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Threeway

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Vorwort

So, hiermit melde ich mich offiziell aus der Baby-Pause zurück. Viel Vergnügen mit dem dritten und letzten Band der Way-Reihe.

 

Der gröbste Stress ist inzwischen überstanden. Das Semester ist aus, ich muss nur noch die kurze Arbeit für Tisha schreiben. Da hat mir Vanessa so viel Material gegeben, dass das kein Problem mehr sein dürfte. Einmal die Woche gebe ich Gwen Gitarrenunterricht, das ist die eiserne Regel und da zählen absolut keine Ausreden. Da darf einfach nichts dazwischenkommen. Josh hat inzwischen seinen Führerschein gemacht und einen alten BMW von Oliver bekommen. Naja, immerhin ist das Teil sicher, auch wenn es etwas protzig ist für einen Fahranfänger. Fast jeden Tag besuche ich Xander. Die Fahrt nutze ich meistens, um mir über die Freisprechanlage von einem Praktikanten Reden vorlesen zu lassen und zu kommentieren. Sehr effizient.

Bei der Aktion im Zentrum haben wir einen sechsstelligen Spendenbetrag eingenommen. Vuza zieht die Presseleute natürlich an, und deshalb kommen auch die oberen Zehntausend, um sich vor der Kamera großzügig zu zeigen. Allerdings war das Fest, das ich zusammen mit Dylan und Vanessa organisiert habe, eher für die Leute in der Nachbarschaft ausgerichtet. Eine Art Straßenfest, das die Jugendlichen in die bunt gemischte Gemeinschaft eingliedern sollte und auch den Nachbarn die Skepsis vor dem vergitterten Gebäude nehmen sollte. Das Motto war „Umarm‘ das Fremde“ und die düstersten Skins haben an einem Stand gegen eine kleine Spende Umarmungen verteilt. Die Presse hat Bilder geschossen ohne Ende. Es war auch echt ein gewaltiger Anblick, die Kerle mit den harten Schalen zu sehen, und dann ihr herzliche Lächeln und die Umarmung für jeden, der sich in die lange Schlange eingereiht hat. Egal welcher Hautfarbe oder aus welcher Schicht. Mein persönliches Highlight war Biggs, als er eine grelle Transe umarmte und von ihr in den Allerwertesten gekniffen wurde. Aber das Foto, das es auf die Titelseiten schaffte, war Dylan, der Vuza umarmte und ihm für die Bilder einen Kuss auf die Wange drückte.

Josh, Kate und Gwen sind jetzt schon zwei Wochen auf Hawaii und kommen erst in zwei Wochen zurück. Die Zwillinge haben Dylan und ich mitgenommen, wohin es möglich war. Denn die hochschwangere Janet wollten wir nicht mehr um‘s Babysitten bitten. Ria hat ab und an ausgeholfen, oft zusammen mit Vince.

Am Donnerstag hat Xander Geburtstag, er wird sechsundzwanzig. Ich habe ihm noch nie etwas zum Geburtstag geschenkt. Wir sind ja damals kurz nach seinem Zwanzigsten zusammengekommen und haben uns kurz vor seinem Einundzwanzigsten getrennt. Ich habe also viel nachzuholen. Darum habe ich mich mit seiner Ärztin verschworen. Eigentlich ist die Entlassung für die Woche nach seinem Geburtstag geplant. Aber das wird vorgezogen, auf seinen Geburtstagsmorgen. So haben wir ein verlängertes Wochenende, um ein paar Tage wegzufahren und ein bisschen zu planen, wie es weitergehen soll. Xander wollte bisher nicht mit mir über die Zeit nach der Klinik sprechen, weil er meinte, dann würde er es vor lauter Vorfreude keine Sekunde mehr länger dort aushalten. Ihm geht es inzwischen wieder wirklich gut, da sind sich auch die Ärzte einig. Die Medikamente schlagen an, die Therapie kann ambulant fortgesetzt werden und Xander ist ziemlich glücklich mit mir.

Ich habe uns einen Bungalow in einer Ferienanlage außerhalb der Stadt gemietet. Nicht weit vom Meer und gut abgeschirmt, sodass wir endlich mal etwas Zeit zu zweit verbringen können. Ich kann es kaum noch erwarten, endlich mit Xander zu schlafen.

Scott hat mir einen kleinen Auftrag besorgt. Ich soll einen Song schreiben, der im Abspann eines Computerspiels läuft. Das ist nicht sehr aufwendig, bringt aber meinen Namen in ebendiesen Abspann.

Weil ein Pressetermin abgesagt wurde, habe ich heute spontan etwas Zeit, um zu den Zwillingen zu fahren. Ein fremdes Auto steht in der Einfahrt. Seltsam. Ich schließe die Haustür auf und traue meinen Augen nicht. Joy - unsere Leihmutter - sitzt mit den Zwillingen auf der Couch und füttert sie.

„Ehm?“

„Oh, hallo Jordan.“

„Was machst du denn hier?“

„Babysitten. Dylan musste spontan weg und ich hatte gerade Zeit. Er sollte aber bald wiederkommen.“

„Aha? Das ist ja interessant.“

„Willst du dann jetzt übernehmen?“, fragt sie offenbar etwas verunsichert.

„Darauf kannst du wetten.“

„Okay, dann …“ Sie legt April in ihre Wippe und putzt Jake noch liebevoll den Mund ab, bevor sie auch ihn zurücklegt. „… dann verschwinde ich mal. War schön, dich wiederzusehen.“

Die Ähnlichkeit zwischen ihrem Gesicht und denen der Zwillinge versetzt mir irgendwie einen Stich. Gene bedeuten gar nichts, versuche ich mir einzureden, aber ich will plötzlich auf gar keinen Fall, dass diese Frau hier rumhängt.

Total geladen knalle ich mich auf die Couch und kann mich erst beruhigen, als Jake - durch meine miese Laune verunsichert -  zu quengeln anfängt und ich ihn trösten muss.

Nach einer kurzen Weile höre ich den Schlüssel im Schloss.

„Was machst du denn hier?“, will Dylan wissen.

„Ich hatte etwas Zeit und wollte die mit den Kindern verbringen.“

„Ah, achso. Und wo ist Joy?“

„Was denkst du wohl? Ich hab sie nach Hause geschickt. Was wollte die überhaupt hier?“

„Joy ist oft bei den Kindern.“

„So war das aber nicht abgemacht.“

„Ich weiß. Aber sie hat uns mal besucht und ich hab ihr erzählt, dass wir nicht mehr zusammen sind, da hat sie sich natürlich Sorgen gemacht. Also hab ich angeboten, dass sie sich jederzeit davon überzeugen kann, dass hier alles gut läuft. Und weißt du, sie geht an die Sache auch recht rational ran. Es ist nicht so, dass sie großartig mütterliche Gefühle entwickelt hat. Sie sieht die Zwillinge eher als Kinder von Freunden, die öfter mal einen Babysitter brauchen.“

„Ach Dylan, das glaubst du doch selbst nicht!“

„Doch. Und ich verstehe mich gut mit ihr. Wenn man zusammen Kinder gezeugt hat, dann verbindet das irgendwie …“

Ich höre das Blut in meinen Ohren Rauschen.

„Ich könnte dich gerade echt ohrfeigen, Dylan. Du hast diese Kinder nicht mit Joy gezeugt! Du hast diese Kinder mit MIR gezeugt. WIR haben uns gemeinsam für Babies entschieden. ICH hab dir einen runtergeholt um an das Sperma zu kommen und MEINE Hand hast du gehalten, als du die ersten Ultraschallaufnahmen gesehen hast. Das sind UNSERE Kinder. Joy hat nichts weiter getan, als die Eizellen zu liefern, die ich dir nicht geben konnte!“

„Sicher sind es unsere Kinder, das bestreitet doch keiner …“

„Was laberst du dann von irgendwelchen Verbindungen, die du zu ihr fühlst?!“

„So meinte ich das nicht. Ich meinte einfach nur, dass ich bei ihr sicher sein kann, dass sie gut auf die Kinder aufpasst, weil das auch in ihrem Interesse ist.“

„Ah, soviel zu ‚keine Muttergefühle’, was?!“

„Warum regst du dich denn so drüber auf? Sie war keine Stunde mit den Beiden alleine.“

„Wenn du das nächste Mal einen Babysitter brauchst, bezahl ein Nachbarsmädchen dafür, wie jeder normale Mensch.“

„Das ist doch nicht dein Ernst, oder? Ich soll Jake und April lieber bei einem wildfremden Teenager lassen als bei ihrer Mutter?“

„Sie ist nicht ihre Mutter!“

„So, wer dann?“

Ich weiß für eine Sekunde nicht, was ich darauf antworten soll. Dylan nutzt das, um weiter zu reden:

„Wer soll sich denn Donnerstag und Freitag um die Beiden kümmern? Du lässt es dir mit deinem Lover gut gehen und ich muss mir hier ein Bein ausreißen.“

„Das ist so unfair, Dylan! Ich hab das mit dir abgesprochen, bevor ich gebucht habe.“

„Und hiermit spreche ich mit dir ab, dass Joy die Zwillinge Donnerstag und Freitag versorgen wird.“

„Auf keinen Fall!“

„Was willst du tun? Die beiden in euer Liebesnest mitnehmen?“

„Ich finde schon jemanden.“

„Na dann viel Glück dabei“, erklärt er trocken.

„Du bist ein Arsch.“

Ich drücke den Zwillingen noch je ein Küsschen auf den Kopf und verschwinde.

Ich habe noch eineinhalb Stunden, bis ich mich mit Buttler wegen einem neuen Projekt treffen muss. Also fahre ich, geladen wie ich bin, noch mal nach Hause. Xander 2 hängt vor dem Fernseher. Der kommt mir gerade recht.

„Solltest du nicht lieber auf Wohnungssuche sein?“

„Mhm.“

„Was machst du eigentlich den ganzen Tag?“

„Nachdenken.“

„Vor dem Fernseher?“

„Warum nicht?“

„Weil … ach vergiss es. Ist Ria da?“

„Vor fünf Minuten heimgekommen. Sie hat mir auch so eine Standpauke gehalten.“

„Recht hat sie.“

Ich klopfe an ihre Zimmertür.

„Ja?“

„Hey, kann ich rein?“

„Sicher.“

„Hey … na, wie war die Arbeit?“

„Scheiße, wie immer.“

„Musst du Donnerstag und Freitag auch arbeiten?“

„Nur vormittags. Warum?“

„Ich fahre ja weg, und …“

„Wann sagst du mir endlich, mit wem du wegfährst?“

„Ich weiß nicht, vielleicht wenn ich wiederkomme?“

„Warum schiebst du das so auf?“

„Wegen Vince und so.“

„Was hat das mit ihm zu tun?“

„Ich will ihm das persönlich sagen, und Scott auch. Sonst halten sie mich für verrückt …“

„Ich kann dicht halten.“

„Wirklich?“, frage ich grinsend.

Sie hat schon so einiges bei Vince ausgeplaudert. Jetzt verdreht sie die Augen:

„Hey, wenn es um etwas wirklich Wichtiges geht, dann halte ich den Mund.“

„Naja … es wäre auch nur fair, wenn ich es dir sage. Schließlich musst du vermutlich bald mit ihm zusammenwohnen.“

„Dein Freund zieht hier ein?“

„Wir haben noch nicht definitiv darüber gesprochen, aber ich nehm es an …“

„Soll ich dann … ich meine, ihr wollt doch sicher …“

„Hey, ich hab dir gesagt, dass du hier bleiben kannst, und dazu steh ich auch. Außerdem hab ich dich gern um mich.“

„Ja, wie war das jetzt mit dem Babysitten?“, grinst sie.

„Nicht nur deshalb, und das weißt du auch“

„Sicher! Ich bin auch toll im Renovieren und im Sachen aussuchen …“

„Und du bist eine tolle Freundin.“

„Ach jetzt hör doch auf!“

„Wirst du etwa rot?“, zieh ich sie auf.

„Du wolltest mir die Identität deines Liebhabers enthüllen“, lenkt sie ab.

„Na schön. Ich bin wieder mit Xander zusammen. Also nicht dem da draußen. Meinem …“

„Exfreund“, ergänzt sie und sieht ziemlich geschockt aus.

„Vince hat dir also von ihm erzählt.“

„Ja … Jordan, bist du sicher, dass …“

„Ria! Hör auf. Genau deshalb hab ich es so lange verheimlicht. Lern ihn erst mal kennen, okay? Und Vince soll auch erst mal sehen, wie es ihm jetzt geht, bevor er sich ein Urteil bildet.“

„Verstehe.“

„Gut, danke.“

„Ich bin am Donnerstag ab eins zu Hause. Dann kann Dylan die Babies vorbeibringen. Und am Freitag nehme ich mir frei.“

„Das würdest du tun?“

„Sicher, Süßer. Was kann Schlimmstenfalls passieren? Dass sie mich feuern? So einen miesen Job bekomme ich immer wieder.“

„Ich will dich diesmal aber dafür bezahlen.“

„Jordan, beleidige mich nicht!“

„Aber das wäre doch nicht schlimm, und du könntest das Geld gut gebrauchen …“

„Ich mach das, weil wir Freunde sind. Es ist schon schlimm genug, dass du mich hier fast umsonst wohnen lässt …“

„Fang nicht wieder damit an, das war nun mal der Deal.“

„Lass uns nicht mehr über Geld reden, ja?“

Ich rufe also Dylan an und sage ihm voller Genugtuung, dass ich das Babysitter-Problem gelöst habe. Er muss schließlich erst ab zwei im Zentrum sein, also kann er die Zwillinge davor locker herbringen. Das muss auch er zugeben. Damit wäre das Joy-Problem zumindest vorerst gelöst. Dann beschließe ich, Xander 2 mal kräftig in den Hintern zu treten. Er sitzt immer noch vor dem Fernseher und sieht Nachmittagstalkshows. Ich stelle mich neben ihn und betrachte ungläubig das Fernsehbild. Krankes Zeug.

„Also, worüber denkst du nach, während du dabei zusiehst, wie ein Zwerg ein Schönheitsoperationsopfer verprügelt?“

„Krank, oder?“, fragt er begeistert.

„Ziemlich. Also?“

„Verschiedenes. Wie es weitergehen soll und so.“

„Willst du mit mir drüber reden?“

„Eigentlich nicht.“

„Verstehe. Du machst das also lieber mit dir allein aus. Das ist ja auch okay. Aber du kannst nicht ewig im Büro schlafen.“

„Warum nicht?“

„Weil es hier langsam etwas voll wird, findest du nicht?“

„Ich brauch nicht viel Platz.“

„Okay, dann fangen wir anders an. Was ist mit deinem Job?“

„Bin geflogen.“

„Schon wieder?! Warum?“

„Zu viele Teller zerbrochen. Die Teile sind aber auch glitschig.“

„Dann brauchst du einen neuen Job.“

„Ich überlege, wieder auf die Schule zu gehen.“

„Gut! Da kann dir Dylan sicher ein paar Projekte empfehlen …“

„Ja. Nur, das geht schon in ein paar Wochen los.“

„Und weiter?“

„Ich hab noch nicht genug Kohle zusammen.“

„Dann musst du eben neben der Schule jobben und in einer WG wohnen. Das ist schon hinzukriegen. Was ist denn wirklich dein Problem?“

Ich hab da schon eine Vermutung.

„Was meinst du?“, fragt er dümmlich.

„Warum willst du wirklich hier bleiben?“

„Hier ist es schön.“

„Wo anders ist es auch schön.“

„Nicht so wie hier …“

„Kann es sein, dass du auf eine total verquere Art in mich verschossen bist?“

„Was?!“

„Wenn es so ist, dann ist das schon okay …“

Er springt auf.

„Red doch keinen Scheiß, das wäre überhaupt nicht okay!“

„Warum nicht?“

„Weil ich schon genug Probleme habe. Sodomie muss nicht auch noch dazukommen.“

„Sodomie?! Bist du irre?!“

„Wie würdest du es denn nennen?“, fragt er ernsthaft.

„Schwul sein halt.“

„Ich bin nicht schwul.“

„Okay, war ja nur so ein Gedanke. Mann, dafür, dass du hier mit lauter Schwulen zusammenlebst, hast du echt ein ganz schönes Problem damit. Ich glaub das Beste wird sein, wenn du so schnell wie möglich von hier verschwindest. Ich will ja nicht, dass du dich in meiner Gesellschaft unwohl fühlst.“

„Du schmeißt mich raus, weil ich nicht schwul bin?“

„Ich schmeiß dich raus, weil ich hier keine faulen Kerle haben will, die sich breit machen und mich heimlich für einen Perversen halten.“

„Ich halte dich nicht für pervers. Ich will nur nicht so sein wie du.“

„Das ist keine Frage des Wollens.“

„Oh doch!“

„Also musst du dagegen ankämpfen, nicht so zu werden wie ich?“

„Ich …“, stutzt er.

