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Summer in Paradise 3

Teil 7

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Inhaltsverzeichnis

Max

Ich fühle mich elend, melde mich krank, sitze acht Tage nur in meiner Wohnung. Warte auf die nächste Textnachricht von Carlos. Doch die kommen selten. Ich dusche nicht, esse nicht, trinke kaum, war noch nie so am Boden, nicht mal, als meine Eltern gestorben sind.

Am neunten Tag nehme ich das Telefon in die Hand und rufe meine Chefin an. Ich sage ihr, dass ich aus persönlichen Gründen dringend in eine andere Stadt muss, frage, bei welchen Projekten ich von Nutzen sein könnte. Sie hat sofort eine Idee. Drei Tage später sitze ich im Flugzeug nach Dubai. Vier Wochen lang werde ich dort in einem Labor sein und eine Versuchsreihe zur Brennstoffzellenentwicklung überwachen, um sicherzustellen, dass alle Fristen eingehalten werden. Ich arbeite 16 Stunden am Tag und schaffe es, wieder halbwegs wie ein Mensch auszusehen.

David ruft an. Ich drücke ihn weg. Er ruft noch mal an.

“Hey David …”

“Max?”

“Ja …”

“Lange nicht gesehen.”

“Ich bin dienstlich verreist, für ein paar Wochen.”

“Ah, okay. Ich wollte dir nur ein Save-the Date geben. Kannst du dir den 29. September freihalten?”

“Okay. Was ist da?”

“Da heirate ich. Dein Freund ist natürlich auch herzlich eingeladen.”

Mein Magen zieht sich zusammen.

“Max?”

“Sorry, schlechte Verbindung. Herzlichen Glückwunsch! Wir kommen natürlich gern.”

“Super, ich muss noch ein paar Leute durchtelefonieren. Aber wir sollten die Tage echt mal wieder länger telefonieren.”

“Sicher, ich melde mich”, lüge ich.

Ich versuche, Carlos anzurufen. Aber er drückt mich weg. Ich schreibe ihm:

“Ich vermisse dich, mir geht es elend. Ich dachte, Dubai würde helfen. Aber ohne dich …”

Nein, das kann ich nicht abschicken. Ich lösche den Text wieder und tippe:

“Kannst du am 29.9. mit mir auf Davids Hochzeit gehen?”

Er antwortet sofort:

“Sorry, bin nicht alleine, kann nicht telefonieren. Hab an dem Tag drei Vorstellungen. Tut mir Leid …”

Ich sitze weinend in einer Toilettenkabine in einem Hochhaus in Dubai und fühle mich von allen verlassen. Da klingelt mein Handy. Es ist Claudi. Ich kann es nicht fassen, wie gut ihr Timing ist und freue mich sehr, ihre Stimme zu hören.

David

Im Leben muss man flexibel sein. Und auch wenn ich wirklich gern mit Noahs Hilfe die Hochzeit geplant hätte, habe ich einfach keine Zeit. Und Jordan hat viel Zeit. Ich will diesen Herbst heiraten. Und deshalb muss er das eben übernehmen. Er hat auch Lust drauf und ich bin sicher, es wird grandios. Er und Noah telefonieren den Sommer über laufend. Ich versuche, mich komplett rauszuhalten.

Kurz nachdem ich Max eingeladen habe, bekomme ich eine Textnachricht von Carlos, Isas Pfleger, der ihr damals das Leben gerettet hat:

“Max geht es nicht gut, er braucht Freunde. Auf der Beerdigung war Claudi, die ihm sehr geholfen hat. Hast du ihre Nummer? Kannst du ihr schreiben, dass sie Max anrufen soll?”

“Ja, ich schreib ihr. Was ist los, kann ich helfen?”

“Ich musste zu meiner Familie zurück und kann gerade nicht mehr mit ihm zusammen sein. Ihm geht es sehr schlecht. Ich glaube aber, dass er nicht mit dir drüber reden will, zu kompliziert …”

Ich bin überrascht. Carlos ist also der Freund, der nicht out ist und deshalb ein Geheimnis ist. Max steckt wirklich voller Überraschungen. Ich hätte nicht gedacht, dass Carlos ihm überhaupt großartig aufgefallen ist… Mein erster Impuls ist, Max anzurufen. Aber ich widerstehe. Statt dessen schreibe ich:

“Wie geht es dir, Carlos?”

“Beschissen, aber ich habe keine Wahl. Ich muss weiterarbeiten. Danke, dass du Claudi Bescheid gibst.”

Ich rufe also Claudi an, auch wenn mir das widerstrebt.

“David?”, macht sie überrascht. “Alles klar?”

“Hey Claudi. Mir hat grad ein Vögelchen gezwitschert, dass Max dringend einen Anruf von seiner besten Freundin gebrauchen könnte.”

“Was ist los?”

“Beziehungskram …”

“Okay, ich ruf ihn an. Danke, David.”

Ich habe keine Zeit, mir weiter Gedanken zu machen. Ich muss die Zwillinge bei meinen Eltern abholen, denn Jordan ist diese Woche in Nürnberg, um Carol, Klaus, Ernst und den Mädels beim Umzug zu helfen.

Jordan

Man muss neidlos anerkennen, dass Klaus’ Elternhaus und der Hof daneben wirklich paradiesisch sind. Auch seine Verwandtschaft ist super sympathisch und scheint sich wirklich zu freuen, dass die amerikanischen Auswanderer zurück nach Hause gekommen sind. Klaus’ älterer Bruder und seine beiden erwachsenen Kinder bewirtschaften den Hof. Die Frau des Hauses leitet den Reiterhof mit Therapiepferden. Das Haus, in das Mum, Klaus, Ernst und die Mädels einziehen, ist 50 Meter entfernt, hat einen großen Garten und braucht eine kleine kosmetische Überholung, ist sonst aber gut in Schuss. Mum kann im Homeoffice bei einer amerikanischen Firma arbeiten. Sie überprüft Dokumente einer Anwaltskanzlei auf Vollständigkeit und leitet sie entsprechend weiter. Klaus hat sich auf Online-Steuerberatung verlegt und coacht per Video-Konferenz Unternehmensberater im amerikanischen Steuerrecht. Laura und Marie können die zwei Kilometer bis zum nächsten Bahnhof radeln und sind in zwanzig Minuten in Nürnberg oder in eineinhalb Stunden in Kleinding.

Wir brauchen drei Tage, bis die Möbel aus Übersee und die neuen Teile gut stehen und die Mädels sich im Haus wohl fühlen. Sie haben das ganze ausgebaute zweite Stockwerk für sich. Mum und Klaus haben das erste Stockwerk mit Schlafzimmer, Gästezimmer und zwei Büros. Und unten ist neben Küche und Wohnzimmer auch Ernst’s Zimmer. Mehr braucht er nicht, sagt er. Er freut sich, dass Leben in der Bude ist.

