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Summerways

Teil 2 - Jordan weiß, wie man Thanksgiving feiert

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Informationen

 

Mein Dad fühlt sich sichtlich unwohl. Ich klopfe ihm im Vorbeigehen auf die Schulter, denn ich weiß nur zu gut, wie man sich fühlt, als Fremdkörper in der eigenen Familie. Außerdem ist er sicher aufgeregt, Renzo zu sehen und dessen Freund kennenzulernen. Dylan reicht mir eine große Schüssel aus dem Schrank und gibt mir mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass ich meinen Vater irgendwie beschäftigen soll.

„Antony?“

„Hm?“, schreckt er hoch.

„Kannst du mal nach den Zwillingen sehen?“

„Ich kann doch gehen“, wirft meine Mum ein.

„Schon in Ordnung, ich bin sicher, Opa bekommt das hin.“

Kaum hat mein Vater den Raum verlassen, stürmt meine Mutter auf mich zu:

„Ich verstehe wirklich nicht, warum du ihn eingeladen hast.“

„Weil er mein Vater ist. Und weil er in den letzten zwei Wochen bewiesen hat, dass er nicht mehr der Alte ist.“

„Carol, das ist Jordans Haus. Er kann einladen, wen er für richtig hält“, findet Klaus und wirft Dylan einen Seitenblick zu.

Keinen von der verschwörerischen Sorte, sondern einen feindseligen. Er hat den Vorfall in seiner Auffahrt nicht vergessen, als Dylan mich versehentlich verletzt hat. Ich habe das Gefühl, mein Stiefvater wird mich im Laufe des Besuchs noch mal beiseite nehmen und mir auf den Zahn fühlen. Oder auch Dylan. Oder uns beiden. Es klingelt. Mein Dad kommt schon die Treppe herunter gespurtet. Er wird aber enttäuscht: Es sind nur Vince und Ria, die auf einen Sprung vorbeischauen, um dann nach fünf Minuten weiter zu Collin, Scott und Danny zu fahren.

Weitere zehn Minuten später ist es dann so weit: Renzo, der inzwischen seinen Master in Architektur macht und sein Freund Andrew betreten unser Haus. Wir umarmen uns freudig und ich spüre sofort wieder die Verbundenheit zwischen uns. Wir sind eben Brüder, auch wenn wir nicht zusammen aufgewachsen sind. Davon zeugt nicht zuletzt der Schwung in unserer Oberlippe.

Dad, der die gerade wach gewordene April auf dem Arm hat, reicht seinem Sohn unsicher die freie Hand. Er scheint fast so nervös zu sein wie bei unserem ersten Treffen vor gerade mal zwei Wochen. Kommt mir sehr viel länger her vor. Wir haben uns seitdem fast täglich gesehen. Gestern war er sogar für ein paar Stunden mit den Zwillingen alleine, weil Dylan und ich gleichzeitig arbeiten mussten.

Renzo versucht, aufmunternd zu lächeln und stellt Andrew vor. Er ist etwa in meinem Alter und arbeitet in einem Architektenbüro. Dort haben die beiden sich Anfang des Jahres während Renzos Praktikum kennengelernt. Mein Vater begrüßt auch ihn höflich-zurückhaltend und beschäftigt sich dann etwas verlegen mit April. Ich rette ihn, indem ich den Neuankömmlingen ihre Jacken abnehme und ihnen zeige, wo sie sitzen sollen.

Dylan kümmert sich um den Truthahn, Mum, Marie und Laura um die Beilagen. Klaus übernimmt das Tischgespräch, wofür ich ihm sehr dankbar bin, denn ich wüsste wirklich nicht, worüber wir reden könnten, um die Spannung abzubauen. Ich freue mich, meinen Bruder und meinen Vater hier zu haben, aber ein falsches Wort und alles könnte in einem Fiasko enden.

„Ich habe Fotos von Peters Töchtern“, erklärt Renzo und unterbricht damit Antonys Vortrag über die Weinlese.

„Wirklich? Kann ich sie sehen?“

„Hier.“

Renzo streckt Dad sein Handy entgegen.

„Die Augen eurer Mutter“, freut er sich.

„Und Großvaters Kinn“, findet Renzo

Sofort wird es still im Raum. Alle schauen betreten drein.

„Der alte Sack hat echt alles kaputt gemacht, was?“, sage ich gerade so laut, dass man mich verstehen kann.

Mein Vater schüttelt vehement den Kopf:

„Nein, Jordan. Wir sind heute zusammen. Und alle meine Kinder und Enkel scheinen glücklich zu sein. Er hat viel kaputt gemacht, aber nicht alles.“

„Manchmal frage ich mich, ob dieses Böse auch in mir ist“, flüstert Renzo.

„Nein! Junge, wie kommst du denn auf sowas? Du am Allerwenigsten von allen! Ihr seid alle kein Stück wie er. Und ich war auch nie so, wie er mich gerne gehabt hätte. Zum Glück.“

„Genau wie ich nie so war, wie du mich gerne gehabt hättest?“, frage ich, obwohl ich Angst vor seiner Antwort habe.

„Du hattest viele Probleme, das stimmt. Aber man erntet wie man sät. Ich war nicht für dich da. Ich bin Schuld daran, dass du auf die schiefe Bahn geraten bist.“

„Und ich“ gibt meine Mutter zu, die in der Küchentür steht. „Ich war zu sehr mit meinen eigenen Problemen beschäftigt. Ich hätte uns viel früher Hilfe holen müssen.“

„Und ich hätte euch nicht allein lassen dürfen. Ich war feige, hab mir von meinem Vater vorschreiben lassen, was ich tun soll …“

„Dafür hab ich mir nie etwas vorschreiben lassen“, gebe ich zu bedenken. „Ich kann nicht alles auf euch schieben. Ich war nur immer so verdammt wütend.“

„Du warst noch ein halbes Kind, Jordan. Wir hätten dir helfen müssen“, darauf besteht mein Vater.

„Mir war nicht zu helfen. Mir ist immer noch nicht zu helfen, obwohl ich jetzt definitiv erwachsen bin. Ich habe so viele schlechte Entscheidungen getroffen …“

„Aber jetzt sind wir wieder zusammen. Es hat sich alles zum Guten gewendet“, tröstet mich Dylan, der neben meiner Mutter steht.

„Ob das meine Kinder auch so sehen? Josh und Gwen mussten so viel durchmachen … und“,

Ich breche mitten im Satz ab und werfe einen Blick zu Marie. Das erste Mal seit langem traue ich mich, sie als die zu sehen, die sie wirklich ist. Meine Tochter.

„Tu das nicht, Jordan“, meint Klaus plötzlich.

Er hat ganz richtig erkannt, was mir gerade durch den Kopf gegangen ist. Fast hätte ich ihr aus einem Impuls heraus die Wahrheit gesagt, einfach so aus heiterem Himmel. Eine weitere schlechte Entscheidung. Mein Dad schaut zwischen uns hin und her. Er scheint zu begreifen, bleibt aber still. Doch während des Essens mustert er sie immer wieder und bei der erstbesten Gelegenheit nimmt er mich beiseite:

„Kommst du mit raus rauchen?“

„Seit wann rauchst du denn?!“, frage ich überrascht.

„Seit vielen Jahren … heimlich.“

Wir setzen uns auf die Holzbank neben dem Gemüsebeet. Mein Vater gibt mir eine Zigarette aus einer halbvollen Schachtel meiner Lieblingsmarke.