„Ja?“

„Möglich. Aber ich schaffe es ganz gut.“

„Verstehe. Du hast noch einen langen Weg vor dir. Und nur zu deiner Info: Nächste Woche zieht mein Freund ein. Und dann wird hier noch mehr Unzucht getrieben.“

„Toll, … hab verstanden. Danke für die Warnung.“

„Red mit Dylan. Der kann dir sicher mit dem Schul- und Wohnungsproblem helfen. Mit dem Rest musst du wohl allein fertig werden.“

„Werde ich.“

„Schön.“

Am Mittwochabend bin ich total nervös. Ich packe noch Xanders Geschenke ein, meine Hände zittern dabei. Ich weiß auch nicht so genau warum. Morgen werde ich Xander endlich aus dieser Klinik rausholen dürfen. Nie wieder werde ich die lange Fahrt in Kauf nehmen müssen. Und endlich können wir auch die Nächte miteinander verbringen. Andererseits schirmen die Mauern des Klinikgeländes Xander dann nicht mehr gegen alles Böse und Stressige hier draußen ab. Aber ich bin sicher, alles wird gut gehen. Jetzt fahren wir erstmal in Urlaub!

Schon um neun am nächsten Morgen stehe ich vor Xanders Zimmertür und klopfe.

„Ja?“

Ich trete ein. Er hat absolut nicht mit mir gerechnet, das sehe ich an seinem mehr als überraschten Gesicht.

„Schatz! Was machst du denn schon hier?“

„Na dir gratulieren. Was sonst?“

Ich küsse ihn erst mal, rieche sein Shampoo, streiche über seine inzwischen wieder ziemlich weichen Wangen und versuche, mich zurückzuhalten. In ein paar Stunden darf ich über ihn herfallen. Da kann mich nichts mehr stoppen. Doktor Garcia hat sowohl mich als auch Xander negativ auf alle möglichen Geschlechtskrankheiten getestet. Der arme Xander denkt, er müsse noch bis nächste Woche warten, um das ausnutzen zu können. Wenn der wüsste, was ich heute noch alles mit ihm vorhabe …

„Wo sind meine Geschenke?“

„Im Auto“, grinse ich.

„Warum das?“

„Weil du die nicht hier drinnen bekommst. Ich entführe dich über’s Wochenende.“

„Einfach so? Ist das okay?“

„Ich hab das mit Garcia abgesprochen. Sie hat deine Entlassung vorverlegt. Wir müssen nur noch die Visite abwarten, dann sind wir weg. Also … wenn du dich dem gewachsen fühlst?“

„Und wie! Dann packe ich schon mal. Und von ein paar Leuten muss ich mich auch noch verabschieden.“

„Um zwölf wartet ein Buffet auf uns, also komm in die Gänge“, lache ich, weil er immer noch an meinem Hals hängt.

„Dann mach dich gefälligst nützlich!“, gibt er zurück und holt seine Koffer aus dem Schrank.

Wir stopfen alles irgendwie rein.

„Wohin entführst du mich eigentlich?

„Wird nicht verraten. Nur so viel: Eine Badehose für dich habe ich schon im Auto, falls wir mal ans Meer gehen. An unserem Pool brauchst du keine. Da sind nur du und ich.“

„Ich kann es kaum noch erwarten. Pack schneller!“

Dieser Blick! Ahhh! Ich kann nicht mehr. Ich muss ihn jetzt sofort haben! Nein, die zwei Stunden halte ich jetzt auch noch aus. Es soll schließlich etwas Besonderes sein und kein Quickie im Bad.

Noch vor der Visite saust Xander zu ein paar Patienten, mit denen er sich gut verstanden hat und tauscht Nummern aus. Dann erscheinen Chefarzt, Oberarzt, Stationspflegerin, Praktikantin und Doktor Garcia zur alldonnerstäglichen Großvisite. Ich darf diesmal dabei bleiben, weil auch ich noch etwas über den weiteren Behandlungsverlauf erfahren soll. Dann wird Xander ganz herzlich zum Geburtstag und zur Entlassung gratuliert.

Kurz nach elf passieren wir die Pforte. Weil ich zwei Koffer schleppe, kann ich dabei nicht Xanders Hand halten. Aber mein Blick hält ihn fest.

„Alles okay?“

„Ja, ist ein seltsames Gefühl, nach all den Monaten wieder ganz hier draußen zu sein.“

„Ich weiß, aber du gewöhnst dich sicher schnell wieder an die Freiheit.“

„Wie weit müssen wir fahren?“

„Vielleicht eine halbe Stunde.“

„Wo parkst du?“

„Hier entlang.“

Nachdem wir das Gepäck verstaut haben und das Auto gerammelt voll ist, lassen wir uns in die Sitze sinken und greifen gleichzeitig nach der Hand des anderen. Xanders Augen strahlen mich vielsagend an.

„Das letzte Mal, als ich mit dir in einem Auto war …“

„Wenn du nicht willst, dass ich jetzt und gleich über dich herfalle, dann bist du jetzt lieber still“, warne ich ihn.

„Fahr schon“, grinst er.

Xander schließt gleich mal seinen Player an die Anlage an. Die Smashing Pumpkins ertönen.

„Ich dachte, die kannst du nicht ausstehen?“, frage ich überrascht, woraufhin er mir ausführlich erklärt, warum er seine Meinung diesbezüglich geändert hat.

Wir fahren ein Stück die Küste entlang. Xander macht die Klimaanlage aus und sein Fenster auf. Als er den Kopf lange genug in den Fahrtwind gehalten hat, drückt er mir einen Kuss auf die Wange und erklärt:

„Ich brauche unbedingt lange, wallende Haare!“

„Naja, dauert nur zwei, drei Jahre …“

„Denkst du!“, grinst er und streckt seinen Kopf wieder raus.

Längere Haare passen wirklich besser zu ihm, aber mit den kurzen stoße ich ihn auch nicht von der Bettkante. Ich hoffe nur, wir kommen bald zu dieser Bettkante. Wenn er sich aus dem Fenster lehnt, rutscht sein Shirt hoch und diese Milchhaut schimmert mir entgegen. Weit kann es zum Glück nicht mehr sein. Ah, da ist unsere Ausfahrt, der Rest ist beschildert.

„Wooooow! Die Anlage ist ja irre! Da kommt man sich ja vor wie im Urlaub!“

„Wir sind im Urlaub“, kläre ich meinen staunenden Freund auf.

Wir checken kurz im Haupthaus ein, bekommen unsere Koffer über einen palmengesäumten Weg zum Bungalow gerollt, geben Trinkgeld und sind endlich allein.

„Bereit?“, frage ich, bevor ich mit der Magnetkarte die Tür zu dem kleinen, hellorange gestrichenen Haus aufsperre.

„Mach schon! Ich muss auf’s Klo!“

„Sehr romantisch …“

„Ich hab ne Kanne Tee zum Frühstück getrunken! Konnte ja nicht wissen, dass du mich entführst!“

Ich öffne die weiße, leichte Tür und wir stehen in der Wohnküche. Ein weiteres „Wooooooow“ entfährt Xanders Mund.

In der großzügigen, sauberen, modernen Küche, ist ein kaltes Buffet für zwei, inklusive tropischen Säften, Obst das aussieht wie von einem anderen Stern und natürlich Champagner aufgebart. Im offenen Wohnzimmer gibt es eine Couchgarnitur, deren Einzelstücke irgendwie alle ein Stückchen größer sind als normal.

„Ich will es als erstes darauf treiben!“, grinst Xander, auf den Eineinhalbpersonen-Sessel deutend. „Aber vorher verschwinde ich ins Bad. Wunder dich nicht, wenn es länger dauert. Ich muss mich noch rasieren und so. Konnte ja keiner ahnen, dass du mich heute noch nackt siehst.“

„Ich will aber jetzt gleich! Haare sind mir egal“, motze ich.

„Mir aber nicht. Ich beeil mich.“

Und schon verschwindet er mit einem Koffer im Bad. Ich checke erst mal das Schlafzimmer und bin sehr zufrieden. Schön federnde Matratzen, zum Schlafen vielleicht nicht so gut geeignet, aber das ist auch nicht der Hauptzweck dieses Bettes. Ich stelle die Koffer in den begehbaren Schrank und ziehe mich erst mal aus. Ob ich vielleicht schon mal in den Pool springe? Das Wasser funkelt so schön in der Sonne und eine Glastür führt direkt vom Schlafzimmer hinaus. Sehr verführerisch, aber damit warte ich lieber auf Xander.

Ich nasche ein paar Andenbeeren vom Buffet, schenke mir schon mal Champagner ein und Xander einen dunkelorangen Saft, der verdammt süß riecht. Genau nach seinem Geschmack. Ich höre das Wasser in der Dusche rauschen. Der soll jetzt kommen! Und wehe, er ist dann nicht nackt! Plötzlich wird mir etwas mulmig. Rasieren? Er hat Klingen da drinnen? Ob er … Nein! Quatsch! Dazu hätte er doch überhaupt keinen Grund! Ihm geht es gut. Ich suche gleich mal seine Geschenke aus dem Koffer. Dann bediene ich mich noch mal am Buffet. Was braucht der denn so lange? Musik. Ich sehe mich nach einer Anlage um und finde sie unter dem Flachbildfernseher. Man kann sogar einen Player anschließen.

Endlich geht das Wasser in der Dusche aus. Ein paar spannende Sekunden später geht die Tür auf. Xander ist in ein großes, plüschiges Handtuch gewickelt und grinst mich an.

„Sieh an, du hast dich schon deiner Klamotten entledigt.“

„Und ich hab nicht vor, sie während unserer Zeit hier wieder anzuziehen“, verkünde ich.

„Mmmmmh, vielversprechend.“

Er kommt auf mich zu, ich stehe auf und spüre mein Herz bis zu meinen Hals schlagen. Einen knappen Meter vor mir bleibt er stehen und lässt mich zu sich kommen. Er bewegt sich ein bisschen im Takt der langsamen Musik. Ich ziehe ihn an mich, schiebe ihm das weiche Handtuch von den Schultern, küsse die weiche Haut dort, schiebe das Handtuch noch ein Stück tiefer und küsse gleich hinterher. Er breitet die Arme aus, ich schmiege mich an ihn und er hüllt uns beide in das erstaunlich weiche Stück Stoff ein. Unsere Lippen und Zungen treffen sich.

„Du schmeckst süß“, flüstert er.

„Hab vom Buffet genascht.“

„Ich will von dir naschen.“

Schon beißt er leicht in meinen Hals, knabbert an meinem Ohrläppchen, wandert tiefer. Seine Hände streichen über meinen Rücken, meinen Po, nach vorne. Ein angenehmer Schauer durchfährt mich.

„Ich kann nicht mehr warten“, flüstere ich und drücke mich hart gegen ihn.

Meine Hände wollen nach seinem Schwanz greifen, aber er hält mich zurück. Überrascht schlage ich die Augen auf.

„Ich … ehm …“

Er schaut verlegen nach unten. Ich folge seinem Blick. Zwischen seinen Beinen tut sich nichts.

„Das kann von den Pillen kommen“, erklärt er unsicher.

„Oh … naja, es reicht ja theoretisch, wenn einer von uns einen Ständer hat, hm?“, versuche ich ihn aufzumuntern.

Das scheint zu klappen, denn er lächelt ein wenig, als er sagt:

„Du hast sicher einiges nachzuholen. Dylan sieht nicht aus wie ein Kerl, der sich oft ficken lässt.“

„Und du wurdest bei Tyler sicher nicht oft gefickt“, gebe ich grinsend zurück.

„Täusch dich nicht.“

„Ehm …?“

„Nicht reden. Ficken.“

Er löst sich aus meiner Umarmung, geht rüber zu der größten Couch, platziert sich auf allen Vieren auf ihr und streckt mir seinen Hintern entgegen. Wow, in diesem Moment hätte ich gern ein fotographisches Gedächtnis, um das Bild immer wieder abrufen zu können. Und wenn ich mal alt und grau bin, dann denke ich einfach an heute und …

„Worauf wartest du? Komm her!“

Er schüttelt amüsiert über mich den Kopf. Zweimal lasse ich mich da sicher nicht bitten.

Nachdem ich so ziemlich den schnellsten Orgasmus meines Lebens gehabt habe, bin ich zwar etwas außer Atem, aber ich habe nicht vor, schon von Xander abzulassen. Ich bleibe einfach genau da, wo ich bin und spüre Xanders sanfte Bewegungen. Plötzlich drückt er sich fester gegen mich und verlangt nach mehr. Und das soll er bekommen.

Nach dem zweiten Mal bin ich nun wirklich atemlos und schlapp und so entspannt, dass ich auf der Stelle einschlafen könnte. Aber nicht, ohne Xander vorher ausgiebig geküsst zu haben. Er legt sich auf den Bauch, ich kuschle mich an ihn. Worte sind nicht nötig, Blicke sagen alles. Im Hintergrund läuft ‚Blower’s Daughter’. Oh ja. I can’t take my eyes off of you. Bis meine Augen schließlich schwer werden und ich in den ruhigsten und tiefsten Schlaf seit Ewigkeiten gleite.

Als ich wach werde, spüre ich als erstes das weiche Laken, das federleicht auf mir liegt. Im Raum herrscht absolute Stille. Ich strecke mich und fühle mich dabei genau so federleicht wie das Laken. Etwas widerwillig öffne ich die Augen. Xander sitzt auf dem Sessel, keinen Meter von mir entfernt. Nackt und wunderschön. Er lächelt mich an und streckt seine Hand nach mir aus. Ich erhebe mich und setze mich neben ihn. Wir haben gerade so nebeneinander Platz. Ich muss immer wieder über seine Wange streicheln, betrachte seinen Körper, auf dem einige Narben verstreut sind, die da früher noch nicht waren. Seine perfekte Haut wird von diesen dunklen Linien unterbrochen. Diese Entsetzlichkeit so dicht an der Schönheit, die mich in ihren Bann gezogen hat zu sehen, treibt mir Tränen in die Augen. Ich ziehe Xander auf meinen Schoß, küsse ihn, liebe ihn.

„Jetzt will ich aber meine Geschenke haben!“, verkündet er nach einer Weile und springt auf.

Ich muss lachen, weil er mich ein bisschen an Gwen erinnert, wenn sie Geburtstag hat.

„Die liegen schon auf dem Bett.“

Sofort ist er Richtung Schlafzimmer verschwunden und ich muss sehen, dass ich hinterherkomme, um nicht zu verpassen, wie er das Geschenkpapier aufreißt.

Als ich dazukomme, hat er die schwarz-weiß gekringelten Zehensocken schon fast ganz ausgepackt. Ich setze mich neben ihn und schaue ihm belustigt dabei zu.

„Cooooool! Die zieh ich gleich an. Die Fliesen sind eh so kalt. Darf ich die auch beim Sex anlassen?“

„Von mir aus, aber nur heute, weil du Geburtstag hast. Morgen ist das wieder extrem unsexy.“

„Was als nächstes?“

Ich reiche ihm das linke Päckchen. Nur Sekunden später hält er sein neues Vanilla-Gorilla-Shirt in Händen.

„Und nein, das darfst du beim Sex nicht anlassen“, komme ich ihm zuvor.

„Menno.“

Aber sein Schmollen ist schnell vergessen, als er die Live-DVD von Status Quo auspackt.

„Yeah! Können wir gleich reinhören?“

„Klar.“

Schon flitzt er zur Stereoanlage und schmeißt die Audio-CD ein.

„Und heute Abend schauen wir das Konzert an, ja?“, brüllt er rüber.

„Klar!“

Er scheint einen Track zu suchen. Ein paar Sekunden später ertönt „Rockin’ All Over the World“ und er springt ins Schlafzimmer.

„Tanzen! Jetzt!“

Ich murre zwar, aber füge mich dem Geburtstagswunsch.

Wir tanzen raus an den Pool und springen zusammen hinein.

„Brrrrrrr“, macht Xander.

„Das Wasser hat bestimmt dreißig Grad!“

„Ich muss mich bewegen“, verkündet er und fängt an, Bahnen zu schwimmen.

Warum nicht? Ich schließe mich an.

„Wer als erster zwanzig schafft!“

Das wird bei dem kleinen Pool nicht so lange dauern. Oh Gott, wie niedlich! Er hat die Zehensocken noch an.

Xander ist schnell, aber ich bin schneller. Ich habe einfach die ausgereiftere Technik.

„Würde man nicht meinen, dass du am Meer aufgewachsen bist!“, ziehe ich ihn auf.

