler war, dich zu beleidigen...“
Er machte eine kurze Pause und fuhr dann resignierend fort: „Genauso war es ein Fehler, dir zu sagen, dass es mir Leid tut. Denn ich kannte deine Reaktion. Du würdest den ‚Ich-brauch-keine Freunde’-Märtyrer spielen, genau wie bei Gisi“, seine Stimme wurde lauter.
„Sei ruhig!“, sagte ich laut zu ihm. Ich konnte nicht glauben, was er gerade gesagt hatte.
Erschrocken schaute Olli mich an. In Gedanken ermahnte ich mich zur Ruhe. Ich wollte es mir mit Olli nicht verscherzen. Er war mein bester Freund, und ich wollte ihn behalten. Aber er drehte sich um und wollte gehen. Vielleicht enttäusche ich ihn gerade maßlos. Er wollte gerade die Treppe zum Altbau hinuntergehen, als ich endlich meine Stimme wieder fand.
„Warte!“
Olli sah noch einmal zu mir her.
„Natürlich nehme ich deine Entschuldigung an. Was denkst du denn?“, rief ich ihm nach.
Die Gesichtszüge von Olli entspannten sich, er sah erleichtert aus.
Die Schulglocke läutete ein zweites Mal. Ich ging auf ihn zu, bis ich auch auf der Treppe stand.
„Komm, lass uns zu Sport gehen. Die Kugel wartet nicht gerne. Sonst überrollt sie uns zum Schluss noch!“, scherzte ich, da musste auch Olli lachen.
Die Kugel war unser Sportlehrer. Eigentlich war sein Name Herr Becker, aber leider war er so groß wie breit. Er war mehr ein selbstständiger Kontinent als ein Mensch.
„Ja, ok! Aber noch was zum Schluss. Ich hab kein Problem damit, dass du schwul bist, aber bitte gib mir noch Zeit, bis ich richtig frei mit dir darüber reden kann. Daran muss ich mich erst noch gewöhnen. Ist das in Ordnung?“, fragte Olli, ich nickte. Danach kam mein bester Freund auf mich zu und umarmte mich. Das war seine Art der Entschuldigung. Für mich war dies das Zeichen für mich, dass er mit mir kein Problem hatte. Er brauchte Zeit? Diese Zeit sollte er haben, wenn er sie brauchte.
Das Geräusch des Fotohandys, das uns fotografierte, bemerkten wir nicht.
Ein Problem kommt selten allein
Wir gingen Richtung Turnhalle. Ich versuchte, die Hauptgänge zu meiden, trotzdem fühlte ich mich beobachtet, obwohl wir fast keinen Schülern begegneten. Keiner von uns sprach ein Wort. Wir hin-gen unseren eigenen Gedanken nach.
Meine Wenigkeit war glücklich, dass ich meinen besten Freund wieder hatte, ich konnte es noch gar nicht fassen. Natürlich konnte es nicht über das Ereignis mit Uschi hinwegtrösten, aber ich hatte Olli wieder! Jetzt erschien mir die Schule nicht mehr so dunkel und schrecklich. Mit seiner Hilfe würde ich bestimmt alles besser durchstehen.
Wir bogen in den Gang der Turnhalle ein. Ich öffnete die Tür zu Umkleide, wollte gerade noch einen Kommentar über unseren Sportlehrer machen, drehte mich zu meinem neuen alten Freund und sah in sein Gesicht. Dessen Augen weiteten sich und er zeigte mit einem Finger in die Umkleide. Schnell sah ich dort hin, wo Ollis Finger hinzeigte.
Ich erblickte vier große Gestalten. Es waren Florian, Simon, Markus und Michael. Sie grinsten fies, ihre Augen zeigten Hass und Bösartigkeit. Ich war wie versteinert und konnte mich nicht bewegen. Mir wurde schnell bewusst, dass es diesmal nicht nur die üblichen Beleidigungen sein würden. Sie umkreisten mich.
„Wen haben wir denn da? Die Schwuchtel mit Anhang“, sagte Michael mit einem gefährlichen Blit-zen in den Augen.
„Hey Olli, pass auf, dass du dich nicht bückst, sonst könnte das schmerzhaft für dich ausgehen, wenn der da hinter dir steht!“ Simon zeigte mit dem Finger auf mich. Plötzlich ergriffen mich zwei kräftige Arme von hinten und rissen meinen Oberkörper schmerzhaft nach hinten.
