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Summer in Paradise 3

Teil 3

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Jordan

„Du bist also wirklich einfach so in seine Kirche marschiert?“, fragt Severin lachend.

Eugen boxt ihn in die Seite und meint:

„Das war wirklich sehr mutig, Jordan. Du kannst sehr stolz auf dich sein.“

„Ich bin vor allem erleichtert. Keiner außer mir selbst hat mir die Schuld gegeben.“

„Du selbst bist dein strengster Richter. Da kenn ich im Übrigen noch einen, bei dem es so ist“, meint Eugen.

„Lass mich raten: Christian?“

„Er tut sich sehr schwer mit der neuen Situation“, erklärt Severin mit besorgter Miene.

„Wo ist er eigentlich? Er ist nicht da, oder?“

Eugen schwenkt die Kamera durch den Raum

„Wir sind nicht im Paradies. Wir sind in meiner Wohnung.“

„Und was genau ist die neue Situation?“

„Dass Eugen und ich zusammen sein wollen, auch wenn Mila nicht dabei ist.“

Eugen zieht Severin zu sich in einen nicht jugendfreien Kuss.

„Ich kann mir vorstellen, dass dieser Anblick für Christian schwer zu ertragen ist“, werfe ich ein.

„Er ist jederzeit eingeladen, mitzumachen“, grinst Eugen.

Severin findet das scheinbar nicht witzig.

„So einfach ist das nicht und das weißt du auch.“

„Natürlich weiß ich das. Aber ich will genießen, was wir zwei haben. Das hab ich verdient. Es hat ja lange genug gedauert, bis wir so zueinander gefunden haben, wie wir es jetzt haben.“

„Trotzdem haben wir ihn da vor große Herausforderungen gestellt.“

„Eigentlich fordern wir nur sein Wertesystem heraus. Was er will, sieht man ihm von weitem an. Er will mit uns beiden in die Kiste.“

„Er ist halt nicht so hedonistisch drauf wie Milla und du ...“, erklärt Severin verteidigend. „Wenn man in Seelendorf aufgewachsen ist, kann man die Werte, mit denen man groß geworden ist, nicht einfach so abstreifen ...“

„Ich werfe ihm ja auch nicht vor, dass er es nicht schafft, sondern dass er es gar nicht erst versucht“, erklärt Eugen neunmalklug.

„Ich brauch ein bisschen frische Luft“, erklärt Severin, winkt kurz in die Kamera und geht.

Eugen schaut ihm verdutzt hinterher:

„Was war das denn?“

„Weißt du das echt nicht?“, frage ich entgeistert.

„Ähm… nein?“

„Du verhältst dich echt scheiße, Eugen.“

„Ich genieß doch einfach nur meine Beziehung zu Severin.“

„Ohne das geringste Verständnis für den emotionalen Spagat, den Severin da gerade machen muss.“

„Christian wusste, worauf er sich einlässt.“

„Ganz ehrlich, das glaub ich nicht. Severin ist bis über beide Ohren in dich verliebt. Man sieht förmlich die Herzchen in seinen Augen, wenn er dich anschaut. Und gleichzeitig ist er in Christian verliebt – der seine Frau für ihn verlassen hat.“

„Nein, er hat seine Frau verlassen, weil sein normatives Denken ihm keine Wahl gelassen hat.“

„Genau, er hatte keine Wahl. Er fühlt sich unter Zwang. Ein Zwang, den weder du noch Severin empfinden.“

„Das ist uns nicht in den Schoß gefallen. Wir sind auch in einer Gesellschaft aufgewachsen, die uns eintrichtern wollte, was normal ist und was nicht. Wir haben das überwunden.“

„Aber nicht von heute auf morgen. Sondern über viele Jahre. Von Christian erwartest du jetzt aber, dass er von jetzt auf gleich umschalten kann und es okay findet, dass sein Freund in dich verliebt ist.“

Eugen seufzt:

„Ich hab keine Geduld für ihn übrig. Du hast ja Recht. Ich will einfach keine dunklen Wolken an meinem rosa Wattehimmel.“

„Ach du meine Güte ...“

„Ich hab mich nicht mehr so gefühlt … seit Jahren! Seit ich frisch mit Milla zusammen war.“