„Sei still, Wüstenkind!“

„Du bist ein schlechter Verlierer“, lache ich.

„Und du bist ein schlechter … ähm … äh …“

„Na?“

„Du bist in gar nichts schlecht. Du bist einfach perfekt“, säuselt er.

Wir legen uns ein bisschen in die Sonne. Als er trocken ist, rückt Xander seinen Liegestuhl in den Schatten und schaut mich erwartungsvoll an.

„Was denn? Ich will endlich mal ein bisschen Farbe bekommen“, erkläre ich.

„Ja, Krebsrot, wenn du nicht aufpasst. Deine Beine sind ganz bleich, die sind das doch gar nicht gewöhnt.“

„Tja, zum Nacktsonnen habe ich nicht so oft die Gelegenheit, weißt du?“

„Eben, deshalb solltest du dich auch wenigstens eincremen. Wusstest du, dass jeder Fünfte Kalifornier irgendwann Hautkrebs bekommt?“

„Wo hast du denn das her?“

„Gelesen. Und jetzt hol ich meine Sonnencreme.“

„Du hast Sonnencreme dabei?“

„Klar, benutze ich jeden Tag. Glaubst du, ich bleibe automatisch so vornehm blass?“, grinst er.

„Ehm, ja, eigentlich dachte ich das.“

„Hach, bist du naiv!“

Als er so davon schwebt, frage ich mich, was ich noch alles nicht von ihm weiß.

Er cremt mir gewissenhaft Rücken, Schultern, Brust, Bauch und Beine ein und legt sich auf seinen Schattenplatz zurück.

„Wann willst du eigentlich dein letztes Geschenk haben?“, frage ich ganz beiläufig, kaum dass er sich niedergelassen hat.

„Ich bekomme noch eines? Aber da lag nichts mehr auf dem Bett.“

„Ich hab den Brief vorsichtshalber woanders deponiert, nicht dass er noch zerfetzt wird.“

„Jetzt! Ich will ihn jetzt haben!“

„Na, gut, dann hol ich ihn mal.“

„Ich komm mit!“

Er springt auf.

„Nein, nein. Bleib hier.“

Ich hole das dicke Couvert aus meinem Koffer. Ja, ich hatte Xander viel zu sagen. Sieben Seiten sind es geworden.

„Sind deine Hände sauber?“, frage ich streng, bevor ich ihm den Brief überlasse.

„Ja doch. Gib! Gib!“

Erstaunlich vorsichtig öffnet er den Umschlag und fängt an zu lesen. Ich lege mich solange auf meine Liege zurück und lasse mich von den langsam schwächer werdenden Sonnenstrahlen noch ein wenig durchfluten.

Als ich so vor mich hin dämmere, spüre ich plötzlich Xanders Gewicht auf mir. Er küsst mich stürmisch, ich komme kaum dazu, zu reagieren, da löst er sich schon wieder und strahlt und weint gleichzeitig:

„Danke. Ich hab noch nie so was Schönes gelesen.“

„Und ich hab noch nie so was Schönes gesehen wie dich.“

Wir küssen uns, drücken uns aneinander, ich will jetzt sofort Eins mit ihm werden. Keine Ahnung wie man das anstellt, ich weiß nur, dass ich das jetzt ganz dringend will.

Langsam geht die Sonne unter, während wir uns in den Armen liegen.

„Wir sollten uns mal um das Buffet kümmern“, schlägt Xander vor.

„Ja, ich hab auch Hunger.“

Die Eiswürfel unter den Tabletts sind inzwischen zu kaltem Wasser geworden. Zum Glück liegt weder Fleisch noch Fisch rum, so dass das nicht schlimm ist. Wir füttern uns ganz kitschig gegenseitig, lecken uns die Finger ab, hätten am liebsten gleich schon wieder Sex. Tja, aber als Xander sich auf meinen Schoß setzt, schreie ich auf. Das brennt wie Feuer! Erschrocken springt er auf und schaut mich an.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“

Meine Oberschenkel sind krebsrot, genau wie Xander es prophezeit hat. Wunderbar!

„Oh-oh …“

„Scha-hatz!

„Bis morgen ist das um …“

„So wie das aussieht, wirft die Haut morgen Blasen.“

Nachdem wir die Reste in den Kühlschrank geräumt und mich mit Lotion eingecremt haben, machen wir es uns auf der Couch bequem und legen die DVD des Status Quo-Konzerts ein. Lange schaffe ich es aber nicht, meine Finger von Xander zu lassen. Seine Haut ist vom Poolwasser ganz weich geworden und schmeckt nach Sommer. Ich muss ihn einfach ablecken. Es dauert nicht lange und ich mache es ihm mit der Zunge. Die Show ist schnell vergessen. Er windet sich unter mir, stöhnt, drückt sich gegen mich und ist dabei verdammt noch mal so heiß, dass ich selbst fast komme.

Den nächsten Tag verbringen wir am Meer, leihen uns ein kleines Boot, mit dem wir ein Stück raus rudern, essen jeder drei Kugeln Eis, füttern die Möwen mit Waffelstückchen, waten händchenhaltend durch den Sand.

Der dritte Tag beginnt ganz fantastisch. Ich bin tief in Xander. Ganz tief. Nirgendwo wäre ich jetzt lieber. Sein Schließmuskel umzuckt mich, drückt für einen Moment so fest zu, dass ich ein bisschen Angst bekomme und entspannt sich wieder. Diese kleinen, unkontrollierbaren Bewegungen sind überhaupt das Beste an der ganzen Sache. Er stöhnt laut auf.

„Wooooooooow“, flüstert er und drängt sich immer wieder rhythmisch gegen mich.

„Ich hoffe, diesmal ist es dir wieder tief genug.“

„Stimmt, gestern musste ich ja reklamieren“, grinst er mich an.

Da hatte ich mich etwas zurückgehalten, um mit meinen wunden Oberschenkeln nicht gegen ihn zu klatschen.

Irgendwie ist Xander ganz schön mädchenhaft geworden. Damit meine ich nicht seine – nun, nennen wir es metrosexuelle Riesensonnenbrille oder die Tatsache, dass er wieder angefangen hat, sich die Augen zu schminken. Das sind nur Äußerlichkeiten. Zum Beispiel muss ich beim Sex im Pool drauf aufpassen, dass seine Haare nicht nass werden. Er hat auch kein Interesse an Wasserschlachten und beschwert sich, wenn mein Kinn abends stoppelt … und ganz deutlich war es, als ich am zweiten Tag das Bad stürmen musste, weil sich neben dem Klo eine mittelgroße Spinne eingenistet hatte, was Xander schier in Panik versetzt hat. Oder bin ich durch Dylan nur andere Maßstäbe gewohnt? Vielleicht ist Xander auch weiblicher geworden, weil er das letzte Jahr über mit Tyler zusammengelebt hat? Es ist jedenfalls Zeit, mal anzusprechen, wie es jetzt weitergehen soll. Schließlich ist es Samstagabend und wir müssen morgen um elf hier raus sein.

Xander sitzt mit einem Buch am Pool und hört Musik. Ich tippe ihm auf die Schulter. Er nimmt die Stöpsel aus den Ohren und schaut mich irgendwie so an, als wüsste er schon, dass jetzt ein ernstes Gespräch folgt. Ich ziehe mir einen Stuhl neben seinen und streiche leicht über eine Narbe an seinem Oberarm. Er nimmt meine Hand und küsst sie. Dann bleibt sein Blick kurz an dem Ringtattoo an meinem Finger hängen.

„Also …“, fange ich an. „willst du zu mir ziehen?“

Er schaut kurz verlegen nach unten, dann antwortet er:

„Ich hab meine Wohnung.“

„Ach, Tyler ist ausgezogen?“

„Nein.“

„Aber …“

„Jordan, ich werde sie nicht verlassen.“

Dieser Satz lässt eine Million Gedanken gleichzeitig in meinen Kopf schießen. Ich muss ihn erst kurz schütteln, um Ordnung hineinzubringen und einen Grund zu finden, warum er so etwas sagen könnte.

„Aber … warum? Du fühlst dich schuldig, oder? Weil sie dich gefunden hat? Du verdankst ihr dein Leben, sicher, aber …“

„Das ist es nicht, Jordan. Ich werde sie nicht verlassen, weil ich sie liebe. Ich will mit euch beiden zusammen sein.“

Es dauert ein paar Sekunden, bis das Ausmaß dessen, was er mir da eröffnet, in mein Bewusstsein sickert. Ich stehe auf, schwitzend und durcheinander, und springe in den Pool. Ein Schwimmzug nach dem anderen. Luftholen, die Bewegung noch einmal von vorne. Bahnen zählen. Fünf, sechs, sieben … zwanzig. Mir wird langsam klar, dass ich nicht für den Rest meines Lebens hier bleiben und Bahnen ziehen kann. Ich weiß, dass ich bald wieder da raus muss. Und dass ich … ja, was? Habe ich wirklich eine Entscheidung zu treffen? Nein, ich habe keine Wahl. Er ist mein Schicksal.

Verängstigt und zusammengekauert sitzt er auf diesem plötzlich so groß wirkenden Stuhl. Ich sehe mich selbst auf ihn zugehen. Nackt und aufrecht, mich vor ihn knien, seine Hände nehmen.

„Nachdem ich dich damals verloren habe, ist alles zu Bruch gegangen. Alles, was ich angepackt habe. Die Band, jede Beziehung, alles. Ich war einfach total fertig, hab mich an jeden Strohhalm geklammert und genommen, was ich kriegen konnte. Aber ich wollte immer nur dich, Xander. Ich liebe dich mit jeder Faser meines Körpers und ich kann dich nicht noch mal verlieren. Das überlebe ich nicht. Ich habe noch nie jemanden so sehr gebraucht wie ich dich brauche. So sehr, dass es weh tut. So sehr, dass ich alles dafür tun würde, um dich zu halten. Alles.“

Wir schlafen miteinander. Auch dabei scheine ich uns von außen zuzusehen. Mein Körper ist müde und entspannt, aber mein Geist findet keine Ruhe. Bilder blitzen vor meinem inneren Auge auf. Xander und Tyler, sich auf der Tanzfläche küssend, der Knoten, der sich in meiner Brust bei diesem Anblick damals zusammengezogen hat. Sean und Sara und wie verraten ich mir damals vorgekommen bin. Aber diesmal muss ich mich zusammenreißen, egal wie übel mir bei dem Gedanken wird, dass Xander jemand anderen küsst als mich, jemand anderen sogar liebt! Ich kann Xander nicht verlieren. Sein halbes Herz ist besser als gar nichts. Dann ist das wohl mein Schicksal.

Am nächsten Morgen packen wir ziemlich schweigsam unsere Koffer. Wir berühren uns, sehen uns an. Aber reden tun wir nicht. Mit gemischten Gefühlen verabschiede ich mich von diesem Ort. Ich würde gern noch bleiben, auch wenn ich beim Blick auf den Pool ständig an das Gespräch gestern Abend denken muss. Ich habe Angst davor, heim in den Alltag zu kommen. Dann muss ich Xander in seiner Wohnung absetzen. In IHRER Wohnung.

Die Rückfahrt dauert eine gute Stunde. Auf der Schnellstraße wird es Zeit, endlich die Stille zu brechen und zu fragen:

„Welche Ausfahrt brauche ich zu euch?“

„Ich sag’s dir dann.“

„Wie hast du es gemacht, dass ich Tyler in der Klinik nie über den Weg gelaufen bin?“

Das klingt etwas vorwurfsvoll. So ist es aber gar nicht gemeint.

„Da musste ich nicht viel machen. Du weißt doch, wie sie ist. Krankenbesuche sind nicht ihr Ding …“

„Dann hat sie dich nie besucht?“

„Das hatten wir so abgemacht. Außerdem wollte sie dir nicht begegnen. So weit war sie noch nicht.“

„Du hast ihr also die Wahrheit gesagt und mich im Glauben gelassen, du hättest dich von ihr getrennt?!“

Diesmal ist der vorwurfsvolle Ton Absicht.

„Du hast nicht nach ihr gefragt. Nicht ein Mal. Und ich musste auch erst mal stark genug werden, dir davon zu erzählen. Wenn du gegangen wärst, dann … Ich musste warten, bis ich mir sicher war, dass zumindest die Chance besteht, dass du mich nicht sofort verlässt.“

„Ich würde dich nie im Leben verlassen, Xander.“

„Schwörst du das?“

„Ich schwöre es.“

„Die übernächste Ausfahrt.“

Wir verabschieden uns relativ flüchtig und vereinbaren, am Abend zu telefonieren. Die WG ist leer. Ich kann in Ruhe auspacken. Plötzlich bin ich schrecklich müde, wie gelähmt. Ich schleppe mich gerade noch so ins Bett. Als ich aufwache, ist es vier Uhr Nachmittag, wie mich die roten Ziffern meines Weckers wissen lassen. Ich bin total niedergeschlagen und wacklig auf den Beinen. Erst mal rufe ich Dylan an und frage, ob er Hilfe bei den Zwillingen braucht. Er verkündet, alles im Griff zu haben und beendet das Gespräch relativ abrupt, so als habe er Angst, ich würde ihn gleich mit Details meines Liebesurlaubs bombardieren. Für wie unsensibel hält der mich eigentlich?!

Unten ist inzwischen etwas Leben in die Bude gekommen. Vince und Ria bringen die Küche auf Vordermann, Danny spielt mit Xander 2 am Esstisch irgendein Zahlenlernspiel. Sonntags wird es hier manchmal ganz schön voll.

„Hallo zusammen.“

„Oh, hey! Du bist schon da! Wie war’s?“, trällert mir Ria entgegen, lässt dabei aber nicht von ihrem Scheuerschwamm ab.

„Schön. Was macht ihr?“

„Frühjahrsputz“, verkündet Vince und kommt rüber, um mir meinen Begrüßungskuss auf die Wange zu drücken.

„Im August?“

Es klingelt.

„Das ist Collin. Er kommt Danny abholen. Ich mach schon auf“, erklärt Vince.

Kurze Zeit später stehen Vinces Exmann und Scott in der Küche.

„Hey, Kleiner. Na, kann’s losgehen?“

Danny reagiert kaum, sondern erklärt, dass er gerade am Gewinnen ist.

„Setzt euch doch. Möchtet ihr was trinken?“, fragt Ria, wie es einer Gastgeberin gebührt.

Anscheinend ist sie den Beiden schon früher begegnet. Vorgestellt wird sie jedenfalls nicht. Collin wirft Scott einen fragenden Blick zu, dieser nickt. Irgendwie liegt eine Intimität in diesem Blick, die mir auf den Magen schlägt. Ich sitze auf der Arbeitsfläche und übe mich in der Fähigkeit, mich unsichtbar zu machen.

„Jordan hat sich scheinbar in eine Salzsäule verwandelt“, höre ich Ria sagen.

Dankeschön. Natürlich wenden sich alle Blicke mir zu. Das hat mir jetzt gerade noch gefehlt. Scott springt sofort auf.

„Hey, ich hab gar nicht gewusst, dass du hier bist.“

„Ich wohne ja bloß hier …“

Er ignoriert meine Pampigkeit und umarmt mich.

„Alles okay? Du bist ja eiskalt.“

Er reibt über meinen Rücken.

„Hab grad geschlafen.“

„Bist du krank?“

Jetzt betatscht er meine Stirn.

„Er hat wohl noch viel Schlaf nachzuholen“, lacht Ria, beißt sich aber gleich darauf auf die Zunge.

„Sind die Zwillinge so anstrengend?“, mutmaßt Collin.

„Mhm. … Ich glaube, ich leg mich noch mal hin. Viel Spaß euch allen, bei … was auch immer.“

Ich fühle die fragenden Blicke, die hinter meinem Rücken ausgetauscht werden, als ich den Raum verlasse. Aber dieses Happy-Family-„Jeder hatte mal was mit Jedem“-Getue kann ich gerade überhaupt nicht gebrauchen. Ich will nur was mit Xander haben. Und ich will, dass ich ihm gefälligst auch reiche. Aber das tu ich nicht, hab ich noch nie.

Die Türklingel weckt mich. Es ist kurz vor fünf. Ich rapple mich auf, höre unten Stimmen und Schritte die Treppe hochkommen. Ich bin mitten im Kinderzimmer, als die Person, mit der ich am allerwenigsten gerechnet habe, plötzlich keine zwei Meter von mir entfernt die Treppe hochkommt. Sie schaut mich für einen Moment genauso erstaunt an wie ich sie.

„Was machst du denn hier?“

„Das weiß ich selbst nicht so genau“, gibt Tyler zu.

Wir stehen ein paar Sekunden ziemlich ratlos voreinander.