„Ist sie deine Tochter?“

„Ja …“

„Wer ist die Mutter?“

„Nikki.“

„Und warum lebt sie nicht bei euch?“

„Sie wurde geboren, als Nikki noch süchtig war. Ich hab erst Jahre später von ihr erfahren und sie gesucht.“

„War sie in einer Familie?“

„In verschiedenen Pflegefamilien. Sie … hatte keinen leichten Start. Aber sie erinnert sich an nichts mehr davon.“

„Und sie weiß nicht, wer sie wirklich ist?“

„Sie denkt, sie wurde adoptiert. Das stimmt ja auch …“

„Irgendwann muss sie es aber erfahren. Jeder Mensch hat ein Recht drauf, zu wissen, woher er stammt.“

„Irgendwann, ja.“

„Aber nicht so, wie du es heute vor hattest. Nikki sollte dabei sein.“

„Ja, ich weiß. Ich war mal wieder zu impulsiv.“

„Aber du meintest es gut. Du wolltest, dass sie die Wahrheit erfährt.“

„Ich weiß, du willst mich nur trösten, aber Dad, wenn du nur die Hälfte von dem wüsstest, was ich schon alles verbockt habe …“

„Ich habe Jahre lang zugesehen, wie mein Vater Schmiergelder kassiert und Menschen erpresst und sogar entführt hat. Ich habe für ihn gearbeitet, sollte das Geschäft übernehmen. Die ganze Fleischverarbeitungsfirma, das war nur zum Geld waschen. Dein Großvater hatte seine Finger in so ziemlich alle krummen Geschäften der Stadt mit drin. Und ich hab ihn nicht nur gelassen, ich hab ihm geholfen.“

„Also stimmen die Mafia-Gerüchte?“

„Ja, alle.“

„Und warum erzählst du mir das?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht aus Eigennutz. Um es von der Seele zu bekommen. Oder um dir zu zeigen, dass es noch weit schlechtere Menschen gibt, als dich. Ich weiß auch nicht. Ich weiß gar nichts mehr. Keine Ahnung, wie es so weit kommen konnte. Mein Vater hat auf meinen Sohn geschossen.“

Er vergräbt sein Gesicht in seinen Händen.

„Ich hab es überlebt. Ich hab gewonnen.“

Er muss unwillkürlich lachen und ich lache mit.

Nach einem Moment sage ich:

„Ich bin froh, dass ich auf deinen Brief geantwortet habe. Xander wollte, dass ich ihn wegwerfe.“

„Redest du noch mit ihm?“

„Nein, das ist zu schmerzhaft. Und ich will es Dylan nicht antun.“

„Du traust dir selbst nicht.“

„Ja, das auch.“

Er scheint darauf nichts zu sagen zu haben. Wir rauchen schweigend zu Ende und gehen wieder rein. Bald darauf verzieht Dad sich mit Renzo in den Garten und ich bringe die Zwillinge ins Bett.

Als ich wieder aus dem Zimmer komme, stehen Marie und Laura vor mir und lassen mich nicht durch.

„Was …?“

„Wir wollen, dass du uns erzählst, worum es da vorhin ging.“

Für ihre elf Jahre ist Marie recht groß und recht forsch. Die ein Jahr ältere Laura hält sich eher im Hintergrund, macht aber deutlich, dass ich auch an ihr nicht vorbei komme.

„Was meint ihr?“

„Stell dich nicht blöd! Du weißt genau, was wir meinen. Dad hat dir vorhin verboten, weiterzureden. Und alle haben mich seltsam angeschaut. Ich weiß, dass es da um mich ging“, blufft mich Marie an.

„Wir sollten Mum und Klaus holen …“

„Damit sie dir wieder den Mund verbieten können? Nein, ich will jetzt von dir wissen, was das sollte.“

„Du bist noch zu jung …“, stammle ich.

„Zu jung wofür? Um zu erfahren, wo ich herkomme? Ich weiß doch schon, dass Mum und Dad nicht meine richtigen Eltern sind. Ich bin erst mit drei oder so zu ihnen gekommen. Wo war ich davor?“

„In verschiedenen Pflegefamilien.“

„Und wo waren meine echten Eltern? Warum haben sie mich weggegeben? Weil ich krank war? Wollten sie mich deshalb nicht?“

„Nein! Es lag nicht an dir. Du warst zwar krank, aber das hatte nichts mit der Entscheidung zu tun.“

„Warum dann? Warum wollten sie mich nicht?“

„Marie, das ist kompliziert. Ich wusste nicht, dass es dich gibt. Sonst hätte ich dich viel früher zu uns geholt …“

„Du?! Bist du mein Vater?!“

„Es tut mir Leid, ich wollte dir das nicht so hinknallen …“

„Aber … du … das …“

Sie geht ein paar Schritte rückwärts, dreht sich dann um und rennt weg.

„Marie! Warte doch …!“

Eines der Babies weint. Wir waren wohl zu laut. Ich weiß nicht, um welches Kind ich mich zuerst kümmern soll. Laura schaut mich mit einer Mischung aus Unglauben und Zorn an.

„Hol Dylan. Ich muss zu Marie“, entscheide ich.

„Sie denkt, du magst sie nicht.“

„Was?“

„Du redest nie mit ihr, hast überhaupt kein Interesse an ihr. Sie denkt, du siehst sie nicht als deine richtige Schwester an. Zu mir bist du nämlich anders als zu ihr.“

„Aber das … das ist doch nicht, weil … Hol Dylan wegen der Zwillinge. Ich muss hinter Marie her.“

Die Haustüre fällt lautstark ins Schloss. Ich renne die Treppe runter. Klaus ist ebenfalls schon im Flur.

„Jordan, was hast du getan?!“

Ich verschwende keine Zeit mit Erklärungen, sondern renne weiter nach draußen, sehe Marie erstaunlich weit entfernt laufen und will nur so schnell wie möglich hinterher. Aber ich werde zurückgerissen. Klaus hat meinen Gürtel zu fassen bekommen und zerrt mich mit aller Kraft zu sich herum. Durch den Schwung landen wir beide im Rasen.

„Was hast du getan?“, fragt er noch mal, ruhiger, eindringlicher.

„Sie hat mich zur Rede gestellt. Ich konnte doch nicht lügen.“

Klaus‘ Blick schmerzt mehr als wenn er mir eine verpasst hätte.

„Du versaust dein Leben, das geht mich nichts an. Aber wenn du meiner Tochter weh tust …“

„Sie ist MEINE Tochter!“, schnappe ich zurück.

Ich sehe seine Faust auf mich zurasen. Ich weiß nicht, woher der schnelle Reflex kommt, sie abzuwehren. Und ich weiß nicht, woher die Wut kommt, zurückzuschlagen. Als ich weiterlaufe, sitzt Klaus jedenfalls mit blutender Nase im Gras.

Ein Stück entfernt ist ein kleiner Spielplatz. Ich höre das sich quietschend drehende Karussell schon von Weitem.

„Marie?“

„Geh weg!“

„Lass uns reden.“

„Was gibt es noch zu sagen? Ich weiß ja jetzt Bescheid.“

Ich bremse das Karussell und steige mit ein. Prompt steigt sie aus und stampft wütend hinüber zu den Schaukeln.

„Marie, ich mag dich.“

„Was?“

„Laura hat gesagt, du denkst, ich kann dich nicht leiden oder sowas. Aber das stimmt nicht. Ich konnte mich nur nie wirklich auf dich einlassen. Sonst hätte ich es nicht ausgehalten, dich dort zu lassen.“

Ihr Blick ist nicht mehr ganz so wütend. Vielleicht habe ich ja eine Chance, zu ihr durchzudringen?

„Ich bin ein Vollidiot. Ich habe mein eigenes Leben kaum im Griff, damals als ich von dir erfahren habe, schon drei Mal nicht. Ich durfte dich da nicht mit reinziehen, verstehst du?“

„Aber was ist mit Josh und Gwen? Um die konntest du dich doch auch kümmern. Warum hast du gerade mich verlassen?“

„Weil ich wusste, dass es dir bei Mum und Klaus gut gehen würde. Es geht dir doch gut, dort, oder?“

„Ja, aber … ich spüre einfach, dass ich nicht wirklich dazugehöre.“

„Das ist ein scheiß Gefühl …“

„Und meine Mutter?“

„Ich bin sicher, sie würde dich gern endlich kennenlernen. Ich hab ihr schon viele Fotos gezeigt und sie fragt oft nach dir.“

„Du hast Kontakt zu ihr?“

„Du hast die gleiche Mutter wie Gwen und Josh.“

„Diese Nikki? Die Gwen verlassen hat, als sie noch ein Baby war?“

„Du weißt davon?“

„Ja, ich bekomme mehr mit, als Mum und Dad denken“, grinst sie ein bisschen stolz. Dann wird sie aber gleich wieder ernst: „Aber zu Gwen ist sie zurückgekommen, stimmt’s?“

„Ja, als es ihr wieder gut ging.“

„Warum ist sie nicht zu mir gekommen?“

„Weil du ein gutes Zuhause hattest und wir dir das nicht kaputt machen wollten.“

„Und in den ersten drei Jahren, bevor ich zu Mum und Dad kam? Warum hat sie da nicht nach mir gesucht?“

„Sie hat es mir aufgetragen und ich habe dich gefunden und nach Hause gebracht.“

„Aber erst so spät!“

„Weißt du, dass ich früher Drogen genommen habe?“

„Ja, Mum redet oft von dieser Zeit …“

„Nikki hatte noch länger damit zu kämpfen. Sie war nicht klar im Kopf, sonst hätte sie dich nicht so lange allein gelassen. Heute ist sie ein ganz anderer Mensch. Gwen lebt bei ihr und sie hat mit ihrem neuen Mann einen kleinen Sohn, den …“

„Ihr habt beide einfach so weiter gemacht und noch mehr Kinder in die Welt gesetzt, ohne euch erst mal um die alten zu kümmern?!“

„Du warst doch gut versorgt …“

Wütende Schritte nähern sich auf dem Asphalt.