„Vielleicht könnte Severin seine rosa Wattewolken auch mehr genießen, wenn du nicht so hart zu Christian wärst?“

Eugen rollt die Augen:

„Ich versuch's.“

„So, ich muss los. Mein Therapeut will die Geschichte von Mama Maria und Pater Vendesso auch hören.“

„Grüße an den Kollegen.“

„Viel Vergnügen in den rosa Wattewolken.“

Die Welt hat sich verändert. Mir ist klar, dass eigentlich ich mich verändert habe. Aber plötzlich ist alles farbenfroher und voller Möglichkeiten. Überall sind fröhliche Menschen. Überall ist Hoffnung und Zuversicht und das Wissen, dass alles gut wird. Ich schwebe ein bisschen über dem Boden. Ich freue mich des Lebens und habe Energie ohne Ende.

David

Ich bin müde. Immerzu bin ich müde. Und genervt. Die Kinder sind momentan besonders anstrengend, streiten viel, wollen alles selbst machen und veranstalten dabei ein riesiges Chaos. Jordan ist viel unterwegs, an der Uni, bei Marie, trifft sich mit Freunden, verabschiedet sich. Ich bin zuhause, mit nur zwei Kindern. Eigentlich sollte mir das nach den anstrengenden Jahren doch leichtfallen? Trotzdem schreie ich. Wegen Kleinigkeiten. Wegen Reis auf dem Boden. Jake schaut mich mit großen, ängstlichen Augen an. April schreit zurück. Schrill und laut.

„Was ist denn hier los?“, fragt Jordan, der gerade nach Hause kommt.

Er schaut mich vorwurfsvoll an. Das gibt mir den Rest. Ich knalle ihm die Schaufel mit dem eingesammelten Reis vor die Füße, sage ihm, er kann den Scheiß ja selbst machen, wenn er alles besser weiß und dampfe ab ins Schlafzimmer. Meine Gedanken rasen, ich hab so eine Wut im Bauch! Ich kann mich gar nicht mehr beruhigen. Dann kommt Jordan herein.

„Die Kinder sind bei Tobey.“

Er zieht sein Shirt aus und legt sich neben mich auf's Bett.

„Was wird das?“, frage ich giftig.

Er schlüpft aus seiner Hose.

„Nichts“, grinst er.

„Du glaubst wohl, mit nackter Haut lassen sich alle Probleme lösen.“

„Ich leg mich nur hier hin“, grinst er und rutscht nah an mich heran.

„Ich bin echt nicht in Stimmung ...“

„Ich tu ja gar nichts“, säuselt er und schiebt seine Hand unter mein Shirt.

„Jordan ...“

„David ….“ , haucht er in mein Ohr.

Mit einem überraschenden Ruck zieht er meine Hose nach unten. Meine Wut ist wie weggeblasen – Wortwörtlich.

Ein paar Minuten später kuschelt Jordan sich in meinen Arm.

„Das war schön“, flüstere ich.

„Ja, und jetzt sag mir, was du brauchst.“

„Ich hab alles, was ich brauche.“

„David, es ist okay, wenn du mal eine Pause brauchst.“

„Nein, ich komm da schon durch. Es sind ja nur noch ein paar Monate ...“

„Du willst nach Hause, oder? Du willst endlich loslegen.“

„Klar, aber der Zeitplan steht ja schon.“

„Das Einzige, das dich hier hält, bin ich, oder? Meine Promotion, die Auflösung meiner Wohnung, mein Abschied ...“

„Was heißt deine Wohnung? Es ist unsere Wohnung, unser Abschied.“

„Du musst die Verantwortung nicht übernehmen. Ich krieg das allein hin.“

„Ich könnte nie so lange von den Kindern getrennt sein.“

„Dann nimm sie mit. Deine Eltern können aufpassen. Ich bin sicher, Mona wäre begeistert.“

„Du würdest mir die Kinder mitgeben? Für vier Monate?