Abends packe ich mit Marie ein paar Boxen in ihrem neuen Zimmer aus, während wir Musik hören und ich ihr von den Hochzeitsvorbereitungen erzähle. Sie berichtet mir von ihrem schmerzhaften Abschied von Xenia. Sie bereut es zwar nicht, nach Deutschland gekommen zu sein, aber ihre Gefühle seien ganz schön bitter-sweet. Das inspiriert uns, einen Song zusammen zu schreiben und ein Keyboard für ihr Zimmer zu bestellen. Dann bekommt sie eine Mail von Xenia und schmeißt mich hochkant raus, um mit ihrer Freundin einen Video-Call zu machen.

Mum und Klaus sitzen am Esstisch und sortieren Unterlagen. Ernst liest in der Zeitung.

“Glaubt ihr, die Kinder sind schon zu alt für Zirkus?”, fragt er.

“Hm, kommt drauf an”, meint Mum. “Was ist da geboten?”

“Tja, der Zirkus Italiani hat schon so lange ich denken kann sein Trainingsquartier hier in der Nähe. Und traditionell gibt es immer zum Ende der Saison eine Heim-Vorstellung im Quartier. Da war ich schon als kleiner Junge mit meinen Eltern. Klaus war als Kind auch jedes Jahr dort, erinnerst du dich?”

“Ja, das war ein riesiger Zirkus, mit Elefanten und Hochseil-Akten und Clowns …”

“Genau. Wildtiere haben sie jetzt nicht mehr. Nur noch Haus- und Hoftiere. Aber sehr viele Akrobaten. Das muss ziemlich spektakulär sein.”

“Hört sich gut an”, finde ich. “Ich war schon ewig nicht mehr im Zirkus.”

“Hast du Lust, mit den Mädels morgen Abend hinzugehen? Ich hab das Gefühl, sie könnten eine Auszeit vom Umzugsstress gebrauchen. Und wir könnten hier in Ruhe weitermachen”, schlägt Mum vor.

“Sicher, das wird gut.”

Die Mädels verdrehen zwar ein bisschen die Augen, aber eher aus Prinzip. Eigentlich freuen sie sich auf die Vorstellung. Und als wir zum Winterquartier kommen, staunen die zwei wie Fünfjährige:

“So viele Wohnwägen!”

“Und das riesige Zelt!”

“Und da hinten steht, dass es einen Streichelzoo gibt, können wir da hin?”

“Sicher, nach der Vorstellung.”

“Bekommen wir Popcorn?”

“Alles, was ihr wollt.”

“Wuhu, das wird so toll”, freut sich Laura und ich freue mich mit, weil ich sie selten so sehe.

Sie ist oft sehr verschlossen. Aber jetzt leuchten ihre Augen und sie strahlt.

An der Kasse sitzt eine hübsche Frau Anfang zwanzig mit dunklen Locken.

“Drei mal die besten Plätze, die Sie haben, bitte”, ordere ich auf Englisch.

“Das macht dann 75 Euro, bitteschön”, antwortet sie mir auf Englisch. “Moment, bist du nicht … entschuldige, aber du siehst aus wie Jordan Bonanno.”

Die Mädels verdrehen die Augen.

“Kann man eigentlich nirgendwo mit dir hingehen, Dad?”, grinst Marie.

“Die Karten gehen auf’s Haus. Aber nach der Show brauche ich dringend ein Foto mit dir. Meine Schwestern werden ausflippen! Ich bin Maria Marino”, lächelt sie und reicht mir die Hand.

Die Schlage hinter uns wird immer länger, deshalb gibt sie uns die Karten und winkt uns durch.

“Wir sehen uns nach der Show, versprochen?”

“Auf jeden Fall”, lächle ich charmant und fange mir dafür einen Ellbogen-Rempler von Marie ein.

Wir decken uns mit Popcorn, Erdnüssen und Softdrinks ein und gehen zu unseren Plätzen in der ersten Reihe. Die Ränge füllen sich schnell. Es gibt sogar eine Kapelle aus Blechbläsern. Das hier ist definitiv kein Provinz-Zirkus.

Die Show startet auch sofort von null auf hundert mit sechs wunderschönen Schimmeln, die hereintraben, drei Runden drehen und sich dann von selbst in der Mitte sammeln. Erst dann kommt eine Frau Mitte 40 mit einer Peitsche in die Manege. Die Pferde brauchen kaum ein Zeichen von ihr, machen die ganze Nummer augenscheinlich alleine.

Ein stämmiger, älterer Mann betritt mit Mikrophon die Manege. Die Pferde traben davon und verschwinden wieder im Backstage-Bereich. Die Frau tritt neben den Mann.

“Meine sehr verehrten Damen und Herren und ganz besonders liebe Kinder, herzlich willkommen im Familienzirkus Italiani. Unser Zirkus ist einer der größten Deutschlands. Und das besondere: Er wird geleitet von drei traditionsreichen italienischen Zirkusfamilien. Aber das wissen die meisten hier ja sowieso schon. Denn das heute ist keine normale Vorstellung. Heute kommen wir nach Hause, in unser Trainingsquartier seit über 80 Jahren. Schön, wieder hier zu sein! Mein Name ist Marco DiRossi. Ich darf Sie heute Abend durch unser buntes Programm führen.”

Er erhält großen Beifall.

“Und mein Name ist Antonia Bianco, ich begrüße Sie im Namen meiner ganzen Familie”, erklärt die Pferde-Dompteurin.

Plötzlich schwingt sich ein Mann mit einem Trapez in die Mitte der Manege, lässt genau im richtigen Moment los und landet nach einem Salto weich im Stehen.

“Und mein Name ist Carlos Marino. Meine Familie wünscht Ihnen mit drei Generationen in der Manege einen guten Abend!”

Eine ältere Frau landet neben ihm und ein etwa vierjähriges Mädchen läuft hinter dem Vorhang hervor zu ihnen.

“So süß”, findet Laura. “Und das tolle Kleid. Sie muss sich vorkommen wie eine echte Prinzessin!”

Gleich als nächstes kommt ein Schlangenbeschwörer mit einer kleinen Tanznummer und körbeweise Würgeschlangen. Dann geben ein Fakir und eine Feuerschluckerin ihr Können zum Besten. Danach gibt es eine Boden-Akrobatik-Nummer, bei der ich meine, die junge Frau von der Kasse wiederzuerkennen, und zwei Frauen und den Mann vom Trapez. Alle sehen einander sehr ähnlich. Sie schlagen Räder, machen Saltos und Flickflacks und sind dabei perfekt aufeinander abgestimmt. Dann kommt eine Frau mit Tauben, die auf Kommando von Ring zu Ring flattern. Danach kommen die Clowns in die Manege gestolpert. Sie jonglieren, fahren Einrad und prallen immer wieder aneinander. Die Kinder im Publikum lachen schallend. Für irgendwas werden Freiwillige aus dem Publikum gebraucht, Viele Hände schnellen nach oben. Meine ist nicht dabei. Das hilft mir aber wenig.

