zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

My real life

Teil 3

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Jaja, lang hat‘s gedauert, bis ich mal wieder weitergeschrieben habe. Meine Motivation hatte nachgelassen. Außerdem hatte ich niemanden mehr, der mir meine Geschichten durchlas und verbesserte und alleine bin ich immer so unsicher, ob das alles so richtig ist. Aber genug gelabert, ich wünsche euch noch viel Spaß mit meiner Story.

Ferien sind doch was Schönes, oder?

Die Bäume rauschten verschwommen an mir vorbei. Ich sah aus dem Fenster. Schneeflocken kamen vom Himmel, sie tanzten vor dem Fenster herum, um sich anschließend in der riesigen, weißen Landschaft zu verlieren. Der dunkelgraue Strich der Straße wirkte fast feindselig zur weißen Winterlandschaft, dieser großen Masse, die alles zu verschlucken drohte. Der Straßenbelag war sehr schlecht, zu viele Schlaglöcher und zuwenig ebene Fahrbahn. Diese Straße ließ mich immer wieder erinnern, was heute alles passiert war. Wieso? Na ja ... bei jeder Unebenheit taten mir Knochen weh, von denen ich noch nicht einmal wusste, dass es sie überhaupt gibt. Jedes Mal durchzuckte mich der Schmerz, und dieser Schmerz ließ mich immer an den Vorfall in der Schule denken. Das Erlebnis heute war das mit abstand Schlimmste, was je passiert war, aber trotzdem nur die Spitze des Eisbergs. Jahrelange Demütigungen ... es war so viel passiert ... in der neunten Klasse fragte mich ein Typ aus meiner Klasse sogar, ob ich mit ihm eine Nummer schieben könnte, denn ich sei ja gewohnt, im gleichen Gewerbe wie meine Mutter zu arbeiten. Und anders könnte man sich ja auch nicht vorstellen, wie so etwas wie ich zur Welt gekommen sei, eine anständige Frau hätte ja auch ein anständiges Kind bekommen. Hilfe von meiner Familie konnte ich diesbezüglich nicht erwarten, was wäre denn passiert?

Ja genau! Nichts! Die, die mir halfen, waren meine Freunde, sie trösteten mich und sagten, ich solle nicht auf diese Idioten hören, ich sei ein wundervoller Mensch so wie ich sei. Zumindest das baute mich ein bisschen auf, wenn auch nicht viel, obwohl es lieb von ihnen gemeint war.

Jetzt rauschten keine Bäume an mir vorbei, sondern die kleinen und feinen Häuser des Dorfes, in dem ich wohnte. Es war „toll“ hier, sobald etwas hier geschah, verbreiteten es die hiesigen Klatschreporter schneller als der Schall. Tom und ein paar Klassenkameraden wohnten auch hier in diesem Kaff, und so wie ich die Leute kannte, würde morgen das Dorf wissen, dass ich mich mit jemand geschlagen hätte (wer hier wen geschlagen hat, ist egal, Hauptsache man kann tratschen). Genau das machte meiner Mutter zu schaffen, denn ihr Sohn durfte sich nicht schlagen. Während der Heimfahrt hielt sie mir eine Standpauke, die ich kommentarlos über mich ergehen lies.

Zum Schluss sagte sie noch: „Dass mir das nie wieder vorkommt. Das ist ja so peinlich, das erzählst du keinem weiter. Niemand muss wissen, dass du dich geschlagen hast, sonst reden sie wieder im Dorf über uns ... (Pause) ... was sollen nur die Leute über uns denken, wenn sie erfahren, was für einen aggressiven Sohn ich habe. Du lieber Gott. Ich höre sie jetzt schon reden ... (Pause) ... Du wirst schon wie dein Vater, der schlägt auch immer, wenn ihm etwas nicht passt.“

„Aber ich habe doch gar nicht angefangen, oder irgendjemand provoziert, geschweige denn zurückgeschlagen“, verteidigte ich mich.

„Das ist doch egal. Es geht hier ums Prinzip und nicht wer was gemacht hatte.“

Eigentlich wollte ich weiter protestieren, aber sie ließ mich nicht zu Wort kommen. Ich konnte ihr einfach nicht begreiflich machen, dass ich wirklich schuldlos sei, sie sah nur den Fakt, dass ich beteiligt war. Diese Sturheit machte mich immer noch rasender. Ach ja, sie war noch lange nicht zuende mit den Vorhaltungen, wobei die Vorwürfe immer aus den gleichen Sätzen bestanden und sich immer wieder wiederholten. Inzwischen bogen wir in die Einfahrt unseres Hauses ein. Natürlich piekfein gekehrt und gebohnert, man wahrt ja den Schein mit einer perfekten Fassade. Das war das Wichtigste für meine Mutter, Hauptsache das sollte perfekt sein, wie ich diese Oberflächlichkeit hasste. Aber hinterschaute man diesen durch und durch perfekt gewahrten Schein, sah man einen Säufer und gewalttätigen Ehemann, eine resignierte Ehefrau, die nichts aus ihren Talenten und ihrem Potential machte, sondern nur elendig verkümmern ließ, sowie zwei Kinder, von denen eines schwul war. Wenn das alles bekannt würde, wäre das ein Einschlag wie eine Bombe, am besten zu vergleichen wie damals in Hiroshima, wenn nicht sogar noch schlimmer. Meine Mutter würde das gesellschaftlich umbringen. In einer Großstadt wäre das nicht so schlimm, aber hier in einem Kuhdorf, wo jeder jeden kennt, wären sie mit Fackeln und Heugabeln hinter einem her. Außerdem hatten meine Eltern hier ein riesiges Haus, Freunde und Verwandte lebten hier, man könnte nicht einfach so weggehen, wenn sich die Situation zuspitzte. Bis zu einem gewissen Punkt konnte ich meine Mutter durchaus verstehen, dass sie hier nicht auffallen wollte, aber man konnte es auch definitiv übertreiben.

Ich stieg aus und war froh daheim zu sein, hier konnte ich meiner Mutter ausweichen und hatte meine Ruhe vor der Lehranstalt. Drinnen wartete mein Bruder Benjamin, kurz Benni, auf mich.

„Boah, wie siehst du denn aus. Mit was bist du denn zusammengestoßen?“, begrüßte er mich mit ungläubigem Blick.

„Nicht was sondern wer. Aber da du schon fragst, es waren ein paar meiner Klassenkameraden“, entgegnete ich meinem überraschten Bruder.

„Ich fände eine Horde Krokodile oder Elefanten glaubwürdiger“, sagte er lachend. „Wenn du Probleme hast, kann ich ja mal mit meinen Kumpels vorbei kommen und die Typen ein bisschen aufmischen.“

Ich wusste, dass er es gut meinte, aber trotzdem schüttelte ich den Kopf.