„Klaus, bitte!“, kreischt meine Mum.

Sie versucht ihn zurückzuhalten, aber er rauscht auf mich zu.

„Du reißt unsere Familie nicht auseinander!“, poltert er.

Ich gehe einige Schritte rückwärts, versinke im Sand und falle hin. Klaus scheint wie von Sinnen. Ich habe ihn noch nie so erlebt. Er rüttelt an meinen Schultern und zerrt mich wieder auf die Beine.

„Wir hätten dich nie mehr zurück in unser Leben lassen sollen!“

Wie aus weiter Entfernung höre ich Mum und Marie kreischen.

„Ich habe genug von deinen Eskapaden und Dramen! Ich bade nie wieder deine Scheiße aus! Ich will dich nie mehr sehen! Dich, und deine kriminelle Sippschaft! Du gehörst nicht mehr zu meiner Familie!“, brüllt er.

Ich sehe rot und lache auf:

„Deine Familie?! DU hast dich doch in meine Familie gedrängt nachdem du deine verloren hast! Du hast mir ga…“

Dieses Mal schaffe ich es nicht, den Schlag ins Gesicht abzuwehren. Den zweiten in den Magen auch nicht. Ich sinke auf die Knie. Der dritte Schlag steht bevor, da kippt Klaus zur Seite. Mein Vater hat ihn weggestoßen. Ich ringe nach Atem, höre, wie Klaus wütend protestiert. Antony hat ihn fachmännisch zu Boden gebracht und ihm den Arm verdreht. Er kann sich nicht mehr bewegen. Ich kann nicht durch die Nase atmen und in meinem Mund schmecke ich Blut. Die entfernten Schreie kommen näher. Marie steht vor mir, redet auf mich ein. Meine Mum kreischt immer noch. Antony solle ihn loslassen. Sie droht mit der Polizei. Ich kotze auf Maries Schuhe. Danach geht es mir schlagartig besser. Ich hole ein Taschentuch hervor und lege den Kopf in den Nacken.

„Siehst du, Marie? Mit mir willst du wirklich nichts zu tun haben.“

Sie hat Tränen in den Augen. Am liebsten würde ich sie in den Arm nehmen. Aber ich muss hier weg.

Auf halbem Weg zum Haus zurück holt Antony mich ein.

„Danke“, murmle ich.

Er nickt und fragt:

„Was ist passiert?“

Ich rede und rede bis wir im Vorgarten stehen.

„Es war richtig, sie nicht anzulügen. Das wird sie zu schätzen wissen. Aber warum hast du Klaus so provoziert? Das klingt fast, als hättest du gewollt, dass er dich schlägt, Jordan.“

„Vielleicht wollte ich, dass er endlich sein wahres Gesicht zeigt …“

„Oder vielleicht wolltest du dich selbst bestrafen? Woher kommt dieser ständige Drang, dich selbst zu zerstören, Jordan?“

Ich schaue ihn ratlos an. Er lässt mich einfach stehen und geht ins Haus.

Ich sitze bestimmt eine Stunde auf der Gemüsegartenbank hinter dem Haus. Als ich wieder hineingehe, sind alle Gäste weg und Dylan räumt die Küche auf. Er nimmt mich kommentarlos in den Arm. Nach einer Weile flüstert er:

„Geh schon mal ins Bett. Ich mach hier noch fertig und komme nach.“

Ich gehorche.

Am nächsten Morgen betrachte ich meine geschwollene Lippe und die verkrustete Nase im Badezimmerspiegel und schlucke eine Schmerztablette. Ich wage es nicht, an den Vorabend zu denken und was für Konsequenzen das alles haben wird. Den Vormittag verbringe ich im Bett. Am Nachmittag muss ich aufstehen, denn Gwen und Josh sind zurück. Lange halte ich das aber nicht aus. Mein Kopf dröhnt einfach zu sehr. Deshalb muss ich Gwen und ihre Gitarre leider vertrösten. Sie badet dafür mit Dylan die Zwillinge.

Josh ist allerdings nicht so leicht abzuschütteln. Er begleitet mich ins Schlafzimmer, verdunkelt die Fenster und setzt sich zu mir ans Bett.

„Was ist passiert? Und wo sind deine Eltern und die Mädchen? Ich dachte, sie wollten noch ein paar Tage bleiben?“

„Ich hab mal wieder alles versaut.“

„Und wie diesmal?“

„Mach dich auf einen ganz schönen Hammer gefasst“, warne ich ihn vor.

Er legt sich neben mich und hört sich ruhig alles an, was ich zu erzählen habe.

Dann atmet er tief ein und aus:

„Uff.“

„Ich wollte es dir schon längst erzählen, aber …“

„Nein, ist schon klar. Sowas erzählt man nicht mal eben über dem Abendessen. Und Klaus war also schon mal verheiratet? Krass … Es war auch sonnenklar, dass du für den Spruch Prügel bekommst. Dein Dad hat recht. Hört sich sehr danach an, als wärst du drauf aus gewesen. Du bist echt ziemlich kaputt, Jordan.“

„Tut mir Leid.“

„Aber trotzdem bin ich froh, dass DU mein Vater bist. Du bist nämlich kein schlechter Mensch. Du tust nur manchmal schlechte Dinge, hast dann aber auch den Mut, das zuzugeben.“

„Ich bin also nicht der allerschlechteste Dad auf dem Planeten?“

„Knapp unterm Durchschnitt, würd ich sagen“, grinst er schief. „Und ich glaub, Marie muss sich erst mal beruhigen, dann wird sie‘s ähnlich sehen.“

„Vielleicht, aber ich würde zu gerne mal anrufen, in ein paar Tagen …“

„Tu das nicht. Sie muss zu dir kommen. Genau wie deine Mum.“

„Ich glaube, der Zug ist abgefahren.“

„Mit Klaus vielleicht. Aber deine Mutter …“

„Sie hat schon zu viel wegen mir durchgemacht. Und sie hat sich schon mehr als einmal von mir abgewendet.“

„Aber irgendwann ist sie doch wieder zurückgekommen.“

„Ja, nach Jahre …“

„Hm, das kann ich mir gar nicht vorstellen. Was bewegt einen Elternteil dazu, sein Kind zu verlassen?“

„Denkst du dabei an deinen richtigen Vater?“

„Manchmal frage ich mich das schon, ja“, gibt er zu.

„Hast du deine Mum schon mal deshalb gefragt?“

„Ja. Sie lässt kein gutes Haar an ihm und meint, ohne ihn seien wir eh besser dran gewesen. Sie versteht nicht, wie wichtig das für mich ist …“

„Ich weiß wie er heißt …“

„Wirklich? Denkst du, ich sollte ihn suchen?“

„Kommt drauf an, ob du eine Enttäuschung wegstecken kannst.“

„Was hab ich denn zu verlieren? Ich hab ja schon einen Vater. Ich will ja nur wissen, wer er ist. Im schlimmsten Fall finde ich raus, dass er ein Vollidiot ist und ich absolut nichts mit ihm gemeinsam habe. Dann kann mein Leben weitergehen wie bisher.“

„Macht Sinn … aber trotzdem, ich mach nicht den gleichen Fehler zweimal. Bevor ich dir irgendwas sage, musst du mit deiner Mum reden.“

„Die sagt eh nein.“

„Du musst sie ja nicht um Erlaubnis fragen, aber sie sollte Bescheid wissen …“

„Ich rede morgen mit ihr.“

„Ich will dabei sein. Sie muss sowieso noch erfahren, dass Marie jetzt Bescheid weiß.“

Ich kann nicht behaupten, dass ich mich auf dieses Gespräch freue. Aber es ist wohl unumgänglich.