„Können wir vielleicht irgendwo ungestört reden?“

„In meinem Schlafzimmer.“

Plötzlich sitzt die Freundin meines Freundes auf meinem Bett. Ich stehe im Türrahmen und habe das Gefühl, mein Gehirn im anderen Raum vergessen zu haben.

„Kannst du dich vielleicht irgendwo hinsetzen? Du machst mich nur noch nervöser“, bittet sie mich höflich und streicht sich ihre mittelblonden Haare hinter die Ohren, während sie redet.

Irgendwie sieht sie fast bieder aus, kein Vergleich mehr zu damals, als ich sie und Xander zusammen …

„Mein Bauch sagt mir, dass wir beide irgendwie Frieden schließen müssen.“

„Haben wir Krieg?“, frage ich provokant.

„Wir lieben den gleichen Mann. Frieden herrscht zwischen uns also auf keinen Fall.“

Da muss ich ihr Recht geben.

„Aber das wird durch ein Gespräch nicht zu ändern sein“, gebe ich zu bedenken.

„Ich weiß. Aber wie sollen wir mit der ganzen Sache umgehen? Das ist irgendwie zu hoch für mich. Wie soll das funktionieren?“

Sie schaut mich erwartungsvoll an. Ich kann nur die Schultern zucken, denn ich habe ehrlich keine Ahnung.

„Ich habe Angst.“

„Wovor?“, frage ich.

„Vor allem! Davor, dass Xander sich für dich und gegen mich entscheidet. Aber fast noch mehr, dass er sich für mich und gegen dich entscheidet, aber die Trennung von dir nicht übersteht. Er sagt, er braucht uns beide, und ich glaube ihm.“

Ich setze mich ans Fußende des Bettes.

„Wir werden uns wohl irgendwie arrangieren müssen …“

„Ja aber wie denn?! Sollen wir uns abwechseln oder was?!“

„Ich weiß auch nicht, Tyler.“

„Den Namen benutze ich nicht mehr.“

„Ehm, wie bitte?“

„Mein richtiger Name ist Gaby. Tyler ist der Nachname meines Vaters.“

„Oh, okay. Gaby also. Du scheinst noch andere Sachen als deinen Namen abgelegt zu haben.“

„Die Haare, die Lieblingsfarbe, die Philosophie … ich bin eben kein Teeny mehr.“

„Und Xander?“

„Er ist Künstler. Da ist das was anderes.“

„Was bist du?“

„Grundschullehrerin.“

Ich hab mich wohl verhört!

„Wirklich?!“

„Ab September bekomme ich meine erste eigene Klasse. Ich hab schon ein Jahr als Aushilfe gearbeitet.“

„Toller Job.“

„Naja, nicht so toll wie das, was Xander und du machen, aber es ist erfüllend.“

„Meine Tochter wird dieses Jahr eingeschult.“

„Wirklich? Schon? Wie die Zeit vergeht …“

Was mach ich hier eigentlich? Ich plaudere mit Tyler!!

„Weiß Xander, dass du hier bist?“

Sie schüttelt verlegen den Kopf und erklärt:

„Er ist zu Andy gefahren, um sich bei der Band zurückzumelden und zu planen, wie es weitergeht.“

„Verstehe … also: Wir haben keinen Krieg. Aber auf deine Fragen weiß ich auch keine Antworten. Wir müssen wohl einfach auf die Herausforderungen reagieren, die sich uns konkret stellen.“

„Ja, vermutlich. Ich mach mir einfach Sorgen um Xander.“

„Weißt du, ich liebe ihn auch sehr. Und ich würde nie etwas tun, das schlecht für ihn ist.“

„Bei allem Respekt, aber du warst der Auslöser für die ganze Sache. Wenn du ihn nicht fallen gelassen hättest wie eine heiße Kartoffel, dann …“

„Was dann? Glaubst du wirklich, dass er davor glücklich war?“, will ich wissen.

„Nein, aber es wäre nicht so eskaliert“, behauptet sie.

„Und er hätte nie Hilfe bekommen.“

„Er war zuvor schon in Therapie.“

„Hat ja toll funktioniert.“

„Wir haben uns alle verschätzt. Er hat uns nicht hinter seine Fassade schauen lassen. Und glaub nicht, dass du wirklich weißt, was in ihm vorgeht. Er hat eine Maske angelegt und jetzt schafft er es nicht mehr, sie abzunehmen. Seine Worte, nicht meine.“

„Ich kenne Xander“, behaupte ich mit Nachdruck.

„Wirklich? Hast du das damals auch schon gedacht, bevor er dich verlassen hat? Ich nämlich auch und plötzlich hat er mir eröffnet, dass er sich in jemand anderen verliebt hat und mit mir Schluss macht. Nach über vier Jahren!“

Ich muss zugeben, dass da was Wahres dran ist. Xander macht viel mit sich alleine aus und hinter seinen großen, ehrlichen Augen sieht man oft, dass es in seinem Kopf arbeitet.

„Er ist schon manchmal ein bisschen unberechenbar …“, räume ich ein.

„Wart ab, bis du heimkommst und seine Haare auf dem Couchtisch und ihn selbst in einer Badewanne voller Blut findest.“

Ihr Tonfall ist sehr nüchtern, aber sie schluckt schwer.

„Warum hat er sich die Haare abrasiert?“, frage ich.

„Das konnte er mir auch nicht erklären. Jedenfalls werde ich alles Menschenmögliche tun, um zu verhindern dass so etwas noch mal passiert.“

„Da haben wir wohl was gemeinsam …“

„Ich sollte dann wohl wieder gehen. Tut mir leid dass ich einfach so hier aufgetaucht bin.“

„Ist okay. Irgendwie hab ich jetzt immerhin keine so große Angst mehr vor dem ‚Unbekannten’“.

„Ja, geht mir genauso.“

„Ich komm noch mit runter.“

Nachdem ich die Tür hinter ihr geschlossen habe, halte ich die Klinke noch ein paar Sekunden in der Hand und denke nach. Was wollte sie hier? Wirklich Frieden schließen? Oder wollte sie sehen, ob Xander heimlich zu mir gefahren ist? Oder …

„So, deshalb hast du also mit deiner neuen Liebschaft so lange hinterm Berg gehalten“, grinst mich Vince an.

„Ehm, wie bitte?“

„Ach Jordan, wir sind doch tolerante Menschen. Wenn du dich neuerdings wieder mehr zu Frauen hingezogen fühlst, dann haben wir dich trotzdem noch genauso lieb. Jedem das seine.“

„Was?! Achso, du denkst … nein. Sie ist nicht meine Freundin.“

„So? Wer ist sie dann?“

Ich denke kurz nach.

„Weiß nicht. … Sie hat nur was vorbeigebracht. Etwas für die Arbeit.“

Ich hasse es, ihn anzulügen, aber ich kann ihm nicht die Wahrheit sagen. Das geht einfach nicht.

„Achso, ich dachte schon …“

Er mustert mich besorgt. Ich fasle irgendwas von einer aufziehenden Erkältung und flüchte nach oben. Ich habe sowieso noch zu arbeiten, immerhin war ich jetzt vier Tage fort und der Wahlkampf geht langsam in die heiße Phase. Noch fünfeinhalb Wochen bis zum Wahltag.

Gegen acht ruft Xander an. Wir telefonieren nur kurz. Er erzählt von Andy und dass sie vorhaben, sich schon diese Woche zusammenzusetzen, um Songs auszuwählen und zu schreiben. Diesmal wollen sie sich vom Management nicht reinreden lassen bei der Auswahl. Ich frage mich, wie sie das anstellen wollen, wenn die ihnen sonst den Geldhahn zudrehen und die PR nicht übernehmen. Naja, das ist zum Glück nicht mein Problem. Ich hab eigene. Morgen Nachmittag soll ich Michael bei Vuza vertreten, weil er einen Trauerfall in der Familie hat. Das bedeutet nicht nur viel Arbeit, sondern auch, dass ich jemanden finden muss, der sich morgen Nachmittag um die Zwillinge kümmert. Sonst lässt Dylan sie am Ende wieder bei Joy. Aber erst mal muss ich schlafen …

Am Vormittag ist Ria nicht zu Hause. Nur Xander 2 sitzt vor dem Fernseher.

„Bevor du was sagst:“, fällt er mir ins Wort, bevor ich den ersten Ton rausbringe „ich hab ein Zimmer gefunden. Am Ersten kann ich einziehen. Nächste Woche bist du mich los.“

„Ich will dich nicht los sein. Ich will einfach nur, dass du weiter deinen Weg gehst und dich nicht hier vorm Leben versteckst.“

„Du hast Recht. Aber nicht damit, dass ich mich hier vorm Leben verstecken will. Ich bin in dich verschossen.“

„Oh“, mache ich.

„Ich weiß … glaub mir. Ich hab mir auch nicht wirklich Chancen ausgerechnet. Ich WILL auch gar keine Chancen haben. Ich WILL überhaupt gar nichts von einem Mann wollen. Aber ich will was, verstehst du?“

„Ich glaube schon.“

„Und jetzt hab ich es auch noch laut gesagt. Das macht bestimmt alles nur noch schlimmer …“

„Nein. Das macht es leichter. Du kannst nicht steuern, was du willst. Du kannst dir nur darüber klar werden.“

„Aber was, wenn ich dann nicht mehr die Kraft habe, dagegen anzukämpfen?“

„Es ist okay, etwas für einen anderen Mann zu empfinden. Das ist ganz natürlich.“

„Ich WILL das aber nicht!“

„So hart das klingt, aber du wirst dabei nicht gefragt, Xander.“

„Aber du verstehst das nicht. Das bin einfach nicht ich!“

„Wie meinst du das?“

„Ich bin kein verweichlichter Kerl, dem die alten Werte nichts bedeuten. So bin ich nicht erzogen worden. So sollte ich nie werden.“

„Vielleicht haben die alten Werte mal eine Generalüberholung nötig?“, schlage ich vor.

„Aber mein Vater …“

Ah, daher weht der Wind.

„Was hat es mit deinem Vater zu tun, in wen du dich verknallst?“

„Vergiss es, ich mach das lieber mit mir allein aus.“

„Darf ich dir noch einen Denkanstoß mit auf den Weg geben?“

„Was denn?“

Ich beuge mich zu ihm runter, ganz langsam. Er scheint sich vor Schreck nicht mehr bewegen zu können und schaut mich aus vor Angst geweiteten Augen an. Ich atme aus und sehe dabei zu, wie sich die Haut in seinem Nacken zusammenzieht. Ein kleiner Schauer scheint ihn zu durchlaufen. Dann flüstere ich in sein Ohr:

„Du hast nur ein Leben. Leb es nicht für andere.“

Ganz plötzlich ziehe ich mich zurück und lasse ihn alleine. Ich hoffe, das war einprägsam genug.

Nach dem Einkaufen ist Ria zu Hause und Xander 2 nirgends mehr zu sehen.

„Hey.“

„Hallo.“

„Sag mal, kannst du ab drei babysitten? Dylan bringt gleich die Zwillinge vorbei und ich muss dann los …“

„Ehm, ja, kann ich. Aber … warum häuft sich das in letzter Zeit so, dass du spontan einen Sitter brauchst?“

Ich hole tief Luft und erzähle ihr von Joy. Sie schaut mich forschend an:

„Du hast Angst, dass du ersetzt wirst.“

„Naja …“

„Nein, das ist schon nachvollziehbar. Ich meine, Familie ist zur Zeit nicht gerade deine Priorität und Josh hat sich schon ziemlich von dir isoliert.“

„Falls das ein Versuch ist, mich aufzumuntern: Du machst es nicht gerade besser …“

„Will ich auch gar nicht. Joy ist nicht das Problem, Jordan. Wenn du eine gefestigtere Beziehung zu den Zwillingen hättest, dann müsstest du keine Angst haben, dass dich irgendwer ersetzt.“

„Aber ich versuche doch schon, so viel Zeit wie möglich für die Beiden zu schaffen …“

„Genau. Du handhabst das, als wäre es eine lästige Pflicht. Jordan, als ich dich das erste Mal mit den beiden gesehen habe, da haben deine Augen gestrahlt und du warst total verklärt. Und jetzt erledigst du nur noch eine Aufgabe. Tut mir leid dass ich dir das jetzt so hinknalle, aber das brennt mir schon eine Weile auf der Seele.“

„Wirklich?“, frage ich kleinlaut.

„Ist dir das nicht aufgefallen?“

„Ich … nein, ich meine, in letzter Zeit war so viel los. Der neue Job, Xander …“

„Ich mach dir keine Vorwürfe.“

„Nein, die mach ich mir selbst. Ich meine, ich WOLLTE diese Kinder. Und ich will sie immer noch. Ich weiß echt nicht, was mit mir los ist.“

„Du bist verliebt“, klärt sie mich auf.

„Ja, und ich hatte schon ganz vergessen, wie einnehmend das ist. Und wie anstrengend …“

„Alles okay bei euch?“

„Klar …“

„Jordan?“

„Ich kann nicht drüber reden.“

„Sieht aber so aus, als wärst du ganz schön angefressen. Vielleicht solltest du dir also überl…“

„Xander will eine Beziehung zu dritt.“

„Was?! Wie …?“

„Er hat eine Freundin. Die, die gestern hier war.“

„Diese Gaby?“

„Ja. Sie war seine High-School-Liebe. Seit einem Jahr sind sie wieder zusammen, haben eine Wohnung und so …“

„Aber ich dachte, er wollte sich … sich das Leben nehmen, weil du ihn nicht … also …“

„Stellt sich raus, dass er weder ohne mich noch ohne sie leben kann oder will oder … was weiß ich.“

„Aber das kann er doch nicht von dir verlangen! Du hast dich für ihn schließlich sogar von Dylan getrennt!“

„Er hat mich nicht drum gebeten …“

„Aber Jordan, sowas … sowas kann doch nicht funktionieren.“

„Ich muss eben dafür sorgen, dass es doch funktioniert. Sonst verliere ich ihn. Und das darf auf gar keinen Fall passieren, Ria. Das übersteh ich nicht.“

Es klingelt.

„Das ist Dylan mit den Zwillingen …“

„Ja, wir reden wann anders weiter …“

Ich versuche, die zwei Stunden mit April und Jake zu genießen, aber so viele Dinge spuken mir durch den Kopf. Ich hab gar keine Ahnung, was bei dem Termin nachher auf mich zukommt. Eine Runde Golf und dann Essen mit einem Spender. Er wird wohl irgendwelche Forderungen haben, auf die Vuza nicht wird eingehen können. Und das muss man ihm jetzt so geschickt verpacken, dass er uns nicht das Geld kürzt. Ich HASSE sowas! Ich bin nicht gut im Rumschleimen. Das ist Buttlers Spezialität.

Dementsprechend genervt bin ich auch, als ich kurz nach acht nachhause komme.

„Hey, bin wieder da!“

„Wir sind in der Küche“, trällert Ria zurück.

„Ich hoffe, es gibt Essen. Der Fraß in diesem Edelschuppen war nämlich nicht auszuh…“

Okay, zwei Dinge lassen mich in der Bewegung gefrieren, als ich durch die Tür trete:

Erstens: Xander sitzt mit Ria und den Zwillingen in der Küche. Also mein Xander.

Und zweitens: Sowohl Ria als auch er haben irgendeine grünliche Mansche im Gesicht.

„Das ist Gurken-Avocado-Maske. Die kann man essen“, grinst Xander und steht auf, um mir ein schmieriges Küsschen zu geben.

Ich lecke meine Lippen ab.

„Schmeckt ja widerlich! Was machst du eigentlich hier?“

„Ich hab dich vermisst! Was sonst? Und die Kleinen hier auch.“

„Komm bloß nicht auf die Idee, die Zwei auch zu knutschen, während du das Zeug im Gesicht hast.“

Er verdreht nur die Augen und fängt an, sich die Maske mit Kosmetiktüchern abzuwischen.

„Willst du das nicht einfach abwaschen?“, frage ich doof und werde darüber aufgeklärt, dass ich ja mal gar keine Ahnung habe und das den Fachleuten überlassen soll.

Hab ich erwähnt dass ich finde, dass Xander in letzter Zeit ziemlich mädchenhaft drauf ist?

Scheinbar hab ich schon die Maniküre verpasst, und das Augenbrauen in Form bringen auch.

„Es ist ja dermaßen praktisch, dass du eine Mitbewohnerin hast, die in einem Spa arbeitet!“, erklärt er und drückt Ria ein Küsschen auf die Wange.

„Und übermorgen gehen wir shoppen“, verkündet Ria.

„Soso. Na da haben sich ja zwei gefunden. … Gibt’s jetzt noch was zu essen?“

„In der Mikrowelle hab ich dir was aufgehoben, Großer“, zwinkert mir Ria zu.