„Wenn ich hier alleine bin, krieg ich alles bis Anfang August hin. Und wir können skypen. Ich verbringe hier auch maximal eine Stunde am Tag Zeit mit den Zwillingen. Realistisch gesehen, bist du gerade alleinerziehend. Klar würde ich euch drei wie irre vermissen. Aber ich spüre, dass es dir hier nicht mehr gut geht. Und ich habe gesehen, wie gut es dir in Bayern geht. Also ...“

„Lass uns darüber mal ein paar Tage nachdenken.“

„Okay. Und jetzt dazu, was ich brauche ...“, säuselt er und drückt sich an mich.

„Wann müssen wir die Kinder holen?“, frage ich noch leicht außer Atem.

„Ich hol sie nachher, geb. ihnen was zu essen und steck sie ins Bett. Und wir machen uns einen gemütlichen Abend auf der Couch.“

„Hört sich gut an. Sehr gut.“

„David, was auch immer du brauchst, du musst es mir nur zu sagen.“

„Okay, aber … ich will dir nicht zur Last fallen ...“

„Typisch du. Wie oft bin ich dir in den letzten Jahren zur Last gefallen? Und du hast dich nie beschwert. Jetzt ist es Zeit, was davon zurückzugeben. Ich bin fit, mir geht es viel besser. Ich kann jetzt für dich da sein, David. Ich will jetzt auch mal der Starke sein.“

„Daran muss ich mich erst gewöhnen. Mir fällt es echt schwer, Hilfe anzunehmen.“

„Ich bleibe penetrant.“

„Ja, das kannst du“, lache ich.

Wir haben gut zu Abend gegessen, die Kinder sind im Bett, Jordan stellt mir ein Glas Wein auf den Wohnzimmertisch und für sich eine Flasche Bier. Ich zappe durch die Kanäle und bleibe bei Brokeback Mountain hängen.

„Hast du den schon gesehen?“, frage ich.

„Natürlich. Du?“

„Ich hab mir den Film im Kino angesehen. Alleine. Damals war ich noch nicht geoutet.“

„Wirklich? Von wann ist der Film?“

„2006. Das war im Jahr nach meinem Abi, als alle meine Freunde auf Weltreise oder schon im Studium waren. Max kannte ich noch nicht.“

„Manchmal vergesse ich, wie jung du bist“, grinst Jordan. „Ich hab den Film mit Dylan im Kino gesehen, kurz bevor wir geheiratet haben. Das ganze Kino war voll mit schwulen Paaren.“

„Ich bin damals extra nach München gefahren, damit mich niemand erkennt. Aber der Film lief auch in unserem Provinz-Kino. Das war ein großes Ding, dass ein schwuler Film im Mainstream so groß beworben wurde. Dass das Filmplakat überall zu sehen war. Damals saßen ein paar schwule Paare in der Vorführung in München. Ich glaub, das war das erste Mal, dass ich andere Schwule gesehen habe.“

„Tut mir echt leid, dass für dich alles so schwierig war.“

„Es hat sich ja alles zum Guten entwickelt. Aber es war eine einsame Zeit.“

Beim Abspann wischt Jordan sich verstohlen über's Gesicht.

„Weinst du?“, frage ich hingerissen.

„Ach, sei still ...“

„Oh, Liebling … red mit mir.“

„Ach“, seufzt er, „immer wenn ich diesen Film sehe, zerreißt es mir das Herz. Ich meine, es gibt doch wirklich genug Leid auf dieser Welt. Hunger, Krankheiten, Tod. Manches ist unvermeidbar. Aber das. Dass zwei Menschen, die sich lieben, nicht zusammenfinden können. Weil die Gesellschaft – oder besonders laute Teile davon - sie sonst verachtet. Vielleicht sogar tötet. Das scheint mir so vermeidbar. So unnötig.“

„Hm, es sind ja nicht nur die Leute um einen herum. Nicht jeder hat diese innere Freiheit, Jordan. Nicht für jeden ist das Problem nur die Gesellschaft.“

„Hast du also auch mit dir selbst gekämpft, damals?“

„Ja, sehr. Ich wollte nicht anders sein. Ich wollte ein anständiges Leben führen, von der Gesellschaft anerkannt werden. Stolz auf das, was ich tue sein können. Ich meine, es ist nicht so lange her, da galt Homosexualität noch als Geisteskrankheit. Und der Gedanke ist schon noch irgendwie verwurzelt. Nicht, dass Homosexualität bestraft werden muss oder so. Aber dass sie ein Schicksal ist, für das man nichts kann und mit dem man leben muss. So hab ich das lange empfunden. Ich hätte echt viel dafür gegeben, zu sein wie du. Bi, oder omni oder was auch immer. Dann hätte ich wählen können, mit einer Frau zusammen zu sein.“

Jordans Blick ist … enttäuscht. Das versetzt mir einen Stich ins Herz.