“Wusstet ihr eigentlich”, dröhnt es plötzlich auf Englisch aus dem Mikrophone “dass wir heute einen echten Star im Publikum sitzen haben? Wer ist dafür, dass wir den in die Manege holen? Frieda möchte ihn gern kennenlernen!”

Okay, erstens: Wer zur Hölle ist Frieda. Und zweitens: Der meint doch hoffentlich nicht ….

“Jordan Bonnano! Komm zu uns!!”

Fuck.

Ich darf winken, ein paar Worte ins Mikro sagen und mich dann mit dem Rücken zum Manege-Ausgang auf einen Stuhl setzen. Der Clown fragt mich nach Phobien, zählt ein paar gefährliche, giftige oder einfach eklige Tiere auf. Was da wohl gerade hinter mir in die Manege kommt? Auf jeden Fall lacht die Menge. Ich spüre warmen Atem im Genick. Plötzlich taucht ein riesiger Kopf neben mir auf. Der Kopf von Frieda, dem ältesten Trampeltier Deutschlands. Ich erfahre, dass sie der Kinderliebling im Ort ist. Ich kraule sie ein bisschen, wir werden fotografiert und dann darf ich mich wieder setzen.

“Megapeinlich”, findet Marie.

“Total cool!”, kontert Laura.

Eine der Marino-Schwestern kommt mit drei Hunden die echt coole Tricks können, in die Manege gejoggt. Dann gibt es eine Schlangenmensch-Nummer mit Hulla-Hupp-Reifen und eine Frau, die Pyramiden aus Stühlen baut und darauf das Gleichgewicht hält. Danach gibt es den spektakulären Hochseilakt der Marinos, noch mehr Clowns, Ponies und Akrobatik. Und nach knapp zwei Stunden Show den Höhepunkt des Abends: Das Trapez. Die ganze Familie Marino scheint in der Luft zu sein. Die Eltern, Anfang 50, ihre drei Töchter und ein Sohn. Ich betrachte das Ganze mit einer Mischung aus Faszination und Angst. Wenn die auch nur zehn Zentimeter daneben greifen … Wenn das Timing nicht perfekt stimmt, wenn zwei in der Luft zusammenrauschen …. aber alles geht gut und der Beifall ist riesig. Laura ist völlig aus dem Häuschen. Nach dem Finale, zu dem alle Artisten noch einmal in die Manege kommen, leeren sich die Ränge, denn alle wollen noch zum Streichelzoo, in der Manege Pony-Reiten oder ein Foto mit Frieda oder einer Würgeschlange machen. Laura will das alles machen, Marie lässt sich ebenfalls breitschlagen.

Während die Mädels Schlangen streicheln, kommt Maria Marino zu mir.

“Tolle Show!“, sage ich sofort.

“Hat es euch gefallen?”

“Total! Meine Schwester ist schwer begeistert. Meine Tochter ist eher gerade in der “Zu cool für alles-Phase.”

“Verstehe. Ich hab zwei Teeny-Schwestern. Ich weiß, wie das ist. Habt ihr Lust, noch ein bisschen zu bleiben? Heute ist die letzte Show, bevor wir ins Training für die Herbst-Saison einsteigen. Morgen haben alle frei. Könnte eine lange Nacht werden.”

“Wenn wir dabei sein dürfen, bleiben wir gern noch eine Weile. Laura war absolut begeistert und würde sich total freuen, noch ein paar Tiere zu sehen.”

“Logo, meine Schwestern haben sicher Lust, ihnen eine kleine Tour zu geben. Pass auf, wir brauchen noch etwas Zeit zum Umziehen und Abschminken und so weiter. Hängt einfach beim Streichelzoo rum. Ich komme euch dann holen.”

Wir sind noch beschäftigt damit, die Ziegen, Alpakas und natürlich Frieda zu streicheln, da steht Maria schon in Jeans und Metallica-T-Shirt vor uns. Außerdem hat sie ihre Gitarre dabei.

“Keine Sorge, ich werde dich nicht zwingen, den ganzen Abend am Lagerfeuer zu klimpern”, lächelt sie. “Aber vielleicht hast du Lust, mir ein paar Tipps zu geben?”

“Super-gerne.”

“Alles klar, hier lang.”

Während sie uns durch den Wohnwagenpark zu ein paar kleinen Häusern führt, die an eine Ferienhaus-Siedlung erinnern, tuschelt Marie mir zu:

“Dir ist klar, dass sie dir an die Wäsche will, oder?”

“Quatsch, ich bin doch viel zu alt für sie. Sie ist nur freundlich.”

Laura schaut mich ernst an und schüttelt den Kopf:

“Mh-mh, sie flirtet, definitiv.”

“Ups …”, mache ich.

Auf einer Grünfläche brennen mehrere Lagerfeuer, Kinder und Hunde laufen durch die Gegend und so ziemlich alle Artistinnen und Artisten sitzen mit Getränken herum und grillen Würstchen im Lagerfeuer. Wir setzen uns irgendwo dazu.

“Das sind meine Eltern Alberto und Marianna und ein Teil meiner Geschwister und ihre Männer, Frauen und Kinder”, erklärt Maria. “Und das ist Jordan Bonanno, mit seiner Schwester und seiner Tochter.”

Alle begrüßen uns freundlich, mir wird Bier angeboten, den Mädels Cola. Maria setzt sich mit der Gitarre neben mich und fängt an, ‘Nothing else matters’ zu spielen. Sie ist gar nicht schlecht. Ein paar Tipps hab ich natürlich trotzdem noch. Herr Marino fängt an, Smalltalk mit mir zu machen. Er fragt nach Maries Mutter.

“Wir sind nicht mehr zusammen, schon eine Weile nicht mehr.”

“So, dann bist du Single?”, fragt Maria.

“Nein, ich bin verlobt. Ich heirate Ende September.”

“Oh”, macht Maria. “Naja, glückliche Frau, die dich ergattert hat ..”

“Eigentlich …”, setze ich an.

Plötzlich jault jemand auf und flucht laut. Der Typ vom Trapez, Marias Bruder, hat sich scheinbar die Hand verbrannt. Er greift nach meinem Bier und kühlt sich damit. Dann fragt er:

“Kannst du mir kurz helfen? Ich muss das verbinden …”

“Ich kann dir doch helfen”, bietet seine Mutter an.

Er schaut mich eindringlich an. Ich hab keine Ahnung, was hier vor sich geht, aber ich erkenne, dass er dringend will, dass ich ihm helfe.

“Ich geh schon. Ich hab Übung, mit fünf Kinder …”, erkläre ich und folge ihm vom Feuer weg in Richtung eines kleinen Häuschens, kaum größer als ein Wohnmobil.

Er macht Licht und sucht im Wandschrank über dem Spülbecken nach Verbandszeug.

“Zeig mal, du solltest kaltes Wasser drüber laufen lassen.”

“Nein, ich brauche bloß … sorry, tut mir Leid, du fragst dich sicher … warte kurz. Ich kleb nur schnell ein Pflaster drauf.”