Am späten Nachmittag des nächsten Tages parkt Josh vor Olivers Haus. Er fährt gar nicht schlecht Auto, aber trotzdem bin ich froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Nikki steht schon in der Haustür und begrüßt Josh mit einem Kuss auf die Wange und mich mit einem misstrauischen Blick:

„Worüber wollt ihr denn reden? Und was ist mit deinem Gesicht passiert?“

„Können wir uns vielleicht erst mal setzen?“

Gwen, die schon seit gestern Abend wieder bei Nikki ist, begrüßt mich stürmisch, wird dann aber von ihrer Mutter gleich des Zimmers verwiesen.

„Also, was ist los?“

Ich beschließe, der direkte Weg ist am schmerzlosesten:

„Marie hatte viele Fragen und ich wollte sie nicht anlügen. Deshalb hab ich ihr die Wahrheit gesagt.“

Nikki ist sichtlich überfahren und braucht ein paar Sekunden. Dann fragt sie:

„Und dein Gesicht?“

„Klaus hat Angst bekommen, wir könnten sie ihnen wegnehmen wollen …“

„Was?! Wieso? Hast du das vor? Jordan, das kannst du nicht machen!“

„Nein, natürlich nicht. Es ist einfach alles blöd gelaufen.“

„Das arme Kind. Wie geht’s ihr? Wie hat sie’s verkraftet?“

„Sie hat Antworten gewollt und die hat sie bekommen. Jetzt muss sie das Ganze wohl erst mal verdauen.“

„Kann ich mit ihr reden?“

„Ich glaube wir sollten warten, bis sie sich meldet …“

„Verdammt, Jordan! Wie konntest du das ohne mich machen?!“

„Was hätte ich denn tun sollen?! Sie anlügen? Wenn du zuhause geblieben wärst, statt zu Olivers Eltern zu fahren …“

„Jetzt schieb das nicht auf mich! Nur weil du mal wieder überstürzt gehandelt hast!“

„Stopp!“, drängt Josh sich dazwischen. „Hört auf, ihr zwei. Das bringt doch nichts! Was geschehen ist, ist geschehen und jetzt muss man eben sehen, was Marie weiter tut.“

„Du hast recht, Josh. Woher hast du nur deine Besonnenheit?“, fragt Nikki und tätschelt stolz seine Schulter.

„Vielleicht von meinem Vater?“, schlägt er vor und trifft Nikki damit völlig unerwartet.

„Also, wollt ihr mitessen?“, versucht sie abzulenken.

„Mum, findest du nicht, ich habe ein Recht drauf, zu erfahren, wer er ist?“

„Ich will dich doch bloß beschützen, Josh. Der Kerl hat dich nicht verdient.“

„Ich werde ihn suchen, egal ob du mir hilfst oder nicht.“

„Und wie willst du das anstellen?“

Josh schaut zu mir.

„Jordan! Du hast kein Recht dazu!“

„Ich mache nichts über deinen Kopf hinweg“, rechtfertige ich mich. „Ich finde nur, Josh hat das gleiche Recht, zu erfahren wer ihn gezeugt hat, wie Marie.“

„Josh, lass uns allein. SOFORT!“

Mein Sohn verschwindet sogleich und am liebsten würde ich mich ihm anschließen. Doch ich muss mich der finster dreinblickenden Nikki stellen.

„Was denkst du dir eigentlich dabei!?“, faucht sie. „Du hast doch keine Ahnung, mit wem wir es zu tun haben!“

„Selbst wenn er der schlimmste Kerl auf dem Planeten ist, muss Josh das doch wissen. Sonst wird er sich ewig fragen …“

„Und wenn er das nicht ist?“

„Was meinst du?“

„Wenn er kein schlimmer Kerl ist? Hast du daran schon mal gedacht?!“

„Aber du hast doch gesagt …“

„Ich will Josh nicht verlieren! Und ich hab keine Lust, das Sorgerecht mit noch jemandem teilen zu müssen! Du etwa?“

„Also darum geht es dir?

„Alles bleib wie es ist und Schluss.“

„Du kannst diese Entscheidung nicht für ihn treffen!“

„Doch, ich bin nämlich seine Mutter.“

„Und ich bin sein Vater.“

„Ha! Noch, vielleicht. Aber wenn er Johnson erst mal gefunden hat, wirst du abgeschrieben sein. Also halt den Mund. Das ist auch in deinem Interesse!“

„Josh wird nicht einfach auf und davon rennen! Wir haben ihm schon so viele Gründe gegeben, uns zu hassen und er ist trotzdem immer noch bei uns. Sein leiblicher Vater wird dagegen nicht ankommen.“

„Auch nicht, wenn er ein stinkreicher Baseballprofi ist?“

„Johnson White ist mein Vater?!“

Josh steht plötzlich wieder im Raum und hat offensichtlich gelauscht. Nikki wird kreidebleich und schüttelt den Kopf, nickt dann doch und fängt an zu weinen. Mein Sohn nimmt sie in den Arm und verspricht ihr, immer ihr Kind zu bleiben, egal was passiert.

Wir bleiben noch eine Weile, bis Nikki sich beruhigt hat. Dann steigen wir wieder ins Auto um zurückzufahren. Ich google Johnson White auf meinem Handy. Tatsächlich ist er in der National League, hat angefangen bei den Giants in San Francisco und ist inzwischen bei den Cubs in Chicago gelandet.

„Ich hab seine Sammelkarte“, meint Josh unvermittelt an einer roten Ampel.

„Jetzt wissen wir jedenfalls, woher dein Baseball-Fanatismus kommt.“

„Und warum Mum das schon immer gestört hat … Glaubst du, wir haben noch mehr gemeinsam?“

„Willst du es rausfinden?“

„Ja, aber ich habe auch Angst. Ich meine … was wenn er Mum nicht in guter Erinnerung hat? Was, wenn er mich nicht sehen will? Und wie komm ich überhaupt an ihn ran?“

„Ich weiß nicht … ich … lass uns zuhause weiterreden. Konzentrier dich auf die Straße.“

Kaum sind wir wieder zuhause, sprudelt es aus Josh nur so heraus und er erzählt Dylan und Kate alles, was wir rausgefunden haben und schließt mit:

„… und deshalb muss ich so bald wie möglich nach Chicago.“

„Wir können bei meinen Eltern wohnen“, erklärt Kate.

„Und die Schule?“, fragt Dylan sichtlich beunruhigt.

„Nur für ein verlängertes Wochenende, erst mal.“

Ich bekomme Angst. Denn Kate hat schon einmal angedeutet, in Chicago in der Nähe ihrer Eltern studieren zu wollen. Und jetzt lebt auch noch dieser Johnson dort. In diesem Moment weiß ich es: Ich werde Josh an diese Stadt verlieren. Und vermutlich auch an diesen Kerl. Still höre ich meinem Sohn und seiner Freundin weiter beim Pläneschmieden zu.

„Dad? Was meinst du?“

„Hm?“

„Ich wollte wissen, ob du Scott mal fragen kannst ob er seinen Agenten kennt.“

„Achso, ja sicher. Ist einen Versuch wert. Ich ruf ihn gleich mal an …“

„Scheiße“, fluche ich leise auf dem Weg zum Festnetztelefon.

Scott kann leider tatsächlich helfen. Er kennt jemanden der jemanden kennt und zwanzig Minuten später bekomme ich Johnsons private Adresse per SMS gesendet. Scheiße.

Josh ist mir sehr dankbar und will sofort einen Flug für nächsten Freitag buchen.

„Ich komme mit.“

„Ach Dad, das ist echt nicht nötig. Wir kommen bei Kates Eltern unter. Sie holen uns von Flughafen ab und …“

„Nicht weil ich euch nicht zutraue, allein nach Chicago zu fliegen. Ich will sehen, was Johnson für ein Kerl ist. Ich will einfach dabei sein …“

„Du machst dir Sorgen, ich könne ihn toller finden als dich, oder?“

„Nein, ich weiß, dass du ihn toller finden wirst als mich.“

„Dad …“

„Ich will’s dir echt nicht versauen. Ich will nur dass du weißt, dass er dich niemals so lieben wird, wie ich dich.“

Er tätschelt kurz meine Schulter und nickt:

„Ich weiß. Aber das muss ich trotzdem allein machen.“

Ich habe ihn verloren. Das ist mir in dem Moment klar.