Das nächste, was ich wahrnahm, war ein heftiger Schmerz in der Bauchgegend, und noch einer und noch einer. Meine Sicht verschwamm für kurze Zeit. Aus den Augenwinkeln sah ich ein Faust auf mein Gesicht zufliegen. Sie traf meine Nase. Etwas knackste. Ich spürte das Blut aus meiner Nase fließen. Der nächste Schlag traf meinen Mund. Ich schmeckte Blut. Mehr nahm ich nicht mehr wahr, denn ich verlor mein Bewusstsein. Ganz entfernt hörte ich Olli meinen Namen rufen.
Schmerz.
Überall. Sie hatten aufgehört, aber es gab keine Stelle an meinem Körper, die nicht wehtat. Mein Schädel fühlte sich an, als hätte ihn ein Presslufthammer bearbeitet. In meine Seite hatten sie auch hinein getreten. Aber das schlimmste waren die Schmerzen, die mir meine Nase bereitete. Der Geschmack von Blut war in meinem Mund. Von irgendwo her hörte ich lautes Atmen.
„Dieser schwulen Sau haben wir es aber gezeigt! Auf dass sie nie wieder aufstehen wird!“, sagte eine Stimme, ich glaube, Florian war es. Ihn hatte ich immer für einen netten Mitschüler gehalten. Wie man sich doch irren konnte.
„Du hast Recht! Das hat gut getan, sich mal wieder so richtig abzureagieren!“, stimmte ihm Markus zu. Er war der Prolo in der Klasse, sein Intelligenzquotient bewegte sich so um Raumtemperatur. Ihm traute ich so etwas zu, und zwar voll und ganz.
„Kommt! Bevor die Kugel hier erscheint! Lasst uns abhauen!“
„Und was ist mit dem?“
„Den da? Den lassen wir liegen!“
Ich öffnete meine Augen, es kostete mich sehr große Kraft das zu tun. Ich sah in die vier zufriede-nen Gesichter meiner Peiniger. Sie grinsten, und man konnte ihr selbstgefälliges Lachen hören. Ich schloss meine Augen wieder, einmal traten die Jungen mich noch in die Seite, dann liefen sie weg. Jetzt lag ich da und konnte nichts tun. Wo war Olli? War er weglaufen? Na ja, konnte man es ihm verdenken?
Wie lange lag ich schon hier? Die Schmerzen wurden immer schlimmer. Warum kam niemand? Schritte hallten im Gang. Kamen sie zurück? Stimmen wurden lauter.
„Dort hinten ist es passiert! Kommen Sie schnell. Sonst ist es vielleicht zu spät.“
Gott sei Dank, dachte ich erleichtert, Olli hat mich nicht vergessen. Aber mit wem war er gekom-men?
„Nicht so schnell, ich bin nicht mehr der Jüngste“, sagte eine keuchende Stimme.
Oh nein! Er hatte die Kugel mitgebracht! Der galt als einer der konservativsten Lehrer der Schule.
„Jetzt beeilen Sie sich, Herr Becker!“, drängte mein Freund den Lehrer.
Die Schritte hörten auf, sie waren endlich da. Ich hörte jemanden tief einatmen.
„Oh mein Gott! Ich glaub nicht, was ich da sehe!“, nahm ich die Stimme meines Sportlehrers wahr.
„Nils, kannst du mich hören? Wie gehts dir? Kannst du aufstehen? Hast du schlimme Schmerzen“, fragte Olli direkt neben meinem Ohr. Er war schon immer etwas übereifrig, deshalb antwortete ich mit einem Stöhnen in der Stimme: „Ja. Schlecht. Glaube nicht. Ja, sehr schlimm.“
Plötzlich fühlte ich vier Hände, die mich hochhoben und auf eine der Bänke im Umkleideraum leg-ten. So sanft sie es auch versuchten, es tat höllisch weh. Die Bänke waren hart und unbequem. Schmerzverzerrt verzog ich das Gesicht.
„Geht es? Kannst du dich vielleicht hinsetzen?“, fragte mich Olli.
Es kam nur ein Stöhnen über meine Lippen und etwas, das sich wie „Ich versuch’s“ anhörte. Ich nahm meine ganze Kraft zusammen und versuchte, mich aufzusetzen. Meine Nase fühlte sich an, als wolle sie gleich explodieren.
