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Summerways
Davids Weg nach Amerika
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Informationen
- Story: Summerways
- Autor: ID
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama, Lovestory
Vorwort
VORWORT
So, liebe Leute.
Kaum wartet man 50.000 Jahre, geht es auch schon weiter. Meine Kinder sind schuld! Seit sie da sind, wollte mich die Muse einfach nicht mehr küssen. Dafür hab ich viele klebrige Kleinkinderküsse bekommen. Und was soll ich sagen? I wouldn’t want it any other Way!
Jetzt geht es dafür im Doppelpack weiter. Wie der Titel schon vermuten lässt, verschmelzen hier Jordans Way-Trilogie und die Sommer-Geschichte um David und Max.
Man sollte beide Vorgängerreihen gelesen haben, um aus Summerways schlau zu werden. Und zwar am Besten in folgender Reihenfolge:
1. Along the Way
2. Sommer 2006
3. Chinese Food (recht unabhängig vom Rest, nur Nebendarsteller)
4. Sommer – Der Boden der Tatsachen
5. A longer Way
6. Threeway
Anfangs befinden wir uns noch parallel zu „Threeway“.
So, ihr habt lange genug gewartet. Jetzt geht es los:
Ich bin jetzt schon total am Ende, obwohl wir erst ganz am Anfang stehen. Bin ich froh, wenn wir im Flugzeug sitzen und ich endlich schlafen kann. Max neben mir sieht ebenfalls ganz schön geschlaucht aus. Die letzten Wochen waren ein bürokratischer und organisatorischer Horrortrip. Immerhin hat Max jetzt eine Studenten-Sozialversicherungsnummer. Für mich als Nicht-Student wird das nicht so leicht. Ich brauche erst mal einen Job. Immerhin habe ich eine temporäre Arbeitsgenehmigung. Die zu beschaffen, war schon nervenzerreißend genug. Theoretisch darf ich nur ein halbes Jahr in den Staaten bleiben. So lange hab ich also Zeit, mich um den Rest zu kümmern. Max heiraten würde nichts bringen, der hat ja selbst nur ein Studentenvisum und keine Staatsbürgerschaft …
Zu dem ganzen Papierkrieg kamen auch noch jede Menge familiäre Probleme hinzu. Meine Eltern waren ja vergleichsweise verständnisvoll, auch wenn sie natürlich nicht begeistert waren, dass ich für drei Jahre in die Staaten entschwinde. Aber Sonia, Max‘ leibliche Mutter, fühlte sich richtig persönlich angegriffen. Sie wollte ihren Ältesten nicht noch ein zweites Mal verlieren. Verständlich. Dazu kommt dann noch das Drama, das sich gleich am Flughafen abspielen wird, wenn sich Sonia und Herr Weller zum ersten Mal begegnen. Max hat beide natürlich vorgewarnt, aber Herr Weller scheint sich richtig bedroht zu fühlen. Er hat auch allen Grund dazu, schließlich hatte er seinen Sohn quasi verstoßen. Da braucht er sich nicht zu wundern, dass der Zuflucht bei seinen leiblichen Eltern gesucht hat.
Und dann ist da noch die Sache mit Paul. Ich habe ihn angerufen und ihm gesagt, dass ich nicht damit umgehen kann, dass er solche homophobe Rastafreunde hat. Er hat versucht mir zu erklären, dass das nicht so ernst zu nehmen ist. Aber ich hab damals ihre Gesichter gesehen, als ich von meinem Freund erzählt habe. Ihnen ist es verdammt ernst. Auf Jamaika werden Schwule regelmäßig zu Tode geprügelt und keinen schert es. Die meinen, Homosexualität macht Krebs. Was soll man zu solchen Menschen sagen? Außer: Auf nimmer Wiedersehen.
Ich gehe im Kopf immer wieder alles durch. Haben wir auch nichts vergessen? Reisepässe, Tickets, alle Koffer und Taschen… die Wellensittiche sind bei meinen Eltern untergekommen, die Wohnung ist schon lange aufgelöst. Ich schätze, wir sind jetzt wurzellos. Wir haben nur noch einander. Ich greife nach Max’ Hand. Er lächelt kurz zu mir rüber, dann klickt er wieder auf seinem Handy rum, wälzt Erledigungslisten.
Zum Flughafen sind es von Kleinding aus zum Glück nur zwanzig Minuten. Mein Vater auf dem Fahrersitz räuspert sich die ganze Zeit nervös, meine Mutter kramt ziellos in ihrer Handtasche herum. Meine Großeltern fahren hinter uns. Sie wollen sich die große Flughafenabschiedsszene nicht entgehen lassen. Mir graut jetzt schon davor.
Mein Handy vibriert. Eine SMS.
„Hey. Ich wünsche euch eine tolle Zeit in den Staaten. Grüßt Mickey Mouse und Spiderman. Alles Liebe, Noah.“
Wow. Ich hab seit Monaten nichts mehr von ihm gehört. Ich wusste gar nicht, dass er unseren Abreisetermin kennt.
„Alles okay?“, fragt Max.
Ich halte ihm das Handy hin. Er überfliegt die Mail.
„Aha. Der tut ja, als sei nichts gewesen.“
Ich zucke nur die Schultern. Ehrlich gesagt hatte ich Noah schon abgeschrieben, auch als besten Freund. Sogar als Bekannten. Was bezweckt er denn mit der Nachricht? Naja, ist ja jetzt egal. Bald liegt der ganze Atlantik zwischen uns.
Sonia wartet schon am Gate und vergießt auch gleich die ersten Tränen. Abwechselnd nimmt sie mich und Max in den Arm, bis meine Mutter sich für uns opfert und Sonia mit Taschentüchern und Festhalten versorgt. Herr Weller, wie so oft im Business-Anzug und mit steinerner Miene, kommt die Rolltreppe hochgefahren. Er drückt Max einen Stapel Wissenschaftsmagazine in die Hand und wählt die Nummer seiner Frau auf Reha, damit auch sie sich noch mal von ihrem Sohn verabschieden kann.
„DAS ist der Weller?!“, tuschelt Sonia meiner Mutter viel zu laut zu.
Ich werfe ihr einen bösen Blick zu, aber nicht halb so böse wie der von Herrn Weller. Trotzdem bleibt er ansonsten friedlich, was ich ihm hoch anrechne. Jemand tippt mich an. Es ist Claudi!
„Was machst DU denn hier?!“
„Na hör mal, dachtest du echt, ich lass euch einfach so davonkommen?“
Max hat seine Freundin jetzt auch entdeckt und kommt rüber. Sofort hält Claudi ihm ein riesiges Kuscheltier unter die Nase. Mickey Mouse.
„Ihr müsst Mickey für mich nach Hause bringen. Er hat genug von Deutschland, sagt er. Und außerdem ist er heimlich in einen von euch verknallt. Er verrät aber nicht, in wen.“
„Äh, danke. Aber wo sollen wir den denn noch unterbringen.“
„Er ist eine Maus! Er braucht nicht viel Platz.“
Claudi ist wohl nicht davon abzubringen, also setzt Max das Ungetüm von einem Stofftier zu unserem restlichen Handgepäck. Dann verkündet er, dass wir uns jetzt mal in die Security-Schlange einreihen werden. Von allen Seiten werde ich umarmt, Geld wird mir zugesteckt und Süßigkeiten und Fotos.
Der Blick des Sicherheitsbeamten spricht Bände, als er Claudis Mickey Mouse durch den Röntgentunnel schiebt.
„Puh, endlich allein“, seufzt mein Verlobter. „Das ist doch gut gelaufen.“
„Japp, zumindest gab’s keine Toten“, grinse ich schief und schleppe unser Handgepäck weiter Richtung Gate.
„Willst du noch was trinken? Oder ein Buch?“, fragt Max fürsorglich.
Ich schüttle den Kopf.
„Alles okay? Soll ich dir noch was abnehmen?“, will er wissen.
Er ist stets bemüht, mir alles recht zu machen. Das nervt zwar ein bisschen, aber ist tausend Mal besser als seine Ignoranz, die ich vor unserer „kleinen Krise“ einstecken musste.
„Alles gut. Ich will nur zum Gate und sitzen.“
„Kannst du’s glauben? Wir sind echt auf dem Weg in die Staaten!“, grinst er euphorisch.
Ich grinse zurück und versuche, genau so euphorisch zu sein …
Dass jeder Passagier seinen eigenen Bildschirm hat, ist wirklich luxuriös. Während Max seine Wissenschaftszeitschriften verschlingt, sehe ich einen Spielfilm nach dem anderen. Zwischendurch gibt es ein kleines Frühstück, ein Mittagessen und kurz vor der Landung sogar noch Abendessen. Dann beginnen wir schon den Landeanflug auf Atlanta; Max macht gerade ein Nickerchen und verpasst so fast die Aussicht über die Stadt.
Unser zweieinhalb Stunden langer Aufenthalt ist mit Einreiseformalitäten gefüllt. Und dann sitzen wir schon in der Maschine nach San José. Die fünfeinhalb Stunden werden leider nicht so schnell vergehen. Es gibt keine Filme und kaum Beinfreiheit.