Dylan und ich sitzen an diesem Samstagabend auf dem Sofa. Es ist still im Raum, nur das leise Surren des Babyphones ist zu hören. Keiner schlägt den Laptop auf, niemand macht den Fernseher an, wir reden nicht. Vermutlich hat Dylan genau so viel Angst wie ich. Was, wenn Josh wirklich nach Chicago zieht? Kann er das eigentlich mit sechzehneinhalb? Kate will im Februar schon ihren Abschluss machen und wie ich sie kenne, zieht sie das auch durch. Dann will sie in Chicago auf’s College. Ich habe den Gedanken nie zu Ende gedacht. Bleibt Josh dann allein noch ein Jahr hier, bis auch er seinen Abschluss hat? Oder hat er schon immer geplant, dann mitzuziehen?

„Jordan, Dylan?“

Kate steht plötzlich im Wohnzimmer Und deutet auf den freien Sessel.

„Darf ich?“

„Sicher.“

„Josh will zu meinen Eltern ziehen. Das hat er schon länger vor.“

„Wann?“

„Im Februar, nach meinem Abschluss. Er will dort weiter zur High School gehen. Es gibt da eine, die viele Kunstprojekte fördert. Er könnte dort weiter fotografieren und filmen und …“

„Und bei seinem Vater sein.“

„Und bei mir. Meinen Eltern ist es auch sehr schwer gefallen, mich hier zurück zu lassen. Aber sie wussten, dass das mein Weg ist. Und genau so führt Joshs Weg ihn jetzt nach Chicago.“

„Er ist noch zu jung …“

„Er hat sich im letzten Jahr neben der Schule um einen Großteil des Haushalts und die Zwillinge gekümmert. Er kommt allein klar. Wir beide.“

„Wir werden ihn verlieren“, höre ich Dylans tiefe, niedergeschlagene Stimme.

„Nein. Er wird nur erwachsen. Das machen Kinder so. Und in den Ferien und an Feiertagen kommen wir euch ganz oft besuchen, oder ihr uns. Josh liebt seine Familie. Das wisst ihr doch.“

Ich kann zwar nur wenig Trost in ihren Worten finden, aber in einem hat Kate recht: Kinder werden erwachsen und ziehen raus in die Welt. Wie gern würde ich jetzt meine Mum anrufen und sie fragen, wie es damals für sie war, als ich nach L.A. gezogen bin …

Josh kommt selig lächelnd von seinem ersten Treffen mit Johnson zurück. Der Kerl scheint wirklich perfekt zu sein. Zunächst war er natürlich überrascht, seinen fast erwachsenen Sohn kennenzulernen. Er hat nichts von Josh gewusst. Er wusste von Nikkis Schwangerschaft, aber er war die ganzen Jahre über davon ausgegangen, sie habe abgetrieben. Er hat Josh auch sofort gesagt, dass er erst mal mit Nikki reden will, bevor er weiter Kontakt mit Josh hat.

Und so sitzen wir alle, die ganze Sippschaft, eine Woche später in Nikki und Olivers Wohnzimmer und warten auf den großen Unbekannten. Dylan räuspert sich ständig nervös, Oliver arrangiert die dekorative Obstschüssel zum dritten mal neu, Nikki lässt Cooper hibbelig auf ihrem Schoß hopsen und Josh hält Kates Hand so fest, dass die Arme sich schon mehrfach beschwert hat. Ich füttere die Zwillinge unter Gwens wachsamen Augen.

Kurz nach zwei klingelt es und alle Erwachsenen zucken zusammen. Oliver eilt zur Tür. Josh rennt sofort hinterher.

„Wow, schickes Haus!“, ist das erste, was wir von Johnson hören.

Einige Sekunden später betritt er das Wohnzimmer und winkt ein wenig verlegen in die Runde:

„Hi, Leute.“

Ich hab mir fest vorgenommen, ihn zu hassen. Aber er sieht Josh verdammt ähnlich. Und er wirkt sehr bodenständig und genau so nervös wie wir. Das macht es mir schwer, ihn nicht sympathisch zu finden.

Nikki steht auf und reicht ihm die Hand.

„Hallo Johnson.“

„Nikki?! Wow, du hast dich verändert. … zum Positiven“, fügt er schnell noch hinzu.

Er geht reihum und gibt jedem die Hand. Außer Kate. Sie bekommt eine Umarmung.

„Du musst Jordan sein. Ich erkenne dich noch aus deiner Zeit bei Summerskin.“

„Das ist lange her. Sind wir uns mal über den Weg gelaufen?“

„Nein, aber ich war ein Fan. Schade, dass ihr keine Musik mehr macht. Ich hab all eure Alben.“

„Sorry, ich kann das Kompliment nicht zurückgeben. Baseball war nie so mein Ding.“

„Josh und ich können dir gern mal ein paar Tricks beibringen. Und wer seid ihr beide?“, lächelt er die Babies an.

„Das ist April, das Jake“, erklärt Josh. „Meine jüngsten Geschwister.“

„Schön, dass du in so einer großen Familie aufgewachsen bist. Ich war ein Einzelkind. Das stinkt.“

„Hast du Kinder?“, will ich wissen.

„Bis letzte Woche noch nicht“, grinst er. „Ich schiebe das mit dem Heiraten und Babies kriegen schon länger auf. Wenn es mit der Profikarriere vorbei ist, habe ich hoffentlich Zeit dafür.“

„Wie alt bist du?“

„Bald 35. Ich hab also bestenfalls noch drei Jahre in der Liga. Dann muss nur noch die passende Frau in mein Leben spazieren.“

„Oder einfach noch ein paar Kinder, die schon aus dem Gröbsten raus sind. Das ist schon praktisch“, bemerke ich.

Er mustert mich kurz, entscheidet sich dann wohl, das als Scherz hinzunehmen und lacht:

„Ja, da spart man sich das Windeln wechseln. Echt nicht übel.“

„Also, wer will Kaffee?“, fragt Oliver und reibt nervös seine schwitzigen Hände.

Wir setzen uns an die gedeckte Kaffeetafel.

„Also, ehm …“, fängt Johnson an, weil er Stille wohl nur schwer erträgt. „Eine Mum und drei Stiefväter. Ich glaube, du hast es nicht schlecht getroffen, oder was meinst du, Josh?“

„Also eigentlich sehe ich mich nicht als STIEFvater“, wende ich ein. „Schließlich habe ICH Joshs Windeln gewechselt.“

Josh wirft mir einen mahnenden Blick zu, aber Johnson lenkt sowieso gleich ein:

„Du hast recht. Tut mir leid.“

„Weißt du, Johnson. Du sagst ja selbst, es gibt in dieser Familie schon wahnsinnig viele Erwachsene. Ich bin nicht sicher, wo dein Platz dabei ist“, erklärt Nikki.

„Ich weiß das auch noch nicht. Aber ich würde es gern rausfinden, wenn ihr mich lasst.“

Josh nickt eifrig. Ich werfe Nikki einen Blick zu. Sie hat Tränen in den Augen. Ich weiß ziemlich genau, wie sie sich gerade fühlt. Innerlich zerrissen zwischen dem, was das Beste für Josh ist, und der schlimmsten Angst, die Eltern haben können: Dem Verlust eines Kindes.

„Mum? Kannst du erzählen, was damals passiert ist?“, bittet Josh.

„Ich geh mit den Kindern oben spielen“, bietet Dylan sofort an.

Josh, Kate, Johnson, Oliver, Nikki und ich haben es uns auf den Couchen gemütlich gemacht. Oliver hält Nikkis Hand. Sie zögert, bevor sie erzählt:

„Ich bin kein gläubiger Mensch, aber damals habe ich gebetet, gebetet dafür, dass das kleine, blaue Kreuz nicht auftaucht. Zwei Minuten lang habe ich Gott angefleht, mir das nicht anzutun. Aber es passierte doch. Der Schwangerschaftstest war positiv.

Ich war gerade 16 geworden und hatte das erste Mal Heroin geraucht. Mit Sam, einem 20 jährigen Dealer. Er hatte Kohle wie Heu und war äußerst großzügig. Am nächsten Tag kotzte ich mir die Seele aus dem Leib. Am übernächsten auch. Es hörte nicht mehr auf. Da hat es mir gedämmert: Das lag nicht am Heroin. Da ging was anderes vor sich.