„Tut mir leid ...“

Überrascht winkt er ab:

„Du musst dich doch nicht für deine Gefühle entschuldigen ...“

„Ich hoffe, du denkst jetzt nicht, dass ich nicht stolz auf uns bin und auf alles, das wir uns aufgebaut haben und noch aufbauen werden.“

„Nein, ich … ich frag mich nur, wie ich das nicht sehen konnte. Wie es an mir vorbeigehen konnte, wie sehr du mit dir gerungen hast. Ich meine, wir kennen uns schon seit fast sechs Jahren und ich hatte keine Ahnung.“

„Woher auch? Ich rede ja nicht drüber.“

„Warum nicht?“

Ich muss darüber nachdenken, bevor ich antworten kann.

„Es fällt mir nicht leicht, über solche Dinge zu reden. Weil ich mit zwei verschiedenen Maßstäben messe. Anderen vergebe ich ihre Schwächen viel schneller als mir selbst.“

„Und Homosexualität ist für dich eine Schwäche?“, fragt Jordan argwöhnisch.

„Nein, dass ich nicht gut damit klarkommen, schwul zu sein. Das ist für mich eine Schwäche.“

„Nicht jeder muss Schwulenrechts-Aktivist sein, weißt du?“

„Trotzdem, ich sehe, wie stolz und unerschrocken du bist. Und daran messe ich mich.“

„Aber ich war doch auch nicht immer so. Das hat gedauert. Mit Mitte 20 hätte ich mir auch nicht vorstellen können, so offen schwul zu sein. Da war das für mich was Privates und Schwulenrechts-Aktivisten hab ich eher nervig gefunden. Frag Vince, der kann da ein Lied davon singen. Eigentlich hat sich das alles erst geändert nach den Schüssen. Danach war mir klar, was wichtig ist im Leben und wofür ich meine Energie investieren will und wofür nicht.“

„Du lässt dir die Weisheit des Alters heute ganz schön raushängen“, grinse ich.

„Mir ist ernsthaft erst vorhin wieder bewusst geworden, dass du Mitte 20 bist. Nicht, weil du so alt aussiehst“, fügt er schnell hinzu. „sondern weil du so verantwortungsbewusst und reif bist.“

„Danke … glaub ich.“

„David, wenn es dir zu viel wird … mit den Kinder oder überhaupt ...“

„Ich weiß, wo das jetzt herkommt. Xander, oder? Weil er dich damals sitzen hat lassen.“

„Ich weiß, dass du ganz anders bist als Xander.“

„Jordan, es ist nicht wie bei Xander. Ich übernehme nicht deine Verantwortung. Die Zwillinge sind für mich meine Kinder. Klar sind sie manchmal anstrengend, und offensichtlich bin ich grad nicht so gut drauf wie normalerweise. Aber ihr drei seid meine Familie. Egal wie anstrengend ihr seid.“

„Hey“, macht er und knufft mich in die Seite. Dann wird er nachdenklich:

„Ich schätze, ich kann mein Glück einfach nicht fassen. Deshalb such ich immer noch nach Gewitterwolken am Horizont.“

„Ich kenn dich, Jordan. Ich weiß, dass das dein Muster ist.“

„David … ich wünsche mir wirklich, dass ich für dich der Starke sein darf. Ich war jetzt lange nicht der Starke und das nagt an mir.“

„Ich verstehe.“

„Ich liebe dich.“

„Und ich liebe dich, Jordan. Danke für diesen Nachmittag und Abend. Das hat echt gutgetan. Und jetzt … holst du mir Eis?“