„Nein, das ist nicht nötig. Darum muss ich mich selber kümmern. Außerdem, wie sähe das denn aus, wenn ich meinen großen Bruder holen würde, der ganz nebenbei bemerkt bayrischer Meister im Schwergewichtsringen ist. So etwas ist doch feige, oder nicht?“

Zwar konnte ich es nicht genau erkennen, aber in den Augen meines Bruders blitzte kurz etwas auf, ich glaube es war so etwas wie Anerkennung vor seinem kleinen Bruder. Als ich jünger war, habe ich meinen Bruder oft geholt, da er mit seinen 1,96 Größe und den Proportionen eines Schrankes sehr angsteinflößend aussah. Deswegen war ich schnell der Angsthase. Ich erhob nie die Hand gegen jemanden, auch wenn es mich oft viel Überwindung kostete. Natürlich dachte ich, meine Mutter würde das wissen. Wie man sich doch irren kann.

Mein Bruder wollte sich gerade von uns verabschieden, als er sich vor der Haustür noch mal umdrehte und zu mir rief: „Hey Scheißerle (wie ich diesen Spitznamen hasste), hast du heute Abend Zeit?“

„Wieso?“, fragte ich zurück.

„Könntest du heute Abend auf Justin aufpassen. Sabrina ist bei einem ihrer Frauenabende und ich muss mit meiner Band proben, weil wir bald einen großen Auftritt in München haben. Es geht ja nur darum, dass jemand in der Wohnung ist, der Kleine ist ja schon im Bett. So um acht?“

„Ja das müsste eigentlich schon gehen, im Moment habe ich ja ein bisschen Zeit“, sagte ich und deutete auf meine Verbände. Mein Bruder lachte nur kurz, zog sich seinen knöchellangen Ledermantel an und verschwand im Schnee.

Meine Wenigkeit zog sich in sein Zimmer zurück, die Schmerztablette, die man mir in der Schule gegeben hatte, zeigte ihre Wirkung und ich wurde schläfrig. Bis zum Abend war noch viel Zeit.

Krachend fiel die Tür hinter mir zu.

Mist, dachte ich mir. Eigentlich sollte ich leise sein. Es war schon nach zehn Uhr. Die meisten schlafen ja schon. Ich kam gerade aus der Wohnung meines Bruders, in der ich den Abend beim Babysitten zugebracht hatte.

Zum Glück wohnte mein Bruder fast nebenan. Denn einen weiteren Weg hätte ich in der heutigen Verfassung nicht geschafft.

Zuhause angekommen fiel mir sofort der hell beleuchtete Flur auf. Anscheinend war noch meine Tante Sophie von nebenan gekommen, um mit meiner Mutter zu ratschen (fast meine ganze Verwandtschaft wohnte in diesem Dorf, noch ein Grund nicht aufzufallen).

Meine Vermutung war richtig, die beiden standen in der Diele und quasselten.

„Hallo, meine Damen“, begrüßte ich die beiden.

„Oh heute so formell?“, fragte meine Tante mit einem Lächeln.

„Na ja, man tut was man kann“, gab ich zurück. „Ich gehe dann in mein Zimmer.“

Meine Mutter nickte nur, um dann gleich wieder mit meiner Tante zu tratschen. Also stieg ich die Treppe hinauf zu meinem Zimmer. Ich war hundemüde und wollte nur noch in mein Bett um zu träumen ...

„... ist schwul.“

Ich war hellwach, was hatten sie gesagt. Es ist zwar nicht die feine englische Art, aber ich lauschte. Sie hatten zwar ihre Stimmen gedämpft aber ich verstand sie trotzdem.

„Was soll das heißen?“, hörte ich die etwas hysterische Stimme meiner Mutter.

„Ich meine ja nur du solltest ihn mal darauf ansprechen, man munkelt schon länger, dass er anders rum ist“, sagte Sophie.

„Beleidige doch nicht meinen Sohn“, fuhr meine Mutter sie an.

„Ich habe ihn doch gar nicht beleidigt, es war einfach nur eine Vermutung, die ich geäußert habe. Außerdem habe ich nichts gegen Homosexuelle.“

„Das ist egal ... weißt du was?, sagte sie mit gepresster Stimme.

Meine Tante schüttelte den Kopf.

„Der Letzte, der hier so war, wurde enterbt, geteert, gefedert und aus dem Dorf gejagt. Mein Sohn ist nicht ... nicht ... so. Er darf es einfach nicht sein.“ Die letzten Worte hörten sich schon an wie ein Flehen.

Meine Tante seufzte resignierend.

„Aber denkst du, es ist gesund, so zu leben. Versuch doch mit ihm darüber zu reden, oder gib ihm Signale, die Nils zu verstehen geben, dass du nichts gegen so eine Neigung hast.“

„Es ist doch schon schwer genug, den Leuten vorzuspielen, dass unsere Ehe gut läuft. Weißt du, wie viel Kraft es kostet, das Ungetüm, dass sich mein Mann nennt, zu verstecken, wenn er betrunken ist oder Schadensbegrenzung zu betreiben, wenn er sich mal wieder daneben benimmt und einen Ausraster hat. Das ist schon so viel Arbeit. Da könnte ich einen degenerierten Sohn nicht auch noch brauchen. Das packe ich nicht“, den letzten Satz schluchzte sie nur noch.

„Hörst du dich eigentlich gerade sprechen, ich kann nicht glauben, was du sagst, du unterstützt eher meinen Bruder, bei dem schon alle Hilfe verloren ist, als den, der sie wirklich nötig hat, deinen Sohn.“

„Schweig still“, herrschte meine Mutter sie an.

„Ab…“

„Sei still, habe ich gesagt“, sagte meine Mutter mit einem bedrohlichen Unterton, der signalisierte, dass man nun nicht mehr weitersprechen durfte, ansonsten konnte es gefährlich werden.

„Wenn du meinst ... Hey hast du schon das von Neueste von den Dietrich`s gehört ...“

Der weitere Rest interessierte mich nicht. Ich entfernte mich leise und ging in mein Zimmer. Einerseits war ich positiv überrascht von der Reaktion meiner Tante und negativ von der meiner Mutter. Meine Mutter brachte mich mit ihrer Einstellung noch zur Verzweiflung. Vielleicht war es auch einfach nur die Angst, alleine dazustehen, wenn sie sich trennen würden, da fast alle Immobilien auf den Namen meines Vaters lauten und sie somit bei einer Trennung nichts davon hätte. Sie hatte meiner Meinung einfach Angst nach einer Scheidung nichts zu besitzen. So war sie abhängig von ihm, eine Abhängigkeit, die sie wahrscheinlich noch ins Grab brachte. Ich grübelte noch lange nach, schlief aber schlussendlich ein, ohne aber zu einem Ergebnis zu kommen.

Einen Tag später am Nachmittag lag ich gerade auf dem Bett und las ein Buch.