In meiner unglaublichen Naivität bin ich nach dem Test zuerst zu Sam und hab ihm von meinem Problem erzählt. Er erklärte mir, er könne mir helfen. Unter seinen besten Kunden sei ein Medizinstudent, der sich durch Abtreibungen seinen Konsum finanzierte. Er würde sich darum kümmern, ich müsse bloß zu einem bestimmten Zeitpunkt (nachts) an einem bestimmten Ort (einem WG-Zimmer) sein. Nein, so blöd war ich nicht. Ich ging zum Arzt und erfuhr, dass ich schon in der 13. Woche sei. Das bedeutete, Sam war nicht der Vater, sondern Johnson. Für eine legale Abtreibung war es schon zu spät. Das sagte ich Johnson aber nicht. Ich rief ihn an und erzählte ihm von unserem Problem. Er bot mir an, mir zu helfen, aber ich sagte, ich würde mich schon drum kümmern und legte auf. Ich beschloss, das Problem einfach zu ignorieren. Ich machte weiter wie bisher.

Im sechsten Monat ließ es sich nicht mehr verstecken. Ich musste weg von zu Hause, bin bei einem Kerl untergekommen. Ich glaube der stand drauf, schwangere zu ficken, ziemlich krank.

Als die Wehen einsetzten, bin ich ins Krankenhaus. Ich bekam Panik und hab der Ärztin die Nummer meiner Eltern gegeben.

Josh und ich waren 10 Monate lang die Geiseln meiner Eltern. Ich konnte keinen Schritt tun, ohne dass einer der beiden mir über die Schulter sah. Deshalb fuhr ich viel rum, im Auto hatte ich die Kontrolle und niemanden, der sich einmischte.

An meinem 17. Geburtstag bin ich abgehauen, mit dem kleinen Scheißer. Ich hatte ihn inzwischen lieb gewonnen und wollte ihn nicht meinen herrschsüchtigen Eltern überlassen.

Ich hab mir eine Schrottkarre für 200 Dollar gekauft und bin damit von San Francisco so weit gefahren, wie das Spritgeld gereicht hat. In Phoenix war Endstation.

Ich brauchte erst mal etwas Startkapital, also suchte ich mir einen Job als Tänzerin. Eine Übernachtungsmöglichkeit für mich und den Kleinen war schnell gefunden und schon hatte ich 150 Dollar. Damit ließ sich was anfangen. Ich organisierte mir erst mal einen Arizona-Führerschein, der mich 22 Jahre alt machte, und fand zufällig eine alte Frau, irgendwie schräg, aber sie stand total auf Josh und bot an, babyzusitten, umsonst, wenn ich ab und an Einkäufe für sie erledigt und so weiter.

Nach zwei Wochen in der Stadt hatte ich einen Zweit-Job als Taxifahrerin, ein kleines Appartement in einem Vorort und dank diverser Gefälligkeiten schon ein finanzielles Polster angelegt.

Es wurde Zeit, mich etwas ins Nachleben zu stürzen. Und tatsächlich fand ich einen Laden ganz nach meinem Geschmack. Das Zen. Josh war bei seiner Zieh-Oma ja gut aufgehoben. Die Bar war klasse! Düster beschreibt es wohl am besten. Der Türsteher, ein Koloss von einem Mann, aber mit sanften Augen, musterte meinen Führerschein skeptisch.

„Du hast dich gut gehalten, für 22.“

„Das hör ich oft.“

„Okay, du kannst rein. Aber wenn ich dich dabei erwische, wie du Drogen vertickst …“

„Ich lasse mich nie erwischen“, grinste ich und schob mich an ihm vorbei.

Es gab Live-Musik. Unplugged. Ich hörte Drums, eine Gitarre und eine männliche Stimme, die Runaway Train sang. Aber nicht so schnulzig wie das Original von Soul Asylum. Wütend, vorwurfsvoll, dunkel. Mir standen die Tränen in den Augen. Ich wusste, dass ich den Kerl haben wollte. Ich drängte mich durch die Menge zur Bühne. Da saß er am Bühnenrand, mit seiner Gitarre und sang. Seine grünen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Ich ging zu ihm und küsste ihn.“

„Das hast du nicht getan!“, ruft Kate dazwischen.

„Doch, hat sie“, kann ich bestätigen.

„Und weiter?“, fragt Josh gespannt.

Ich grinse:

„Ich hab die Gitarre weggelegt und hab Nikki mit hinter die Bühne genommen.“

„Und die Show?!“, fragt Kate niedlich empört.

„Die war sehr schnell vergessen, als Nikki mir …“

„Okay, das reicht“, findet Oliver. „Den Rest können wir uns vorstellen.“

Nikki lächelt ihren Mann entschuldigend an. Dann erzählt sie weiter:

„Jordan und ich hatten viel gemeinsam. Wir waren wütend, wir wollten frei sein, wir hatten keine Angst, liebten gute Musik und harte Drogen. Das Zen war genau der richtige Ort für uns. Wir hatten nur eine Regel: Ich schreibe niemandem vor, was er zu tun hat und dafür schreibt mir auch niemand was vor.“

„Und wann hast du ihm von mir erzählt?“, will Josh von seiner Mum wissen.

„Nach ein paar Wochen. Kurz vor deinem ersten Geburtstag. Du warst krank und ich konnte nicht weg. Deshalb hab ich Jordan zu uns eingeladen. Er kam, sah dich und war verliebt. Ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet. Eher hatte ich angenommen, er wäre über alle Berge, wenn er mitbekommt, dass ich ein Kind habe. Du hast in der Nacht nur geweint und hattest hohes Fieber, obwohl ich dir schon ein Fiebermittel gegeben hatte. Kurz vor Mitternacht hielten wir es nicht mehr aus. Wir fuhren mit dir in die Notaufnahme. Mein Auto war kaputt, deshalb mussten wir den Bus nehmen. Das einzige, das dich beruhigen konnte, war, auf Jordans Finger herumzukauen. Wir mussten stundenlang warten. Und die ganze Zeit hielt er dich fest. Das war das erste Mal, dass ich nicht allein für dich verantwortlich war. Und das tat gut.“

„Seit dieser Nacht bist du mein Sohn, Josh. Seitdem gehörst du zu mir.“

Josh setzt sich neben mich und lässt sich von mir in den Arm nehmen. Mir schießen Tränen in die Augen. Ich kann nicht glauben, dass diese Nacht schon fast 16 Jahre her ist.

„Wir bekamen ein Antibiotikum und wurden nachhause geschickt. Du hattest eine Mittelohrentzündung. Wie später im Kindergartenalter auch noch dreimal.“

„Ja, ich kann mich noch erinnern, wie weh das getan hat.“

„Also wart ihr von da an zusammen?“, will Kate wissen.

„Naja … wir waren erst mal nur Freunde, die gelegentlich mal Sex hatten. Jordan hatte noch einige andere Frauen am Start. Das war auch völlig okay für mich. Monogamie fand ich spießig.“

„Ja, ich erinnere mich … Conny, Sandy, Kicky, Nelly …“

„Angeber. Die hingen bloß an dir, um günstiger an Stoff zu kommen.“

„Du hast gedealt?“, fragt mich Johnson.

„Ich hab so einiges gemacht, worauf ich nicht stolz bin.“

„Bist du nie erwischt worden?“, will Josh wissen.

„Doch, ich bin auch vorbestraft. Als du eineinhalb warst, hatte ich schlimmen Stress mit meiner Mum deswegen und bin bei dir und Nikki untergekommen. Und da blieb ich dann die meiste Zeit auch.“

„Ab da waren wir zusammen. Also exklusiv, ohne andere.“

„Da haben wir uns auch die Tattoos stechen lassen.“

Ich zeige die Sonne um meinen Bauchnabel und Nikki den Mond in ihrem Nacken.

„Eine Weile lang waren wir die perfekte Familie. Dann kamen die Großeltern …“

„Ja, die große Intervention“, erinnere ich mich. „Sogar Antony ist extra angereist. Und die Eltern meiner Mum. Und natürlich Nikkis Eltern.“

„Leider lief die Intervention nicht wie gedacht“, grinst Nikki schief. „Das ganze endete damit, dass die sechs sich gegenseitig Vorwürfe machten bis die Fetzen flogen.“

„Mein Dad war der Ansicht, dass ich Nikki und Josh einfach in den Wind schießen sollte, bevor sie mir noch ein Kind unterjubeln konnte. Nikkis Eltern waren natürlich bestürzt über diese Anschuldigungen, meine Mum versuchte zu schlichten, bekam aber prompt den Vorwurf, dass sie ja sowieso an allem Schuld sei, weil sich mich so verkorkst hat. Nach diesem Tag sprach sie nicht mehr mit ihren Eltern und mit Anthony sowieso nicht“, erzähle ich.