„Karten spiele?“, schlage ich vor, als wir in der Luft sind.
„Ich will mir die Prospekte vom Institut noch mal durchschauen. Magst du auch?“
„Die kenn ich schon auswendig“, maule ich.
Max tätschelt ein bisschen mein Bein, dann vertieft er sich wieder in seinen Lesestoff. Ich schäkere ein bisschen mit dem Kleinkind, das vor mir über den Sitz schaut, und zwinge mich dann zu einem Nickerchen. Leider bekomme ich so grade mal eine Flugstunde rum und langweile mich schrecklich. Ich spiele Solitär und werfe Max immer wieder jämmerliche Blicke zu, bis er sich endlich von seinen Prospekten losreißt und mit mir Rommé spielt.
Bei der Landung spüre ich schon den Jetlag. Zuhause ist es jetzt Schlafenszeit. Wir müssen aber noch am Mietwagenschalter Schlange stehen und dann noch eine dreiviertel Stunde zu unserem neuen Zuhause fahren.
Vom Campus sehen wir noch nicht viel, weil wir direkt zu unserem Apartmentgebäude fahren und davor parken. Das Zimmer ist bestenfalls okay. Dafür ist es umsonst. Möbliert ist es auch, allerdings komme ich mir sofort vor wie in einer Jugendherberge. Heimisch kann man sich hier drin kaum fühlen. Aber ich will nicht gleich anfangen zu nörgeln und mache ein fröhliches Gesicht. Max packt sofort den ersten Koffer aus und setzt die Riesen-Maus in das ohnehin viel zu kleine Bett. Ich will eigentlich nichts als schlafen, aber hier ist es noch taghell. Vier Uhr nachmittags. Zuhause ist es neun Stunden später. Unsere Wellensittiche schlafen vermutlich gerade selig in meinem alten Kinderzimmer. Hoffentlich hat meine Mum ihnen nicht zu viel Kolbenhirse gegeben. Sie verwöhnt sie noch mal zu Tode.
Die erste Nacht ist erwartungsgemäß unbequem. Das Bett ist zu eng, die Kissen zu hoch und die Matratze quietscht bei jeder Bewegung.
„Wir brauchen ein neues Bett“, motzt Max irgendwann im Morgengrauen.
„Ich kann nicht mehr schlafen. Daheim ist es schon Nachmittag.“
„Was willst du denn machen?“, fragt mein Verlobter.
„Spazieren gehen. Kommst du mit?“
„Nein, ich mach mich im Bett breit und kuschel mit Mickey Mouse“, grinst er.
Der Campus ist sehr gepflegt und man findet alles, was man braucht. Zumindest wenn man auf amerikanisches Frühstück steht. Bagels sind widerlich! Und die „Brezels“ haben den Namen nicht verdient. Immerhin schmeckt der Kaffee, auch wenn er so viel kostet, wie das kleine Frühstück im Flags. Ich bekomme Heimweh. Schon am zweiten Tag. Na, das kann ja heiter werden …
Max ist inzwischen auch auf den Beinen, hat weiter ausgepackt und eine Einkaufsliste geschrieben. Wir brauchen dringend bald ein Auto. Die Tagespauschale für den Mietwagen macht uns sonst arm.
Im Supermarkt finden wir Nutella – total überteuert, aber wir nehmen trotzdem gleich zwei Gläser mit. Mit Nutella drauf, schmecken bestimmt sogar Bagels! Max benutzt Herrn Wellers Kreditkarte, um für den Großeinkauf zu bezahlen – obwohl wir abgemacht hatten, die sei nur für Notfälle. Der erste Streit in der neuen Heimat ist vorprogrammiert. Leider können wir uns in der kleinen Bude nicht aus dem Weg gehen. Also müssen wir uns bald wieder zusammenreißen und gemeinsam kochen. Dann bekommen wir auch Bescheid, dass unser Festnetzanschluss jetzt freigeschaltet ist. Zuhause ist es jetzt aber leider schon Nacht. Deshalb geht mein erster Anruf nach L.A. zu Jordan. Er erzählt von der Einschulung seiner Tochter und davon, dass er die Zwillinge nur ein paar Stunden am Tag sieht und sie sehr vermisst. Die Trennung von Dylan macht ihm sehr zu schaffen, das merkt man. Aber er scheint total verliebt in Xander zu sein. Er gerät richtig ins Schwärmen. Ich kündige an, ihn bald besuchen zu wollen, um diesen fantastischen Kerl auch mal kennenzulernen.
„Ihr seid jederzeit herzlich willkommen, David!“, freut sich Jordan und ich freue mich, dass es wenigstens den einen Vorteil hat, so weit weg von Zuhause zu sein. Nämlich Jordan öfter mal sehen zu können.
Max ist nach dem Telefonat etwas grummelig. Ich glaube, Jordan ist ihm unheimlich. Er mag es nicht, wenn er irgendwo nicht mithalten kann. Und Jordan ist nun mal jemand, mit dem kaum einer mithalten kann. Er sprüht immerzu nur so vor Energie und Ideen. Seine Großfamilie managt er neben Uni und Job. Und nebenbei hat er noch eine funktionierende Beziehung mit einem Mann UND einer Frau. Ich weiß wirklich nicht, wie er das alles unter einen Hut bekommt.
Bevor wir ein Auto kaufen können, müssen wir erst mal die Schulbank drücken und die Führerschein-Theorieprüfung bestehen. Dann halten wir beide unsere kalifornischen Führerscheine in Händen. Endlich können wir uns auf dem Gebrauchtwagenmarkt umsehen und einen noch gar nicht so alten Chrysler Neon erwerben. In schickem Schwarz. In dem Auto fühle ich mich sofort um einiges heimischer als in unserem Zimmer.
Dann kommt der Tag, vor dem ich mich gefürchtet habe: Max‘ erster Arbeitstag am Institut. Ab jetzt bin ich neun Stunden am Tag alleine. Ich brauche dringend etwas zu tun! Deshalb streife ich über den weitläufigen Campus und schaue mir jeden Laden an, in dem es was zu kellnern gibt. Leider ist der Markt ziemlich gesättigt. Kein Wunder, Studenten gibt es hier wie Sand am Meer, und die meisten wollen sich was dazuverdienen.
Max bekommt von seinen Kollegen zum Einstand einen Gutschein für drei Übernachtungen in L.A. Sehr spendabel! Ich freue mich, weil das bedeutet, dass wir Jordan tatsächlich bald besuchen können. Max blockt aber ab. Er will nicht gleich am Anfang Urlaub nehmen. Auch nicht einen Tag, um ein verlängertes Wochenende in L.A. zu verbringen. Es dauert gute zwei Wochen, in denen ich mich zu Tode langweile, um ihn zu überzeugen, dass ich diesen Trip brauche. Jordan nimmt sich sofort und gerne Zeit, um mit uns shoppen zu gehen. Und die restlichen zwei Tage werden mit Sightseeing gut gefüllt sein. Ich bin richtig aufgekratzt, als wir ins Auto steigen, worüber Max ein bisschen genervt die Augen verdreht.
Am Donnerstag gehen wir schön abendessen und tanzen. Der Freitag gehört Max und dem alten Hollywood. Er macht abertausend Fotos und erklärt immer wieder, dass Claudi total begeistert sein wird, die Schauplätze all ihrer gemeinsamen Lieblingsfilme zu sehen. Und Samstagnachmittag, nachdem wir in einem herrlich bequemen Bett endlich ausgeschlafen und anschließend darin Pancakes gefrühstückt haben, steht Shopping mit Jordan auf dem Plan.
„Du wirkst irgendwie nervös“, findet Max.
„Quatsch, Max. Das bildest du dir ein.“
„Aber du freust dich schon ziemlich, ihn wiederzusehen, oder?“
„Klar. Ich hab hier halt nicht so viele Freunde. Und jetzt muss ich mich aufs Fahren konzentrieren.“
„Du musst da links.“
„Ach verdammt.“
„Fahr halt noch rüber.“
„Die Linie ist durchgezogen.“
„Ja und?“, fragt Max blöde.
„Wenn du fährst, kannst du das gern machen. Aber ich hänge an meinem kalifornischen Führerschein.“
„Na gut, dann müssen wir eben wenden.“
„Ach ne?“
„Da vorne.“
„Ja, schon gesehen.“
„Also … er hat nicht gesagt, ob er seinen Freund und seine Freundin mitbringt?“, fragt Max.
„Nein. Ich hab auch nicht gefragt. Theoretisch könnte er auch seine Kinder dabei haben.“
„Zumindest so viele, wie in ein Auto passen.“
„Was ist das jetzt schon wieder für eine Anspielung?“, will ich wissen.
„Ich mein ja nur, brauchst dich ja nicht gleich angegriffen fühlen.“
„Mh-hm.“
„Er hat nun mal viele Kinder.“
„Um die er sich gut kümmert“, betone ich.