“Moment, du hast gar keine Wunde, oder?”

“Psst, nicht so laut. Die Wände sind dünn wie Papier. Komm, lass uns kurz in mein Zimmer gehen.”

“Ehm…”

Er grinst: “Ich versuche nicht, dich abzuschleppen oder sowas. Ich will nur echt nicht, dass jemand mithört. “

“Okay …”

Er führt mich in ein kleines Zimmer, mit zwei Stockbetten und zwei Schränken.

“Hier schlafen die unverheirateten Männer der drei Familien. Sorry, es ist alles sehr eng hier.”

Er schließt etwas paranoid das Fenster und setzt sich auf einen Teppich. Ich setze mich im Schneidersitz ihm gegenüber und bin sehr gespannt, was jetzt kommt.

“Ich bin Carlos”, sagt er und gibt mir die Hand.

“Jordan”, sage ich blöde, als wüsste er das nicht.

“Du bist Davids Verlobter.”

“Ja, genau”, nicke ich überrascht.

“Ich habe im Paradies gearbeitet, bis vor Kurzem.”

“Oh, okay, sorry, hätte ich dich kennen sollen? Ich bin total schlecht mit Gesichtern.”

“Nein, wir sind uns noch nie direkt begegnet. Ich hab Isa Weller bis zu ihrem Tod gepflegt.”

“Max’ Mutter?”

“Ja. Und ich … ich bin mit Max zusammen” , flüstert er.

“Ach echt? Cool! David hat erwähnt, dass er wieder jemanden hat, aber ich wusste nicht, wen.”

“Ich bin nicht out und das soll auch so bleiben.”

“Oh, okay, verstehe. Ich halte dicht.”

“Du solltest auch nicht erzählen, dass du schwul bist. Du wolltest gerade sagen, dass du einen Mann heiratest. Das geht nicht, sowas kannst du vor meinen Eltern nicht sagen.”

“Warum nicht?”

“Sie … ich weiß nicht genau, was sie machen würden, aber es würde nicht gut ausgehen.”

“Tut mir Leid, dass du das Pech hattest, in so einer Familie zu landen, Carlos. Das ist sicher scheiße.”

“Ziemlich. Ich kann nicht mal mit Max telefonieren, ich hab hier null Privatsphäre. Und wenn eine meiner Schwestern was rausfinden würde, dann wüssten es gleich alle.”

“Scheiße … aber was mich betrifft, ich werde nicht lügen oder was verheimlichen. Im schlimmsten Fall pack ich die Mädels ein und gehe. Und im besten Fall findest du dadurch raus, wer in deiner Familie tatsächlich ein homophobes Arschloch ist und wer nicht.”

“Ich hatte befürchtet, dass du das sagst. Ich wollte dich nur nicht ungewarnt in so eine Situation reinlaufen lassen. Vor allem mit den Kindern.”

“Danke dafür. Und schön, dass wir uns kennenlernen, hier, weit weg vom Paradies. Eigentlich krass.”

“Ja, ich konnte es nicht fassen, als meine Schwester erzählt hat, dass du da bist.”

“Vom Paradies wissen deine Leute aber schon, oder? “

“Nicht wirklich, ich rede nicht viel über mein Leben außerhalb des Zirkus’. So ist es besser …”

“Hast du jetzt in der Sommerpause wenigstens Zeit, Max zu sehen?”

Er schüttelt unglücklich den Kopf:

“Nein, übermorgen geht das Training für die Herbstsaison los. Wir sind komplett ausgebucht. Keine Chance.”

“Scheiße …”

“Ich vermisse ihn so wahnsinnig. Er hat mich gefragt, ob ich auf eure Hochzeit mitkomme. Ich kann leider nicht.”

“Du schickst ihn allein auf die Hochzeit seines Ex? Das ist hart.”

“Ich weiß. Ich könnte echt irgendwas kaputt schlagen, so sehr nervt mich die ganze Situation.”

“Ich sag es dir nicht gern, aber ich hab noch nie erlebt, dass es lange gut geht, ungeoutet zu bleiben. Das verursacht nur Frust und Schmerz.”

Er schnaubt:

“Ich weiß. Aber bis zum Frühjahr sind mir die Hände gebunden. Danach … danach werde ich mich von meiner Familie verabschieden müssen.”

“Es tut mir wirklich Leid. Ich weiß leider nur zu gut, wie du dich fühlst. Aber manchmal überraschen einen die Leute …”

“Nicht meine Eltern, nicht dieser Clan hier. Keine Chance.”

“Ist es mit Max was Ernstes?”

“Absolut. Ich liebe ihn sehr. Es fühlt sich an, als wäre er Familie.”

“Dann wirst du wohl irgendwann keine Wahl mehr haben. Aber du bist nicht allein. Es gibt Viele, denen es so geht wie dir.”

“Wir sollten zurück, wir sind schon viel zu lange weg.”

“Okay.”

Maria spielt inzwischen Wonderwall. Es sind noch mehr Leute da als vorhin.

“Alles okay mit der Hand?”, fragt Carlos’ Mutter.

“Ja, übermorgen werde ich wieder trainieren können.”

Sie atmet erleichtert auf:

“Gut.”

“Du wolltest gerade von deiner Hochzeit erzählen, Jordan”, meint Maria.

Ich schaue kurz zu Marie und Laura. Sie scheinen zu verstehen, dass es gleich brenzlig werden könnte.

“Ja, Ende September ist es so weit. Ich plane das Ganze nahezu alleine, weil mein Verlobter gerade viel Arbeit hat. Er wünscht sich eine große Hochzeit mit einer guten Mischung aus Tradition und Moderne. Ich hoffe, ich krieg es so hin, wie er es sich wünscht.”

Es herrscht Stille. Richtig lange. Eine peinliche Stille. Sogar die Gitarre ist verstummt.

“Gibt es ein Problem?”, frage ich so freundlich es mir möglich ist.

“Du … du heiratest einen Mann?”, fragt ein Mann mit dem Arm in einer Schlinge und dem kleinen Mädchen im Prinzessinnenkleid auf dem Arm, das inzwischen schläft.

“Ja, ich bin bisexuell.”

Wieder Stille. Und entsetzte Gesichter. Einige stehen auf und gehen weg.

“Aber du bist Italiener”, sagt Frau Marino.

“Ja, zur Hälfte, stimmt. Auch in Italien gibt es Schwule.”

“Aber die Kirche …”

“Mein Verlobter ist Christ. Ein Pfarrer wird uns segnen.”

“Pfarrer tun sowas?”

“Nicht alle, aber einige.”

Mir fallen die bösen und angeekelten Blicke der Menschen rundherum durchaus auf, aber keiner sagt etwas.

“Was sagt deine Familie dazu?”, fragt Carlos.

“Meine Mutter akzeptiert mich und ich hab manchmal den Eindruck, dass sie meinen Verlobten lieber hat als mich. Für meinen Vater war es schwerer. Er hat Jahre gebraucht, um es zu verstehen und zu akzeptieren. Er ist in einer sehr konservativen Familie aufgewachsen. Und mein Großvater …”

Ich schlucke. Laura nimmt meine Hand. Ich lächle sie dankbar an.