„Sehr gerne. Kirsch und Walnuss?“

„Japp.“

„Ich bin ja eher so der Dreifach-Schoko-Typ.“

„Ja, und deshalb lieb ich dich auch. Weil du mir nie mein Eis wegisst, so wie Max immer.“

„Das hat der Kerl gemacht? Ist ja fies.“

„Ja, und außerdem ist er mir drei Monate lang fremdgegangen und hat es so gut vertuscht, dass ich im Leben nicht draufgekommen wäre. Dafür lieb ich dich auch, dazu wärst du nämlich niemals im Stande.“

„Stimmt, Dylan hat das mit Xander noch in derselben Nacht rausgefunden ...“

„Sorry, ich wollte die Stimmung nicht killen.“

„Nein, was raus muss, muss raus. Willst du über Max reden?“

„Ich hab einfach das Gefühl, dass ich noch nicht wütend genug auf ihn war. Aber andererseits … wusste ein kleiner Teil von mir immer, dass wir nicht zusammengehören. Dass es im Kern nicht passt. Und das macht mich wütend … auf mich selbst, dass ich meine Lebenszeit verschwendet habe.“

„Ich glaube, du solltest nicht so hart zu dir selbst sein. Du bist jetzt mit Mitte 20 in einer Position, wo andere mit Mitte 30 noch nicht sind. Du hast eine Familie, ein Grundstück, baust ein Haus und eine Gaststätte. Was willst du denn zu diesem Zeitpunkt in deinem Leben noch mehr erreicht haben? Und vor allem: Mit wem? Vor fünf Jahren wäre ich noch nicht für dich bereit gewesen.“

„Ich weiß, dass du Recht hast. Es hat sich alles so gefügt, wie es sollte. Aber ich hätte mir – und auch Max – viel Herzschmerz ersparen können, wenn ich auf diese kleine innere Stimme gehört hätte.“

„Was sagt dir deine innere Stimme jetzt?“

„Dass sie Eis will.“

„Dann hören wir wohl lieber darauf.“

Jordan

Kaum habe ich es mir wieder auf der Couch gemütlich gemacht, piept mein Handy.

„Kannst du schauen, Schatz?“, säusle ich in Davids Richtung, weil er näher dran sitzt.

„Lass es doch einfach bis morgen früh gut sein“, schlägt er vor und löffelt sein Eis.

„Dafür bin ich viel zu neugierig“, seufze ich und tue so, also würde ich aufstehen wollen.

„Bleib liegen. Ich les es dir vor.“

„Danke“, trällere ich.

„Oh ...“

„Was?“

„Die Nachricht ist von Xander ...“

„Was schreibt er?“

„Ria hat letzte Woche mit Vince Schluss gemacht. Sie hat ein komisches Gefühl und fragt, ob du mal nach ihm sehen kannst.“

„Ach Scheiße“, finde ich.

„Du wolltest Vince sowieso demnächst treffen, oder?“

„Ja. Ich ruf ihn gleich mal an. Schreib Xander zurück, dass ich mich kümmere.“

„Okay. Sonst noch was?“

„Äh, was zum Beispiel?“

„Wie es ihm geht … und seinem Sohn zum Beispiel...?“

„Interessiert mich ehrlich gesagt nicht wirklich ...“

„Okay ...“

„Ich hör den Vorwurf, David. Aber ich hab grad echt keinen Bock auf Xander und seine Dramen.“

„Ist ja auch dein gutes Recht, aber ...“

„Aber?“, hake ich nach, als er nicht weiterredet.