„Das sag ich ja auch gar nicht. Jetzt reg dich mal wieder ab. Da vorne ist die Einfahrt.“
„Wie spät ist es?“, frage ich, weil ich meinen Blick nicht vom Verkehr abwenden will.
„Gleich halb.“
„Das haben wir gut getimt, hm?“
„Ja, jetzt brauchen wir nur noch einen Schattenparkplatz. Sonst schmelz ich nachher wieder. Ein schwarzes Auto war vielleicht doch keine so gute Idee“, findet Max.
„Ist der da genehm? Da müssen wir aber ein Stück laufen zum Haupteingang.“
„Ist mir recht.“
Das Outletcenter ist riesig. Sowas könnte man sich in Deutschland überhaupt nicht vorstellen. Die Gebäude wirken wie eine Filmkulisse. Ein Hauch mediterran, ein Hauch Disney World. Dazwischen geht man durch Alleen mit terrakottafarbenem Pflaster. Überall sind Brunnen und Blumen und Tische, die aussehen wie Puppenmöbel. Es schlendern Menschen herum, aber gut verteilt. Irgendwie sehen die meisten stark nach Touristen aus. Shorts, unförmige Shirts, Kameras und Brustbeutel. Touristen sehen echt überall gleich aus. Es ist schweineheiß, selbst im Schatten der Gebäude. Und das, obwohl es Anfang Oktober ist! Aber an die Temperaturen gewöhnen wir uns langsam. Ich besser als Max, der regelmäßig mit Sonnenbrand im Nacken zu kämpfen hat.
„Wo wolltet ihr euch treffen?“, fragt Max und sieht sich um.
„Gleich nach dem Haupteingang, beim Brunnen vor den GAP-Shop…“
Da sitzt er schon. Mein Herz macht einen kleinen Sprung.
„Scheiße, sieht der gut aus. Könnte man glatt genau so für einen Katalog fotografieren“, höre ich Max neben mir.
Jordan hat uns entdeckt. Er grinst, nimmt seine Headphones aus den Ohren und steht auf. Er hat einen riesigen Becher in der Hand. Und er trägt eine lange, sehr gut sitzende Jeans. Wie hält er das bloß aus, bei der Hitze? Ich glaube, er hat ein bisschen zugelegt, seit ich ihn vor ein paar Monaten gesehen habe. Hat sich sehr gut verteilt. Beneidenswert. Lässig kommt er auf uns zu.
„Hey!“
„Hi Jordan.“
Er umarmt mich kurz und gibt Max die Hand. Das gefällt mir. Er beugt sich nicht den Erwartungen, meinen Freund, den er kaum kennt, so zu begrüßen wie mich. Amis sind oft so aufgesetzt höflich, dass das wirklich nicht selbstverständlich ist.
„Habt ihr gut hergefunden?“, fragt Jordan.
„Einen kleinen Umweg haben wir gemacht, aber ansonsten ging’s. Die Straßen von L.A. sind echt eine Katastrophe.“
„Will jemand was vom Strawberry-Banana-Smoothie?“
Er schwenkt den Riesenbecher.
„Ist das eisgekühlt?“, fragt Max.
„Jo.“
„Jaaaah.“
Er zieht kräftig am Strohhalm und ist offensichtlich zufrieden.
„Wie hältst du es nur in den langen Klamotten aus?“, fragt mein Freund.
„Ich bin in Arizona aufgewachsen“, grinst Jordan. „Außerdem muss man hier echt aufpassen mit der Sonne. Die Hautkrebsrate liegt bei zwanzig Prozent.“
„Uff.“
„Dann lasst uns schnell in einen Shop gehen“, schlage ich vor. „Max braucht eine neue Jeans.“
„Na dann lasst uns doch gleich mal zu GAP schauen.“
Wie immer erschaudere ich beim Betreten des Ladens erst mal. Die Klimaanlagen in Amerika scheinen immer bis zum Anschlag aufgedreht zu sein. Hier gibt es eine vergleichsweise große Männerabteilung. Und gaaaaanz viele Hosen in den verschiedensten Ausführungen.
„Also, was für eine Jeans suchst du?“, fragt Jordan.
„Ehm … eine ganz normale halt“, antwortet mein Freund und ist wohl etwas erschlagen von der Auswahl.
„Okay, fangen wir anders an“, grinst Jordan. „Weißt du deine Größe?“
„So mit Waist und Länge? Nicht wirklich …“
„Gut, dann schätze ich mal. Also Xander hat 28/33. Ich nehme an, du brauchst ein oder zwei Nummern weiter und dafür etwas kürzer.“ Er tritt an ein deckenhohes Regal. „Na mal sehen. 30/32 und zur Sicherheit eine 31/32. Probier die zwei mal. Nur wegen der Größe. Farbe und Form sind noch egal.“
Max ist offensichtlich froh, sich nicht selbst durch den Jeans-Dschungel wühlen zu müssen, und macht sich auf in Richtung Fitting Rooms. Wie heißen die auf Deutsch noch mal? Mann, langsam verlerne ich meine eigene Muttersprache, und das schon nach einem knappen Monat.
„Xander schaut nachher wohl auch noch vorbei. Er hat hier in der Nähe was zu erledigen.“
„Echt? Cool. Dann lern ich ihn auch mal kennen.“
„Und was habt ihr bis jetzt von L.A. gesehen?“
„Gestern waren wir in Hollywood unterwegs und morgen werden wir wohl die Universal Studios anschauen.“
„Und ihr wollt sicher nicht bei mir pennen?“
„Danke, echt, aber Max bekommt das Motel bezahlt. Das ist so ein Reward-System an seinem Institut, frag mich nicht.“
„Na gut. Hey, das hier würde dir stehen, glaub ich.“
Er wedelt mit einem dunkelblau-graumelierten Baseballshirt.
„Das hat aber lange Ärmel. Ich bin nicht in Arizona aufgewachsen, sondern im kühlen Bayern, weißt du?“
Wir setzen uns auf die Wartebank vor den Umkleiden.
„Und wie geht’s den Kids?“, frage ich.
„Gwen ist jetzt ja in der Schule. Bisher gefällt’s ihr noch ganz gut. Vor allem, weil man zum Schulanfang so viele Geschenke bekommt.“
„Logisch. Und die Zwillinge?“
„Wachsen und gedeihen. Inzwischen ist Jake genau so groß wie April. Und sogar schwerer.“
„Wow, wer hätte das gedacht?“
Eine Umkleidetür schwingt auf.
„Scheint, als brauchte ich 31/32. Gut geschätzt, Jordan.“
„Und, wie gefällt dir der Schnitt?“
Es stellt sich heraus, dass Max den Bootcut bevorzugt, und zwar so dunkelblau wie möglich. Um das alles herauszufinden, haben wir eine halbe Stunde und einen ganzen Stapel Hosen gebraucht. Den Riesen-Smoothie haben Jordan und ich mit vereinten Kräften leer bekommen. Und wir haben sogar zwischendurch noch in der Kinderabteilung schicke grüne Schnürschuhe für Gwen gefunden. Sie soll nämlich das Schleife-binden üben.
Wir schauen noch ein bisschen durch die Reihen, als Jordans Handy klingelt.
„Hey Liebling. Na, wo bist du? … Wir sind bei GAP. … Okay, dann treffen wir uns da.“
Er legt auf und lächelt etwas entrückt.
„Xander?“, mutmaße ich.
„Er ist bei Claire’s. Wir sollen rüberkommen, wenn wir hier fertig sind.“
„Ist das nicht so ein Modeschmuckladen? Den gibt es auch in Deutschland. Meine Schwester kauft da ein.“
„Genau. Xander steht ohne Ende auf das Zeug da.“
Ich will gerade sagen, dass ich gar nicht wusste, dass es da auch Männerkram gibt, lass es dann aber lieber. Xander ist immerhin eher … androgyn. Stattdessen sage ich:
„Na dann wollen wir ihn lieber nicht zu lange allein lassen. Nicht dass er noch den ganzen Laden leer kauft.“
Das Geschäft ist nicht weit weg, wie uns Jordan versichert. Das ist auch gut so, denn auf den kurzen Strecken zwischen den Läden scheint es inzwischen an die 40 Grad zu haben, zumindest fühlt es sich so an. Im Laden selbst ist es allerdings kühl und fast leer, bis auf zwei junge Frauen mit übergroßen Handtaschen, die sich gerade Hello-Kitty-Accessoires anschauen. Von Xander keine Spur. Oh Mann, hoffentlich müssen wir jetzt nicht wieder raus in die Hitze und nach ihm suchen …
„Hey girls!“, höre ich Jordan neben mir.
Die beiden fahren herum. Moment mal, ist das …?
„Sehr lustig“, sagt die eine in einer verdächtig tiefen Stimmlage.
„Ist das etwa Xander?“, tuschelt mir Max zu.
„Ich glaub …“
Jordan küsst sie … ihn zur Begrüßung.
„Ich hab dir gesagt, dass ich die Handtasche nicht mag“, erklärt er.
„Das ist keine Handtasche, sondern eine Umhängetasche“, gibt Xander zurück.