„Danke.“

Nachdem ich gegessen habe, wollen auch die Zwillinge versorgt werden. Xander ist sowieso gut beschäftigt. Er und Ria scheinen viel Spaß zu haben. Ich freu mich auch wirklich, dass sie sich gut verstehen. Sie sind schließlich die beiden Menschen, die mir zur Zeit am nächsten stehen. Aber ein bisschen Angst hab ich schon, dass sich da eine Eigendynamik entwickelt und es bald nur noch um Make-Up und Klamotten geht …

„Hey …“

Xander ist in der Badtür aufgetaucht, als ich die Babies gerade bade.

„Hey. Na, bist du jetzt hübsch genug?“

„Ria ist toll.“

„Ja, ich weiß.“

„Ich muss langsam los.“

„Klar, Tyler wartet sicher schon auf dich …“

„Kommst du damit klar?“

„Ich gewöhn mich dran …“, lüge ich.

„Ich liebe dich, Jordan.“

„Ich dich auch.“

„Und euch zwei Nackedeie lieb ich auch. Stresst euren Vater nicht zu sehr, heute Nacht. Ich glaub, er ist müde.“

„Ja, war ein anstrengender Tag …“

„Soll ich … also ich könnte auch mal hier übernachten, wenn du willst?“

„Die nächsten zwei Wochen hast du nicht viel Spaß. Da schlafen die Zwillinge eigentlich immer bei mir.“

„Das stört mich nicht, das weißt du doch.“

„Mal sehen, was sich ergibt, hm?“

„Okay. … Na gut, dann werd ich mal …“

„Ich kann dich grad leider nicht zur Tür bringen.“

„Schon okay. Ich find den Weg. Ich hab mal hier gewohnt, weißt du?“, grinst er.

Nach dem Baden setze ich mich zum Füttern ins Wohnzimmer. Es dauert nicht lange und Ria gesellt sich zu mir.

„Xander ist anders als ich ihn mir vorgestellt habe.“

„Wieso, hattest du ihn noch nicht gegoogelt?“

„Doch, aber … ich weiß auch nicht, ich dachte, er wäre trauriger. Und männlicher. Wegen Dylan. Ich hab angenommen …“

„Die zwei könnten gegensätzlicher nicht sein, ich weiß.“

„Ich mag beide.“

„Ich auch …“

„Soll ich dir Jake abnehmen?“

„Gern.“

„Heute hast du dich wieder mehr auf die Zwillinge eingelassen, dafür hast du Xander ziemlich die kalte Schulter gezeigt.“

„Ich weiß“, schnaufe ich.

„Themawechsel?“, bietet sie an.

„Nein, ist schon okay. Ich konnte Xander nicht mal richtig küssen. Immer wenn er mir nah gekommen ist, dann musste ich mir vorstellen, was er letzte Nacht mit Tyler gemacht hat.“

„Wem?“

„Gaby meine ich. Irgendwie ist die Vorstellung … ich weiß auch nicht. Ich bin nicht nur eifersüchtig. Ich hab das Gefühl, dass er dadurch irgendwie beschmutzt wird …“

„Weil er mit jemand anderem geschlafen hat?“

„Ich weiß, das ist total hirnrissig. Dann müsste er sich vor mir in Grund und Boden ekeln. Aber es geht irgendwie um die Gleichzeitigkeit. Das fühlt sich einfach total falsch an.“

„Dann musst du ihm das sagen.“

„Nein. Damit muss ich allein klarkommen. Ich werd mich jetzt mal hinlegen …“

„Okay. Gute Nacht, ihr Drei.“

Ich habe festgestellt, dass ich mich einfach immer beschäftigt halten muss, dann ist alles gut. Und das ist mit den Zwillingen und dem Job auch nicht schwer. Den ganzen Dienstag höre und sehe ich nichts von Xander. Erst am Mittwochabend finde ich einen Haufen Tüten im Wohnzimmer und Ria und Xander in der Küche. Und Vince. Scheint eine fröhliche Runde zu sein. Hoffentlich stör ich nicht …

„Schaaaatz! Da bist du ja endlich.“

Wie er wohl Tyler nennt, frage ich mich.

„Hey …“

Ich stelle erst mal die Zwillinge und die schwere Umhängetasche ab. Xander drückt mir einen Kuss auf die Lippen:

„Wie war die Arbeit?“

„Ganz okay, aber ich bin fix und fertig. … Hey Vince.“

Er winkt mir etwas verhalten von jenseits des Küchentresens zu und widmet sich dann wieder dem blubbernden Topf.

„Ich geh erst mal duschen. Könnt ihr kurz ein Auge auf die Beiden haben?“

„Sicher, Schatz. Und wenn du wiederkommst, gibt’s Essen.“

„Cool.“

Ich MUSS Xander besser behandeln. So darf ich nicht mit ihm umgehen, das weiß ich ja, aber wenn er dann vor mir steht, kann ich nicht anders als daran denken, dass er mich nicht genug liebt. Er liebt mich nicht genug. Ich liebe ihn so sehr und er … er liebt mich einfach nicht genug. Und es gibt nichts, was ich dagegen tun könnte.

Als ich wieder runter komme, wartet schon der nächste Schock auf mich. Mir bleibt aber auch wirklich nichts erspart. Stan hechelt mir schon auf der Treppe entgegen und Dylan sitzt auf der Couch. Xander ist in der Küche und Dylan im Wohnzimmer. Oh mein Gott. Aber warum sitzt Vince neben Dylan? Warum tätschelt er meinem Mann den Rücken?

„Was …?“

Die Beiden wenden sich mir zu. Irgendwas stimmt nicht. Ich beschleunige meine Schritte, bin innerhalb von Sekunden bei der Couch.

„Was ist passiert?“, frage ich verängstigt.

Dylan steht auf, überragt mich um ein paar Zentimeter, obwohl seine Schultern irgendwie schlapp nach unten hängen. Zu sprechen kostet ihn offensichtlich Überwindung.

„Mein … mein Bruder ist tot. Sein Sohn hat mich angerufen. Sein elfjähriger Sohn …“

Seine Stimme bricht.

„Gott, Dylan …“

Ich nehme ihn in den Arm, spüre sein Zittern und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Was ist jetzt zu tun? Festhalten, sonst nichts. Doch ich merke, wie Dylan schon nach ein paar Sekunden versucht, sich zusammenzunehmen, seine Fassung wiederzufinden. Er kramt in meiner Hosentasche nach einem Taschentuch. Er selbst hat nie eines einstecken, das war schon immer so. Als er fündig geworden ist, löst er sich von mir.

„Tut mir leid, ich weiß, ich kann hier nicht einfach so auftauchen …“

„Bist du irre? Du bist hier immer willkommen, das weißt du doch.“

„Ich hätte sonst nicht gewusst, wohin …“

„Kann ich was tun?“

„Ich weiß nicht. Ich weiß ja nicht mal, was ich tun kann …“

„Wie ist er gestorben?“

„Keine Ahnung. Bobby hat gesagt, dass sein Vater heute früh einen Unfall hatte und gestorben ist. Und dass die Beerdigung am Samstag stattfindet. Ich hab meine Eltern nicht erreicht, von meinem kleinen Bruder hab ich gar keine Nummer und die von meiner Schwester stimmt scheinbar auch nicht mehr …“

„Wieso lassen die seinen Sohn so eine Nachricht überbringen?“

„Keine Ahnung. Ich weiß nicht, was mit meiner Schwägerin ist. Sie steht jetzt mit den drei Kindern und dem Geschäft alleine da. Ich weiß nicht, ob sie das alles schaffen kann. Und die armen Kinder. Bobby ist elf, Kathy zehn und der kleine Johnny Jr. dürfte erst sieben sein. In dem Alter braucht man doch einen Vater!“

„Willst du hinfahren oder so?“

„Ich hab sie seit sieben Jahren nicht mehr gesehen. Ich kann da nicht einfach so auftauchen.“

„Und wenn sie dich brauchen?“

„Meine Schwester und ihr Mann werden sich kümmern. Aber könntest du mit mir auf die Beerdigung gehen?“

„Sicher.“

„Danke. Kann ich die Zwillinge heute Nacht bitte bei mir haben?“

„Du willst schon wieder fahren?“

Sein Blick haftet kurz an der Küchentüre.

„Ja, ich muss los …“

Verdammt. Er weiß, dass Xander hier ist.

„Dylan … ich kann ihn wegschicken.“

Seine Augen flackern kurz überrascht auf. Dann schüttelt er schnell den Kopf.

„Nein, hier ist nicht mehr mein Platz. Ich will einfach nur mit meinen Kindern zu Hause sein.“

„Okay. Aber melde dich, wenn du irgendwas brauchst. Egal was.“

„Danke.“

Ich stehe einen Moment im Wohnzimmer. Wo ist mein Platz?

„Kommst du essen?“, fragt Vince, der ein Stück abseits steht.

Ich nicke und folge ihm in die Küche. Er setzt sich neben Ria und küsst sie kurz. Das lässt mir den Platz neben Xander. Er mustert mich besorgt, sagt aber nichts. Ich merke nicht mal, was ich da esse, beteilige mich automatisch am Smalltalk, erinnere mich aber in der nächsten Minute schon nicht mehr, worum es eigentlich ging. Aber ich muss den Schein wahren. Ich darf Xander auf keinen Fall merken lassen, wie es mir geht.

„Na gut, ich muss dann mal los“, meint Xander, kaum dass er aufgegessen hat.

„Wirklich, schon?“

„Ja, ich treffe mich noch mit Rico. Wir haben einiges zu klären …“

„Okay, dann komm ich noch mit zur Tür.“

Ich gebe ihm einen Kuss, wobei ich mich sehr bemühen muss, nicht die Augen zu schließen und Ty… Gaby vor mir zu sehen. Als ich in die Küche zurückkomme, haben Vince und Ria schon fast alle Spuren des Abendessens beseitigt.

„Wir werden dann auch mal losfahren. Wir schlafen heute bei mir, weil Danny morgen früh gleich kommt.“

„Oh, ach so …“

„Können wir dich allein lassen?“, fragt Ria besorgt.

„Klar. Ich werde zur Abwechslung mal die Ruhe genießen.“

„Okay. Ich hab dich lieb, mein Großer. Ruh dich gut aus und arbeite nicht zu viel morgen, ja?“

Ich verdrehe nur die Augen und lasse sie meine Wange küssen. Vince verabschiedet sich nur mit einem kurzen „Bye“. Wahrscheinlich ist er sauer, dass ich ihm nicht von Xander erzählt habe …

Ich werfe mich auf die Couch, schließe meine Augen, reiße sie sofort wieder auf, frage mich, ob ich noch was zu arbeiten habe, oder vielleicht etwas für meine Abschlussarbeit tun könnte. Nein, kein Bock. Der Fernsehschalter liegt in Griffweite. Warum nicht? Ich sehe Lokalnachrichten, dann eine Kochshow und dann irgendeine Realitysoap auf MTV.

Der Schlüssel dreht sich in der Tür. Xander 2. An den hab ich ja überhaupt nicht mehr gedacht …

„Hey. Wow, jetzt hängst DU vorm Fernseher. Bin ich in schon wieder in einem parallelen Universum gelandet, oder was?“

„Schon wieder?“

„Vergiss es. War nur ein seltsamer Tag. Ich geh duschen.“

„Mhm.“

Bis er aus dem Bad kommt, habe ich schon längst wieder vergessen, dass er da ist. Ich werfe ihm einen kurzen Blick zu. Er ist voll bekleidet.

„Gehst du noch mal weg?“

„Nein, warum?“

„Weil du dich wieder angezogen hast.“

Er schaut beschämt zu Boden und mir dämmert, warum.

„Oh, du wolltest nicht, dass … oh Mann! Als würden nur ein paar Klamotten mich davon abhalten, über dich herzufallen!“

„Ich hab keinen Bock, das noch mal breitzutreten, okay?“

„Hey, jetzt wo du schon angezogen bist, lass uns was unternehmen, ja?“

„Ehm, … was denn?“

„Rausgehen. Wird sich schon was finden. Das hier ist Venice! Oder wir fahren irgendwo hin. Komm schon, mir fällt die Decke auf den Kopf. Ich hab gesehen, dass am Strand ein kleiner Jahrmarkt aufgebaut wurde. Das wäre doch was, oder?“, frage ich, von plötzlicher Euphorie ergriffen.

„Das ist doch nur was für Kinder …“

„Komm schon, Xander“, bettle ich. „Ich kauf dir auch gebrannte Mandeln.“

„Also schön, aber nur auf einen Sprung.“

„Jajaja.“

Draußen ist es schon ziemlich dunkel. Ich liebe die vielen bunten Lichter hier. Das hat mir richtig gefehlt im Haus. Da war nachts alles so still. Hier herrscht immer Trubel, vor allem je näher man an den Strand kommt.

„Ist das da vorn ein Riesenrad?“, fragt Xander 2.

„Sieht so aus.“

„Oh Gott.“

„Was? Hast du Höhenangst?“ Sein Blick sagt alles. „Süß. Dann ist das unsere Mission heute Abend: Xander mit seinen Ängsten konfrontieren.“

„Kannst du mich bitte Alex nennen?“

„Ehm, klar. Warum?“

„Du hast gesagt, dein Freund heißt Xander.“

„Ja, stimmt.“

„Nenn mich einfach Alex, okay?“

„Okay“, zucke ich die Schultern. „Also Alex, wie wäre es mit einem Experiment?“

„Was für eines?“, fragt er zu Recht misstrauisch.

„Lass mich heute Abend dein Freund sein.“ Er will schon protestieren, aber ich lasse ihn nicht zu Wort kommen:

„Lass mich ausreden, okay? Ich will dir nicht an die Wäsche oder so. Es geht einfach nur darum, dass du siehst, dass auch zwei Männer ein ganz normales Paar sein können. Richtig schön kitschig. Lass es uns einfach mal versuchen, okay? Ich könnte die Ablenkung gerade echt gut brauchen …“

„Nur heute Abend?“

„An unserer Wohnungstürschwelle endet der Zauber.“

„Und wir machen nicht rum oder so?“

„Maximal Händchenhalten.“

„Wenn du mich in das Teil da schleppst, dann musst du echt meine Hand halten, weil ich da echt Panik davor habe.“

„Mehr als davor, meine Hand zu halten?“, frage ich grinsend.

Er drückt die Schultern durch und sieht aus wie ein Soldat, der sich zum Gefecht bereit macht. Dann nimmt er meine Hand.

„Na? Nicht so schlimm, oder?“, frage ich noch breiter grinsend.

„Abwarten. Jetzt mal mit Gehen.“

Er setzt sich in Bewegung.

„Aber schön langsam, nichts überstürzen“, lache ich.

„Klappe.“

Wir kommen langsam ins Gedrängel. Ich gehe vor und ziehe Alex hinter mir her zum Riesenrad. Seine Augen starren nach oben.

„Das überleb ich nicht.“

„Ich bin ja bei dir, Babe.“

„Ein bescheuerterer Kosename ist dir nicht eingefallen, was?“

„Hey, ich find den cool. Komm, bring es hinter dich.“

„Nein, erst will ich gebrannte Mandeln. Die wurden mir versprochen.“

„Na schön. Da drüben.“

Wir schlendern die paar Meter zu einem Süßigkeitenstand.

„Fühlt sich gar nicht mehr so fremd an …“

„Ja, man gewöhnt sich schnell dran, schwul zu sein, nicht wahr?“

„Hör auf, mich zu verarschen.“

„War nicht meine Absicht. Ich hatte mit neunzehn meinen ersten Freund. Und von einem Tag auf den anderen hat es sich total natürlich angefühlt.“

„Mit neunzehn? So wie ich?“

„Vergleichst du dich gerade mit mir?“

„Scheint so“, erklärt er, offenbar über sich selbst erschrocken. „Das war eine dumme Idee. Können wir bitte nachhause gehen?“, bittet er.

„Ohne Mandeln?“

„Die sind mir egal, Jordan. Hier geht es um mein ganzes Leben!“

„Ich weiß. Genau deshalb tu ich das ja. Ich hab zu oft dabei zugesehen, wie Männer Jahre damit verschwendet haben, gegen das anzukämpfen, was sie glücklich macht. Ich will einfach nur, dass du ein realistisches Bild davon bekommst, was du verpasst. Heute Abend kannst du dich ausprobieren. Ohne Konsequenzen. Also, bestell schon“, fordere ich ihn auf.

Die Mandeln scheinen ihm zu schmecken.

„Bekomm ich vielleicht auch mal was ab?“, beschwere ich mich.

„Hier.“

Er hält mir die Tüte hin.