„Aber ich hab irgendwie ein komisches Gefühl. Weil du mit ihm so eine andere Beziehung hast als mit deinen anderen Exfreunden. Mit denen bist du befreundet. Aber Xander … scheint irgendwie immer noch was in dir auszulösen ...“

„Quatsch. Er nervt mich einfach nur, weil er mir einen Spiegel vorhält. Wir sind uns zu ähnlich. Seine Fehler nerven mich deshalb so sehr, weil es auch meine sein könnten. Und damit will ich mich momentan nicht belasten.“

„Verstehe, aber so ähnlich seid ihr euch gar nicht.“

„Im Kern schon. Wir haben uns nur in sehr unterschiedliche Richtungen entwickelt.“

„Ist egal, ich will darauf auch nicht zu sehr rumreiten. Geh und telefonier mit Vince. Ich löffel mein Eis aus und geh ins Bett. Bin müde“

„Zähne putzen nicht vergessen!“

Vince geht nicht dran, deshalb schreibe ich ihm, dass ich mich die Tage gerne auf einen Museeumsnachmittag mit ihm treffen würde. Ich sehe, dass er meine Nachricht gelesen hat. Aber er schreibt nicht zurück. Komisch. Ich gehe zurück ins Wohnzimmer.

„Irgendwas ist da seltsam.“

„Warum?“

„Er geht nicht dran und schreibt nicht zurück, obwohl er die Nachricht gelesen hat.“

„Na und, vielleicht malt er, oder so?“

„Nein, dann hätte er sein Handy nicht bei sich.“

„Oder er ist auf einer Veranstaltung?“

„Dann würde er kurz zurückschreiben, dass er sich später meldet. Vince schreibt immer sofort, wenn er meine Nachrichten liest.“

„Naja, vielleicht ist er einfach verhindert. Ich glaube, du interpretierst da zu viel hinein ...“

„Ich fahr mal bei ihm vorbei ...“

„Jetzt? Um die Zeit?“

„Er geht nicht vor Mitternacht ins Bett und es ist grad mal zehn.“

„Aber was, wenn er gar nicht zuhause ist?“

„Dann bin ich umsonst gefahren. Aber ich hab keine Ruhe, wenn ich nicht nach ihm sehe.“

„Glaubst du, er könnte wieder trinken?“

„Ich glaube, dass er einen Freund braucht. Deshalb fahr ich hin.“

„Du bist ein guter Freund“, seufzt David und lässt sich küssen.

Das Haus ist dunkel, aber die Garage ist offen und das Auto steht darin. Ich klingle. Keine Reaktion. Deshalb gehe ich um das Haus herum in den Garten. Die Außenbeleuchtung ist an. Im Pool schwimmt eine riesige aufblasbare Insel und darauf liegt Vince. Um ihn herum hat sich der Rotwein wie Blut über den gelben Kunststoff ergossen.

„Vince?“

Er reagiert nicht.

„Vince!“, rufe ich noch lauter.

Wieder keine Reaktion. Ich versuche zu beurteilen, ob er atmet. Ich kann es nicht sicher sagen. Ich suche einen Cacher oder irgendwas, womit ich die Insel an den Beckenrand ziehen kann. Aber ich finde nichts. Mir bleibt nur der Sprung in den Pool. Ich ziehe mich aus und schwimme rüber. Er atmet. Aber ich finde eine halb leere Packung Beruhigungsmittel.

„Ach verdammt, Vince! Komm schon!“

Ich spritze ihm einen Schwall Wasser ins Gesicht. Er beschwert sich lautstark. Mit etwas Mühe kriege ich ihn halbwegs trocken von der Insel in sein Bett. Ich schreibe David eine Nachricht, dass ich hier übernachte. Die restliche Nacht döse ich minutenweise, bis mein Handywecker mich wieder weckt, weil ich Vinces Atmung checken muss.

Um acht stehe ich mit Kaffee neben dem Bett und schüttle Vince wach. Er ächzt erst orientierungslos. Dann schlägt er die Augen auf und sieht mich.

„Ach fuck, was machst du hier?“

„Dich davor bewahren, im Halb-Koma in deinem Pool zu ertrinken, zum Beispiel.“

„Mein Kopf...“

„Hier, trink.“

„Ich brauche meine Schmerzmittel.“

„Vince, was ist passiert?“

„Mein David ist gestorben.“

„Ja, in den 90ern.“

„Seitdem lebe ich auch nicht mehr richtig.“

„Oh Vince ...“

„Er hätte mit mir leben sollen. Oder ich mit ihm sterben. Aber so war es nicht richtig.“

„Vince, du hast dir auch ohne David ein Leben aufgebaut.“

„Nein, ich hab niemanden mehr gefunden, zu dem ich gehöre. Zu dem ich wirklich gehöre, Jordan. Ich bin ganz allein, seit er tot ist.“