„Sieht für mich aus wie eine Handtasche“, grinst Jordan und begrüßt die echte Frau mit einem Kuss auf die Wange. Ich vermute, dass das Tyler ist.
„Ich wusste gar nicht, dass du auch dabei bist“, sagt er zu ihr.
„Sie hat nur Outlet gehört und war nicht mehr zu bremsen“, lacht Xander.
Er trägt ein hautenges, schwarzes Longsleeve, eine Nadelstreifenhose und eine übergroße Sonnenbrille in den langen, mit Glätteisen behandelten Haaren. Und definitiv eine Handtasche. Seine ganze Statur wirkt weiblich. Natürlich nicht wie ein Vollweib oder so, aber wie ein Teeny-Mädchen, eine Bohnenstange eben. Er hat unglaublich lange Beine. Da wäre jede Frau neidisch. Wobei die „echte“ Frau neben ihm nicht neidisch sein muss, soweit ich das beurteilen kann. Sie ist mit ihren hohen Schuhen genau so groß wie er, recht kurvig à la Jennifer Lopez und sehr sinnlich in ihrer Ausstrahlung. Irgendwie hab ich mir Tyler anders vorgestellt.
„Darf ich euch David und Max vorstellen?“
Ich fühle mich plötzlich ziemlich underdressed. Xander sieht aus, als käme er gerade von einem Fototermin. Er kommt strahlend auf uns zu, gibt uns die Hand. Seine großen Augen sind dunkel umrahmt. An seiner Augenbraue funkelt ein Piercing. Mehr Zeit, ihn zu mustern, hab ich nicht, denn die Latina begrüßt uns auch freudig.
„Hallo, ich bin Ria.“
„D-David“, stammle ich, da mein Weltbild gerade bröckelt.
Das ist Ria? Jordan hat mir von ihr geschrieben. Oder von ihm. So genau kann man das anscheinend nicht sagen.
„Na, habt ihr schon was gefunden?“, fragt Jordan die beiden.
„Jede Menge.“
Jordan umschlingt Xander von hinten und schaut in dessen kleines Einkaufskörbchen.
„Bitte sag mir, dass das für Gwen ist.“
„Natürlich ist das für Gwen! Denkst du, ich würde lila Perlen tragen?“, empört sich Xander.
„Du trägst ja neuerdings auch Handtaschen“, gibt Jordan prompt zurück.
Xander verdreht nur die Augen, drückt Jordan einen Kuss auf die Wange und reißt sich los, um sich weiter umzusehen. Ria stößt Jordan mit dem Ellbogen in die Rippen und kuckt ganz böse. Er lächelt charmant und wirft ihr einen Luftkuss zurück.
„Männer“, schnaubt sie.
„Nebenan ist ein Gameshop. Wir warten da“, verkündet Jordan.
„Okay, wir brauchen nicht mehr lang“, lächelt Xander gespielt unschuldig.
„Ich wusste gar nicht, dass du auf Videospiele stehst“, sage ich beim Betreten des Nachbarladens.
„Alles ist besser, als den beiden beim Krimskrams-Kaufen zuzusehen, glaub mir.“
Max hat scheinbar schon was Interessantes entdeckt und verschwindet zwischen den Regalreihen.
„Das ist also Ria?“
„Wie sie leibt und lebt.“
„Sie wirkt wirklich SEHR weiblich.“
„Hab ich doch gesagt“, grinst er.
„Und Xander … ich wusste gar nicht, dass er so lange Haare hat.“
„Erst seit Kurzem.“
„Ehm?“
„Die sind drangeschweißt oder geknüpft oder was weiß ich.“
„Wirklich? Okay …“
„Ja, ich war auch nicht gerade begeistert davon, aber sein Äußeres ist ihm zurzeit irgendwie ziemlich wichtig. Und solang er sich damit wohl fühlt …“
„Ja, das ist wohl das Wichtigste.“
„Und wie läuft’s mit Max?“, fragt er, nachdem er sich vergewissert hat, dass der außer Hörweite ist.
„Ganz okay … ich meine, ich seh nicht viel von ihm unter der Woche. Ansonsten sind wir immer noch am Einleben und so …“
„Vermisst du Deutschland?“
„Ich vermisse meine Familie …“
„Und Noah?“
„Nein, ich glaube, über ihn bin ich hinweg.“
„Das ist gut.“
„Und Dylan?“
„Ja, Dylan …“
„Schwieriges Thema?“
„Es ist einfach kompliziert, weil man mit den Kindern nicht wirklich einen Schlussstrich ziehen kann …“
„Ja, ist bestimmt nicht leicht, ihn ständig zu sehen.“
„Aber ich bin wirklich glücklich mit Xander“, versichert er mir.
„Nur nicht mit seiner Handtasche“, grinse ich.
Als Xander und Ria wieder auftauchen, beide mit einer großen Tüte, beschließen wir, als nächstes in ein Bücher-Outlet zu schauen. Dort durchstöbert Max die Fachliteratur, Ria die Ratgeber und Xander und Jordan die Noten. Ich wühle mich durch die Belletristik.
Nach einer Weile gebe ich auf. Irgendwie sehen alle Einbände gleich langweilig aus und sogar die Klappentexte sind Einheitsbrei. Ich schaue durch die Gänge. Xander und Jordan fachsimplen über irgendwelche Songs. Da will ich nicht stören. In der Fachbuchabteilung ist keine Spur von meinem Freund. Seltsam. Wo ist der denn abgeblieben?
Okay, ich hab grad das totale Déjà-vu. Aber gewöhnen werde ich mich trotzdem nie daran, meinen Freund mit einer Frau durch die Cosmo blättern zu sehen. Ria und Max scheinen Spaß zu haben. Hab ich vor dem Laden nicht einen Kaffee-Stand gesehen? Ich kaufe mir einen Frozen Latte und einen Cookie und setze mich damit auf eine schattige Bank.
Nach einer Weile setzt sich jemand neben mich. Xander.
„Na, genug von den Büchern?“, fragt er.
„Irgendwie kommen mir die alle gleich vor. Alles irgendwelche Thriller-Verschnitte. Und du? Nichts gefunden?“
„Doch, aber das bestell ich über die Plattenfirma.“
„Ach so …“
„Krieg ich was von deinem Cookie?“
„Klar! Hier.“
Xander ist nicht tuntig oder so, sondern in seinem Ausdruck einfach sehr weiblich. Wie seine Augen einen festhalten, wenn er etwas erzählt, das kenne ich sonst nur von Frauen. Und sein Lächeln. Ich glaube, er trägt sogar Lipgloss. Oder zumindest einen Lippenpflegestift, der sehr glossig aussieht.
„In was für Läden willst du noch?“, fragt er.
„Keine Ahnung. Max wollte noch Sportklamotten, glaub ich. Ich hab eigentlich alles, was ich brauche.“
„Nicht konsumieren um zu leben, sondern leben um zu konsumieren“, grinst er.
„Naja, dazu fehlt mir wohl das nötige Kleingeld …“
„Studierst du noch?“
„Nein, zurzeit nicht. Aber als Kellner wird man nicht reich.“
„Ja, das ist ein undankbarer Job.“
„Wir können ja nicht alle Rockstars sein“, grinse ich.
„Wo wir gerade davon reden …“
Ich folge seinem Kopfnicken. Da stehen ein paar Emo-Mädchen, gackern und schauen immer wieder rüber. Xander zieht seine Brille aus den Haaren und checkt in der Reflexion seine Frisur. Dann setzt er sie sich richtig auf. Das kommt mir so vor, als würde er eine Rüstung anlegen.
Ich sehe ihm dabei zu, wie er selbstbewusst zu den schockgefrorenen Mädels rüberschwebt, kurz mit ihnen redet, auf irgendwelchen Zetteln unterschreibt, für Handykameras posiert und schließlich jedes der Mädchen freundlich lächelnd umarmt.
„Oh. Na klasse.“
Jordan ist hinter mir aufgetaucht und lässt sich sichtbar frustriert auf die Bank plumpsen.
„Was denn?“, frage ich nach.
„Na das Theater da drüben schon wieder.“
„Hm … gehört das nicht zu eurem Job?“
„Ich hab nicht umsonst Schluss gemacht mit dem Scheiß, als ich mit Dylan zusammengekommen bin. Pass auf, wie Xander sich verhält, wenn er wieder bei mir ist. Er wird mich nicht mehr anfassen.“
„Du meinst … er verheimlicht das mit euch?“
„Jo.“
„Oh. … Das ist scheiße.“
„Jo.“
„Aber irgendwann muss er doch … also ich meine, irgendwann findet irgendwer was raus, oder?“
„Hoffentlich bald.“
„Max hat mich seinen Kollegen noch nicht vorgestellt.“
„Willkommen im Club.“
„Aber ich hab Angst, ihn darauf anzusprechen.“
„Warum?“
„Was wenn er sagt, er hat vor, das die ganze Zeit hier durchzuziehen? Was soll ich denn dann machen?“
„Man kann nicht viel machen, oder?“
„Eben. Also lebe ich lieber in der Ungewissheit und habe Hoffnung …“
„Verstehe.“
Xander kommt auf uns zu. Sein Lächeln wirkt plötzlich ziemlich aufgesetzt.