„Nils, du hast Besuch“, rief meine Mutter von unten. Besuch? Wer konnte das den sein. Na ja erst mal versuchen aufzustehen, was mir leider sehr schwer fiel, da mir die blauen Flecken und Prellungen noch sehr zu schaffen machten. Zwar hatte ich mich schon einen Tag erholt, trotzdem stand ich zugegebenermaßen noch sehr wackelig auf meinen Beinen, aber ich stand. Ein Blick in den Spiegel und mir wurde klar, ich hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Zombie als mit einem Lebendem - mit hangenden Schultern, schlaffem Körper, der sich nur unter Stöhnen fortbewegen ließ. Eilige Schritte kamen näher, die Tür zu meinem Zimmer wurde aufgerissen und kein geringerer als Tom stand vor mir. Den hatte ich ja ganz vergessen. Tom hatte gestern ja seine praktische Fahrschulprüfung und war nicht in der Schule und heute war es meine Wenigkeit, die in der Schule fehlte.

Anstatt einer Begrüßung starrte er mich einfach nur an, dann sagte er völlig verdattert: „Wie siehst du denn aus?! “

„Hallo erst mal, ich freue mich auch dich zu sehen“, gab ich zurück.

„Ähh ... ja ... Hallo. Also stimmt es doch, was ich gehört hatte ... oder?”, fragte Tom.

„Erzähl ich gleich, wie lief es denn?“, fragte ich, um vom Thema abzulenken.

„Wie lief was?“, kam es verständnislos zurück.

„Oh mein Gott! Was wohl?!“

Anscheinend schien jetzt auch bei ihm der Groschen gefallen zu sein.

„Ach so ... Super natürlich, ich hab bestanden und bin jetzt stolzer Besitzer eines Führerscheins.

Er hielt ihn mir direkt vor die Nase.

„Endlich hab ich diesen schwulen Wisch.“

Ich überging den letzten Teil des Satzes geflissentlich. Zur Erklärung für alle: Ja er benutzt „schwul“ sehr inflationär.

„Ja herzlichen Glückwu... auauau… Scheiße tut das weh!“, leider waren meine Glückwünsche etwas zu enthusiastisch, denn die Schmerzen holten mich sehr schnell wieder ein.

Tom, der sich inzwischen auf mein Bett gesetzt hatte, sprang blitzschnell auf und war mit einem Satz bei mir. Er legte eine Hand um meinen Rücken und versuchte mich zu stützen, denn meine Beine wollten mir wieder meinen Dienst versagen.

„Das sieht ja wirklich übel aus. Was ist denn jetzt passiert? Denn das würde ich schon ganz gerne wissen. Oder stimmt, was Noah heute zu mir gesagt hatte?“

Ich wollte nicht antworten, zum einen wusste ich nicht, was Noah gesagt hatte, zum anderen konnte ich Toms Reaktion ganz gut abschätzen. Er ist dem bekannten hetero-Stereotyp sehr ähnlich. Sehr viel Macho, wenig Emotionen, das wäre ja „schwul“. Aber er ist ein sehr netter Typ und wie gesagt, wir kennen uns schon seit der Kindergartenzeit. Irgendwie hatte ich die Angst, er würde mich auslachen oder verarschen. Aber andererseits könnte es noch schlimmer kommen? Im Moment wohl nicht.

Deshalb fragte ich Tom, was Noah gesagt hatte. Noah war ein ganz netter Mitschüler aus meiner Klasse, wir saßen in Religion nebeneinander. Wir unternahmen auch mal ab und zu was. Meistens nach der Schule, wir gingen was trinken oder ins Kino, da er einer der wenigen war, der mein Faible für Horrorfilme mit mir teilte.

„Ich hab Noah getroffen, als ich zu dir kommen wollte. Es war irgendwie komisch, denn er hat mir geraten, nicht zu dir zu gehen, nicht zu dieser ‚blöden Schwuchtel‘. Du könntest mich sonst irgendwie betatschen oder mich an mir vergehen. Aber das würdest du dich eh nicht den trauen denn du hättest schon eine Abreibung von Markus und seiner Truppe bekommen. Da hab ich dich erst mal volle Kanne verteidigt und gesagt, dass du nicht schwul warst, bist oder sein wirst. Der is’ doch schwul, oder? Bei so was könnte ich an die Decke gehen und ausrasten, so eine Unverschämtheit ...!!!“, Tom redete sich immer mehr in Rage und bekam einen richtig roten Kopf.

„Tom“, sagte ich laut.

Jetzt hatte ich noch die Wahl.

„Was?“

Was sollte ich machen, sagen oder nicht sagen?

„Noah hat recht!“

Na dann los. Auf in den Kampf.

„Wie, er hat recht?“, fragte Tom verständnislos.

„Er hat Recht damit, dass ich schwul bin!“, sagte ich in einer Seelenruhe, die sogar mich überraschte.

Toms hob überrascht die Augenbrauen. Ich konnte beim besten Willen nichts aus seinem Gesicht herauslesen. Er stand immer noch da und stützte mich, sein Griff lockerte sich und er ging einen halben Schritt zurück.

„Oh ... jetzt echt?“, fragte er ungläubig.

Ich nickte.

„Aber ich dachte, diese schwu... äh diese blöden Verarschungen basieren nur auf Gerüchten“, sagte Tom.

„Was denkst du, was passiert wäre, wenn ich denen erzählt hätte, dass ich wirklich schwul bin? Oder besser gesagt, du siehst doch, was heute passiert ist.“

„Aber wie sind die dahintergekommen?“, fragte mein Freund.

Also erzählte ich, was sich gestern abgespielt hatte, Tom hörte geduldig zu und stellte nur selten Fragen, zeigte aber sonst keine Regung oder Emotion. Zum Schluss fragte ich ihn: „Findest du es schlimm, dass ich schwul bin.

„Nein“, kam es sehr bestimmt von Tom.

Damit war die Sache für ihn gegessen. Weder ein Gefühl oder eine Regung, aber er schien nichts dagegen zu haben. Denn ich kannte Thomas, er war einfach so. Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen. Tom verlor den ganzen Nachmittag kein Wort über das Thema. Aber es beschäftigte ihn. Er war sehr unaufmerksam, manchmal auch sehr abwesend und reagierte nicht auf alles oder hörte nicht gescheit zu. Wir waren gerade sehr in ein Playstation-Spiel vertieft, als es an der Tür klopfte. Es war Olli.

„Hey, was machst du denn hier, waren wir verabredet?“, begrüßte ich ihn.

„Nein, wir waren nicht verabredet, aber ich wollte sehen, wie es dir geht, nachdem dich die anderen zusammengeschlagen haben. Außerdem wollte ich dir noch sagen: Ich habe wirklich kein Problem damit, dass du schwul bist“, sagte Olli, während er mich mit einem Blick ansah, dass man ihm einfach nicht böse sein konnte.