Nikki seufzt:

„Nach dem Intermezzo versuchten wir, weiterzumachen wie bisher. Aber leider stand kurz nach Joshs zweitem Geburtstag das Jugendamt auf der Matte.“

„Sie haben euch bei den Behörden gemeldet?“, fragt Josh bestürzt.

„Anonymer Hinweis. Wir wissen also nichts sicher. Dummerweise war Jordi … äh Jordan damals auch noch minderjährig. Deshalb hatten sie ihn in der Hand. Sie schickten ihn auf Entzug. Als er zurück kam, war er nicht mehr der Alte.“

„Warst du clean?“, will Kate von mir wissen.

„Nein, dafür aber depressiv. Die Therapie hatte einen Haufen Scheiß aufgewühlt. Und dann wurde ich von einem Tag auf den anderen entlassen, weil die Versicherung nicht mehr zahlen wollte. Ich fing an, mich selbst zu verletzen, um irgendwie klar zu kommen. Und ich nahm häufiger Drogen als davor. Nikki zog sich vor mir zurück. Verständlicherweise. Sonst hätte dich das Jugendamt vielleicht weg geholt.“

Ich kann gerade nicht weitererzählen. Das übernimmt Nikki:

„In der Zeit haben wir viele Freunde verloren, weil sie verschiedene Drogen gemischt haben und ihr Herz das nicht ausgehalten hat. Ich hatte echt Angst, draufzugehen und Josh allein in dieser scheiß Welt zurückzulassen. Ich habe Jordan gesehen, so oft es ging, aber nie bei uns zuhause.“

„Dann, Anfang 96, du warst noch keine drei, durfte ich euch plötzlich wieder besuchen. Ich dachte, Nikki würde mich wieder zu euch lassen, weil ich jetzt volljährig war. Stattdessen…“

„Stattdessen musste ich dir sagen, dass ich nach L.A. ziehen würde. Meine Eltern hatten mir Geld versprochen, wenn ich Phoenix, und damit dich verlasse. Ich wurde clean, kaufte mir eine Strech-Limo und mietete ein kleines Häuschen. Für Josh und mich ging es bergauf. Aber du …“

„Ich stürzte total ab. Ich vermisste Josh, fühlte mich verraten und im Stich gelassen. Bald darauf starb mein damaliger bester Freund und Drummer an einer Überdosis. Bei mir war es auch des Öfteren knapp. Ende 1996 ging ich dann mehr oder weniger freiwillig auf Entzug, wechselte die Schule, lernte Sean kennen, machte den Abschluss und ging nach L.A. Der Rest ist bekannt.“

Ein paar Sekunden ist es absolut still im Raum. Klar, wir haben unserer Familien da gerade einen ganz schönen Brocken hingeworfen, den sie erst mal verdauen müssen. Dabei sind wir nicht mal detailliert darauf eingegangen, wie das war mit Kleinkind und Drogensucht. Scheiße, bin ich froh, dass Josh ein vernünftiger Kerl geworden ist. Wenn er nach uns geraten wäre, … naja, wir verdanken es wohl Johnsons anständigen Genen, dass nicht mal unsere Erziehung diesen Jungen verkorksen konnte. Wir schulden Johnson was.

„Wow …“, macht Johnson. „Ihr hab echt schon einiges durch. Und dabei wart ihr damals selbst fast noch Kinder …“

„Das ist aber keine Entschuldigung“, findet Nikki. „Tut mir Leid, dass ich dir keine bessere Kindheit geben konnte. Tut mir Leid, dass ich nicht immer für dich da war, und für deine Schwestern …“

Jetzt muss Josh seine Mum in den Arm nehmen. Sie ist völlig aufgelöst und schluchzt noch mehr Entschuldigungen. Niemand im Raum bleibt davon ungerührt.

Als alle sich wieder beruhigt haben, schießt Josh noch eifrig Fotos für’s Familienalbum. Dann verabschiedet sich Johnson und lädt Josh und Kate ein, ihn bald wieder in Chicago zu besuchen. Der Gedanke, dass Josh bald dort hin zieht, scheint mir nicht mehr ganz so schlimm. Ich glaube, Johnson ist ganz okay. Und ich weiß, dass Josh immer mein Sohn bleiben wird. Nur ein Gedanke lässt mich nicht mehr los: Ich will ein Foto mit ALL unseren Kindern drauf. Mit Josh, Gwen, Cooper, den Zwillingen und Marie. Am Montag hat sie Geburtstag. Ob Nikki und ich sie mal anrufen sollen?

Tatsächlich findet Nikki die Idee gar nicht so schlecht. Deshalb komme ich Montagabend zu ihr. Super-nervös wähle ich die Nummer. Zum Glück geht nicht Klaus dran, sondern meine Mum.

„Carol Kamsky, hallo?“

„Mum? Ich bin’s. Ich ruf von Nikkis Nummer aus an.“

„Oh …“

„Ich will euch keinen Ärger machen. Ich will nur Marie zum Geburtstag gratulieren. Und Nikki würde auch gern kurz mit ihr reden, wenn das okay ist …?“

„Klaus wird furchtbar wütend sein.“

Irgendwas in Mums Tonfall ist seltsam. Ich kenne das von ihren ehemaligen Beziehungen. Es hört sich fast an, als hätte sie Angst vor Klaus.

„Ist er schon zuhause?“, frage ich.

„Nein, aber er kann jeden Moment heimkommen“, flüstert sie.

„Okay, ich werde dich jetzt etwas fragen und es ist ganz wichtig, dass du mir ehrlich antwortest. Bereit?“

„Ja …“

„Hast du Angst vor Klaus?“

„Was soll denn die Frage …“, weicht sie aus.

„Hat er dir wehgetan?“

„Klaus würde mir nie absichtlich …“

„Mum, ich frage nicht nach der Absicht. Ich frage, ob er dir wehgetan hat.“

„Wir haben oft Streit in letzter Zeit. Er hat viel Stress in der Kanzlei, und …“

„Mum, schlägt er dich?“

„Ich glaub, ich hab die Tür gehört. Ich muss auflegen. Ruf hier nicht mehr an.“

Damit legt sie auf. Nikki und ich werfen uns einen kurzen Blick zu, dann ist die Sache klar:

„Ich brauche zehn Minuten, dann bin ich abfahrbereit“, sagt sie.

„Okay, ich gebe Dylan Bescheid.“

Kurze Zeit später sitzen wir im Auto auf dem Weg nach Glendale, Arizona. Nikki jagt ihr Mercedes Cabrio über die Schnellstraße, während ich uns Verstärkung organisiere. Sean wird uns begleiten. Er hatte schon immer einen guten Draht zu Mum und Klaus respektiert ihn. Ich erkläre ihm am Telefon, was in den letzten Monaten los war, seit wir uns zuletzt gesehen haben. Dafür habe ich auf der fünfstündigen Fahrt ja jede Menge Zeit. Ich schließe mit den Worten:

„Wenn der Kerl also meine Schwester oder meine Tochter jemals angepackt hat, bringe ich ihn eigenhändig um.“

Sean kann es noch nicht so ganz glauben:

„Klaus ist doch kein Schläger. Gut, dich hat er geschlagen, aber … Frauen und Mädchen? Das kann ich mir sowas von gar nicht vorstellen.“

„Ich hätte es auch nicht für möglich gehalten, aber Mums Reaktion am Telefon vorher lässt keinen anderen Schluss zu.“

Nikki nickt eifrig und gibt noch mehr Gas.

Wir erreichen das Citylimit kurz nach zehn Uhr abends. So schnell habe ich die Strecke noch nie zurückgelegt. Wir holen Sean bei sich zuhause ab und parken vor Klaus‘ Haus. Alles ist dunkel.

„Vielleicht sind sie nicht zuhause?“, mutmaßt Sean.

„Lasst uns mal ums Haus gehen“, schlage ich vor.

Durch das Wohnzimmerfenster sehen wir die Mädchen vor dem Fernseher sitzen. An einem Wochentag um die Uhrzeit. Da muss was faul sein. Sie bemerken uns nicht. Klaus und Mum sind nicht zu sehen.

„Sie müssen oben sein.“

„Ich kann zu deinem alten Zimmerfenster hochklettern. Ich hab da Übung drin“, grinst Sean.