„Na, hast du noch was gefunden?“, fragt er Jordan.
„Nein“, antwortet der ziemlich abgehakt.
Xander setzt sich nicht zu uns auf die Bank, sondern bleibt stehen. Die Mädels sind immer noch an der Stelle, wo er sie verlassen hat und tuscheln miteinander. Jordan steht auf. Ziemlich provokant geht er auf Xander zu. Ich sehe genau, wie der sich verspannt. Jordan wirft ein Taschentuch in den Abfalleimer hinter Xander und wirft seinem Freund einen wissenden Blick zu.
„Ich geh mal telefonieren“, verkündet er.
Damit verschwindet er um eine Ecke.
„Können wir hier weg?“, fragt mich Xander.
„Sicher. Willst du wieder in den Buchladen?“
„Lieber da rüber. Komm.“
Er steuert auf einen Klamottenladen zu. Einen ziemlich großen. Die anderen finden uns da nie. Aber ich hab das unbestimmte Gefühl, dass ihm das gerade gelegen kommt. Drinnen schnappt er sich irgendein Shirt und geht Richtung Umkleiden.
„Ich probier das mal an …“
Xander verschwindet hinter einem Vorhang. Ich bleibe doof vor den Kabinen stehen. Was passiert hier gerade? Ich setze mich auf die Wartebank … und warte.
Nach einigen Minuten beschließe ich, mal vorsichtig nachzufragen.
„Xander?“ Keine Antwort. Ich lausche, höre aber gar nichts. „Xander, alles in Ordnung?“
Keine Antwort. Was mach ich denn jetzt? Ich kann doch nicht einfach reingehen. Was, wenn er sich wirklich gerade umzieht? Vielleicht sollte ich Jordan holen?
Plötzlich wird der Vorhang schwungvoll zurückgezogen. Xander steht vor mir, aufrecht, mit der Brille auf, lächelnd.
„Passt nicht“, erklärt er kurz und hängt das Shirt zur Seite. „Ich brauch mehr von diesen Cookies.“
Er stolziert Richtung Ausgang, ich schaue ihm erst nur ungläubig hinterher, dann folge ich ihm.
Jordan sitzt wieder auf der Bank. Xander kauft sich Kaffee und einen Keks und setzt sich daneben. Ich bleibe etwas auf Abstand, schaue mich nach den Emo-Mädels um, sehe aber niemanden mehr. Ich hab das Gefühl, ich bin hier gerade überflüssig und suche lieber nach meinem Freund.
Den finde ich mit Ria bei den Gruselromanen. Sie lesen in einem, lachen auf, lesen weiter, lachen wieder.
„Oh mein Gott, was für ein Schwachsinn!“
„Sowas könnte ich auch schreiben!“, lästert Ria.
„David! Hey, das musst du dir durchlesen!“
Nach einer Weile kommen auch Xander und Jordan wieder dazu. Mir fällt auf, dass sie sich an den Händen halten. Na also, geht doch.
„Wollen wir mal rüber zum Puma-Outlet schauen?“, schlägt Xander an Max gewandt vor.
„Gute Idee.“
Dort verschwinden die … ich will wirklich immer „die Mädels“ sagen … Ria und Xander gleich bei den Schuhen. Max sucht eine leichte Sporthose und ein atmungsaktives Shirt für’s Fitnessstudio. Jordan berät ihn mal wieder und sucht selbst nach was Ähnlichem. Ich durchstöbere ein paar Sonderangebote, langweile mich aber eher …
„Oh-mein-Gott“, höre ich.
Ich drehe mich um und sehe Jordan ungläubig auf ein überlebensgroßes Plakat mit einem blonden Kerl in Start-Position drauf starren. Ich trete neben ihn, begutachte die eng anliegenden Klamotten des Kerls auf dem Bild, und auch das Profil dessen Hinterns, der in dieser Haltung natürlich sehr auffällig ist.
„Was ist?“, frage ich verwundert.
„Ich kenne den Kerl.“
„Wirklich? Nicht gerade hässlich“, untertreibe ich.
„Ich hatte mal was mit ihm“, grinst Jordan.
„Wirklich?!“, höre ich Max hinter uns. „Wow, der ist … heiß.“
Ja, der ist genau sein Typ. Sehr athletisch.
„Was schaut ihr denn so?“, fragt Xander hinter uns.
„Oh, ehm … naja, also … ich hab Max und David gerade erzählt, dass ich den Typ kenne.“
Xander legt seinen Kopf schief und mustert unverhohlen den Hintern auf dem Bild.
„Wirklich? Wie gut?“
„Er war ein One-Night-Stand. Naja, eigentlich drei Nächte in San Francisco…“
„Wirklich? Wann?“
„Nach dir, vor Dylan.“
„Nicht schlecht. Komm, ich will dir die Schuhe zeigen, die ich gefunden habe.“
Damit scheint das Thema erledigt zu sein. Max schaut mich fassungslos an:
„Jordan hatte was mit dem Posterboy und Xander macht das überhaupt nichts aus.“
„Ich nehme an, Jordan hatte schon was mit ganz anderen Leuten …“
„Würde dich das nicht verunsichern, wenn ich dir sagen würde, dass ich was mit dem da hatte??“
„Doch, sicher. Aber ich bin nicht Xander. Er ist schließlich selbst schon auf so manchen Plakaten zu sehen gewesen. Das sind einfach ganz andere Maßstäbe.“
„Hm …“
„Hast du was gefunden?“, frage ich.
„Ja, ein Shirt. Kostet 19,95. Ich glaub, das ist okay. Komm, ich zeig’s dir.“
Zusammen finden wir dann auch noch eine Hose.
Die anderen treffen wir erst an der Kasse wieder. Jordan kauft ein dunkelgraues, enges Sportshirt mir allen Schikanen für 49 Dollar. Und Xander hat tatsächlich Schuhe gefunden. Oh Mann, das kann ja wohl nicht sein Ernst sein! Schwarze Sneaker. so weit, so gut. Allerdings haben sie Innenfutter aus lila Samt. Wirkt sehr zuhälterisch. Und dann kosten die auch noch über hundert Dollar! Krass. Naja, leisten kann er sich das sicher.
Als nächstes gehen wir in einen Hot Topic. Das ist ein Laden, in dem man alles findet, was das Emo-Herz begehrt. Na gut, man findet da auch echt tragbare Sachen. Bandshirts und rockigen Schmuck und Buttons und so. Jordan und Xander scheinen genau in ihrem Element zu sein. Max und Ria langweilen sich und ich sitze mal wieder zwischen den Stühlen. Ich find das meiste Zeug hier ja wirklich cool, aber an mir würde es einfach lächerlich wirken.
„David, was meinst du?“
Jordan winkt mich zu sich und deutet in einen drehbaren Schaukasten, in dem alle möglichen Varianten von Fleshtunnels hängen.
„Ich überleg mir gerade das transparente.“
Er deutet auf ein mittelgroßes. Ich schaue an sein Ohrläppchen. Tatsächlich, er trägt da einen schwarzen Plug. Das ist mir noch gar nie aufgefallen.
„Ich hab erst kürzlich wieder mit dem Dehnen angefangen“, erklärt er, als er meinen Blick bemerkt.
„Ah, ach so. Naja, ist leider gar nicht mein Geschmack … aber die transparenten könnten ganz witzig sein. Da sieht man dann irgendwie in dich rein. Brrrr.“
Xander durchsucht die Nasenpiercings. Komisch, er hat doch gar keins.
„Wie fändest du sowas an mir, Schatz?“, fragt er und hält einen silbernen Ministecker an seinen rechten Nasenflügel.
„Sehr weiblich“, gibt Jordan nur zurück.
„Steht’s mir oder nicht?“, fragt Xander leicht säuerlich.
„Natürlich steht’s dir“, muss Jordan zugeben.
„Na also.“
Und schon landet das Schmuckstück im Einkaufskörbchen.
Jordan findet noch ein schwarzes Greenday-Shirt und Xander eine schwarz-lila-karierte Hose, was Jordan dazu veranlasst, einen Spruch zu reißen von wegen, dass die lila Perlen aus dem Claire’s ja jetzt doch ganz gut dazu passen würden. Max und Ria essen vor dem Laden Eis. In diesem Land geht es echt nur um kaufen und essen.
In einen letzten Laden wollen Xander und Ria noch. Ein Outlet von verschiedenen Designern. Das erste Shirt, das ich anschaue, kostet 40 Dollar und es stellt sich raus, dass das noch eines der günstigeren ist. Zu meiner Überraschung stöhnt Jordan ebenfalls über die Preise:
„Davon kann ich ja meine Kinder auf’s College schicken.“
„Na jetzt tu mal nicht so“, verdreht Xander die Augen und zieht ein dunkles Shirt mit brennendem Herzen und Rosenranken hervor. Ed Hardy. Krass. Ria ist in die Damenabteilung abgedüst und hat Max mitgezerrt.