„Ich bin dir doch nicht mehr böse, du bist doch mein Freund.“

Meine Wenigkeit wollte gerade zum Reden ansetzen, als ich Ollis erschrockenes Gesicht sah. Er sah in die Richtung von Tom. Anscheinend hatte er ihn erst jetzt bemerkt. Ich konnte mir denken, was Olli sich jetzt dachte.

„Was macht Tom hier? Ich hoffe, ich habe dich nicht schon wieder irgendwie in eine schwierige Situation gebracht. Er weiß doch noch gar nichts davon“, flüsterte er mir zu.

„Tom weiß alles, wir können offen reden, ich habe ihm alles erzählt.“

Man sah deutlich wie erleichtert Olli war. Wir saßen noch den restlichen Nachmittag zusammen, unterhielten uns und spielten noch eine Runde Monopoly. Gegen Abend gingen sie, es war ein schöner Nachmittag gewesen, es herrschte eine so vertraute Atmosphäre zwischen uns wie schon lange nicht mehr. Aber alles änderte nichts daran, dass meine derzeitige Situation nicht gerade rosig aussah und noch einiges an Arbeit auf mich zukam. Ich stand vor meinem Fenster und sah der untergehenden Sonne zu. Aber mit meinen Freunden würde ich bestimmt alles besser ertragen können. Ich drehte mich um und mein Blick fiel auf ein Photo von Uschi und mir. Die gab es ja auch noch. Was sie wohl gerade macht? Wie würde sie reagieren, wenn ich wieder in die Schule kommen würde? Ich nahm das Bild aus seinem Rahmen und legte es in eine kleine Kiste in meinem Regal, wo ich alle alten Fotos aufbewahrte. Es war Vergangenheit, und mit der sollte man sich nicht allzu lange beschäftigen, das macht oft nur traurig und deprimiert und Uschi war Vergangenheit, zumindest für mich.

„Olli! Es gibt Essen“, rief meine Mutter von unten aus der Küche.

Na dann auf zum allabendlichen Mästen. Ich ging aus meinem Zimmer, an unserem Bad und dem Schlafzimmer meiner Eltern vorbei. Die Treppe hinunter, was zugegebenermaßen etwas komisch ausgesehen haben musste, denn ich versuchte mich so fortzubewegen, dass es am wenigsten weh tat, also ehrlich gesagt war jede Schnecke schneller als ich. Am Ende der Treppe war der Flur, nach rechts ging es in unser Wohnzimmer. Ein großer Raum, der eigentlich schön wäre, würden dort nicht die dunklen Möbel von vor 30 Jahren stehen, die damals modern waren und von denen sich mein Vater einbildete, sie seien die Besten und vor allem schönsten. Leider ließ er sich nicht von seiner Meinung abbringen.

Wenn man wie ich jetzt nach links geht, befindet man sich im Esszimmer. Ein großer heller Raum mit warmen toskanischen Farben an den Wänden. Für diesen Raum zeichnete sich meine Mutter aus. Auf der einen Seite war ein großer Tisch, auf der anderen Seite eine schöne Kommode, wo meine Mutter viele Sachen dekorierte, die ihr wichtig waren. So fand man dort Engel in verschiedenster Form und Größe sowie unzählige Mineralsteine wie Amethystspitzen oder Bergkristalle. Außerdem waren im ganzen Haus Pflanzen meiner Mutter, sogar im Wohnzimmer, dagegen konnte sich nicht einmal mein Vater wehren. Zwar rollen sich bei einigen Pflanzennamen die Zehnägel auf, aber meine Mutter besaß einfach den grünen Daumen, das gab sogar mein Vater zu. Ich konnte von dort, wo ich stand, genau in die nagelneue Küche sehen, auf die meine Mutter jahrelang gespart hatte, sie war ihr ganzer Stolz, aber in der Familie war man geteilter Meinung. („Boah, sieht die geil aus.“, „Die alte war doch gut, was brauchst du denn ein neue Küche. So was Beschissenes kann sich nur eine Frau ausdenken.“ Dreimal dürft ihr raten, welche Meinung von mir und welche von meinem Vater war.) Auf jeden Fall kam von dort schon ein verlockender Geruch. Eines musste man meiner Mutter lassen, kochen konnte sie. Wir aßen nur abends warm, da dann alle aus der Familie da waren. Es gab Reis mit Gemüse und gefüllte Hünchenbrust. Ich sah meine Mutter mit ihrer riesigen Schürze in der Küche herumwuseln (Meine Mutter trug immer eine Schürze, egal ob Kochen oder Haushalt, denn es könnte ein Fleck auf die Kleidung kommen und wenn dann noch unverhoffter Besuch kommen würde, wie sähe dass den aus???)

Mein Vater saß schon da und wartete auf das Essen. Aber er fing schon an zu nörgeln, bevor das Essen richtig auf dem Tisch war: „Was soll denn dieser Fraß, so etwas essen doch nur Öko-Typen. Ich brauche was Richtiges mit viel Fett, vielleicht mal gescheites Fleisch! Kannst du nicht einmal was Richtiges kochen?“

Meine Mutter kochte zwar nicht fanatisch gesund, aber sehr ausgewogen und man musste danach nicht erschreckt feststellen, dass man wieder eine Fettrolle mehr hatte. Leider war mein Vater in der letzten Zeit immer öfters anderer Meinung, denn er wollte was Deftiges, was für echte Kerle. Ich mochte das Essen meiner Mutter.

„Ich gehe jetzt zur ‚Post’ und esse dort was“, sprach er, nahm seine Jacke und ging aus dem Haus. Meine Mutter stand fassungslos unter der Küchentür, sie tat mir so leid, wie sie da so stand, noch die Schüssel mit dem Gemüse in der Hand. Manchmal konnte mein Vater so ein Ekel sein. Von Mitgefühl fast keine Spur.

„Na ja“, sagte meine Mutter mit dünner Stimme. „Dann essen wir wohl wieder zu zweit.“

Sie wollte die Schüsseln auf den Tisch stellen, aber sie ließ sie fallen und brach in Tränen aus.

Schnell ging ich auf sie zu und wollte sie umarmen, aber sie brach schluchzend auf dem Boden zusammen. Umgeben von Scherben, Brokkoli, Erbsen und anderem Gemüses saß sie dort. Die sonst so perfekte Fassade meiner Mutter bröckelte und ließ endlich mal ihre Gefühle durchscheinen. Sie weinte wie schon lange nicht mehr, wer meine Mutter kennt, der weiß, dass sie so gut wie nie vor anderen weinte. Ich kniete mich vor sie hin, legte ihr die Hand auf die Schultern und sah ihr in die Augen.

„Mama, so kann das nicht weitergehen. Du machst dich nur kaputt! Ändere etwas! Trenn dich von ihm. Das ist nur besser für dich!“, versuchte ich ihr klarzumachen.

„Ach was. Wegen so einer kleinen Lappalie muss man sich doch nicht scheiden lassen, sagte meine Mutter mit weinerlicher Stimme.