“Mein Großvater hat versucht, mich umzubringen.”

“Ernsthaft?!”, ruft Maria.

Ich nicke:

“Er hat mir in den Kopf und in die Brust geschossen.”

“Wie hast du das überlebt?”, fragt Carlos entsetzt.

“Glück, schätze ich. Und gute Ärzte. Ich war Monate lang im Krankenhaus und musste Vieles wieder neu lernen. Ich saß im Rollstuhl, hatte Gedächtnislücken und für kurze Zeit war ich blind. Aber ich hab mich zurückgekämpf, konnte sogar wieder auftreten.”

“Und dein Großvater?”, fragt Herr Marino.

“Er war im Gefängnis bis er gestorben ist. Ohne Reue, so weit ich weiß.”

“Unfassbar”, flüstert Maria.

“Findest du?”, fragt Carlos aggressiv.

“Komm schon, Carlos, sei kein Arsch. Jordan wäre fast gestorben”, sagt eine andere Schwester, die wohl missversteht, was in Carlos vorgeht.

Der ältere Bruder mit dem Arm in der Schlinge findet:

“Wer offen schwul lebt, muss mit sowas rechnen.”

Fast alle Anwesenden nicken.

“Ernsthaft?!”, fragt Maria aufgebracht. “Du findest, Jordan ist selbst schuld, weil er sich nicht versteckt hat?”

“Nein, aber er hätte ja nicht so leben müssen …”

“Das ist keine Wahl”, sagt Marie leise. “Ich such mir doch nicht aus, in wen ich mich verliebe.”

“Soll ich dich hier weg bringen?”, frage ich, weil ich merke, dass sie wirklich erschüttert ist von der Art, wie hier gesprochen wird und von der Atmosphäre.

“Nein, ich will bleiben. Aber ich bin echt erschrocken, wie viel Hass und Vorurteile hier mitschwingen.”

“Süße, ich will echt nicht, dass du das alles hier abkriegst.”

“Hey Dad, keine Sorge. Ich halte das aus. Ich bin übrigens auch bisexuell”, sagt sie laut. “Und es ist mir ziemlich egal, wie ihr das findet.”

“Du? Du bist noch ein Kind! Was weißt du von sowas?”, fragt Frau Marino erschrocken.

“Ich weiß, dass ich meine Freundin ganz toll finde und sie mich. Und ich weiß, dass meine Eltern mich lieben, egal was kommt. Und ich hoffe, keines Ihrer Kinder ist queer. Denn in dieser Familie wäre das ein Albtraum.”

Ich suche Carlos’ Blick und sehe, dass er mit den Tränen kämpft. Mir versetzt das einen Stich ins Herz. Er steht abrupt auf und geht weg.

“Arschloch”, blökt seine Schwester ihm hinterher, weil sie völlig missversteht, warum er geht.

“Maria!”, schimpft ihre Mutter.

“Ist doch wahr! Als wüssten wir Roma nicht, wie es ist, gehasst und diskriminiert zu werden! Kriegt euch doch mal wieder ein! Ihr müsst es ja nicht gut finden, aber es geht euch auch nichts an, wie andere ihr Leben leben!”

“Es gibt Grenzen! Und das verstößt gegen jede Moral!”, erklärt Herr Marino.

“Nein, nur gegen deine. Homosexuelle tun doch niemandem was!”

Ich mag Maria. Und ich mache mir Sorgen um Carlos.

“Ich würde gern mal mit Carlos sprechen”, sage ich.

“Das macht keinen Sinn, Jordan. Die Männer in unserer Familie sind sture Böcke mit veralteten Vorstellungen.”

“Ich probier es trotzdem. Die Mädels sind bei euch doch sicher, oder?”, frage ich.

“Natürlich, wofür hältst du uns!”, regt sich Frau Marino auf.

“Ich weiche ihnen nicht von der Seite”, verspricht Maria. “Aber falls mein Bruder aggressiv wird …”

“Ich pass auf mich auf.”

Ich finde Carlos bei Frieda, dem Trampeltier. Er bürstet ihre Fellzotteln.

“Carlos?”

Er schreckt merklich auf.

“Verdammt, hast du mich erschreckt!”

Er wischt sich verstohlen über die Augen.

“Wie kann ich dir helfen?”, frage ich.

“Hier, fang.”

Er wirft mir eine Bürste zu.

“Einfach durch. Die Zotteln müssen ab. Frieda schafft das nicht mehr alleine.”

Eine Weile bürsten wir das Tier gemeinsam, dann sagt er:

“Ich wünschte, ich könnte tatsächlich frei entscheiden, wie ich lebe. Ich wünschte, ich müsste nicht so sein.”

“Carlos, das meinst du nicht ernst. Denk an Max. Denk dran, wie wichtig er dir ist.”

“Ich hab mein Leben lang immer das getan, was das Beste für die Familie ist. Ich hab in Armut gelebt, hart trainiert, war immer da. Und jetzt? Was hab ich jetzt davon? Nichts. Ich hasse mein Leben. Ich hasse diesen gottverdammten Zirkus. Ich hasse meine Familie dafür, wie sie mit dir umgegangen sind und wie sie mit mir umgehen werden. Und ich hasse es, dass dein scheiß Großvater auf dich geschossen hat! Was stimmt nicht mit diesen dämlichen Idioten? Die, die mich als Zigeuner beschimpft und verprügelt haben, die, die uns hassen, weil wir uns in Männer verlieben. Die, die Kinder in die Welt setzen und ihnen dann das Leben zur Hölle machen! Ich hasse sie alle!”

Er knallt die Bürste in die Ecke. Frieda schaut verunsichert.

“Ich werde dich jetzt in den Arm nehmen”, sage ich leise.

Er nickt. Und weint. Ich halte ihn fest.

“Ich hasse es”, presst er heraus.

“Ich weiß.”

“Lass ihn los!”, brüllt plötzlich jemand.

Maria und die Mädchen stehen da. Sie müssen im Halbdunkeln denken, wir rageln uns oder sowas. Carlos springt erschrocken zurück. Marie und Laura laufen zu mir und fragen mich, ob alles in Ordnung ist. Ich nicke nur.

“Carlos, du verdammter Idiot! Was ist nur los mit dir?!”, brüllt Maria und schüttelt ihn.

Er wehrt sich nicht. Ich ziehe sie von ihm weg. Er steht mit dem Rücken zur Wand und schaut uns an wie ein in die Enge getriebenes Tier.

“Carlos?”, fragt seine Schwester plötzlich besorgt.

Er schaut fragend zu mir, ich nicke kaum merklich.

Er flüstert:

“Maria, ich … ich bin schwul.”

Ihm klappen die Beine weg. Er lässt sich unsanft die Wand hinunter rutschen und bleibt sitzen. Maria setzt sich neben ihn, nimmt ihn in den Arm. Wir lassen die beiden allein, gehen zurück an’s Lagerfeuer.