Jordan und ich überlassen Xander seinem Markenwahn und trotten gelangweilt durch die Gänge. Ab und an ziehen wir ein paar besonders übertriebene Teile heraus und machen uns darüber lustig. Ein älterer Angestellter in feinem Zwirn wirft uns schon böse Blicke zu. Ich ziehe ein hellblaues Hemd hervor, das aussieht wie eine Mischung aus Cowboy, Hindupriester und Gangsterrapper.
„Das probier ich an“, verkünde ich.
Jordan schnappt sich das daneben und wir verschwinden Richtung Umkleiden.
Der adrette alte Mann führt dort inzwischen die Aufsicht.
„Wie viele Kleidungsstücke möchten Sie heute anprobieren?“, fragt er süßlich zähnefletschend.
„Zwei. Und wir brauchen nur eine Kabine“, erklärt Jordan und zieht mich hinter sich her in eine edel tapezierte Zelle.
Dort entledigt er sich gleich mal seines Shirts. Ich bin doch etwas überrumpelt und schaue mir sein Hemd erst mal genauer an. So schlecht sieht es gar nicht aus. Naturweiß … also so Hellbeige mit ganz dünnen, braunen Streifen drauf. Er zieht es an. Die Größe scheint gar nicht so verkehrt zu sein. Am Kragen sind ein paar westernmäßige Ornamente, das wirkt irgendwie cool.
„Der Stoff ist irgendwie voll weich“, erklärt Jordan ungefähr so überrascht wie ich.
Er macht die Knöpfe zu. Sitzt wie angegossen. Eng anliegend, genug Platz für seine breiten Schultern, an den Hüften schmal geschnitten …
„Das sieht gut aus, glaub ich“, stammle ich verdattert.
„Ich muss das mal draußen im großen Spiegel anschaun.“
Er zieht den Samtvorhang zurück und tritt nach draußen. Wow, hinten sitzt es auch verdammt gut. Es fällt ein gutes Stück über den Bund seiner Jeans, und zwar abgerundet. Der Verkäufer schaut ihn beeindruckt an.
„Das steht ihnen.“
„Ja …“
„Darf ich?“
Er krempelt die langen Ärmel um, so dass Jordans Ellbogen frei sind. An der Umschlagstelle kommt ein dezentes Muster zum Vorschein, das alles plötzlich so gewollt aussehen lässt.
„Wow, Schatz das sieht unglaublich aus! Ich liebe es, das musst du nehmen!“, findet Xander der mit einem Stapel Klamotten um die Ecke gebogen kommt.
„Sieht schon gut aus, oder?“, fragt Jordan niedlich unsicher.
Xander nickt eifrig. Und ich kann ihm nur beipflichten.
„Fühlt sich auch echt gut an“, erklärt er und macht ein paar Bewegungen.
„Nimm es“, drängt Xander. „Ich schenk es dir … nachträglich zu den letzten fünf Geburtstagen, die ich verpasst habe.“
„Ach Quatsch, das kann ich mir grad noch leisten.“
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Jordan genau so wenig auf das Preisschild geschaut hat, wie ich.
„Na dann NIMM ES!“
„Ist ja gut. Ich nehm es ja.“
Xander lächelt triumphierend und verschwindet mit seinem Stapel in der Umkleide.
„Willst du deines noch anprobieren, David?“
Ich schüttle schnell den Kopf. Jordan zieht sein neues Hemd an Ort und Stelle aus und mustert das Preisschild.
„Naja, hätte schlimmer kommen können …“
Er hält es mir hin. $102,95.
Wir stoßen zu Ria und Max und schauen uns noch ein wenig um, diesmal vorsichtiger. Bald wird Ria von Xander zum Klamottenbeurteilen abkommandiert.
Irgendwann kommt Xander mit diversen Schätzen zu uns.
„Bereit zum Zahlen?“, fragt er.
„Jo.“
Unser adretter Freund steht inzwischen an der Kasse und kann sich einen leicht überraschten Gesichtsausdruck nicht verkneifen, als Xander seinen vierstelligen Betrag mit … naja, ich nehme an es ist eine Platin-Karte, ich hab sowas ja noch nie aus der Nähe gesehen, bezahlt.
Vor dem Laden bleiben wir stehen.
„Also, Ria und ich müssen wieder los“, erklärt Xander.
Ich schaue auf die Uhr. Es ist kurz vor fünf. Wo ist denn die Zeit hin?
„Oh, okay. Naja, war schön, dich kennengelernt zu haben“, sagt mein Freund zu Ria und sie umarmen sich kurz. „Dich natürlich auch, Xander.“
Auch er bekommt eine Umarmung. Ria umarmt mich, Xander küsst mich sogar auf die Wange und flüstert:
„Danke für … du weißt schon, den Cookie.“
Ich kann sehr gut nachvollziehen, was Jordan an ihm findet. Er ist wirklich süß, höflich und sehr anhänglich. Man hat das Gefühl, dass er einen sehr schnell in sein Herz schließt. Nach einem innigen Kuss kann sich Jordan schließlich von seinem Freund losreißen. Die Leute schauen nicht mal komisch. Ich nehme stark an, sie halten Xander für eine Frau.
Dann sind wir wieder allein mit Jordan.
„Also, was habt ihr heute noch vor?“, fragt er.
„Mal sehen. Wir wollten vielleicht noch ein bisschen das Nachleben erkunden.“
„Ich kann euch ein paar coole Läden aufschreiben, die hier in der Nähe sind.“
„Gute Idee.“
„Wollt ihr noch was essen gehen? Ich hab nachher Gwen über Nacht, da komm ich zu nichts mehr.“
Ich schaue kurz Max an, der nickt.
„Subway?“, schlägt er vor.
„Gern“, meint Jordan.
Er verdrückt ein Veggie-Sandwich, Max und ich Chicken. Währenddessen erzählt er noch ein bisschen von den Kindern und der Arbeit und Max erklärt, was sein Institut eigentlich macht. Ich klinke mich ein bisschen aus, das ganze Rumgerenne war doch anstrengend. Ich glaub, ich muss noch ein bisschen vorschlafen, bevor ich mich ins Nachtleben stürzen kann.
Wir verabschieden uns und versprechen, das bald mal zu wiederholen. Max schlägt vor, dass Jordan uns ja auch mal besuchen kommen kann. Irgendwann zwischen Thanksgiving und Weihnachten vielleicht. Gerne auch mit Xander, Tyler UND Ria. An der hat mein Freund scheinbar einen richtigen Narren gefressen.
Jordans Auto steht am anderen Ende des Parkplatzes, Max und ich trotten also alleine los zu unserem Schattenparkplatz.
„Soll ich fahren? Du siehst fertig aus“, bemerkt mein Freund.
„Ja, wäre toll.“
„Dann erst mal ins Motel?“
„Ja.“
„Okay.“
„Findest du den Weg dahin?“
„Sicher.“
Er nimmt meine Hand. Das macht er total selten an öffentlichen Orten. Na gut, der Parkplatz ist relativ verlassen, aber trotzdem. Das ist, glaub ich, unsere erste Berührung seit heute Mittag oder so.
„Xander ist nett“, findet er.
„Ja, ist er. Total“, pflichte ich ihm bei.
„Und Jordan ist ZIEMLICH verliebt in ihn.“
„Sicher ist er das.“
„Nein, ich meine so richtig bis über beide Ohren. Er hat zwischendurch zum Beispiel einfach so Xanders Hand an seinen Mund gezogen und sie geküsst.“
„Und das ist ein Zeichen von schwerer Verliebtheit?“, frage ich skeptisch.
„Du hast Jordans Blick dabei nicht gesehen. So, als würde er sonst nichts auf der Welt brauchen, als diese Hand zum Küssen.“
„Hormone halt“, zucke ich die Schultern und frage mich langsam, warum Max mir das alles erzählt.
„Ich fand das nur faszinierend. Ich meine, immerhin sind sie kein frisches Paar. Sie waren ja schon mal länger zusammen. Dann haben sie eine Pause gemacht und jetzt ist alles wieder so leidenschaftlich wie am Anfang.“
Der sehnsüchtige Ton in seiner Stimme macht mir Sorgen.
„Eine Pause nennst du das? Sie haben sich fünf Jahre lang kaum gesehen. Jordan hat einen anderen geheiratet und Kinder in die Welt gesetzt. Das ist mehr als eine Pause.“
„Stimmt schon. Aber das Ergebnis ist das gleiche. Wenn ich die beiden zusammen sehe, dann kann ich mir gar nicht vorstellen, dass Jordan vor Kurzem noch mit einem anderen verheiratet gewesen ist. Und dass er Kinder hat … Kannst du dir Jordan als Vater vorstellen?“
„Sehr gut sogar“, gebe ich gereizt zurück.
Max scheint das gar nicht zu merken, sondern redet einfach weiter:
„Andererseits: Jordan hat diesen Beschützerinstinkt, das merkt man auch daran, wie er mit Xander umgeht. Er hat sich oft total so verhalten, als müsste er Xander gegen irgendwas abschirmen. … Etwas stimmt nicht mit ihm, oder?“, fragt Max unsicher.