„So nicht, Babe.“

„Ach komm schon, das ist ja wohl nicht dein Ernst, oder?“

Ich ziehe die Brauen nach oben und mache mit einem Blick deutlich, wie ernst es mir ist.

„Wehe du beißt mich in den Finger“, droht er und wirft eine Mandel in meinen Mund.

„Naja, das müssen wir noch üben.“

„Jordaaaaaaaaaan!“, macht er genervt.

„Komm schon. Ich beiß dich nicht. Versprochen.“

Er holt sich noch eine Nuss aus der Tüte und kommt dieses Mal vorsichtig näher. Ich öffne meine Lippen und hole mir das zuckrige Teil. Dabei berühre ich seine Finger ein wenig länger als nötig. Alex beobachtet das Geschehen ziemlich fasziniert und vergisst fast, seine Hand wieder wegzuziehen. Dann besinnt er sich doch.

„Okay, lass uns schiffschaukeln“, schlägt er vor.

„Passe. Dabei wird mir immer schlecht.“

„Dann schaukle ich eben alleine. Mit Überschlag.“

Ein paar Minuten später kommt er etwas blass um die Nase, aber stolz grinsend zu mir zurückgetaumelt.

„Hast du das gesehen? Vier Mal rum am Stück! Der Besitzer von dem Teil meinte, das hat er seit fünf Jahren nicht mehr erlebt.“

„Imposant“, gebe ich zu.

„Weißt du, was er noch gesagt hat?“

„Nein, was?“

„Dass ich einen süßen Freund habe und mich glücklich schätzen kann.“

Ich schaue mir den Kerl an. Er ist vielleicht in meinem Alter, etwas abgerissene Klamotten, ein Schausteller halt. Ich lächle ihm noch mal zu, bevor ich Alex’ Hand wieder nehme und wir uns auf die Suche nach weiteren Attraktionen machen.

Alex steht eher auf die ganzen Imponier-Sachen. Mit einem Hammer auf einen Automaten einschlagen und angezeigt bekommen, wie männlich man doch ist und so. Am Schießstand reichen seine Punkte sogar für ein kleines Stoffhäschen, das er mir verlegen überreicht.

„Danke, Babe.“

„Gerne“, knurrt er.

„Hereinspaziert, meine Herrschaften. Madame DuMont liest ihre Zukunft in den Sternen! … Ah, ein frisch verliebtes Paar! Tretet ein, tretet ein! Ich spüre, dass die Sterne euch etwas zu sagen haben!“

Die Zigeunerin fuchtelt neben mir rum. Alex scheint leicht verunsichert, als hätte er Angst vor ihren Flüchen, wenn wir nicht gehorchen.

„Na, wollen wir?“

Er zuckt die Schultern, aber beäugt das Zelt hinter der Frau schon neugierig.

„Rein mit euch! Ihr wollt doch sicher wissen, was euch das Leben bringt! Ihr seid so ein sympathisches Paar“, schleimt sie.

„Was macht das?“, frage ich skeptisch.

„Für euch acht Dollar für einen Blick in die Zukunft.“

„Na schön …“

Eine Nebelmaschine und verschiedene flackernde Scheinwerfer sorgen für mystische Stimmung. Wir werden angewiesen, uns auf die klapprigen Holzstühle zu setzen, die vor einem runden, mit samtigem Stoff überzogenen Tisch stehen. Die Wahrsagerin setzt sich uns gegenüber auf einen gepolsterten Sessel, der sie größer wirken lässt als sie ist.

„Gebt mir eure Hände.“

Beide strecken wir ihr die Rechte entgegen, aber sie will meine Linke, und sie will, dass Alex und ich Händchen halten.

„Ich sehe, dass eure Liebe noch sehr jung ist“, verkündet sie. „Aber sie ist stark. Sie wird den Herausforderungen des Lebens standhalten. Eine so starke, einheitliche Aura sehe ich nicht allzu oft. Ihr habt etwas Besonderes. Hegt eure Beziehung und lasst nichts zwischen euch treten.“

„Sagen das die Sterne?“, frage ich interessiert.

„Ein Blick durch das Teleskop kostet einen Zehner extra.“

„Lieber nicht, sonst können wir uns das Riesenrad nicht mehr leisten“, zwinkere ich Alex zu.

„Stimmt, das wäre ja fürchterlich …“

„Oh, die Sterne geben Aufschluss über …“

„Nein danke“, erkläre ich bestimmt.

„Na schön. Aber eines noch. Ich möchte gerne aus deinen Händen lesen.“ Sie deutet auf Alex. „Geht auf’s Haus.“

„Öhm, okay …“

„Warte bitte draußen“, befiehlt sie mir eher, als dass sie darum bittet.

Ich stelle mich also vor das Zelt, beobachte den Trubel und die Menschen und muss nur ein paar Minuten warten, bis Alex heraustritt.

„Na, was hat sie in deinen Händen gefunden? Reste von den gebrannten Mandeln?“

„Ja … also … ich schätze es ist langsam Zeit für’s Riesenrad.“

„Was hat sie denn nun gesagt?“; frage ich durch sein Ausweichmanöver erst recht neugierig geworden.

„Nur Geschwafel, so wie vorhin halt. Starke Liebe, intensive Aura. Blablabla.“

„Hm, achso.“

Ich glaube ihm kein Wort. Egal was sie gesagt hat, sie hat damit einen Nerv getroffen. Aber er will wohl nicht damit rausrücken. Er nimmt von selbst meine Hand und zieht mich Richtung Riesenrad.

„Das ist echt nicht gerade hoch“, versuche ich ihn zu beruhigen, während er seinen Kopf in den Nacken legt und sich wohl ausmalt, was alles passieren könnte. „Komm, es hält an.“

Ich kaufe zwei Tickets. Alex’ Hand wird feucht und kalt.

„Ich hab echt Schiss, auch wenn das total lächerlich ist, ich weiß.“

„Ich bin da. Dir passiert nichts, okay?“

Er schaut mir kurz in die Augen. Dann nickt er.

Wir bekommen eine pinke Kabine zugewiesen.

„Wie passend“, mosert Alex.

Die Sitzbank bietet gerade so genug Platz für uns beide. Den Sicherheitsbügel müssen wir selbst zuziehen, schon setzt sich das Ding wieder in Bewegung. Alex sucht nach meiner Hand und schon baumeln unsere Beine in der Luft und wir schweben drei Meter über dem Boden. Unter uns steigt wohl gerade das nächste Pärchen ein. Noch zweimal fahren wir ein Stück höher, halten an und fahren weiter. Dann wird die Geschwindigkeit erhöht und wir werden rückwärts über den Zenit des Rades und wieder nach unten befördert.

„Alles okay?“

„Ich will da nicht noch mal hoch.“

„Genieß doch einfach die Aussicht“, schlage ich vor.

„Bloß nicht! Dazu müsste ich ja die Augen aufmachen!“

„Du hast die Augen zu?! Komm schon.“ Ich lege meine Hand an sein Kinn und drehe ihn zu mir. „Schau mich an.“

Zögerlich öffnet er die Augen und starrt mich ängstlich an. Im Hintergrund läuft „Stop and Stare“ von One Republic.

„Und jetzt sieh dich um. Schau, da draußen auf dem Meer, die Lichter. Da ist ein großes Boot. Wahrscheinlich eines von diesen Partyschiffen.“

„Ich war noch nie auf einem Schiff.“

„Dann sollten wir mal zusammen auf ein Schiff gehen.“

Wir fahren schon wieder runter, mit immer höherer Geschwindigkeit.

„Das kitzelt im Magen“, kichert er.

„Aber du bist ja von den Schiffschaukeln viel härtere Sachen gewohnt.“

Es geht wieder nach oben und seine Hand krallt sich in meine.

„Wenn wir da oben stehen bleiben, sterbe ich.“ Natürlich bremst das Gefährt in diesem Moment ab und wir halten genau am höchsten Punkt an. „Oh Gott, Jordan!“

„Schon okay.“

Ich lege ihm meinen Arm um die Schultern und er drückt sich tatsächlich gegen mich, aber mit offenen Augen. Er schaut sich sogar um.

„Ja, da. Jetzt seh ich das Schiff auch. Cool, das ist ja eine richtige Lasershow.“

„Da scheint es echt voll abzugehen.“

„Es ist Zeit, meine Angst zu bezwingen. Ich werde jetzt runterschauen.“

„Ich bin bei dir, Babe“, verkünde ich in pathetischem Ton.

Er beugt sich leicht nach vorne.

„Das ist verdammt tief.“

„Keine zehn Meter“, tue ich cool.

„Ich hab keine Angst mehr. Zumindest nicht mehr diese panische Angst, die mein Hirn ausschaltet.“

„Gut, dann haben wir deine Höhenangst bezwungen.“

Wie auf Kommando dreht sich das Rad weiter, auf halber Höhe halten wir noch mal.

„Danke für deine Hilfe.“

„Kein Problem. Hat Spaß gemacht.“

Ein paar Sekunden später müssen wir aussteigen.

„Ich bin aber trotzdem froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben“, gibt Alex zu.

„Ja, ich auch. Jetzt kann ichs dir ja sagen. Ich hab auch Schiss vor Riesenrädern. Ich bin erst einmal eines gefahren, und da wäre ich fast rausgefallen.“

„Wirklich? Wie das?“

„Ich war high und ein Kumpel hat mir eingeredet, dass ich fliegen kann. Im letzten Moment hat er mich doch noch davon abgehalten, rauszuspringen. Leider etwas spät, er hat nur noch meine Beine zu fassen bekommen. Ich hing dann da eine halbe Minute, der Betreiber hat zum Glück sofort reagiert und die Fahrt gestoppt als wir nicht weit über dem Boden waren.

„Das denkst du dir doch gerade aus, oder?“

„Nein, ist echt so passiert“, versichere ich ihm.

„Wie alt warst du da?“

„Siebzehn oder achtzehn.“

„Und auf was warst du?“

„An dem Abend? Irgendwelche Pillen und ein Snowball.“

„Krass …“

„Ja …“

„Ich bin froh, dass du dieses mal nicht versucht hast, rauszuspringen.“

„Naja, man lernt dazu, mit der Zeit“, grinse ich.

„Wie alt bist du eigentlich?“

„Einunddreißig.“

„Fuck, das ist alt!“

„Dankeschön.“

„Komm, ich brauch noch was Süßes.“

Er erscheint mir ziemlich gelöst und unbeschwert. Was so eine Riesenradfahrt nicht alles ausmacht.

„Einmal pinke Zuckerwatte, bitte“, bestellt er grinsend. „Die große.“

Die Verkäuferin händigt ihm eine riesige Wolke aus künstlichen Farbstoffen aus. Ich will bezahlen, aber er erklärt, dass er mir die schenken möchte.

„Das ist mal echt süß“, grinse ich.

„Wo ist eigentlich dein Häschen?“

„Na hier.“ Ich zeige auf meinen Gürtel, an dem ich das Stofftier vor der Riesenradfahrt befestigt habe. Aber da ist nichts mehr. „Oh-oh.“

„Wann hast du es das letzte Mal gesehen?“

„Keine Ahnung … bei der Zigeunerin?“

„Naja, dann muss ich dir wohl ein neues gewinnen, was?“

„Würdest du?“

„Klar, mein Häschen“, lacht er.

Diesmal beweist er sich im Dosenwerfen und sucht mir einen faustgroßen Nemo-Fisch aus.

„Jetzt passt du aber besser drauf auf, ja?“

„Ja, Mama. Wie meinen Augapfel werde ich ihn hüten.“

Ich halte das Teil vor mein rechtes Auge und starre Alex irre an. Der lacht und gibt mir einen Klaps auf die Schulter.

„Spinner.“

Dann schaut er auf seine Uhr und sein Blick wird etwas wehmütig.

„Halb zwölf. Wir sollten langsam zurückgehen …“

„Ja, um Mitternacht verliert der Zauber ja seine Wirkung.“

„Ich dachte an der Wohnungstür?“

„Um Mitternacht an der Wohnungstür.“

„Und was passiert, wenn wir um Mitternacht nicht an der Wohnungstür sind?“

„Dann bist du auf ewig mit mir in einer Zeitschleife gefangen und musst den Abend immer und immer wieder durchleben.“

„Und täglich grüßt die rosa Zuckerwatte, was?“, grinst er und schiebt mir einen viel zu großen Fetzen davon in den Mund.

„Hmpf!“

„Iss, mein Häschen. Du kannst es vertragen.“

Wir schlendern die Strandpromenade entlang, langsam wird es ruhiger. Die Jahrmarktsmusik wird vom Küstenwind in eine andere Richtung getragen, das Rauschen der See übertönt bald auch noch die Reste. Milliarden Sterne stehen am Himmel, und hier am Strand sieht man sogar einige davon. Alex hat sich inzwischen bei mir untergehakt.

„Ist dir kalt?“

„Geht schon“, erklärt er, wie üblich darauf bedacht, keine Schwäche zu zeigen.

„Na komm her.“

Ich ziehe ihn in meinen Arm und reibe über seinen Rücken.

„Mhhhhh.“

„Besser, hm?“

„Jajaja, nicht reden, reiben.“

Als wir am Plattenladen vorbeigehen, schaut er noch mal auf die Uhr.

„Fünf vor zwölf. Komm!“

Er zerrt mich Richtung Hauseingang und die Treppe hoch.

„Wir haben noch zweieinhalb Minuten“, erklärt er auf dem Treppenabsatz und ringt nach Luft.

„Wenn deine Uhr richtig geht“, gebe ich zu bedenken.

Vor der Wohnungstür bleiben wir stehen.

„Danke für den Abend, Jordan. Ich hatte wirklich Spaß.“

„Ja, ich auch. Und wir haben jetzt vielleicht beide eine positivere Einstellung zu Riesenrädern.“

„Ja, und zu rosa Zuckerwatte.“

Er wedelt mit den Resten vor meinem Gesicht rum.

„Und wir wissen jetzt, dass unsere Auren die gleiche Farbe haben“, grinse ich.

„Ja, das …“, stammelt er verlegen.

„Also, was hat die alte Hexe noch zu dir gesagt?“

Er zögert, entschließt sich dann aber doch, es zu erzählen:

„Dass sie meine innere Zerrissenheit erkennt und dass sie auch spürt, dass du nicht so verliebt in mich bist wie ich in dich. Ich soll vorsichtig sein und mich drauf einstellen, auf die Schnauze zu fallen.“

„Ah …“, mehr fällt mir dazu nicht ein.

„Aber in ein paar Sekunden ist der Spuk ja sowieso vorbei. Dann ist wieder alles normal.“

„So normal wie vorher eben …“

„Du wolltest mich heute mit meinen Ängsten konfrontieren.“

„Stimmt.“

„Es gibt da etwas, wovor ich echt so richtig Angst habe.“

„Was denn?“

„Das …“

Er kommt langsam, aber entschlossen näher. Als erstes spüre ich seine Hand in meinem Nacken, dann seine Lippen auf meinen. Für einen Moment verharren sie da reglos, warten wohl auf ein Signal von mir. Ich drücke mich ihnen etwas entgegen und spüre, wie sie sich vorsichtig öffnen. Nur ein kleines Stück. Meine Lippen machen es ihnen nach. Ein leises Schmatzen entsteht. Nur einmal. Alex’ warmer Atem strömt an meinem Gesicht entlang und hinterlässt ein wohliges Gefühl auf der Haut. Er zieht sich zurück, nicht übereilt, sondern ruhig, zurückhaltend. Ich widerstehe dem Impuls, ihn wieder an mich zu ziehen und öffne langsam die Augen.

„Es ist Mitternacht“, flüstert er und holt seinen Schlüssel aus der Hosentasche. „Gute Nacht, Jordan.“

Damit verschwindet er in seinem Zimmer und lässt mich alleine im Flur zurück.

Am nächsten Morgen, als ich mich für die Arbeit fertigmache, ist er nicht zu sehen. Ich bin allein in der Wohnung. Das kam in letzter Zeit nicht gerade häufig vor und irgendwie bereitet es mir ein mulmiges Gefühl. Deshalb fahre ich früher los zu meinem Zehn-Uhr-Termin und frühstücke in einem Café in der Nähe, mache mir in dem Trubel Songnotizen, höre fremden Unterhaltungen zu …

„… haben wir natürlich die Möglichkeit, Termine flexibel zu gestalten. Allerdings hat die neue Staffel Vorrang. Gerade ist das erste Casting abgeschlossen. Ab nächster Woche werde ich dann mehrmals die Woche mit den Kandidaten arbeiten. … Ja, ich stelle mich auch darauf ein, Ohrenschmerzen zu bekommen. Aber bisher haben wir es immer noch geschafft, ein paar vorzeigbare Leute zu finden. Wenn das die Choreografin und mich auch viele Nerven gekostet hat.“

Der Mann spricht mit leichtem europäischem Akzent. Ich drehe mich nach ihm um. Südländisch, vermutlich italienisch. Er ist wohl so Ende dreißig, sehr fotogen, die Kamera liebt ihn bestimmt. Er trägt keinen Anzug, was man eigentlich erwarten würde, wenn man ihn so sieht und hört, sondern ein schwarzes Shirt mit Super Mario drauf.