„Du hast Danny. Er ist dein Sohn.“

„Er gehört zu Collin und Scott. Er ist wie die beiden, er ist nicht wie ich.“

„Du warst auch nach Davids Tod wieder glücklich, hattest Menschen in deinem Leben, die dich glücklich gemacht haben.“

„Das waren alles viel zu kleine Pflaster auf einer viel zu großen Wunde. Sie ist nie zugeheilt. Ich hab mein ganzen Leben lang geblutet und jetzt bin ich leer.“

„Ich weiß, dass Ria sich von dir getrennt hat...“

Er lacht höhnisch:

„Sie war nur das letzte Pflaster, das noch versucht hat, die Wunde zusammenzuhalten. Aber wir wussten beide, dass das auf Dauer nicht funktioniert.“

„Du brauchst Hilfe, Vince.“

„Ich brauche nichts mehr, Jordan. Ich bin hier fertig. Ich bin bereit zu gehen.“

„Zu gehen? Du meinst, du willst sterben? Was ist mit Danny? Was ist mit deiner Familie?“

„Für die ist gesorgt. Ich hinterlasse ihnen alles. Mich brauchen sie nicht. Ich kann ihnen nicht helfen. Ich bin leer.“

„Okay, ich … ich geh in die Küche und mach uns Rühreier. Danach sieht die Welt sicher schon wieder besser aus“, lüge ich.

Ich rufe Doctor Bishop an. Vince und er kennen sich aus der Klinik in Arizona. Ich glaube, er ist die beste Chance, die Vince jetzt hat. Danach mache ich tatsächlich Eier, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll.

Ich serviere Vince das Frühstück gerade ans Bett, als mein Handy kurz klingelt. Das ist das Zeichen. Doctor Bishop ist da. Ich lasse ihn rein.

„Danke, dass Sie gekommen sind. Ich hätte nicht gewusst, was ich sonst machen soll, wenn ich nicht gleich die Polizei alarmieren will...“

„Was ist passiert?“

Ich erzähle ihm im Flur alles, was ich weiß. Er schaut mich durchdringend an:

„Du solltest jetzt fahren. Ich kümmere mich um Vince.“

„Nein, ich … ich will für ihn da sein.“

„Jordan, das hier könnte dich triggern.“

„Ja, aber das tut es nicht. Mir geht es gut.“

„Okay, ich gehe jetzt zu Vince und bespreche mit ihm das weitere Vorgehen. Falls ich den Eindruck habe, dass es nicht ohne Polizei und Krankenwagen geht, dann sag ich es dir und du rufst diese Nummer an. Ja?“

Ich nehme die Visitenkarten und nicke.

Einige Minuten lang ist Doctor Bishop bei Vince. Dann ruft er mich:

„Jordan? Es ist Zeit für den Anruf.“

Und dann werde ich doch getriggert. Der Anruf. Dylan. Ich musste es tun, ich musste die Polizei rufen. Dylan war eine Gefahr – für sich, mich, Gwen, David … Trotzdem hat es sich wie Verrat angefühlt. Hat nicht ein kleiner Teil von mir damals schon darüber nachgedacht, wie es wäre, eine Beziehung mit David zu führen? Wie es wäre, wenn Dylan aus dem Weg wäre? Hat mir sein Zusammenbruch nicht total in die Hände gespielt? War es nicht genau das, was ich wollte? War ich nicht eigentlich schon immer in David verknallt, seit ich ihn am Lagerfeuer kennengelernt habe, damals im Sommer 2006?

Ich reiße mich aus meinen Gedanken los und wähle die Nummer. Ich sage der Polizistin, was ich weiß. Sie versichert, dass in zehn Minuten Hilfe da sein wird. Eigentlich sollte ich jetzt zu Vince und Doctor Bishop gehen. Aber ich kann nicht. Ich habe Angst, mich Vince zu stellen. Seinen vorwurfsvollen Blick zu sehen. Ich warte vor dem Haus auf die Polizei und den Krankenwagen, sage ihnen, wo sie hinmüssen, steige in mein Auto und fahre weg. Zu David. Nachhause.