Mein ganzer Körper war wie ein einziger blauer Fleck. Olli stützte mich. Mit Ächzen und Stöhnen schaffte ich es sogar, mich in eine aufrechte Lage zu bringen. Ich spürte jeden einzelnen Knochen.
„Olli, geh schnell ins Sekretariat und lass die Schulsanitäter ausrufen“, forderte Kugel Olli auf. „Ich bleibe solange hier und passe auf.“
Nicht so laut, dachte ich. Das hält mein Kopf nicht aus!
Rrrrrruuuuuummmmsss!!! Die Tür zur Umkleide knallte zu.
In meinem Kopf explodierte ein Bombe, die ganz Deutschland hätte vernichten können.
Weiß, winzig und unheimlich ungemütlich, so sah unser Erste-Hilfe-Zimmer aus. Hier lag ich nun, mit einem Wattebausch im Mund, der die Blutungen im Mund stoppen sollte. Der Schulsanitäter kniete vor mir und versuchte, mich zu verarzten. An seinem Gesicht konnte ich erkennen, dass all das hier seine Kenntnisse überstieg. Unser Sanitätsdienst bestand aus Schülern, die extra dafür geschult worden waren, den Schülern bei leichten Verletzungen zu helfen. Meistens waren diese Verletzungen Nasenbluten, eine verstauchte Hand oder Übelkeit. Letzteres war meistens erfunden, um dem Unterricht entgehen zu können.
„Ich glaub, ich ruf im Krankenhaus an“, gab er mit einem verzweifelten Achselzucken auf.
Mein Sportlehrer nickte nur. Er hatte die ganze Zeit unter der Tür gestanden und hatte skeptisch dem Sanitäter zugesehen. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft hatte, hierher zu kommen. Auf jeden Fall hat dieser Weg meine schon sehr strapazierten Kraftreserven aufgebraucht, denn der Raum, in dem wir uns befanden, war im ersten Stock. Schon ironisch, dass der Raum, in den man Verletzte bringen sollte, nur über eine Treppe erreichbar war.
Der Schulsanitäter ging schnell ins Sekretariat, um dort zu telefonieren. Als er draußen war, schloss mein Sportlehrer die Tür, nahm sich einen Hocker und setzt sich vor mich. Ich selber lag auf einer Liege und starrte die Decke an. Die Kugel räusperte sich.
„Ähm, ich möchte ja nicht stören, aber was genau ist in der Sportumkleide passiert? Weil, nach einer gewöhnlichen Streiterei sah das ja nicht aus!“
Oh mein Gott, der Papst unter den Lehrern möchte wissen was passiert ist! Ich glaube, der würde mich köpfen lassen, wenn er wüsste was, passiert war!
Zur Erklärung, Herr Becker unterrichtete Sport und katholische Religion. Und der beliebteste Lehrer war er auch nicht, er konnte ein richtiger Kotzbrocken sein. Außerdem war ich nicht wirklich sein Lieblingsschüler, da ich mich gerne mit ihm anlegte. Ich glaube, ich muss dazu nichts mehr sagen.
Ich zog den Wattebausch aus dem Mund und erzählte die Geschichte, ließ aber bestimmte Details weg, z.B. dass ich schwul war und das, was heute Morgen in der Eingangshalle passiert war. Ich sog mir einen mäßig plausiblen Grund aus den Fingern, warum die vier auf mich losgegangen wa-ren. Als ich geendet hatte, musste ich tief durchatmen. Hoffentlich glaubte er mir. Ich wurde ent-täuscht.
„Das war eine schöne Geschichte, aber wir sind hier nicht bei einer Gerichtssendung, wo alles an den Haaren herbeigezogen ist wie deine Geschichte! Ich möchte die wahre Geschichte hören!“, sagte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
Irren ist menschlich
Jetzt war ich in einer Zwickmühle. Was sollte ich tun? Sollte ich ihm die Wahrheit erzählen? Würde er es verstehen? Mit dem Ruf, den er hatte, konnte es wirklich unangenehm werden. Ich entschied mich, alles auf eine Karte zu setzen.
„Sie haben mich zusammengeschlagen, weil mir heute Morgen vor meiner Ex-Freundin herausge-rutscht ist, dass ich schwul bin. Leider geschah dies in der Eingangshalle, und es haben viele mit-gekriegt. Anscheinend auch die, die mir diese Tracht Prügel verpasst haben. Ich wusste schon lan-ge, dass viele an dieser Schule sehr homophob sind. Tja, und den Rest können Sie sich wahr-scheinlich zusammenreimen…“, erzählte ich.