“Wo sind Carlos und Maria?”, fragt Frau Marino.

“Sie hatten noch was zu klären. Wir sollten uns langsam verabschieden.”

Alle nicken. Mehr gibt es nicht zu sagen. Wir gehen.

Marie sitzt still auf dem Beifahrersitz und starrt aus dem Fenster. Laura tut hinten das Gleiche.

“Was geht in euch vor?”, frage ich.

“Ich hatte gehofft, dass ich vielleicht im Quartier mithelfen kann, mich um die Tiere zu kümmern. Aber jetzt weiß ich nicht mehr, ob ich das wirklich will. Diese Leute sind so … borniert.”

“Verstehe … Und du, Marie? Was denkst du?”

“Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es Carlos gehen muss. Und wie es dir damals gegangen ist nach … nach den Schüssen. So viel Hass. Von den Menschen, die euch eigentlich lieb haben sollen. Es tut mir so Leid, dass dir das passiert ist, Dad. Und ich bin so dankbar, dass du so anders bist und dass ich das Glück habe, dass du mein Dad bist.”

Gerührt nehme ich ihre Hand.

“Ihr seid beide so wunderbare Mädels. Ich bin so froh, dass ihr zu meiner Familie gehört. Ich liebe euch.”

Zuhause rufe ich David an und bitte ihn, Max zu schreiben, dass er Carlos meine Nummer geben soll.

“Hä, was is los?!”, macht er.

Ich erzähle ihm vom Abend bis ins letzte Detail.

“Ich wünschte, ich könnte dich jetzt in den Arm nehmen, Jordan.”

“Das wünschte ich auch.”

Carlos schreibt mir eine Stunde später, dass er sich freuen würde, wenn wir uns morgen treffen könnten.

Ich schicke ihm die Adresse und lade ihn zum Frühstück ein.

Pünktlich um neun steht er vor der Tür und hat Maria mitgebracht. Ich begrüße beide mit einer Umarmung.

“Ihr seht aus, als hättet ihr letzte Nacht nicht viel geschlafen.”

“Nein, ich lag lange wach”, erklärt Carlos.

“Ich auch. War eine ganz schöne Bombe, die da gestern geplatzt ist”, grinst Maria schief.

Ich stelle die zwei meiner Family vor. Maria bietet Laura an, ihr beizubringen, wie sie den Pferden, Hühnern und Co Tricks beibringen kann. Laura ist begeistert von dem Angebot.

Wir frühstücken ausgiebig. Carlos erzählt seiner Schwester dabei, dass er in einer Beziehung ist und dass wir uns daher kennen. Mum fragt ihn ziemlich aus. Es ist offensichtlich, dass Carlos es nicht gewohnt ist, so offen darüber zu sprechen. Er schaut immer wieder fragend zu seiner Schwester. So als wolle er checken, ob es ihr zu viele Details werden.

“Ich dachte, ich würde dieses Long-Distance-Ding besser hinbekommen. Ich mag meine Freiheit wirklich sehr, normalerweise. Aber mit Max ist es anders. Ich denke die ganze Zeit an ihn, auch jetzt noch, nach Wochen. Die Vorstellung, dass er 6.000 Kilometer weit weg in Dubai ist, und ich im Zirkus bleiben muss bis zum Frühling … Und selbst wenn er nur in München wäre, dort ist er für mich gerade genau so unerreichbar …”

Man sieht ihm an, dass er leidet wie ein Hund.

“Hast du Fotos?”, fragt seine Schwester.

“Sicher, dass du die sehen willst?”

“Natürlich, Carlos.”

Er entsperrt sein Handy und klickt eine Weile herum.

“Ich hab die Bilder in einem Unterordner versteckt. Du weißt, wie neugierig die Schwestern sind. Ich hatte Angst, die finden meinen Code raus und durchforsten mein Handy.”

“Klingt paranoid”, finde ich.

“Klingt absolut nach unseren Schwestern”, findet Maria.

Carlos zeigt uns Selfies von sich und Max. Viele davon an einem See, auf dem Sofa, im Auto, knutschend, strahlend.

“Ihr seht sehr glücklich zusammen aus”, findet meine Mum.

“Ja”, bestätigt Maria. “Ich hab dich noch nie so von Herzen lächeln sehen. Das ist schön.”

Nach dem Frühstück zieht sich Carlos ins Gästezimmer zurück, um endlich mal in Ruhe und ohne Angst, gleich entdeckt zu werden, mit Max Videochatten zu können. Währenddessen zeigt Klaus Maria die Stallungen und stellt sie seiner Schwägerin Helene vor. Dann üben sie und Laura mit den Pferden ein paar Tricks ein.

Carlos kommt dazu und sieht geknickt aus. Ich nehme ihn erstmal in den Arm.

“Max geht es genauso beschissen wie mir. Ihn so zu sehen, so blass und traurig, das bricht mein Herz, Jordan. Er hat versucht, es zu vertuschen, aber ich hab ihn durchschaut. Letztendlich waren wir beide das ganze Gespräch über den Tränen nah. Das ist alles so Scheiße. Wie konnte ich nur zulassen, dass er so verletzt wird?”

Maria, er und ich machen einen kleinen Spaziergang.

“Deine Familie weiß doch auch, dass sie ohne dich die nächste Saison über aufgeschmissen sind, oder? Was würde passieren, wenn du ihnen einfach das Messer auf die Brust setzt: Entweder sie akzeptieren deine Beziehung oder du bist weg. Würden sie nicht versuchen, dich im Zirkus zu behalten?”

“Nein, das würde mein Vater nicht. Und auch die anderen beiden Familien würden das nicht erlauben, aus Angst um ihre Söhne. Vermutlich würden sie mich zu einem Priester schicken, um das Böse aus mir rauszubeten oder sowas.”

“Carlos, ich weiß, die Familie steht immer an erster Stelle. Aber in diesem Fall… in diesem Fall solltest du vielleicht wirklich zuerst an dich denken”, findet Maria.

“Was ist dann mit euch? Wie sollt ihr mit nur einem Fänger fliegen, diesen Herbst? Und Papa ist auch nicht mehr in Höchstform. Du weißt, die Saison wäre gelaufen. Die anderen Familien würden euch rausschmeißen und mit irgendeinem Showact aus Russland ersetzen! Was wird dann aus Sarah? Sie braucht die ärztliche Versorgung hier.”

“Dann muss sie eben im Supermarkt arbeiten und sich eine Wohnung mieten, Carlos! Sie ist 27, in Gottes Namen. Wir sind alle erwachsen! Keine von uns würde sich wieder von Mama und Papa ins Ausland verschleppen lassen.”

“Aber wir wären nicht mehr ‘Die fliegenden Marinos’! Du bist der Star der ganzen Vorstellung. Würdest du das wirklich einfach so aufgeben?”