Er sitzt mit den Kindern auf der kleinen Grünfläche vor dem Haus. Sie fädeln große Holzperlen auf Schnüre.

„Jordan, hey, alles klar?“

Ich umarme ihn und fange augenblicklich an zu schluchzen.

„Hey … Liebling … was … was ist passiert?“

„Vince, er … kannst du … die Kinder ...“

„Ja, ich bringe sie zu Tobey in den Laden. Geh schon mal in die Wohnung. Ich bin gleich bei dir.“

„Okay ...“

In der Wohnung kommt mir ein Gedanke. Vielleicht liegt es nicht an mir. Vielleicht bin es nicht ich, der die Menschen in meinem Leben in den Selbstmord treibt. Vielleicht suche ich mir Menschen aus, die prädestiniert dafür sind. Xander, Dylan, Vince … sogar Sean hatte einen Hang dazu, zu viele Beruhigungsmittel zu schlucken und in Depressionen zu versinken. Vielleicht habe ich mir Menschen ausgesucht, die irgendwie kaputt waren. Nikki, Tobey, Nina … alle waren von irgendwas getrieben. Nicht sein wie die Eltern, Unabhängigkeit um jeden Preis, bloß in keine Schublade passen. Das zieht mich an. Ich bin nicht die Ursache.

„Jordan?“

„Oben.“

David kommt ins Schlafzimmer. Er schaut verängstigt aus.

„Was ist passiert?“

„Er will nicht mehr leben.“

„Hast du … helfen können?“

„Doctor Bishop bringt ihn gerade ins Krankenhaus.“

Ich erzähle die ganze Geschichte, während ich mich fest in Davids Arm schmiege. Ich beschließe, nichts auszulassen. Auch nicht die Schuldgefühle, die mich wegen Dylan gepackt haben. Und nicht die Theorie, dass ich mich vorzugsweise in kaputte Menschen verliebe. Er schaut mich nachdenklich an. Dann küsst er ganz vorsichtig meine Stirn.

„Ich kenne die Schuldgefühle, die du gegenüber Dylan hast. Zum einen, weil ich mich ihm gegenüber auch schuldig fühle. Zum anderen, weil ich im Nachhinein glaube, dass ich während meiner Beziehung zu Max auch schon mehr als Freundschaft für dich empfunden habe. Aber das waren eben nur Gefühle. Für die können wir nichts. Wir haben beide nicht danach gehandelt. Wir waren uns größtenteils nicht mal bewusst, dass wir sie hatten. Wir haben uns ganz ehrlich nichts vorzuwerfen, okay? Und Dylan wäre sehr froh darüber, dass du und die Kinder glücklich sind. Also bitte wirf dir das nicht vor. … Und zu der anderen Sache, dass du dir immer leicht kaputte Menschen aussuchst... Ja, das stimmt schon. Du hast einen gewissen Typus, auf den du fliegst. Und wenn man das psychologisieren will, kann man bestimmt sagen, das kam daher, dass du dich selbst auch für irgendwie kaputt gehalten hast. Aber ich empfinde mich selbst nicht als kaputt. Und dass du dich jetzt in mich verliebt hast, sagt, denk ich was über dich aus. Darüber, wie du dich entwickelt hast. Du hast dich selbst geheilt. Du bist nicht mehr kaputt. Du hast an dir gearbeitet, hast ganz viel darüber erfahren, wie du aufgewachsen bist, hast verstanden, wie dich das geprägt hat. Du hast deinen Eltern verziehen. Du bist ein guter Vater. Das alles hat dazu beigetragen, dass du jetzt erkennst, dass du es wert bist, geliebt zu werden. Dass du mir erlauben kannst, dich zu lieben.“

Ich atme tief durch, weil ein Gefühl des Glücks und des Stolzes mich durchdringt. Ich bin tatsächlich ganz schön weit gekommen.

“Danke”, flüstere ich und küsse David. “An dir ist wirklich ein guter Psychologe verloren gegangen.”

“Na dann muss ich wohl einer von diesen Barkeepern werden, dem die Leute ihr Herz ausschütten”, grinst er.

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