„Ich weiß nicht, ob ich das weitererzählen darf, also …“
Natürlich dürfte ich Max von Xanders Hang zur Selbstverletzung erzählen, aber ich habe gerade keinen Bock drauf, weil er mich mit seinem Gelaber über Beziehungspausen total nervt.
„Was Ernstes?“, fragt er nach.
„Was Psychisches.“
„Oh … okay.
„Ria ist ein Kerl“, wechsle ich das Thema.
„Was?!“
„Deine neue bester Freundin ist ein Mann. Oder war mal einer. Oder hätte einer werden sollen, keine Ahnung.“
Wir sind am Auto angekommen. Max schaut mich aus erstaunt aufgerissenen Augen an.
„Wie meinst du das?“
„Trisomie der Geschlechtschromosomen. Also XXY.“
„Klinefelter-Syndrom?“
„Wenn man das so nennt?“
„Hattest du das damals nicht in Bio?“
„Keine Ahnung. Das ist ewig her, Superhirn“, witzle ich.
„Ria hat also eine Schwanz … soso, das ist ja interessant …“
Irgendwie hab ich das Gefühl, er findet sie jetzt noch interessanter. In etwa so, als hätte seine Claudi auch einen. Dann wäre er vermutlich jetzt mit ihr zusammen. Der Gedanke bringt mich ziemlich in Rage. Deshalb gifte ich Max auch übertrieben an, als er das Radio anschaltet:
„Ich will schlafen. Kannst du vielleicht mal ein bisschen Rücksicht auf mich nehmen?!“
Er rollt nur die Augen und starrt geradeaus auf die Straße. Ich bin ihm nicht mal eine richtige Reaktion wert. Na vielen Dank!
Auf dem Parkplatz vor dem Motel weckt Max mich relativ unsanft. Ich trotte hinter ihm her und frage mich, warum ich eigentlich schon wieder so genervt von ihm bin. So will ich doch gar nicht sein! Ich nehme mir vor, heute Abend einfach mal gute Laune zu haben. Das klappt aber leider nur, bis Max seine Mailbox abhört.
„Oh, Scheiße!“, macht er.
„Was?“, frage ich alarmiert.
„Ein Stromausfall hat alle PCs zum Absturz gebracht. Die ganze Versuchsanordnung muss neu gemacht werden. Dabei brauchen wir Ende der Woche die Ergebnisse!“
„Ach so, ich dachte schon, was Schlimmes …“
„Verdammt, David! Warum bist du eigentlich manchmal so ein Idiot?!“, giftet mich Max plötzlich an.
Ich weiß gar nicht, wie mir geschieht. Max packt alles in die Koffer.
„Was machst du?“
„Ich muss zurück, was denkst du denn?“
„Wir wären doch eh nicht vor zehn zurück. Und was ist mit den Universal-Studios? Was ist mit unserem Trip?“
„Mann, verhalt dich nicht wie ein Kind, David. Mein Job ist wichtiger. Ich muss noch heute ins Institut.“
„Kann das denn kein anderer machen?“, versuche ich es noch ein letztes Mal.
Max stiert mich nur wütend an und packt weiter. Das war’s dann mit unserem Kurzurlaub.
Ich brauche dringend einen Job. Sonst sitze ich nur rum, langweile mich und mache Max Vorwürfe, dass er mich allein lässt, obwohl er eigentlich nur seinen Job macht … Nur deshalb nehme ich die Stelle in der Kantine an. Ich betrachte Teller in die Industriespülmaschine räumen als Einstiegsmöglichkeit. Die Kollegen sind … dumm. So einfach kann man es eigentlich sagen. Ich glaube nicht, dass ein Einziger von ihnen einen High School-Abschluss hat. Und wo Deutschland liegt, weiß nur einer von ihnen so ungefähr. Dafür denkt er, Hitler sei noch an der Macht. Ich mache das ganze zwei Wochen lang mit, habe ich mir vorgenommen. Dann muss ich entweder an die Kasse aufgestiegen sein oder ich kündige.
Meine Schicht beginnt schon um sechs Uhr früh, so dass ich Max morgens nun auch nicht mehr sehe. Erst abends, wenn er heimkommt und mein aus der Kantine mitgebrachtes Essen bekrittelt. Wir reden ein wenig über meinen Tag und seine Forschung und dann schlafe ich vor dem Fernseher ein, während er noch am Laptop sitzt. Soll das jetzt drei Jahre so weitergehen?
Halloween steht vor der Tür. Überall finden Partys statt. Die Flyer sind über den ganzen Campus verteilt.
„Lust auf ne Party?“, frage ich Max.
„Ich bin schon eingeladen. Die Kollegen feiern traditionell im Institut.“
„Oh, cool! Dann müssen wir uns Gedanken über unsere Kostüme machen!“
„Also eigentlich … ist das wohl ohne Partner.“
„Wie, ernsthaft?!“
„Wenn ich das richtig verstanden habe …“
„Fragst du noch mal nach?“
„Klar, aber macht dir keine großen Hoffnungen …“
Irgendwas in seinem Blick sagt mir, dass er mich gar nicht dabeihaben will. Scheiße, ich kann nicht glauben, dass er es schon wieder tut. Er verheimlicht mich. Und das nach allem, was wir durchgemacht haben. Und ich hab niemanden hier. Ich kann mit niemandem reden. Alle meine Freunde sind weit weg. Und Jordan hat grad selbst genug zu tun. Ich will ihn nicht dauernd behelligen. Paul fällt auch flach. … aber was ist mit Noah? Könnte ich ihn vielleicht anrufen? Gedanklich gebe ich mir für diese Idee eine Ohrfeige. Schließlich warte ich, bis Max schläft und es in Deutschland schon wieder Morgen ist und rufe meinen Vater an. Er merkt gleich, dass es mir nicht gut geht. Ich will aber nicht mit ihm über Max reden. Deshalb behaupte ich, Heimweh zu haben. Sofort hat er eine Lösung parat: Er will, dass ich über Weihnachten nach Hause komme. Er sponsert uns die Tickets.
Am nächsten Abend vor der Institutsparty rede ich mit Max darüber. Er behauptet, nicht weg zu können. Aber er fände es eine gute Idee, wenn ich fliegen würde. So könnte er in den zwei Wochen ein paar Überstunden sammeln und dafür im Januar noch mal ein verlängertes Wochenende mit mir wegfahren. Ich bitte Dad also, mir einen Flug zu buchen und verbringe den Abend mit PC-Spielen, während Max als Vampir durch sein Institut spukt, bis spät nachts um drei.
Betrunken krabbelt er zu mir ins Bett und fängt an zu fummeln.
„Ich muss in drei Stunden bei der Arbeit sein“, lasse ich ihn wissen.
„Na da lohnt sich Schlafen doch gar nicht mehr“, grinst er und verschwindet unter der Bettdecke.
Meine Stimmung ist deutlich besser, seit ich weiß, dass ich Weihnachten zu Hause sein werde. Endlich habe ich was, worauf ich mich freuen kann. Ich schreibe gleich ein paar Mails an meine Leute und stelle klar, dass wir Silvester bei mir zuhause Party machen. So ziemlich alle sind dabei. Sogar Claudi und Thorsten. Max scheint allerdings nicht sehr neidisch zu sein, als ich ihm das erzähle. Er freut sich wohl drauf, dass ich ihm endlich mal nicht wegen jeder Überstunde im Nacken sitze.
Mitte November bekomme ich kurz vor dem ins Bett gehen folgende Mail von Jordan:
„Hey David,
Alles klar? Was gibt’s Neues?
Hier hat sich ziemlich viel getan. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Also zuerst mal: Alles ist gut! Okay, ich hoffe, du sitzt.
Aaaalso, Gaby ist schwanger. Sie wird im Frühsommer ein Baby bekommen. Da du ja rechnen kannst, ist dir bestimmt klar, dass sowohl Xander als auch ich als Vater infrage kommen. Wir haben aber beschlossen, dass Gaby und Xander das alleine machen sollen. Ich bin gegangen. Ja, ich hab mit Xander Schluss gemacht. Vorgestern, um genau zu sein. Nachdem ich eine Nacht mit Dylan im Gefängnis verbracht habe. (Aber dazu später mehr …). Jedenfalls habe ich mit Xander jetzt einen Abschluss gefunden. Vielleicht war das alles, was wir brauchten. Ich hatte immer das Gefühl, das Schicksal hat uns auseinander gebracht, beim ersten Mal. Und dass wir ohne meinen Großvater immer noch zusammen wären. Jetzt weiß ich, dass das nicht stimmt. Wir hätten uns vermutlich früher oder später getrennt, weil das Gleichgewicht in unserer Beziehung nicht stimmt. Wir haben uns irgendwie gegenseitig ausgesaugt. Ergibt das Sinn? Du musst wissen, ich habe schon ein paar Gläser Wein intus. Habe mit meinem Vater die ganze Flasche geleert. Aber auch das ist eine andere Geschichte.