“Nicht einfach so, aber es muss sich definitiv was ändern. Bald werden Mama und Papa nicht mehr mit auftreten, zumindest nicht in den großen Nummern. Dann sind wir die, die das Auskommen der Familie sichern. Sollten wir dann nicht auch das Sagen haben?”

“Hört sich nach einem Putsch an”, meint Carlos.

“Vielleicht.”

“Was würden Alessio und Antonella dazu sagen? Sie sind doch genauso altmodisch wie Mama und Papa…”

“Tja, ohne uns sind sie keine große Nummer.”

“Ich glaube, du stellst dir das alles zu einfach vor, Maria.”

“Und du hast zu viel Angst. Egal was passiert, du und ich, wir landen auf den Füßen. Wir brauchen die Familie nicht. Die brauchen uns.”

“Selbst wenn, wie sollte das funktionieren? Max ist kein Zirkus-Mensch. Er würde im Leben nicht mit uns fahren. Er ist Wissenschaftler, er will Professor werden oder in der Industrie Karriere machen.”

“Naja, aber was ist denn dann der Plan? Willst du sein Heimchen am Herd sein, während er Karriere macht? Damit würdest du auf Dauer doch auch nicht glücklich werden …”

“Ich will in der Pflege arbeiten. Da bekomme ich überall Jobs. Und die Bezahlung ist auch nicht schlechter als im Zirkus.”

“Dann gehst du doch sowieso. Worauf wartest du also?”

“Darauf, dass Alessios Schulter wieder gesund wird. Und darauf, dass Benito wieder fliegen kann.”

“Sein Becken ist an vier Stellen gebrochen! Seine Wirbelsäule ist verschoben. Wahrscheinlich wird er nie wieder fliegen. Darauf kannst du also nicht warten.”

“Dann eben, bis Mama und Papa jemanden gefunden haben, der mich ersetzt.”

“Wissen sie schon, dass sie suchen müssen?”

“Nein …”

“Carlos, egal was du machst, du wirst auf jeden Fall jemanden verletzten. Und es wird sich auf jeden Fall etwas ändern. Also mach das, was dich glücklich macht.”

“Ich muss darüber nachdenken. Max ist ohnehin noch in Dubai. Bis er wieder kommt, muss ich einfach nachdenken.”

David

Der August ist heiß und die Terminflut reißt nicht ab. Aber ich liebe es! Es geht was vorwärts! Wir sind gut im Zeitplan. Der September kommt und die Bagger ebenfalls. Der Keller der Gaststätte wird ausgehoben, das Grundstück eben gemacht. Jake und April würden am liebsten den ganzen Tag dabei zuschauen, aber sie starten in den Kindergarten. Aprils Eingewöhnung läuft gut, Jake braucht mich einige Tage dabei, bis er bereit ist, ein paar Stunden alleine zu bleiben.

Christian kommt aus der Reha zurück und übernimmt wieder ein paar Termine. Körperlich kann er noch nicht wieder arbeiten, aber alles planerische ist jetzt wieder sein Problem. Ich bin sehr froh um die Entlastung. Er sieht auch eigentlich ganz fit aus, bewegt sich normal, scheint keine Schmerzen zu haben. Fragen nach seinem Zustand tut er allerdings schnell ab und sagt immer nur “Wird schon wieder”.

Die Hochzeitsvorbereitungen laufen jetzt auf Hochtouren, allerdings halten Jordan und Noah alles streng geheim. Ich muss nur mit Noah einen Anzug kaufen fahren und mein Gelübde schreiben. Das krieg ich hin. Ich hatte angenommen, dass ich an diesem Punkt langsam nervös werden würde, aber ich bin entspannt und freue mich einfach auf die Feier und die Leute, die mit uns feiern werden.

Christian

Trocken ist das Ganze noch härter zu ertragen. Mein Tag besteht nur aus Arbeit, Verpflichtungen und Entzugserscheinungen. Die Kinder sind nicht gern mit mir zusammen und sind immer weinerlich. Ich kann es ihnen nicht verübeln. Franzi fragt, wie sie mir helfen kann, aber ich will sie nicht belasten. Wenn der Herbst nur endlich rum geht und der Rohbau der Gaststätte steht, dann wird es im Winter ruhiger. Ich muss durchhalten. Severin, Milla und Eugen verbringen viel Zeit im Paradies mit Cassandra. Deshalb vermeide ich es, dort zu sein. Ich besuche meine Mutter im Pflegeheim, aber sie erkennt mich nicht, redet nur wirres Zeug, fragt nach meinem Vater. Sie so zu sehen, tut weh. Jordan nimmt mich mit in eine Selbsthilfegruppe für Süchtige. Er geht da jede Woche hin, erzählt aus seinem Leben, hört den anderen zu. Ich glaub nicht, dass ich der Typ für sowas bin. Ich will niemandem so tiefe Einblicke geben und ich will mir auch nicht die Probleme der anderen aufladen. Trotzdem begleite ich ihn ein paar Mal. Weil es mir zu anstrengend ist, ihn abzuwimmeln.

Max

Meine Rückkehr nach München Mitte September ist ziemlich traurig. Niemand wartet hier auf mich. Okay, zugegeben, ich hab auch niemandem Bescheid gesagt. Denn David steckt sicher mitten in den Hochzeitsvorbereitungen und Claudi und Thorsten müssten extra in die Stadt kommen. Das macht wirklich keinen Sinn. Ich nehme mir also ein Taxi zu meiner Wohnung, kaufe erst mal ein und fahre zum Urnengrab meiner Eltern, um ein paar frische Blumen hinzustellen. Ich setze mich auf eine Bank am Friedhof und checke vom Handy aus Arbeitsmails. Mein Handy klingelt. Die Nummer kenne ich nicht.

“Max Weller.”

“Hey, ich bin’s, Jordan. Was machst du grad?”

“Öhm … ehrlich gesagt sitze ich am Friedhof in Kleinding und checke Arbeitsmails …”

“Okay”, lacht er. “hast du vielleicht Zeit für eine Pizza? Im Restaurant von Davids Tante?”

“Ehm, nur wir beide, oder …?”

“Ja, ich brauche ein bisschen Input für die Hochzeitsvorbereitungen … und hab da noch was mit dir zu besprechen.”

“Okay, … in zwanzig Minuten?”

“Perfekt!”

Jordan sitzt schon an einem Tisch draußen in einer ruhigen Ecke und winkt. Er steht auf und begrüßt mich mit einer Umarmung.

“Hey Max. Danke, dass du dir Zeit nimmst.”

“Gern.”

“Willst du Wasser? Oder was anderes zu trinken?”

“Wasser ist gut.”