„Lappalie!? Das ist doch keine Kleinigkeit mehr, das ist ernst. Sie das doch ein“, versuchte ich auf sie einzureden.

Unbeirrt durch meinen Ausspruch, fuhr sie nun mit etwas festerer Stimme fort: „Außerdem ... wie sieht denn das aus, wenn ich mich von meinem Mann trenne, stell dir doch einmal vor, wie sie über mich herziehen und mit dem Finger auf mich zeigen würden.“

„Mama!“, sagte ich verständnislos. „Scheiß auf die Meinung der anderen. Es kann dir doch egal sein, außerdem können wir doch wegziehen.“

„Ja natürlich, als ob du wüsstest, wie es ist, die Fassade aufrecht zu erhalten. Du weißt nicht, wie ich arbeite, damit nicht auffällt, wie dein Vater ist. Alle denken wir seien die perfekte Familie. Niemand weiß, dass dein Vater schon fast ein Alkoholiker ist und unsere Ehe am seidenen Faden hängt. Und noch was, wo soll ich denn hin, wenn ich deinen Vater verlasse? Ich habe seit 25 Jahren nichts anderes gemacht als den Haushalt. Meine Ausbildung liegt schon so lange zurück. Der Mensch, der sich mein Ehemann nennt, lässt es mich auch jeden Tag spüren, dass ich nur für Küchenarbeit zu gebrauchen bin.“

Also war es doch so, wie ich es mir schon lange gedacht hatte.

„Mama, du bist viel mehr als das. Vor allem bist du viel stärker al...“

„Genug!“, sagte meine Mutter laut und bestimmt.

„Aber ich ...“

„Ich sage es nicht noch einmal.“

Grad noch die weinende Mama, jetzt wieder die resolute Mutter, ich gab auf.

„So und jetzt essen wir“, sagte meine Mutter mit einer Stimme, als wäre das gerade eben nicht passiert. Sie hatte die Löcher in der Mauer um sich herum wieder fest verschlossen, ohne dass irgendetwas hindurchkommen konnte. Meine Mutter stand auf, ging in die Küche und holte Schaufel und Besen um den Dreck wegzuräumen. Jeden Versuch, mit meiner Mutter zu reden, blockte sie ab. Ich konnte nur den Kopf schütteln. Wie konnte man sich so selbst betrügen und anlügen. Wenn sie so weitermachte, würde meine Mutter an Michael Schneider noch zerbrechen. Wir aßen, aber die Stimmung war am Nullpunkt, keiner sagte etwas, es war einfach unerträglich. Nach dem Essen ging ich in mein Zimmer und hörte Musik und versuchte mich etwas zu beschäftigen.

Ich hörte die Tür knallen. Eine besoffene Stimme, die anscheinend die meines Vaters sein musste. Meine Mutter macht ihm eine Szene. Er reagierte aber nicht, da man nur meine Mutter hörte. Ich hörte Schritte die Treppe heraufgehen. Er musste viel getrunken haben, das hörte man an seinen Schritten, sie waren ungleichmäßig und er schlurfte mehr über den Boden.

Meine Tür wurde aufgerissen.

„Mach endlich das Licht aus. Es ist schon spät“, lallte mein Vater ins Zimmer hinein, mit einer Fahne, die man noch zehn Kilometer gegen den Wind riechen musste.

Bevor ich etwas antworten konnte, war die Tür auch schon wieder zu.

Ich hörte meinen Vater im Bad verschwinden, dort rumorte er, danach wankte er ins Schlafzimmer. Wenigstens war das eine gute Idee, dort konnte er seinen Rausch ausschlafen. Meine Mutter saß jetzt bestimmt zusammengekauert auf der riesigen Couch, umgeben von den großen dunklen Schränken und weinte. Ich hatte sie in letzter Zeit schon oft beobachtet, wie sie da saß und wie ein Schlosshund heulte. Die Situation überforderte sie. Aber ihr starres Bild von in „guten wie in schweren Tagen“ und „bis dass der Tod euch scheidet“ hinderte sie daran, irgendetwas daran zu ändern. Sie hofft immer noch, dass dies nur eine Phase ist und das die guten Tage endlich wieder Einzug halten würden. Aber ich hatte die Hoffnung schon längst aufgegeben.

Ich versuchte einen Artikel zu lesen, leider konnte ich mich nicht darauf konzentrieren, denn vor meinen Augen sah ich die ganze Zeit das Bild meiner Mutter auf der Couch. Sie tat mir so leid, aber sie ließ sich nie von mir helfen. Das Bild ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Deshalb legte ich das Magazin wieder weg machte das Licht aus und versuchte einzuschlafen. Ich lag noch lange Zeit wach, der Wecker zeigte halb zwei, bevor ich in einen unruhigen Schlaf fiel.

Morgenstund hat Groll im Schlund

9.00 Uhr.

Freitagmorgen. Die Sonnenstrahlen fielen durch den halb heruntergelassenen Rollladen und hinterließ ein schönes Muster auf dem Boden und den Möbeln. Verschlafen rieb ich mir die Augen. Ließ das aber schnell wieder bleiben, als ich meine Nase spürte. Eigentlich war ich noch hundemüde, aber zum Einschlafen zu wach. Wie ich das hasste. Also machte ich mich daran die morgendliche Prozedur, die aus Waschen und Anziehen bestand, hinter mich zu bringen. Ein Blick nach draußen ließ mich erschaudern. Der Schnee hatte sich leider nicht entschlossen, spontan zu schmelzen. Na ja, dann hieß es eben weiter frieren. Also runter die Treppe, was zwar endlich schneller und besser ging als die letzten Tage, aber trotzdem konnte mich eine fußlahme Schildkröte immer noch mit Leichtigkeit abhängen. Meine Mutter stand schon in der Küche und kochte schon einen Kaffee, meine Lieblingsnahrung am Morgen. Vor meiner Tasse Kaffee am besten nicht ansprechen, außer ihr habt Selbstmordgedanken.

Tja, leider kümmerte das unser Telefon wenig, denn in dem Moment, als ich daran vorbeiging, klingelte es. Was blieb mir da anderes übrig als ranzugehen,

„Schneider“.

„Hallo Nils! Hier ist Herr Becker!“, entgegnete mir eine wohlbekannte Stimme vom anderen Ende der Leitung. “Wie geht’s denn so.“

„Ach hallo, mir geht’s gut, oder sagen wir den Umständen entsprechend gut.“

„Das höre ich gerne. Ich rufe an wegen dem, was vorgestern passiert ist ...“

Meine Laune verschlechterte sich augenblicklich.

„... ich habe mit dem Chef darüber geredet.“

Meine Laune sank auf ihren Tiefpunkt. Können sich die Katastrophen denn eigentlich nicht mal anmelden man hat ja gar keine Zeit mehr zum Luftholen. Eigentlich wollte ich protestieren, aber dazu ließ mir mein Lehrer keine Zeit.