Ich nicke zustimmend und schwupps klettert er auf die Regentonne, weiter auf ein kleines Vordach und schaut zum gekippten Fenster hinein.

„Ich höre sie weinen“, zischt er uns zu. „Wir müssen da rein!“

Nikki klopft schon an der Terrassentür. Die Mädels schauen erschrocken auf. Dann sehen sie mich und sehen noch ängstlicher aus. Marie steht auf, Laura will sie zurückhalten, schafft es aber nicht. Unsere Tochter öffnet uns die Tür.

„Ich bin Nikki. Deine leibliche Mum …“

„Was macht ihr hier?!“, will Marie wissen.

„Wir wissen, dass Klaus Mum weh tut“, erkläre ich. „Und deshalb bringt Nikki euch jetzt raus zu unserem Auto. Dort sperrt ihr euch ein und wartet, bis wir kommen. Macht die Tür nicht auf. Habt ihr das verstanden?“

Marie nickt und zieht Laura mit sich fort. Nikki wirft mir noch einen besorgten Blick zu:

„Sei vorsichtig.“

Ich nicke und gehe die Treppe hoch.

Alles ist dunkel. Ich lasse Sean bei meinem alten Zimmerfenster hereinsteigen.

„Hörst du? irgendwo weint sie.“

Ich spitze die Ohren und bin ganz leise. Tatsächlich. Das kommt … aus dem Kleiderschrank.

„Mum? Bist du da drin?“

„Jordan, was … wie kommst du hier her? Du musst verschwinden. Du machst es nur schlimmer.“

Sean macht das Licht an. Meine Mutter hat blaue Flecken an den Armen. Und sie zittert.

„Wo ist er?“, schnaube ich.

„Oben.“

Ich will in den zweiten Stock und diesem Gottverdammten Mistkerl alle Zähne ausschlagen, aber Sean hält mich zurück:

„Denk nach, Jordan. Er hat uns noch nicht gehört und gesehen. Wir können ein paar Sachen packen und die drei mitnehmen. Er wird nicht wissen, wo er suche muss. Die Chance sollten wir nutzen.“

Ich denke kurz nach und sehe ein, dass er recht hat.

„Mum, wir packen jetzt so viele Sachen wie möglich zusammen und fahren nach L.A.“

Zu meinem Erstaunen widerspricht meine Mutter nicht, sondern holt zwei Koffer und fängt an zu packen.

Wenige Minuten später verstauen wir die Koffer im nicht gerade geräumigen Kofferraum des Mercedes und quetschen uns zu sechst in den Viersitzer. Wir finden erst mal bei Sean und Brian Unterschlupf. Nikki und ich fahren los um ein Mietauto zu besorgen. Kurz vor Mitternacht verabschieden wir uns von Sean und seinem Freund.

„Pass gut auf die drei auf.“

„Mache ich und danke für deine Hilfe.“

„Jederzeit. Ich fühle mich auch irgendwie für Marie verantwortlich. Schließlich wurde sie gezeugt, als wir zusammen waren“, grinst er.

„Da sieht man, wie lange das schon her ist. Da fällt mir ein: Marie? Alles Gute zum 12. Geburtstag. Tut mir Leid, dass es kein schönerer Tag für dich war …“

„Machst du Witze? Endlich sind wir da raus. Das ist der beste Tag meines Lebens.“

Ich nehme meine Tochter in den Arm.

„Es tut mir so Leid, dass ich dich nicht früher zu mir geholt habe.“

„Mir auch“, sagt sie und setzt sich neben Laura auf die Rücksitzbank.

So machen wir uns auf den Weg zurück nach L.A. Nikki fährt voraus und ich im Mietauto mit den dreien hinterher. Mum sitzt zwischen den Mädels und will sie scheinbar nicht mal loslassen als sie schon eingeschlafen sind.

„Ich habe mir geschworen, wenn er eines meiner Kinder schlägt, verlasse ich ihn. Es tut mir Leid, dass ich das nicht geschafft habe“, schluchzt sie.

„Wen hat er geschlagen?“, frage ich alarmiert.

„Na dich.“

Es ist fast fünf Uhr früh, als wir in L.A. ankommen.

„Lass uns ans Meer fahren“, flüstert Mum. „Ich will den Sonnenaufgang sehen.“

Ich nicke und nehme die Ausfahrt Richtung Küste. Die Mädchen wachen auf, kurz nachdem wir das Auto geparkt haben. Wir gehen alle zusammen runter zum Strand. Mum nimmt meine Hand:

„Danke, Jordan.“

Ich nehme sie in den Arm, genau wie Marie und Laura.

„Jetzt sind wir wieder zusammen. Alles wird gut.“

Im Haus wird es in den nächsten Tages etwas eng. Nikki und Cooper verbringen die meiste Zeit bei uns. Nikki kann gar nicht genug von Marie bekommen. Kein Wunder, sie hat ja auch zwölf Jahre mit ihrem Kind nachzuholen. Josh und Kate haben ihre Zimmer freigemacht und Wohnen unter der Woche bei Oliver. Die Wochenenden verbringen sie mit Johnson. Er bezahlt ihre Flüge und verbringt so viel Zeit mit ihnen, wie er kann. Auch das ist kein Wunder. Denn er hat fast 17 Jahre mit seinem Kind nachzuholen.

Klaus ruft eines Morgens bei uns an. Zum Glück ist Dylan am Telefon. Klaus behauptet, sich bei mir entschuldigen zu wollen. In Wahrheit will er wohl nur hören, ob wir was über den Verbleib von Mum und den Mädchen wissen. Aber Dylan lässt sich nichts anmerken. Ich hätte das nicht so hinbekommen. Allerdings drischt er als er aufgelegt hat sofort gegen die Küchentheke.

„Scheißkerl!“

Ich umarme meinen Mann und gebe ihm einen Kuss dafür, dass er so ein toller Lügner ist. Und noch einen dafür, dass ich immer auf ihn zählen kann.

„Ich liebe dich, Dylan.“

„Ich liebe dich. Und ich liebe deine Mum und die Mädchen. Sie können bleiben, so lange sie wollen.“

Mein Dad kommt am Abend vorbei und verschwindet mit Mum im Garten. Vielleicht erzählt sie ihm, was passiert ist. Mir wollte sie bisher nichts sagen. Nach einer Stunde beschließe ich, mal nach ihnen zu sehen. Sie sitzen auf der Bank am Gemüsebeet und teilen sich eine Zigarette. Die Nähe, die in dieser Geste liegt, lässt mich für einen Moment wieder acht Jahre alt sein und hoffen, dass Mama und Papa sich wieder lieb haben. Ich schüttle über mich selbst den Kopf und gehe wieder rein, bevor sie mich bemerken.

Weihnachten ist nach all dem Drama dieses Jahr traumhaft idyllisch. Wir sind alle zusammen und kochen ein großes Weihnachtsessen. Sogar Johnson ist dabei. Mein Dad hält eine kleine, bewegende Tischrede und am Ende bekomme ich mein Foto mit all unseren Kindern drauf. Irgendwas habe ich scheinbar richtig gemacht, denn meine Familie ist so perfekt wie eine Familie nur sein kann.

Allen gefiel es so gut, dass wir beschlossen haben, Silvester wieder zusammen zu kochen. Mum ist zwar etwas geknickt. Schließlich ist es ihr Hochzeitstag. Aber sie freut sich, ihre Eltern zu sehen, die extra angereist sind. Auch Nikkis Eltern – Ned und Elly – feiern mit. Der Tisch ist schon längst zu klein für uns alle. Dylan hat kurzerhand die Terrassengarnitur rein getragen. Es ist kurz nach halb fünf. Die großen Kinder spielen draußen. April sieht ihnen vom Buggy aus zu. Jake, der gerade recht anhänglich ist, schläft bei mir im Tragetuch. In der Küche sind alle fleißig am werkeln. Josh schießt Fotos von Mum und Dad beim Gemüse schneiden und ich kann mir nicht verkneifen zu denken, dass die zwei ein sehr schönes Paar abgeben, als mein Handy klingelt. Davids Foto erscheint auf meinem Display. Er ist gerade ohne Max bei seinen Eltern in Deutschland. Bei ihm muss es jetzt schon nach Mitternacht sein. Ein Anruf aus dem Jahr 2010! Freudig nehme ich ab:

„Hey, David!“, rufe ich.

„Hi.“

Er weint.

„Was ist los?“, frage ich alarmiert.

„Ich bin high.“

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