„Das ist ja so eine Schweinerei!“
Er sah mich an. Seine Kinnlade war heruntergefallen. Aber sein Gesichtsausdruck wurde schnell zornig. Er sah mich mit einem Blick an, bei dem mir angst und bange wurde.
„So etwas gibt es an meiner Schule?“ Er sah mich noch immer an und wurde lauter. „Das gehört doch verboten!“
Oh mein Gott, er wird doch nicht doch etwas gegen Schwule haben, oder?
Er stand auf und ging im Raum umher. Doch auf einmal blieb er abrupt stehen und sah mich ganz erschrocken an.
„Was hast du denn? Du schaust ja so schockiert!“, fragte er mich.
„Haben Sie etwas gegen homosexuelle Menschen?“, brachte ich nur hervor.
„Was? Wieso sollte ich etwas gegen sie haben, es sind doch auch nur Menschen wie du und ich?“ Er sah mich verständnislos an.
„Ihre Reaktion hat mir Angst gemacht, denn Sie haben mich dabei so böse angeschaut, als Sie gesagt haben, dass so etwas verboten gehöre“, murmelte ich eingeschüchtert.
„Mein Gott, müsst ihr Jugendlichen alles falsch verstehen“, fing er mit einem Kopfschütteln an. „Natürlich habe ich nichts gegen Schwule oder Lesben. Ich finde es eine Schweinerei, dass immer noch so viele, sagen wir, primitive Menschen herumlaufen, die denken, dass alles, was anders ist als sie, verboten gehöre oder ähnliches. Dabei sind Schwule selber nie der Stein des Anstoßes. Ein Schwuler würde nie auf die Idee kommen, einem Heterosexuellen eine rein zu hauen, bloß, weil dieser anders ist als er. Ich habe einige schwule Freunde, die ich alle kennen gelernt habe, da mein eigener Sohn auch schwul ist. Ich kann nur sagen, dass Schwule sehr nette Menschen sind. Ich weiß, ich bin Religionslehrer und, dass das alles sehr komisch klingt aus dem Mund eines Theolo-gen. Ich finde Diskriminierung einfach grässlich und schlimm, da es auch noch heute passiert, in einer Gesellschaft, von der man ausgehen sollte, dass sie tolerant sei. Leider ist es all zu oft Reali-tät, dass viele Schwule fertig gemacht werden und damit nicht klar kommen. Oft auch, weil die Unterstützung von Zuhause fehlt. Deshalb haben Homosexuelle ein 7xl höheres Selbstmordrisiko als Heteros. Ich finde das auf Deutsch gesagt zum Kotzen, dass viele noch so konservativ und into-lerant sind. Daher möchte ich allen helfen, die deswegen Hilfe brauchen.“
Jetzt war ich derjenige, der mit offenem Mund dastand. Ich konnte nicht glauben, was ich da gera-de gehört hatte. Trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich Selbstmord begehen würde. Ich hatte nämlich Freunde, auf die ich mich immer verlassen konnte und die mich immer wieder auf-richten würden.
Aber Herr Becker war noch nicht fertig mit seiner Rede: „Ich werde immer hinter dir stehen, du kannst auf mich bauen, wenn es darum geht, diesen Menschen zu zeigen dass sie zu weit gegan-gen sind. Das war und ist mir schon immer ein besonderes Anliegen gewesen...“
Weiter kam er nicht, denn plötzlich hörte ich einen Aufschrei. Erschrocken wand ich mich zur Tür um und sah, wie Gisi darunter stand. Im nächsten Moment hatte sie sich schon auf mich gestürzt. Meine Schmerzen, die sich während des Gesprächs zwischen mir und meinem Lehrer irgendwie verflüchtigt hatten kamen ganz schnell wieder zurück. Jetzt spürte ich wieder jeden Knochen und jeden einzelnen blauen Fleck an meinem Körper. Ich schrie laut auf, Gisi wich zurück, als hätte ich ihr einen Stromschlag verpasst.
„Oh mein Gott! Entschuldigung! Das tut mir Leid! Das wollte ich nicht! Tut’s noch sehr fest weh? Du musst nichts sagen, ich weiß alles von Olli“, entschuldigte sich Gisi bei mir. Sie war ganz aus der Puste und musste sich erstmal verschnaufen.