Er schenkt mir ein. Cora kommt persönlich, um unsere Bestellung aufzunehmen, nachdem sie uns beide mit einer Umarmung begrüßt hat. Kleinding ist halt doch irgendwie mein Zuhause, hier kenne ich die meisten Leute, wenn auch viele nur vom Sehen. Hier kann ich die Speisenkarte auswendig, hier muss ich im Supermarkt nicht suchen, weil alles am gewohnten Platz liegt. Ich ertappe mich dabei, doch froh zu sein, dass ich das Haus nur vermietet, nicht verkauft habe. Wer weiß, vielleicht zieht es mich irgendwann doch wieder hierher …

“Also, wegen den Hochzeitsvorbereitungen… zum Einen wollte ich dir mal erzählen, was Noah und ich bisher planen. Vielleicht haben wir ja was Wichtiges vergessen, das David sich dringend wünscht? Und zum anderen hab ich keine Ahnung, was für einen Jungesellenabschied er mögen könnte … Wäre es für dich okay, mir da Tipps zu geben? Oder ist das zu seltsam?”

“Nein, das ist cool. Erzähl mal.”

Ich muss leider zugeben, dass Jordan da die perfekte Hochzeit für David auf die Beine stellt. Und das sag ich ihm auch:

“Das wird der beste Tag seines Lebens. Du kennst ihn richtig gut und hast das perfekt organisiert.”

Man sieht richtig, wie ihm eine Last von den Schultern fällt, vor Erleichterung:

“Gut. Das ist wirklich gut. Danke, Max.”

“Auch auf die Gefahr hin, jetzt total kitschig zu klingen, aber ich hab zu danken. Ich bin sehr froh, dass du ihn so glücklich machst.”

Jordan lächelt mich so strahlend an, dass ich alle Eifersucht über Bord werfe und mich wirklich einfach nur noch für die beiden freue.

“Und zum Jungesellenabschied: Ich würde sagen, was David da am besten fände, wäre ein Abend Party machen mit seinen Schulfreunden. Paul müsste da alle Kontakte haben. Besonders wichtig sind Flo, Chrissy und natürlich Jana, seine beste Freundin zu Schul-Zeiten.”

“Klingt super, danke für den Tipp!”

Über der Pizza schaut er mich plötzlich unsicher an:

“Es gibt da noch etwas, worüber ich mit dir reden wollte.”

“Ehm, okay…?”

“Eigentlich … eigentlich wollte ich mich da nicht einmischen, aber ich bin irgendwie reingeraten und jetzt … jetzt zieh ich es auch durch.”

“Was kommt denn jetzt?”, frage ich etwas ängstlich.

“Hat Carlos erzählt, dass wir uns kennengelernt haben?”

“Er hat geschrieben, dass du in einer Vorstellung warst, mit Marie und Laura …”

“Ja, genau. Und seitdem schreibe ich oft mit Carlos’ Schwester Maria.”

“Okay …?”

“Seit er sich vor ihr geoutet hat, sucht sie nach einer Lösung …”

“Für was?”

"Dafür, wie ihr euch sehen könntet und wie das mit der Familie alles irgendwie klappen könnte. Ich weiß, das geht mich absolut nichts an. Aber weil Carlos und sie so eingenommen sind vom Training, hat sie mich gebeten, dir was vorzuschlagen.”

“Okay, und was?”

“Es gibt im Quartier immer zwei Vorstellungen im Sommer. Eine, die die Saison abschließt, in der war ich. Und eine, die die neue Saison einleitet, bevor der Zirkus wieder auf Wanderschaft geht.”

“Okay …”

“Die Erste Show der Saison findet morgen Abend statt. Und Maria möchte, dass du kommst.”

“Ääääh, wozu? Und weiß Carlos davon?”

“Nein. Aber es geht auch nicht drum, ihm Druck zu machen oder sowas. Die Premiere ist was besonderes für alle Artisten. Alle laden ihre Familien und Freunde ein. Und sie findet, du solltest für Carlos im Publikum sitzen.”

“Wie genau stellt ihr euch das vor? Dass ich ihn von Weitem anhimmle und dann wieder fahre?”

“Nein, sie möchte, dass du behauptest, ein Freund von ihr zu sein. Sie möchte, dass du Zirkusluft schnuppern und die Familie kennenlernen kannst. Und ich glaube, sie ist auch ganz schön neugierig auf dich …”

“Selbst wenn ich das für eine gute Idee halten würde, könnte ich das doch nicht tun, ohne dass Carlos davon weiß. Er wäre total vor den Kopf gestoßen.”

“Stimmt. Deshalb wartet sie auf dein Go und sagt ihm dann, was der Plan ist. Ich glaube, sie versucht irgendwie, eine Brücke zu bauen. Sie will, dass die Familie dich kennenlernt, als ersten Schritt. Und dass du und Carlos euch endlich wieder sehen könnt. Ich weiß, dieses ganze Theater ist total unangenehm, aber ich glaube, das ist gerade die einzige Chance, Carlos noch zu sehen, bevor die Tour losgeht.”

“Ich weiß nicht. Ihn zu sehen ohne mit ihm zusammen sein zu können, ist vielleicht noch schlimmer, als ihn gar nicht zu sehen.”

“Am Tag nach der Show ist Abbau. Da kann sich Carlos vielleicht davonschleichen, meint Maria. Ihr könntet in ein Hotel gehen oder sowas …”

“Okay, wenn das so ist, bin ich bei allem dabei.”

“Ja?”

“Ja.”

“Okay. Da wäre noch was: Maria meint, Geld imponiert ihren Eltern sehr. Du sollst also mit einer dicken Karre und schicken Klamotten kommen.”

“Verstehe. Da findet sich was im Nachlass meines Vaters. Guten Schwiegersohn spielen, hab ich drauf.”

“Max, wenn ich dir ansonsten irgendwie helfen kann … oder meine Mum, die wohnt nur ein paar Kilometer vom Quartier entfernt. Ich soll dir ihre Adresse geben und dir sagen, dass du und Carlos dort jederzeit willkommen seid.”

“Danke. Das ist wirklich sehr nett von ihr.”

“Okay, ich schicke dir Marias Kontakt und alle wichtigen Adressen, die Daten zur Vorstellung und so weiter …”

“Okay, danke.”

Ich weiß wirklich lange nicht, was ich von dieser Idee halten soll. Bis Carlos mir nachts, kurz nach Mitternacht schreibt:

“Ich kann es nicht fassen, dass wir uns heute Abend endlich wieder sehen. Ich freu mich so auf dich und bin so dankbar, dass du den ganzen Scheiß mitmachst. Ich liebe dich!!!”

“Ich liebe dich auch und ich freue mich, dich heute Abend auftreten zu sehen. Und ich hoffe, dass wir uns danach irgendwie davonschleichen können. Ich will dich endlich wieder in meinen Armen haben. XOXO”

Ich bin den ganzen Tag mega-nervös, lasse mir die Haare schneiden, rufe Claudi drei Mal an, um das Outfit mit ihr zu besprechen, suche die teuren Manschettenknöpfe und die protzige Uhr meines Vaters heraus, fahre mit dem Fünfer BMW in die Waschanlage, bügle das Hemd und die Anzughose, schicke Claudi zur Sicherheit nochmal ein Selfie,

“Perfekt! Du bist ein Traum-Schwiegersohn!”, schreibt sie.

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