„Aber er hat mir seine Unterstützung zugesagt, und ich solle dir nette Grüße ausrichten. Er würde dich gerne selber anrufen, aber er ist sehr beschäftigt.“

Meine Laune verbesserte sich ein bisschen.

„Außerdem möchte ich mit dir darüber reden, was du gegen diese Leuten unternehmen möchtest und was weiter passieren soll.“

Zum Glück hatten wir im Erdgeschoss ein winziges Gästeklo, dort sperrte ich mich ein. Warum? Naja ich will es mal so sagen, erstens, Gott erschuf die Neugier in Person und nannte sie Mutter, sie hätte alles hemmungslos mitgehört: Zweitens, mit der Geschwindigkeit, die ich an den Tag legte, hätte mein Lehrer mir gleich „Fröhliche Weihnachten“ und „Ein gutes neues Jahr“ wünschen können und selbst dann hätte ich mein Zimmer noch nicht erreicht, um dort zu telefonieren.

Wir beredeten alles, was nötig war, wenn ich wieder in die Schule kommen sollte.

„Und hat er es überlebt?“, fragte meine Mutter, nachdem ich fertig telefoniert hatte und gerade aus dem Klo kam.

„HÄ? Wie? Was meinst du?“, kam es von mir.

„Na ja, ich mein ja nur. Es hat bis jetzt noch niemand überlebt, der dich von deinem Frühstück und vor allem von deinem Kaffee abhält“, sagte meine Mutter mit einem spöttischen Lächeln.

„Ha, ha! Sehr witzig!“, lachte ich tonlos. „Wo ist mein Kaffee?“

„Aber natürlich, ich entschwebe Euren Augen, Eure Majestät“, sagte meine Mutter mit einem Augenzwinkern, dann machte sie ein kleinen Knicks und verschwand in der Küche, wo ich schon das Brodeln der Kaffeemaschine hörte.

Man konnte kaum glauben, dass dies derselbe Mensch wie gestern Abend war.

Eine Dreiviertelstunde später hatte ich acht Scheiben Toast, zwei Schüsseln Müsli, eine Kanne Kaffee, sowie diverses Obst verputzt. Meine Mutter saß schweigend daneben, trank ihren Kaffee und studierte genau die Klatsch- und Tratsch-Geschichten eines großen deutschen Käseblattes (welches ich ihr immer noch nicht ausreden konnte), um nach der Raubtierfütterung (Kommentar meiner Mutter: „Wo isst er das nur hin“) ihres Sohnes wieder über alles „Wichtige“ in der Welt reden zu können. Meine Frau Mama ließ mich immer in Ruhe essen, denn sie wusste, komme niemals zwischen Nils und sein Futter. Leider musste ich meine Mutter enttäuschen mit ihrem Tratsch, denn genau mit meinem letzten Bissen hörte ich, wie der Postbote die Post brachte, da bei uns der Briefschlitz in der Tür ist, und die Post somit immer auf den Boden knallte, was eigentlich nie zu überhören war.

Da mein Gegenüber keine Anstalten machte sie zu holen, machte ich mich auf den Weg. Nachdem ich alle Briefe umständlich aufgehoben hatte, nahm ich sie noch vor Ort genauestens unter die Lupe.

Rechnung, Mahnung, Werbung und eine Ansichtskarte von Onkel Klaus, der gerade auf den Seychellen war.

„Hier sind mindestens 30 Grad und keine Wolke am Himmel“, grrrrr, wie neidisch ich doch war. Konnte denn niemand etwas Gescheites schicken? Aber halt! Was war das? Der letzte Brief hatte keinen Absender, war recht dick und groß, ich drehte ihn um und erschrak.

„Für die Schwuchtel, Nils Schneider“, stand daraufgeschrieben. Was sollte denn das, ging’s denen eigentlich noch gut? Benommen stand ich für ein paar Sekunden da und konnte mich nicht rühren. Ich ließ alle anderen Briefe auf den Boden fallen und riss den Brief mit zitternden Fingern auf. Es kamen ein Zettel mit Geschriebenem und einige Fotos heraus.

Übelkeit kam in mir hoch, Schweiß trat auf meine Stirn. Alles drehte sich vor mir und es hätte mir fast den Boden unter den Füßen weggezogen. Man sah mich auf diesen Fotos in eindeutigen Posen mit einem anderen Jungen, sie waren sehr pornographisch. Es waren Fälschungen, das sah ich auf den ersten Blick, mein Kopf wurde anscheinend mit einem Fotoprogramm eingefügt. Die Fotografie war fast perfekt, man merkte kaum, dass das nicht mein Körper war. Meist stimmen die Proportionen nicht oder die Hautfarbe des Kopfes passt nicht zum restlichen Körper, wie gesagt, meistens stimmten sie nicht, aber hier war so gut wie alles Perfekt. Es waren nur Kleinigkeiten, die mir auffielen, ein Laienauge würde nichts feststellen. Woher hatten die Fotos von mir? Was wollten die damit bezwecken? Wer hat das getan? Die Situation war zuviel für mich und ich musste mich setzen. Ich taumelte zu unserem Telefonsessel, der fast neben der Haustür stand, wo ich mich vorsichtig fallen ließ. Jetzt verfolgte mich das schon nach Hause. Ich hatte gedacht, wenigstens hier bliebe ich vor so etwas verschont. Ein lautes Aufstöhnen konnte ich nicht unterdrücken.

„Nils ist alles in Ordnung mit dir?“, kam sofort die besorgte Stimme meiner Mutter aus der Küche. „Muss ich erste Hilfe mit einem Zahnstocher und einem Strohhalm leisten?

Es war witzig gemeint, aber leider war mir im Moment überhaupt nicht zu spaßen, eher zum Kotzen.

„Nein, es ist alles in Ordnung!“, rief ich mit unsicherer Stimme zurück.

Meine ganze Hoffnung war, dass das alles meiner etwas überstrapazierten Fantasie entsprungen sei. Aber ich spürte die Fotos in der Hand und das war Realität genug. Eigentlich war ich nach dem Gespräch mit Herrn Becker wieder etwas positiv gestimmt, aber auch diese Hoffnung wurde innerhalb weniger Augenblicke wieder zunichtegemacht. Ich musste die Bilder noch mal anschauen, die ersten zeigten wie gesagt mich und einen Jungen beim Sex. Das Letzte aber unterschied sich von den anderen, es zeigte den Gang in der Schule mit den Spinden, ich sah, wie ich Olli umarmte, es war kurz nach unserer Versöhnung. Es war keine gute Qualität, sicherlich von einem Handy gemacht. Jetzt erinnerte ich mich an den Zettel, der bei den Fotos dabei gewesen war. Schnell kramte ich ihn hervor und las ihn, mir kam fast die Galle hoch, als ich sah, was da stand.