„Gut, dann hören wir uns in ein paar Tagen. Ciao.“

Oh ja, definitiv Italiener. Er legt auf und widmet sich wieder seinem Bagel.

„Entschuldigung, darf ich?“, frage ich, auf den freien Stuhl ihm gegenüber deutend.

Er mustert mich kurz, macht dann eine einladende Handbewegung. Ich ziehe mit meinem Teller und meinem Kaffee um.

Ich strecke meine Hand über den Tisch.

„Jordan Handerson.“

„Stephano Arrio.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich hab gerade Ihr Gespräch gehört und mich gefragt, ob es sein kann, dass Sie Vocal-Coach sind.“

„In der Tat.“

„Ich glaube, ich hab Stimmtraining nötig. Meinen Sie, wir könnten mal einen Probetermin oder so was ausmachen?“

„Hm, ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber glauben Sie, dass Sie sich mich leisten können?“, fragt er charmant grinsend.

„Wenn Sie gut sind, dann ist es mir das schon wert.“

Er zieht überrascht die Brauen nach oben.

„Also schön. Erzählen Sie mir mal von sich.“

„Von mir, oder davon, warum ich glaube, Gesangsunterricht zu brauchen?“

„Ich habe eine halbe Stunde Zeit.“

„Ich zwanzig Minuten. Also schön. Ich bin Songwriter und möchte wieder damit anfangen, eigene Sachen zu produzieren. Ob alleine oder mit einer Band weiß ich noch nicht. Da ich in den letzten drei oder vier Jahren nicht mehr viel gesungen habe, fällt mir auf, dass ich nicht mehr die ganze Bandbreite hinbekomme. Seltsamerweise sind die Höhen gar kein Problem. Die krieg ich immer noch hin. Aber ich komm nicht mehr so tief runter wie früher. Und Atemübungen und so Zeug wären auch nicht verkehrt. Wenn ich mich bewege, dann zittert meine Stimme. Das war früher auch nicht so.“

„Früher?“

„Als ich noch professionell gesungen habe, mit meiner Band. Summerskin.“

„Ah! Verstehe. Na dann würde ich vorschlagen, dass wir noch ein paar Minuten nach oben gehen in meine Wohnung, damit ich mir ein Bild machen kann, wie weit Sie sind.“

„Gerne.“

Er bezahlt die Rechnung für uns beide. Scheinbar hat ihm Summerskin was gesagt, davor war er doch etwas verhalten.

Seine Wohnung liegt im dritten Stock des Gebäudes. Hohe Decken, große Fenster, Echtholzfußboden, karge, edle Einrichtung und ein Piano.

„Möchten Sie etwas trinken?“

„Nein danke. Also, womit fangen wir an?“

„Summen Sie folgende Melodie nach.“

Er spielt ein paar Töne, ich summe wie befohlen.

„Gut, dann gehen wir jetzt etwas tiefer.“

Er testet meine Grenzen aus, ganz sachte, weil ich ja nicht eingesungen bin.

„Ja, ich denke, damit können wir arbeiten.“

„Ich bin also kein hoffnungsloser Fall, wollen Sie mir sagen?“, grinse ich.

„Warten wir mal die Atemübungen ab. Mir fällt übrigens auf, dass Sie etwas krumm dastehen beim Singen. Damit behindern Sie den Luftstrom. Also bitte: Aufrichten und eine Hand auf den Bauch, hier. Atmen Sie ein. … Sehen Sie? Ihre Hand bewegt sich nicht. Sie schöpfen noch nicht Ihr volles Volumen aus. Atmen Sie noch mal ein und versuchen Sie dabei, Ihre Hand nach vorne zu drücken.“

Das mache ich.

„Sie schummeln. Sie haben einfach nur den Bauch rausgestreckt.“

Mist, durchschaut. Also nochmal. Er legt seine Hand unter meine.

„Tief, noch tiefer, und jetzt nach unten atmen, in den Bauch. Genau. So ist es richtig. Spüren Sie es?“

Ich nicke und atme aus und wieder ein. Ich spüre aber vor allem auch, dass er verdammt nah hinter mir steht. Ich drehe mich zu ihm um, müsste ihn nur noch küssen.

„Ich bin verheiratet.“

Er deutet auf seinen Ehering.

„Oh, okay“, meine ich und zeige ihm meinen Ringfinger.

„Dylan?“

„Mein Ehemann.“

„Verstehe.“

„Ja … also ich denke, dann ist das geklärt“, erkläre ich und trete einen Schritt zurück.

„Ja …“

„Also, wann können wir anfangen?“, frage ich.

„Gib mir deine Nummer. Ich melde mich die Tage.“

Ich speichere meine Mobilnummer in sein Handy und verabschiede mich, um mich mit einem Reporter zu treffen und die Interviewfragen für Vuza abzuklären.

Zur Zeit will ich echt jeden flachlegen, der mir über den Weg läuft. Solche Phasen hatte ich auch während meiner Ehe mit Dylan, aber damals hab ich nie ernsthaft darüber nachgedacht, es wirklich zu tun. Doch jetzt … ich meine, Xander und ich führen offensichtlich keine normale Beziehung. Ich hab also keine Ahnung, wie die Regeln sind. Hier rennen auch einfach viel zu viele hübsche Menschen rum. Naja, jetzt schau ich erst mal bei Dylan vorbei. Wenn er heute ins Zentrum geht, braucht er schließlich jemanden, der auf die Zwillinge aufpasst.

Im Auto klingelt mein Handy. Zum Glück hab ich ja inzwischen diese coole Freisprecheinrichtung.

„Ja?“

“Hey Schatz.“

“Ah, Xander. Hey. Ich wollte dich schon anrufen, aber es war zu viel los.“

“Schon okay. Ich wollte dir nur sagen, dass ich ein paar Tage nach Hause fliege. Ich bin nämlich Onkel geworden.“

“Wirklich? Cool, gratuliere. Neffe oder Nichte?“

“Nichte. Ihren Namen weiß ich noch nicht. Wollte Alice nicht verraten. Ich schätze, ich komme am Samstag wieder.“

“Dann halt dir den Samstagabend für mich frei, ja?“

“Wird gemacht. Ich liebe dich, Jordan.“

“Und ich dich. Komm mir heil wieder.“

„Klar doch.“

Dylan isst gerade alleine zu Mittag.

„Hey.“

“Hey, na? Gehst du heute ins Zentrum?“

“Klar, warum nicht?“

“Ich dachte nur, wegen deinem Bruder und so.“

“Ich hab immer noch niemanden aus meiner Familie erreicht. Damit muss ich wohl bis zur Beerdigung warten. Um zehn geht die übrigens schon los.“

“Okay. Soll ich dich dann abholen?“

“Ich hol dich ab. Das liegt eher auf dem Weg.“

„Okay.“

“Was ist mit dir?“, fragt er unvermittelt.

„Was meinst du?“

“Du wirkst irgendwie niedergeschlagen.“

“Ach, der Tag hat nur früh angefangen …“

Ich weiß, dass ich Dylan nichts vormachen kann. Er hat das schon immer durchschaut. Aber versuchen kann ich’s ja mal.

“Ach so“, antwortet er zu meiner Überraschung.

Sonst nichts. Ich bin fast etwas enttäuscht, dass er nicht weiter nachfragt. Ich packe die Kids ins Auto und fahre nach Hause, um dort noch ein paar Sachen zu überarbeiten.

Alex ist mal wieder nicht zu sehen und langsam dämmert mir, dass er sich bis zu seinem Auszug wohl auch nicht mehr bei mir blicken lassen wird. Das könnte ja vielleicht den Zauber zurückbringen. Der Abend auf dem Jahrmarkt ist vielleicht nicht unbedingt die klügste Idee gewesen.

Den Freitag verbringe ich in der Bibliothek, um Stoff für meine Studienabschlussarbeit zu sammeln. Inzwischen hab ich mich für ein Thema entschieden. „Lokalpolitische Maßnahmen zur Förderung von Toleranz und Akzeptanz in multikulturellen Wohnbezirken“. Weil Buttler mein Betreuer ist, läuft das alles ganz gut neben der Arbeit.

Für Samstagvormittag hab ich Ria wieder zum Babysitten verdonnert. Ich suche mir ein paar schwarze Klamotten raus und habe plötzlich die Hose in der Hand, die ich auch auf Patricks Trauerfeier getragen habe, und damit auch beim Sex in Xanders Auto. Wo wäre ich jetzt wohl, wenn ich ihn an diesem Tag nicht getroffen hätte? Dann wäre ich zum Beispiel nicht in Buttlers Kurs gelandet und hätte diesen Job nicht, sondern wäre immer noch Soap-Autor. Nein danke, heute weiß ich wenigstens, wofür ich arbeite. Und ich habe wieder einen Zugang zur Musik gefunden.

„Vince ist glaub ich eifersüchtig“, reißt Ria mich aus meinen Gedanken.

“Worauf?“

“Auf mich.“

“Ehm?“

“Darauf, dass du mir von Xander erzählt hast und ihm nicht. Und das von Gaby hast du ihm auch nicht erzählt.“

“Hast du ihm davon …“

“Nein! Natürlich nicht. Aber vielleicht solltest du das tun. Er ist schließlich dein bester Freund, oder?“

“Wir sind keine Teenies mehr, da kann man das nicht so einfach sagen.“

“Ja, danke. Jetzt kommst du mir also mit meinem Alter …“

“So war das doch gar nicht gemeint. Hör mal, ich hab grad echt keinen Bock auf Stress. Der Tag wird anstrengend genug.“

“Und heute Abend gehen wir aus?“

“Häh?“

„Xander meinte, wir sollten was zu viert unternehmen …“

“Du, ich, er und Tyler?!“

“Ehm, nein!? Du, ich, er und Vince natürlich.“

Ich atme erleichtert auf.

„Ach so. Ja, wenn ihr meint.“

“Er weiß nicht, dass ich das mit eurer Dreierbeziehung weiß.“

„Ich dachte, ihr habt vielleicht drüber gesprochen. Ihr seid doch jetzt Busenfreundinnen.“

“Deinen Sarkasmus kannst du dir bitte sonstwo hinstecken, Jordan. Wenn du ein Problem hast, dann klär das mit Xander.“

“Ich hab kein Problem“, lüge ich ziemlich überzeugend, wie ich finde.

“Klar. Was auch immer. Kommst du frühstücken?“

Kaum ist mein Teller leer, klingelt es. Dylan wirkt ziemlich blass und eingefallen.

„Willst du noch was essen?“, frage ich besorgt.

„Ich krieg grad nichts runter, aber danke.“

„Sollen wir dann schon losfahren?“

“Ja, ob wir jetzt hier rumsitzen oder in der Kirche …“

Ich verabschiede mich noch kurz von den Babies und Ria. Dann überrede ich Dylan, mich fahren zu lassen.

Die Kirche ist in seinem alten Viertel, erzählt er. Sein Bruder bekommt dort ein richtiges Grab, kein Urnenfach. Er hat kurz mit seiner Mutter telefoniert, aber nichts weiter in Erfahrung gebracht.

„Ich habe, seit ich aus dem Gefängnis gekommen bin, nur einmal kurz mit ihm telefoniert. Da hat er mir gesagt, dass ich für ihn gestorben bin.“

“Warum?“

Er lacht bitter auf.

„Warum? Weil ich ein verurteilter Straftäter bin. Darum. Er hat immer sein Saubermann-Image gepflegt. Aber in Wahrheit hat er mit geklauter Ware gehandelt. Und weil jeder darüber getuschelt hat, musste er erst recht einen auf Musterbürger machen. Die nächste musst du runter.“

„Ja, ich erinnere mich noch …“

Dylan setzt sein ‚Ich will nicht mehr reden’-Gesicht auf, also mache ich Musik an.

„Da vorne rechts. Dann siehst du die Kirche schon auf der linken Sei…“

Er stockt, denn als ich abbiege, sehen wir duzende Autos, die auf der Straße parken. Recht noble Schlitten, wenn auch nicht mehr die neusten Modelle.

„Sind die alle wegen deinem Bruder hier?“

“Scheint so.“

Die gepflegt aussehende Kirche selbst wirkt merkwürdig deplatziert in Mitten von schlecht erhaltenen, kleinen Häusern und vermüllten Straßen.

„Park einfach da vorne am Straßenrand. Und lass nichts Wertvolles im Wagen.“

Tatsächlich schleichen zwischen den geparkten Autos ein paar abgebrochene Gestalten rum, die gerade von einem Trauergast mit einer Handbewegung verscheucht werden, als wären sie lästige Tiere.

„Das ist ein Geschäftspartner meines Bruders“, erklärt Dylan und steigt aus.

Der Mann wirft ihm einen kurzen Blick zu, schaut dann weg, und dann nochmal überrascht zurück. Schon kommt er auf uns zu.

„Dylan! Ich wusste nicht, dass du kommst.“

„Natürlich komme ich zur Beerdigung meines Bruders.“

Sie reichen sich die Hand, aber können nicht ganz überspielen, dass sie nicht gerade begeistert davon sind, sich wiederzusehen. Ich mustere kurz die Kleidung des untersetzten Geschäftsmanns. Ein Anzug von der Stange, offensichtlich. Dunkelblau. Der passt so gar nicht zu seinem weltgewandten Auftreten.

„Das ist mein Mann, Jordan.“

„Hallo“, macht er kurz, ohne mir die Hand anzubieten.

„Wir gehen dann mal rüber.“

„Ist in Ordnung.“

Ist in Ordnung?! Hallo?! Als bräuchten wir seine Erlaubnis dazu!

Verdammt viele der Köpfe drehen sich, als wir durch ein schweres, quietschendes Eisentor treten. Der nicht allzu große Friedhof ist übersät mit Menschen in dunkler Kleidung. Die meisten sind so in ihren Vierzigern, viele haben Kinder dabei. Dylan geht zielstrebig auf ein kleines Häuschen zu, vor dem ein Meer aus Blumen liegt. Davor hat sich eine Schlange gebildet, in die er sich einreiht. Jetzt erkenne ich auch, dass da drin ein Sarg steht. Oh. Okay … Dylan nimmt meine Hand.

„Ist das …? Darf ich?“

Ich kann nur nicken und schwer schlucken, da ich Tränen in Dylans Augen erkenne, die er nur schwer zurückhalten kann.

„Da liegt er jetzt drin. Das war’s für ihn. Achtunddreißig Jahre, mehr hat er nicht bekommen.“

Mit dem Daumen streiche ich leicht über seinen kühlen Handrücken. Ich kann nichts sagen oder tun, das es für ihn leichter macht. Sein Bruder ist tot und jede Chance, die Dylan vielleicht noch gehabt hätte, sich mit ihm auszusöhnen, ihm zu zeigen, was für ein guter Mann aus ihm geworden ist, ist verloren. So sollte das nicht laufen. Man sollte die Dinge mit seiner Familie klären, bevor es zu spät dazu ist. Wieder denke ich an meinen Vater, wie schon auf Patricks Trauerfeier. Aber das ist was anderes. Er wird mich nie so akzeptieren können wie ich bin. Schon gar nicht jetzt, wo ich wieder mit Xander zusammen bin. Nein, das mit meinem Vater ist abgehakt.

Als wir an der Reihe sind, zieht Dylan einen Umschlag aus der Tasche und legt ihn zu den Blumen. Dann gehen wir über den knirschenden Kies rüber zu der frisch ausgehobenen Grabstelle, wo einige Klappstühle für die Familie aufgestellt worden sind und die restlichen Trauernden im Halbkreis stehen und auf den Beginn der Zeremonie warten. Wir stellen uns weit nach hinten. Ich habe das Gefühl, Dylan möchte nicht zu nah an das tiefe Loch kommen, das für seinen Bruder letzte Ruhestätte sein wird.

Zusammen mit dem Priester nehmen auch ein paar Frauen und Kinder ihren Platz direkt am Grab ein. Ich kann durch die Menschenmenge kaum etwas erkennen, aber ich glaube, ich sehe Dylans Mutter.

„Oh mein Gott, sie haben ein Baby. Meine Schwägerin hat es auf dem Arm. Stell dir vor, einem von uns würde etwas zustoßen und April und Jake …“

Er redet nicht weiter, senkt nur den Blick zum Boden.