„Es geht schon! Pass aber das nächste Mal ein bisschen besser auf“, sagte ich mit zusammengebis-senen Zähnen.
„Ja werde ich. Du siehst ja richtig schlimm aus! Diese blöden Typen, wie konnten sie das nur tun? Wenn ich die nur in die Hände kriege, dann verarbeite ich sie zu Brei. Darauf kannst du aber einen lassen! Da wird auch deine ‚Ich-bin-gegen-Gewalt’-Einstellung nichts helfen!“, steigerte sie sich immer weiter rein. „Hey, warum lachst du? Ich meine das ernst.“
Ich wusste, dass es ernst gemeint war. Aber wie sollte ein ungefähr 1,55m großes Mädchen gegen vier mindestens 30 Zentimeter größere, brutale Schläger ankommen? Ich stellte mir gerade vor, wie sie wie eine Furie auf die vier losging. Ich weiß, es war etwas unpassend, aber dieser Gedanke war einfach zu komisch.
„Ich muss dann wieder in den Unterricht, die lieben Kinder der 7. Klasse können es gar nicht er-warten, mehr über die Bergpredigt zu erfahren. Sie rennen mir förmlich die Bude ein, wenn ich nicht komme. Was so viel heißen soll wie, 27 Schüler kurz vorm Einschlafen, denen ich etwas über die Bibel beibringen soll“, meinte die Kugel augenzwinkernd.
Verwundert sah Gisi ihm nach.
„Was ist denn mit dem passiert? Ist er jetzt menschlich geworden?“, fragte Gisi. Ich glaube, sie war hoffnungslos verwirrt.
Schnell erzählte ich ihr, was passiert war und, was die Kugel gesagt hatte. So fest, wie ihre Kinnla-de heruntergeklappt war, musste man die Erschütterung noch in Indien gespürt haben.
„Wer hat denn den umgedreht? Na ja, was soll’s, je mehr wir auf unserer Seite haben, desto bes-ser...“
Weiter kam sie nicht, denn die Tür wurde wieder aufgerissen und ein Mann in rotweißem Gewand und einem schwarzen Koffer trat herein.
„Ha’ma mal wieder z’fest g’schlägert!“, sagte er mit einer kühlen Sachlichkeit, die, wie mir schien, im Zimmer spontan Eiszapfen wachsen ließ. Jetzt sah er sich meine Nase an, natürlich ganz vor-sichtig. So vorsichtig, als hätte man ihm gesagt, es gäbe einen Preis, wenn er fest auf meine Nase drückte und dazu noch fragte: „Tut’s weh?“
Ich liebe menschliche Ärzte, wenn es sie den geben sollte.
Eigentlich sollte er mein Schmerzen lindern, aber er verschlimmerte sie. Er versuchte sogar, meine Nase nach links und rechts zu bewegen. Da konnte selbst ich mir ein schmerzerfülltes Keuchen nicht verkneifen. Sein einziger Kommentar dazu war: „Also, ganz gebrochen ist sie nicht.“
Na ja, noch nicht, dachte ich mir sarkastisch. Aber bald, wenn du Grobian so weitermachst.
Wenigstens machte er seine Arbeit gut und diagnostizierte ein angebrochenes Nasenbein, mehrere geprellte Rippen, eine offene Wunde im Mund, die aber nicht allzu groß war (zum Glück waren meine Zähne heil, denn ich hasste den Zahnarzt und wollte um jeden Preis vermeiden, dorthin gehen zu müssen) und überall blaue Flecken und Prellungen.
„Einen Verband oder Schiene müssen wir nicht anbringen, da die Nase weder deformiert noch ein-gedrückt ist. Trotzdem sollten Sie die Nase die nächsten 5 Tage in Ruhe lassen und bitte nicht allzu sehr belasten, schlafen Sie also auf dem Rücken. Falls Sie große Schwierigkeiten beim Atmen ha-ben, kommen Sie bitte sofort zu uns, genauso, wenn sich ein Bluterguss an der Nasenscheiden-wand bildet, sonst könnte das böse für Sie enden.“
Das sagte genau der Richtige, nämlich einer, der mich so sanft behandelte wie ein Rasenmäher. Er fuhr aber weiter fort: „Wegen der Prellungen an Ihren Rippen mache ich Ihnen einen Verband. Für die ersten zwei Wochen müsste das genügen. Ich sage Ihnen aber jetzt schon, dass das sehr lange dauern wird, bis die Schmerzen enden. Wenn es gut geht und Sie sich schonen, müssten sie in drei bis sechs Wochen weg sein.“
„Was, so lange, kann man da nichts machen? Sonst kann ich ja gar nicht mehr Tanzen!“, rief ich bestürzt. Leider wurde ich sofort wieder von Schmerzen durchfahren und krümmte mich auf der Liege.