Liebe Mitschüler und Schülerinnen,

ist so etwas nicht schlimm? Sie sehen aus wie du und ich aber in Wirklichkeit sind sie Perverslinge, die nichts anderes im Sinn haben, als sich an unschuldigen Schülern zu vergreifen. All diese Subjekte müssen ausgemerzt werden, denn in einer anständigen Schule wie der unseren darf so etwas nicht geduldet werden. Helft uns sie zu vertreiben, oder besser gesagt „ihn“, Nils Schneider. Wie schon Gott in der Bibel gegen Sodom und Gomorrha gekämpft hat, müssen wir gegen diese Krankheit kämpfen, die uns die Pest der Neuzeit beschert haben, AIDS.

Eure besorgten Schüler für eine anständige Schule

Ich wusste nicht, wie mir geschah, mein Mund war trocken, ich atmete tief ein und aus. Tränen der Wut liefen mir an den Wangen herunter. Warum? Warum taten sie das. Hatten sie denn nicht schon genug. Immer mehr Erniedrigung und Demütigung. Ich schloss meine Augen, in der Hoffnung, dass, wenn ich sie wieder aufmachte, alles wieder so war wie vorher und ich keinen Brief in den Händen hielt. Aber er war noch da und auch die Fotos. Der Brief war noch nicht zu Ende. Es stand noch mehr darauf.

Lieber Nils,

diese Photos und der Brief werden an andere Leute weitergeleitet und veröffentlicht, falls du es jemals wieder wagen solltest in der Schule aufzukreuzen. Wir brauchen und wollen dich nicht. Du tust dir und den anderen einen Gefallen, wenn du feiwillig die Schule verlässt.

Wenigstens hatte noch niemand anderes diese Bilder gesehen und das würde auch niemand. Ich hatte Unterstützung von soviel Leuten, von denen ich nicht einmal im Traum gedacht hätte, dass sie mir beistehen würden. Natürlich würde ich weiter in die Schule gehen, diese Leute würden schon ihr blaues Wunder erleben, wenn ich wieder kommen würde, soviel war sicher. Trotzdem schockierte es mich, zu was Leute imstande sind und das viele vor gar nichts mehr zurückschrecken. Langsam besserte sich mein Zustand, obwohl er noch weit von gut entfernt war. Ich schaute mir noch ein letztes Mal die Fotos an. Falls man sie schon veröffentlicht hatte, war es nicht gut um mich bestellt. Das Problem waren nicht diese paar Typen, sondern die breite Masse, die sich einfach mitziehen lässt, die zu solchen Themen noch keine eigene Meinung hat. Ein paar Typen sind immer noch besser zu ertragen als einige Dutzend. Heute nach der Schule muss ich mit den anderen darüber reden, um zu beraten, was zu tun war. Plötzlich hörte ich Schritte, gerade noch rechtzeitig genug konnte ich das Kuvert mit den Fotos in einer großen Spalte des Sessels verschwinden lassen. Da kam auch schon meine Mutter um die Ecke.

„So Nils ich gehe jetzt ins Fitnessc... Da fiel ihr Blick auf die verstreuten Briefe am Boden. „Du liebe Güte wie sieht es denn hier aus. Ich hab gedacht du holst die Post. Bist du vielleicht von dem kleinen Katzensprung schon so aus der Puste, dass du dich schon setzen musst. Ach Gott, die Jugend von heute ist auch nicht mehr, was sie mal war.“

Sie sah mich strafend an.

„Muss sich jetzt deine alte Mutter extra bücken? Was sollen denn die Leute nur denken, wenn sie unverhofft kommen und dieses Chaos sehen?“

Vier Briefe am Boden ist gleich Chaos?! Diese Frau brachte mich noch ins Grab!! Grrrr!

Der Kriegsrat

„Das ist ja eine Frechheit!“

„Was fällt denen ein!“

„Nicht du bist schlimm, sondern die!“

„Des is’ ja sowas von krass!“

Wir saßen zu viert in meinem Zimmer, verteilt auf Bett und Boden und hielten Kriegsrat. Tom, Olli und Gisi waren gekommen. Ihnen sind fast die Augen aus dem Kopf gefallen, als ich erzählt hatte, um was es ging, sogar Tom war richtig aufgebracht. Wir saßen hier, umgeben von Knabbersachen und Süßem und berieten. Aber zum Beraten sind wir bis jetzt noch nicht gekommen, da alle so wütend über den Brief waren, dass sich erstmal jeder darüber ausließ.

„Jetzt geh endlich mal gegen die vor!“, forderte Olli. „Das ist ja nicht mehr normal, was da passiert ist!“

Ich versuchte Olli zu beschwichtigen, aber dieser hatte sich schon in Rage geredet und ließ sich nur sehr schwer stoppen.

„Olli, jetzt m...“, begann ich deshalb, aber mein bester Freund ließ mich gar nicht erst aussprechen.

„Nicht jetzt! Ich bin noch nicht fertig! Jetzt ist soviel passiert und du hast immer noch nichts unternommen! Wie lange soll das noch weitergehen, ich mach mir wirklich Sorgen und kann das nicht mehr länger mit anschauen!“

„Herr Oliver! Jetzt machen sie mal einen Punkt!“, herrschte ich ihn an, er war sofort still und sah mich ganz erschrocken an. Es war wirklich lieb von ihm, dass er sich Sorgen machte, trotzdem sollte er mich auch zu Wort kommen lassen.

„Natürlich werde ich etwas unternehmen. Ich habe mehr oder weniger etwas unternommen ...“, fing ich an und erzählte meinen drei Freunden, was ich heute mit Herrn Becker besprochen hatte.

Von allen Seiten bekam ich Zuspruch, alle waren begeistert. Gisi sah mich anerkennend an.

„Das geschieht diesen vier zu Recht“, sagte sie.

Zustimmendes Gemurmel. Es war kurze Zeit ruhig, doch dann sprach Tom: „Es waren nicht die vier, die Nils das geschickt haben.

Drei Gesichter drehten sich gleichzeitig zu Tom um. Was hatte er gesagt? Wer sollte es denn sonst geschickt haben? Und woher wusste Tom davon? Dieser starrte auf die Chipstüte, die in der Mitte unsere Gruppe lag. Ein leichtes Lächeln erschien auf seinen Lippen. Alle waren erstaunt.

„Also ...“, begann er, er dehnte das Wort unheimlich in die Länge. Danach machte er eine Kunstpause, mit der er uns immer mehr auf die Folter spannte. „Es war Uschi, die das verbrochen hat.“

„USCHI!!“, rief ich laut. „Aber warum, wieso, weshalb, weswegen?“

Ich war nur noch verwirrt. In meinem Kopf fuhren die Gedanken Achterbahn.