„Mrs. Handerson, liebe Angehörige, Freunde und Kollegen …“, beginnt der Priester und erzählt irgendwas Symbolisches von plötzlich versiegenden Flüssen und warum der Tod in Gottes Plan so einen wichtigen Platz hat. Blablabla. Schönreden halt. Der Lautsprecher, der von einem jungen Mann hinter uns gehalten wird, knistert ständig und hat Aussetzer. Ziemlich unwürdig, aber niemanden scheint das zu stören. Der Lautsprecherträger - ich schätze ihn auf sechzehn oder siebzehn - versucht, irgendwelche Stecker zu überprüfen und wackelt dabei wild durch die Gegend.

„Warte. Nicht den“, versuche ich ihn leise zu warnen.

Aber zu spät, er hat den Anschluss des mobilen Akkus bereits rausgezogen, bemerkt seinen Fehler, als es still wird und steckt schnell wieder ein.

„Das war der Akku“, kläre ich ihn flüsternd auf. „Der eine Lautsprecher funktioniert ganz gut, aber der andere hat Aussetzer. Also liegt es an einem der beiden Kabel die da hoch führen. Ah, siehst du? Das ist hier schon mit Isolierband umwickelt. Das darf also auf keinen Fall knicken, darum spannen wir es. Am besten du machst hier unten eine Schlaufe … so … und steckst sie in deinen Gürtel. … Genau. Jetzt sollte es passen.“

„Danke …“

„Kein Problem.“

Der Priester lobt Jonathan Handerson gerade als großes Vorbild, das gezeigt hat, dass Erfolgsgeschichten immer noch in diesem Viertel, in dem viele der Anwesenden aufgewachsen sind, beginnen können. Dann wird ein Song des Lieblingskünstlers des Verstorbenen eingespielt: Cat Stevens´ ‚Morning has broken‘. Natürlich treibt das den meisten anwesenden Frauen die Tränen in die Augen. Danach sagt der elfjährige Sohn, Bobby, noch ein paar Worte und dann ein Geschäftspartner, der Mrs. Handerson und ihren vier Kindern verspricht, dass sie sich mit allen Sorgen an ihn und die anderen Partner wenden können.

Am Ende darf noch jeder Anwesende am Grab vorbeigehen und der Familie herzliches Beileid aussprechen. Ich möchte da jetzt nicht vorne stehen müssen und tausend Hände schütteln, während ich eigentlich am liebsten nur losheulen möchte …

„Lass uns gehen“, flüstert Dylan, was mich etwas überrascht. Ich hatte gedacht, dass er seine Familie wenigstens wissen lassen will, dass er da war.

Langsam und so leise wie möglich bahnen wir uns unseren Weg Richtung Eisentor.

„Das ist so typisch für dich! Jetzt schleichst du dich einfach davon.“

Dylan und ich fahren herum, allein schon, weil die männliche Stimme hinter uns nicht angemessen leise klingt, sondern laut und vorwurfsvoll.

„Randy? Wow, du bist …“

„Groß geworden? Tja, das passiert in sieben Jahren. Du hast dich auch verändert.“

Vor uns steht ein großer, schlaksiger Junge, naja, eher junger Mann, vermutlich so Anfang zwanzig. Seine Haare sind wie Dylans rasiert und er trägt Springerstiefel und eine hochgekrempelte, schwarze Jeans.

„Ich wollte mich nicht davonschleichen, aber ich glaube nicht, dass ich hier willkommen bin.“

„Was wolltest du dann überhaupt hier?“

„Mich von John verabschieden. Ich denke, das Recht hatte ich.“

„Du hast einen Scheißdreck! Dir ist doch scheißegal, was hier läuft. Du gehörst ja jetzt zu den oberen Zehntausend und lässt dich dabei fotografieren, wie du irgendwelche Neger ableckst!“

„Du verstehst es immer noch nicht. Das tut mir leid, aber ich kann’s nicht ändern.“

Dylan wendet sich zum Gehen und zieht mich, der ich kurz davor bin, diesem Stück braunem Dreck mal zu sagen, wo er sich seinen Mist hinstecken kann, am Ärmel mit.

„Ja genau, renn weg. Das kannst du ja am allerbesten. Wer von euch beiden Mamis gibt euren Schlitzaugenkindern eigentlich die Brust?“

Bevor ich reagieren kann, ist Dylans Hand schon am Hals dieses Wichsers.

„Wenn du noch ein Wort über meine Kinder verlierst, dann vergess ich, dass wir Brüder sind! Hast du das verstanden?!“

Das ist also Dylans jüngerer Bruder. Immer wieder ein Vergnügen, neue Verwandtschaft kennenzulernen. Einige Leute drehen sich schon nach uns um. Dylan scheint das ebenfalls zu bemerken, schubst Randy grob von sich und geht schnellen Schrittes auf das Tor zu.

„Herzukommen war ein Fehler. Ich lern wohl nie dazu“, murmelt er.

Ich muss mich echt anstrengen, mit ihm schrittzuhalten.

„Dylan! Warte.“

Dieses Mal kommt die Stimme von einer blonden Frau Mitte dreißig, die sich abmüht, mit ihren Stöckelschuhen zu uns aufzuschließen.

„Was willst du, Dora?“, fährt Dylan sie an. „Ich verschwinde doch eh schon.“

„Ich will nicht, dass du verschwindest. Bitte warte!“

Aus irgendeinem Grund werde ich langsamer und lasse sie zu mir aufschließen. Sie ist sehr hübsch, auch mit ihren verweinten Augen, die sehr freundlich erscheinen. Sie streckt mir ihre Hand entgegen.

„Hallo, ich bin Dora, Dylans große Schwester. Und du musst Jordan sein.“

„Ja, hi. Schön dich kennenzulernen, glaub ich.“

„Das glaub ich jetzt nicht! Jordan, wärst du so freundlich?!“

Er hält das Eisentor für mich auf.

„Komm schon, Dylan. Lass uns endlich wieder reden. Wir sind doch eine Familie.“

„Randy sieht das wohl anders.“

„Du warst genauso, als du in seinem Alter warst, vergiss das nicht. Lass uns rein gehen und reden, okay?“

Ich werfe ihm einen durchdringenden Blick zu, woraufhin er nur die Schultern zuckt und seiner Schwester und mir folgt.

Sie führt uns durch einen Seiteneingang in die Kirche. In einem kleinen Raum stehen Tische und Stühle. Dylan setzt sich ihr gegenüber, ich bekomme das Kopfende des Tisches und komme mir plötzlich so vor, als säße ich zwischen den Fronten.

„Habt ihr Babyfotos dabei?“, fragt sie hoffnungsvoll.

Ich will gerade meinen Geldbeutel zücken, als Dylan meint:

„Nein, leider nicht“, und mir einen leichten Tritt gegen das Schienbein versetzt.

„Verstehe …“ Ihre Hände zittern etwas und sie faltet sie verkrampft ineinander. „Es gibt da etwas, das du wissen solltest.“

„Ja?“

„Rosemarie glaubt, dass John ermordet wurde.“

„Was?!“

„Sie sagt, er hatte finanzielle Probleme. Schulden bei Lieferanten.“

„Du meinst bei Autodieben.“

„Dylan, er ist tot. Lass es gut sein.“

„Und Rosie denkt, die haben ihn umgebracht? Und wie würde ihnen das helfen, an ihr Geld zu kommen?“

„John hatte eine Lebensversicherung.“

„Ja und? Rosie wird das Geld kaum irgendwelchen Leuten geben, die behaupten, dass John Schulden bei ihnen hatte.“

„Und wenn sie sie unter Druck setzen?“

„Dann soll sie zur Polizei gehen.“

„Du weißt, dass das nicht geht, Dylan. Wenn bei den Ermittlungen rauskommt, woher John seine Autos hatte …“

„Toll, selbst Schuld. Dann hätte er sich eben nicht auf krumme Geschäfte einlassen sollen. Und Rosie kann mir nicht erzählen, dass sie davon nichts gewusst hat.“

„Sie mussten ihre Familie versorgen!“

„Das schaffen andere auch, und zwar OHNE das Gesetz zu brechen!“

„Tja, wir können uns nicht alle einen reichen Kerl anlachen, so wie du. Wir mussten uns hier durchschlagen.“

„Ihr hättet schon vor Jahren hier wegziehen sollen!“

„Das ist unsere Heimat, Dylan. Du bist hier auch nur weg, weil du keine Wahl mehr hattest.“

„Warum erzählst du mir das alles eigentlich?“

„Weil ich nicht weiß, wie die Familie das alles überstehen soll! Wir werden das Geschäft verlieren! Das Autohaus hat nicht nur Johns Kinder ernährt! Meine beiden Mädchen auch! Wovon sollen wir denn jetzt leben, wenn diese Schuldeneintreiber uns so viel nehmen, dass wir die Firma nicht am Laufen halten können?!“

„Du willst jetzt also Kohle von MIR?! Das ist ja wohl nicht dein Ernst! Sieben Jahre lang hab ich nicht ein Wort von dir gehört! Ich kenne deine Mädchen überhaupt nicht! Und jetzt soll ich für sie bezahlen?!“

„Gehörst du noch zu dieser Familie oder nicht?“

Okay, das reicht jetzt. Ich springe auf:

„Vergiss es, Dora. Du glaubst doch nicht, dass wir auch nur einen Cent in diese Firma stecken, oder? Wir haben auch zwei Babies zu Hause! Und selbst wenn das nicht so wäre, dann wärt ihr hier mit eurer Scheinheiligkeit die letzten, die Geld von mir sehen würden. Eure faulen Ausreden stinken ja wohl zum Himmel! Alle anderen sind Schuld an eurem Chaos, nur ihr nicht, hm? Dann bewegt eure Hintern endlich weg aus dieser abgebrochenen Nachbarschaft! Ihr habt ja nur Angst, dass euch dann die Ausreden für euer Versagen ausgehen! Wenn du deine Kinder liebst, dann bringst du sie hier weg, bevor sie so enden wie deine Geschwister und du!“

Dylan wirkt sehr entschlossen, als er sagt:

„Du hast meinen Mann gehört. Dem hab ich nichts mehr hinzuzufügen. Leb wohl.“

Wortlos gehen wir zum Auto, steigen ein, schließen die Türen, fahren los, biegen auf die Schnellstraße ein und verlassen damit das Viertel. Dylan starrt aus dem Seitenfenster. Es macht mich immer nervös, wenn ich sein Gesicht nicht sehen kann. Aber ich traue mich nicht, ihn anzusprechen.

Als ich vor meinem Haus geparkt habe, dreht er sich endlich zu mir. Er hat seine Stahlmiene aufgesetzt, aber seine Lippen zittern verdächtig. Ich frage, was ich schon die ganze Zeit fragen will:

„Glaubst du, dass da was dran ist? Glaubst du, dass dein Bruder wirklich … keinen Unfall hatte?“

„Wenn er wirklich dämlich genug war, bei jemandem aus dem Viertel Schulden zu machen, dann auf jeden Fall.“

„Aber kann man da denn nichts machen?“

„Heute war schon die Beerdigung. Das heißt, die Ermittlungen sind abgeschlossen, falls es überhaupt welche gegeben hat. Nein, die Sache ist gegessen. Und er hat selbst Schuld dran. Sie alle. Diese ganze Brut aus Habgier und Hass und Verbrechen und Angst. Das wird sich nie ändern und die Kinder haben gar keine richtige Chance, dem zu entkommen.“

Ich merke schon, worauf das hinausläuft und lege meine Hand auf sein Knie:

„Du kannst nicht alle retten, Dylan. Im Zentrum tust du schon genug.“

„Aber meine eigenen Nichten und Neffen und meinen kleinen Bruder soll ich im Stich lassen?“

„Die Kids im Zentrum kommen von selbst, weil sie wissen, dass es nicht in Ordnung ist, was sie machen. Dein Bruder hat nicht so gewirkt, als könnte man vernünftig mit ihm reden. Was willst du tun? Ihn einer Gehirnwäsche unterziehen?“

„Nein, aber … ich muss doch versuchen, ihn da rauszuholen, bevor er da landet, wo ich in seinem Alter war: Im Gefängnis.“

„Naja, vielleicht checkt er es auch nur auf die harte Tour, so wie du.“

Sein Blick verdüstert sich.

„Red nicht von Dingen, von denen du keine Ahnung hast. Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie es im Knast zugeht. Das wünsch ich niemandem und du solltest es auch nicht meinem Bruder wünschen.“

„Schon gut, schon gut. Na dann schick ihn doch mal auf Probe in den Knast. Da gibt es doch dieses Programm für Kids aus dem Zentrum. Und ich würde mir das auch gerne mal anschauen.“

„Bist du irre, oder was?! Da kommst du für vierundzwanzig Stunden in den ganz normalen Strafvollzug. Weißt du, was da alles passieren kann?? Das ist kein Schnuppertag! Niemals schick ich ihn da rein, und dich schon gleich dreimal nicht!“

„Jetzt komm mal wieder runter!“

„Nein! Du nimmst das nicht ernst.“

„Schon gut. Tut mir leid. Aber ich lasse auch nicht zu, dass du dieser Familie auch nur einen Cent gibst.“

„Ich bin doch nicht bescheuert! Davon würden die Kinder ja nichts haben. Ich wünschte nur, dass es eine Möglichkeit gäbe, dass ich öfter mal mit ihnen sprechen könnte. Aber das funktioniert einfach nicht. Ich muss mich endlich komplett von dieser Familie verabschieden. Aber das Problem ist, dass ich dann nur noch deine Familie habe. Und in der ist jetzt auch kein Platz mehr für mich.“

„Dylan …“

„Sorry, das war jetzt unfair. Ich will dir kein schlechtes Gewissen einreden. Es ist nur echt Angst einflößend, plötzlich wieder ganz allein dazustehen, genau wie damals nach dem Gefängnis.“

„Du hast die Babies …“

„Ja, gerade das macht mir ja Angst. Ich hab echt Schiss, dass ich sie total verkorkse, weil ich mich total auf sie fokussiere. Und ich weiß auch nicht, ob ich es ohne Familie schaffe, ihnen alles zu bieten was sie brauchen. Ich meine, wir verbringen mehr Zeit mit ihnen im Auto oder bei Terminen als zu Hause. Und sie sehen immer nur einen von uns. Weißt du noch, als Jake gerade ein paar Tage zu Hause war und nur aufgehört hat zu weinen, wenn er zwischen uns beiden lag? Vielleicht brauchen Kinder ja mehr als eine Bezugsperson. Was, wenn sie einen psychischen Knacks davontragen und mit zwanzig einen Psychiater brauchen?“

Jetzt muss ich doch lachen:

„Dylan, du übertreibst!“

„Ich weiß“, gibt er kleinlaut zu. „Aber trotzdem macht es mir Angst, allein mit ihnen zu sein.“

„Mir auch.“

„Aber du hast Xander. Mit ihm hast du auch schon Gwens erstes Jahr überstanden …“

„Schon, aber erstens ist er kaum dabei, wenn ich die Zwillinge habe und zweitens war es damals auch schon seltsam, weil ich immer versuchen wollte, ihn zu entlasten, um ihn bei Laune zu halten. Mit dir ist es anders. Du bist mein Mann, es sind unsere Kinder, wir lieben sie gleich viel … verstehst du?“

„Schon, aber … wir … ich muss hier raus.“

Er reißt die Tür auf und scheint fast aus dem Auto zu flüchten.

„Dylan? Was denn?“

„Ich bin in sowas altmodisch, okay?“

„Wovon redest du?“

„Du kannst mich nicht ständig anmachen, Jordan!“

„Hab ich dich … ? Ich …“

„Ich brauche geregelte Verhältnisse, okay? Ich bin nicht Vince oder Patrick. Solche Dreiergeschichten sind nichts für mich.“

Das kann ich natürlich gut nachvollziehen und nicke etwas hilflos.

„Jordan … ich denke … ich finde wirklich, wir sollten …“

Er stammelt vor sich hin. Oh je. Gleich bittet er mich, zurückzukommen. Innerhalb von Sekunden zieht ein Film an meinem inneren Auge vorbei. Ich habe die Wahl zwischen einem ganzen Dylan nur für mich allein, oder einem halben Xander, den ich neben seiner Musik auch noch mit Tyler teilen muss. Die Versuchung, Ja zu meinem Mann zu sagen, ist sehr groß. Wenn er mich jetzt tatsächlich bittet, es nochmal mit ihm zu versuchen und gelobt, offener zu sein … Was denke ich da eigentlich?! Ich LIEBE Xander. Ich bin verrückt nach ihm. Ich brauche ihn und ohne ihn kann ich nicht glücklich werden. Warum kann ich nicht beide haben?! Dylan atmet tief durch und schafft es endlich, einen ganzen Satz zu formulieren:

„Jordan, ich will die Scheidung.“

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