„So etwas und das Tanzen sind in den nächsten Wochen sowieso Tabu! Für die Schule bekommen Sie eine Entschuldigung für eine Woche. Danach werden Sie wieder lernen dürfen!“
Natürlich, für die Schule war man immer fit genug, aber für das, was einem Spaß machte, war man noch zu lädiert. Es war immer dasselbe.
Ich konnte mich aber leider nicht länger über diese Tatsache ärgern, denn ich musste mich oben herum freimachen. Der Arzt legte mir nämlich den Verband an, und zwar so fest, dass ich glaubte, keine Luft mehr zu kriegen. Danach schien der Arzt fertig zu sein und packte seine Sachen zusam-men. Beim hinausgehen sagte er noch: „Lassen Sie das in fünf Tagen alles bei Ihrem Hausarzt nachsehen. Hier haben Sie noch eine Schmerztablette, nehmen Sie sie bitte gleich. Und noch et-was, stellen Sie sich bitte in den nächsten Tagen und Wochen gut mit deinen Mitmenschen, noch einmal wird das für Ihren Köper nicht so glimpflich (Glimpflich?!, dachte ich ungläubig) ausgehen!“
Eigentlich wollte ich ihm noch eine bissige Bemerkung hinterher rufen, aber er war schon weg. Außerdem dachte ich an die Schmerzen, die mich wieder durchfahren würden.
„Menschenskinder, war der so kühl, oder ist hier im Zimmer spontan der Winter ausgebrochen?“, meldete sich Gisi zu Wort, die während der ganzen Behandlung ihren Mund gehalten hatte.
Ich musste ihr Recht geben. Doch plötzlich durchfuhr mich ein schrecklicher Gedanke. Was sollte ich meiner Mutter sagen? Sollte ich ihr die Wahrheit erzählen? Wenn ja, würde sie sie ertragen? Konnte ich ihr noch in die Augen schauen?
„NILS! Oh mein Gott, Nils, was ist mit dir passiert? Wer hat dir das angetan?“, schrie eine Stimme, die mir wohlbekannt vorkam. Tja, wenn man von der Mutter spricht, dann kommt sie…
Sie sah zuerst mich, dann den Verband um meine Brust an, denn ich hatte mein Oberteil noch nicht wieder angezogen, dann blickte sie zu Gisi und dann noch einmal zu mir. Sie eilte auf mich zu und drückte mich ganz fest an sich. Leider wusste sie nicht, was sie damit auslöste, denn ich ließ einen lauten Schmerzensschrei los.
„Jetzt sei nicht so ein empfindliches kleines Kind, so schlimm kann es dir ja gar nicht gehen, du lebst ja noch.“
Soviel zur besorgten Mutter.
„Mama, ich habe eine angebrochene Nase und einigen Prellungen und blaue Flecke. Es tut mir Leid, dass ich nicht so erfreut bin, wenn du mich in deinem Eifer halb erdrückst“, gab ich zurück, nach-dem sie mich wieder losgelassen hatte.
„Was machst du nur für Sachen? Könnt ihr Männer immer nur an Gewalt denken, könnt ihr denn nie einen Konflikt nur mit Worten lösen? Warum habt ihr denn schon wieder geschlägert?“, fragte sie verständnislos. „Also, jetzt will ich hören, warum man dich so zugerichtet hat!“
Ich sah zu meiner besten Freundin hinüber. Sie schaute mich genauso ratlos an wie ich mich selber fühlte. Was tun? Meine Mutter erwartete eine Antwort von mir. Was sollte ich sagen? Ich erzählte ihr die sichere Variante.
„Sie haben mich zusammengeschlagen weil sie immer noch dachten, ich sei schwul.“
„Aber ich hab dir doch immer gesagt, du solltest nicht darauf achten und nicht darauf reagieren. Aber du bist und bleibst ein Mann und musst gleich schlägern!“
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