„Naja, sagen wir mal so“, begann er erneut. „Vielleicht habt ihr es noch nicht mitbekommen, aber Uschi ist unten durch. Viele sagen, dass sie einfach stockdoof ist, um auf so jemanden wie dich hereinzufallen“

Das überstieg meinen Horizont. Deshalb fragte ich Tom: „Aber warum? Erstens warum wird sie verarscht. Und zweitens ... ähhh ... was heißt hier ‚so jemand wie ich‘?!“

Ich musste eine Pause machen. Bin ich anormal? Ich hab immer gedacht, die Leute wären recht nett an der Schule, von ein paar mal abgesehen. Plötzlich kam mir in den Sinn, dass ich immer solche Leute um mich haben werde, beim Studieren, später in der Arbeit oder im Sportverein, wo ich jetzt bin. Es wird immer jemanden geben, der mich nicht mag, man muss ja nicht die besten Freunde werden, aber man kann sich ja aus dem Weg gehen. Oder wenigstens sich in Ruhe lassen. Und in der Schule ... bis vor diesem Zwischenfall, habe ich nicht s gegen die gehabt, die mich zusammengeschlagen haben, nur die mit mir. Obwohl ich ihnen nichts getan habe, ich habe noch nie jemanden etwas getan. Gisi sagt immer, ich bin der wahrscheinlich friedfertigste Mensch der Welt ...

„Ähm, Nils? Hallo!“, hörte ich Gisi.

„Bin ich denn irgendetwas Abartiges?“, sagte ich einfach ohne irgendeinen Zusammenhang, direkt aus meinen Gedanken heraus.

Gisi sah mich richtiggehend schockiert an, als ob ich etwas Verbotenes gesagt hätte.

„Nein!“, kam es nicht von Gisi sondern von Olli, dieser sah mich ganz schockiert an. „Natürlich nicht. Du bist wie jeder ander, bloß weil du schwul bist, heiß das noch lange nicht, dass du abartig bist!“

Das baute mich wieder auf, denn ich wusste jetzt endgültig, dass meine Freunde hinter mir stehen.

Jetzt wendete ich mich wieder Tom zu: „Zurück zum Thema ... wo waren wir ... ah ja ... warum wagen sie es überhaupt Uschi auszulachen. Sie ist doch so beliebt, Uschi hatte einen Freundeskreis, von dem manche träumen würden. Es sehen viele zu ihr auf, viele wollen in Ihrer Clique sein. Also ... ich versteh das einfach nicht. Niemand würde es wagen sie auszulachen ...“

„Richtig! Sorry, dass ich dir ins Wort gefallen bin“, rief Thomas aufgeregt. „Niemand würde es wagen, weil sie Angst vor ihr haben. Uschi hat reiche Eltern, wer sich bei ihr einschleimt, hatte gute Chancen, dass er an der Schule überlebt. Wer sich nicht gut mit ihr stellt, hat eigentlich schon fast verloren. Viele waren mit ihr ‚befreundet‘, weil sie schlicht und ergreifend noch weiter an dieser Schule bleiben wollten. Das klingt vielleicht etwas krass, aber im Grunde trifft es dass ganz gut. Wirklich Freunde waren sie nie. Ich glaube, wenn sie mit der Schule fertig wären, würden sie Uschi wie eine heiße Kartoffel fallen lassen. In der Sache mit dir sehen viele eine Chance, mal über sie herzuziehen, so wie Uschi es bei vielen anderen getan hat. Zudem war dass, was mit dir passiert ist, wirklich ein großes Ding ist. Uschi wurde zwar nicht offen ausgeschlossen, aber hinter vorgehaltener Hand wird getuschelt, gelacht und getratscht. Irgendwie kann sie einem leidtun, wie sie heute ganz allein in der Pause gestanden ist. Die Einzigen, mit denen sie noch Kontakt hatte, waren ein paar ihrer engsten Freunde, die schon immer zu ihr hielten.“

Oh mein Gott, mir schwirrte der Kopf nach dem, was Tom gesagt hatte. Das hätte ich nicht von Tom gedacht, denn er war immer sehr schweigsam. Aber nicht nur er war überrascht, denn auch Olli und Gisi sahen Tom verwundert an. Aber er war noch nicht fertig.

„Heute nach dem Unterricht habe ich Uschi und ihren „Club der Teufelinnen“, also ihrer Clique, belauscht. Uschi war aufgeregt und erzählte etwas von einem blauen Wunder, dass du erleben solltest. Alle lachten und sahen zufrieden aus. Als du mich dann heute angerufen hattest, war mir sofort alles klar“, endete Tom und musste erstmal einen Schluck Cola trinken.

Vieles hätte ich Uschi zugetraut, aber nicht das. Das war wirklich eine Frechheit, und wenn ich wieder in die Schule kommen würde, hätte ich ein Hühnchen mit ihr zu rupfen.

„Erschwerend kommt hinzu“, fuhr Tom weiter fort, „dass Uschi wirklich in dich verliebt ist. Ich hab sie mal gehört, wie sie zu ihrer besten Freundin gesagt hat, dass du ihr wirklich etwas bedeutest. Alle anderen Beziehungen, die sie bis jetzt geführt hatte, waren mehr oder weniger ein Statussymbol für sie. Weder bedeutsam noch besonders schön ... zumindest für den männlichen Teil dieser Beziehung. Uschi ist sehr dominant und hat ihre Freunde sehr ausgenutzt. Nicht so bei dir. Bei dir war alles anders, ich weiß aus sicheren Quellen, das sie gesagt hatte, das sie dich geliebt hatte. Deshalb ist sie auch so ausgeflippt, als du mit ihr Schluss gemacht hast, du warst die längste Beziehung, die sie jemals gehabt hatte. Außerdem fand sie es als beleidigend, dass du mit ihr Schluss gemacht hast.“

Das erklärte natürlich einiges, aber trotzdem war ein Punkt noch unklar für mich, deshalb fragte ich: „Aber woher hat sie das technische Know-how für diese Fotomontage?“

Ach darauf wusste Tom eine Antwort: „Ihr Bruder! Ihr Bruder ist ein totaler Technik Freak. Ich kenn ihn, da wir uns öfter über ICQ unterhalten. Der ist da mehr oder weniger eine Koryphäe.“

Mir schwirrte der Kopf vor lauter Informationen. Alles, was ich noch rausbrachte, war: „Danke für die Infos.“

„Bitte, bitte, keine Ursache“, erwiderte Thomas und lehnte sich zurück.

Ich war erstaunt. Diese ganzen Infos, die er herausgefunden hatte, das war wirklich beeindruckend. Ich konnte eigentlich nur den Hut vor ihm ziehen. Er war ja sonst immer der ruhigere Typ gewesen. Doch ich war bestens gerüstet für Montag und dem Zusammentreffen mit den anderen fünf.

Nachwort

Schön, dass du es bis hierher geschafft hast, ich würde mich wirklich sehr über ein Feedback freuen. Es ist mir egal ob positiv oder negativ, aber bitte konstruktiv, dass würde mir helfen, den nächsten Teil noch etwas verändern und zu verbessern.

Lesemodus deaktivieren (?)