Also, um es kurz zu machen: Ich wohne wieder zuhause. Dylan hat zugestimmt, mich mit Xander zu teilen. Krass, oder? Weißt du, wie viel Überwindung ihn das gekostet haben muss? Der Kerl liebt mich wirklich. Und ich ihn. Mann, David, weißt du eigentlich, wie sehr ich Dylan liebe? Und der Sex … ich sag es dir, die letzten Nächte waren … nicht laut, nicht wie eine Explosion. Einfach unglaublich intim und nah. Ich hab das Gefühl, dass er sich mir jetzt endlich richtig öffnen kann. Vier Jahre hat es gedauert! Und weißt du, was der Durchbruch war? Unsere gemeinsame Zeit im Gefängnis. Es gibt da so ein Abschreckungsprogramm zur Prävention von Straftaten. Und Dylan hat uns da angemeldet. 24 Stunden im Gefängnis. Es war grauenhaft da drin! Nach nicht mal einem Tag war ich schon völlig verängstigt und nicht mehr der Gleiche. Und Dylan war da vier Jahre drin! Mein Dad sogar fünf! Ich weiß jetzt, dass man daran entweder zerbricht oder ins Gigantische wächst. Und die beiden sind dran gewachsen. Dylan muss mich nicht mehr teilen. Ich gehöre jetzt wieder ganz ihm.
Und mein Dad? Den hab ich gestern für ein paar Stunden im Zentrum getroffen. Und heute hat er uns zuhause besucht, um die Zwillinge kennenzulernen. Er hatte Tränen in den Augen. Und ich auch. Er ist nicht mehr der Gleiche. Ich glaube, er könnte jetzt ein echt guter Opa sein. Und ich hätte ihn gern wieder in meinem Leben. Er feiert Thanksgiving mit uns. Da sehe ich auch Mum und Klaus und die Mädchen wieder. Hab ich dir eigentlich schon mal ein Foto von Marie, meiner Ältesten, gezeigt? Sie sieht mir inzwischen verflucht ähnlich! Kann ich nicht leugnen. Ein Foto von meinem Dad und den Zwillingen hänge ich auch gleich noch mit an.
Grüß Max und habt ein schönes ersten Thanksgiving als Neu-Amerikaner!
Love,
Jordan“
Uff. Okay … ich muss erst mal schlucken. Jordan lässt echt nichts anbrennen. Ich massiere meine Schläfen.
„Alles okay?“, fragt Max.
„Ja, ich hab nur grad eine Mail von Jordan bekommen. Er ist wieder mit Dylan zusammen.“
„Wie jetzt? Er war doch so verliebt in Xander. Was ist denn da passiert?“
„Sieht aus, als würde Xander Vater werden. Und deshalb haben sie alles neu sortiert.“
„Oh Mann, armes Kind …“
„Ich dachte, du mochtest Xander?“, frage ich überrascht.
„Klar, so als Bekannter ist er bestimmt ganz interessant. Aber kannst du ihn dir als Vater vorstellen? Wie alt ist er überhaupt?“
„Auf jeden Fall älter als wir. Und ich glaube, es gibt schlimmere Väter als ihn. Apropos. Jordans Vater ist auch wieder aufgetaucht.“
„Der von der Mafia?!“
„Genau“, nicke ich.
„Bei Jordan ist echt immer Drama, oder?“
Ich zucke nur die Schultern, weil ich merke, dass ich schon wieder wütend auf Max werde und nicht weiß, warum. Ich öffne das erste Foto. Jordan hat nicht übertrieben. Marie hat seinen Mund und seine Augen. Selbst ihr Haar hat die gleiche Farbe.
„Wer ist das?“, will mein Freund wissen.
„Das ist Jordans älteste Tochter, Marie.“
„Wow. Wie alt ist die? Die sieht aus, als würde sie bald in die Pubertät kommen!“
„Ja, elf oder zwölf ist sie, glaub ich.“
Ich klicke das zweite Bild an.
„HALLO!“, macht Max. „Und wer ist der hübsche Kerl?“
Ich bin selbst kurz irritiert und lese lieber noch mal nach.
„Das ist wohl Jordans Dad…“
„Quatsch, der Kerl ist bestenfalls Anfang vierzig!“
„Eher Mitte vierzig. 16 Jahre älter als Jordan.“
„Mit 47 sieht man doch nicht SO aus.“
„Der ist nur ein Jahr älter als Johnny Depp und Brad Pitt“, gebe ich zu bedenken.
„Man sieht jedenfalls, wo Jordan seinen Mund her hat.“
„Genau wie Marie.“
„Ganz schön chaotisch bei denen, was?“, findet Max.
„Normal ist eben nicht Jordans Stil. Aber er ist echt ein toller Vater. Du hättest ihn damals mit den Zwillingen erleben sollen …“
„Als er seine Babys quer über den Atlantik geschleift hat, meinst du?“
„Hey, er hatte gute Gründe!“, zische ich.
„Ja, ich weiß. Jordan ist dir heilig. Da darf man nix sagen. Ich geh schlafen“, verkündet Max und verschwindet erst mal ins Bad.
Ich hasse seine selbstgefällige Art! Er lästert ständig über Jordan ab, um seine eigene Unsicherheit zu kaschieren und behauptet dann, ich würde ihn übermäßig in Schutz nehmen. Ich tippe eine ellenlange Antwort an Jordan, dann lege ich mich schlafen. Max ist immer noch im Bad …
Thanksgiving steht vor der Tür. Und das ist in Amerika eine große Sache. Familien treffen sich. Riesige Menus werden gekocht und niemand bleibt allein.
„Was machen wir eigentlich Thanksgiving?“, frage ich zwei Tage vor dem Großereignis.
Ich habe die Frage tagelang vor mir hergeschoben, aus Angst, dass es wieder läuft wie an Halloween. Aber Max zuckt nur die Schultern.
„Wollen wir was kochen?“, schlage ich vor.
„In dieser kleinen Küche? Ne, kein Bock.“
„Also Essen gehen?“, frage ich weiter.
„Da hat doch nix auf. Nee, überlassen wir Thanksgiving einfach den Amis.“
„Ich dachte, wir sind jetzt sowas wie Amis …“
„Du kannst ja was kochen, wenn du unbedingt willst. Aber ich nutze den freien Tag, um mal meine Aufzeichnungen zu sortieren.“
Ich bin total vor den Kopf gestoßen und ärgere mich über mich selbst, weil ich immer wieder überrascht bin von solchen Aktionen. Ich überlege kurz, ob ich vielleicht Jordan um eine Einladung zu seinem Großevent bitten soll. Aber nein, ich will der Familienwiedervereinigung nicht im Weg stehen. Mann, freue ich mich auf Weihnachten! Vielleicht komme ich danach ja einfach nicht mehr zurück? Ich erschrecke selbst über den Gedanken. Nein, so schnell gebe ich nicht auf. Ich muss mein Leben endlich wieder selbst in die Hand nehmen und mich nicht immer nach Max richten. Ich brauche einen richtigen Job, eine Aufgabe! Ich muss einfach noch intensiver danach suchen!
Am Sonntagmorgen, drei Tage nach Thanksgiving, versuche ich, Jordan per Skype zu erreichen und ihn nach dem Familientreffen zu fragen. Er nimmt nicht ab, obwohl er online ist. Seltsam. Ich schreibe ihm eine kurze Mail, in der ich mein Leid mit Job und Max klage und warte drauf, dass mein Freund vom Joggen zurückkommt, damit wir was unternehmen können. Gerade als Max zur Tür herein kommt, bekomme ich doch noch einen Skype-Anruf von Jordan. Ich hebe ab, ohne Max zu fragen, ob das okay ist. Er schnauft genervt:
„Ich geh duschen.“
Die Videoübertragung baut sich auf und ich sehe Jordan. Aber irgendwas stimmt nicht. Er ist merklich blasser als sonst, hat Augenringe und eine geschwollene Lippe.
„Was ist denn mit dir passiert?!“
„Lange Geschichte …“
„Geht’s dir gut?“
„Nicht so wirklich. Ich hab kaum geschlafen.“
„Was ist passiert?“
„Thanksgiving ist nicht so gelaufen, wie ich es mir vorgestellt habe …“
„Ja, bei mir auch nicht“, grinse ich schief.
„Du zuerst.“
Ich klage ihm mein Leid vom ständig arbeitenden Max und der unfassbaren Langeweile.
„Du kannst uns jederzeit besuchen, David. Das weißt du?“
„Ja, aber ich finde, ich sollte jetzt mal aufhören, Ausflüchte zu suchen und endlich mein Leben weiterleben. Ich suche einen vernünftigen Job. Dann wird alles besser.“
„Hört sich nach einem Plan an“, grinst er, verzieht dann aber gleich sein Gesicht vor Schmerzen.
Ich sehe ihm dabei zu, wie er eine Pille schluckt und etwas Wasser nachtrinkt.
„Und jetzt erzähl mir, wer dich verprügelt hat“, bitte ich.
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