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Kartenhäuser
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Informationen
- Story: Kartenhäuser
- Autor: Ike
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama, Coming Out
Inhaltsverzeichnis
Vorwort:
Nein, das hier ist keine neue Geschichte, zumindest nicht im eigentlichen Sinne. Ich habe meine erste Geschichte "Every breath you take" vor einiger Zeit noch einmal raus gekramt, Vieles geändert und Neues hinzugefügt. Jetzt werde ich sie auch endlich weiterführen und zuende bringen können. Ich hoffe diese alte neue Story gefällt euch. Lasst es mich wissen ;)
Prolog
Nie zuvor hatte Chris jemanden getroffen, der so viel Abscheu in seinen Blick legen konnte wie der Mann am anderen Ende der Straße. Und doch kümmerte es ihn nicht. Es war ihm egal, was dieser Mann dachte oder wie starr sein Blick war. Das alles änderte nichts daran, welche Wirkung er auf Chris hatte. Und die hatte er ganz ohne Zweifel. Das erste Mal in seinem Leben fühlte er sich völlig grundlos von jemandem angezogen, den er noch nie gesehen hatte. Für einen Moment vergaß er sogar seine unsichtbaren Fesseln und ging dem Mann entgegen.
Auf halber Strecke sprach ihn unerwartet jemand an.
"Wie viel?", fragte ein älterer Herr aus dem Fenster seines Autos.
"Sorry, bin schon vergeben", antwortete Chris kühl und wandte sich ab. Er sah zu der Stelle, wo eben noch der merkwürdig faszinierende Mann gestanden hatte, doch er blickte ins Leere. Er war verschwunden. Chris lief so schnell er konnte und überging die vielen unhöflichen Kommentare von Seiten des abgewiesenen Autofahrers. Wenn Arnie wüsste, was ich hier tue. .., dachte Chris, aber etwas Anderes war jetzt wichtiger.
Er bog um die Ecke und befand sich nun auf der Hauptstraße. Um diese Zeit waren nicht mehr besonders viele Menschen unterwegs, aber er suchte ja ohnehin nur nach einem Gesicht. Und das fand er auch. Der Mann ging recht zügig die Straße entlang und Chris folgte ihm. Vielleicht konnte er rausfinden wo er wohnte und ihn zu einem anderen Zeitpunkt abfangen, um mit ihm zu reden. Die Aussicht diesem Mann gegenüber zu stehen, in seine Augen zu schauen und mit ihm zu sprechen, war so verlockend, dass es Chris auch egal war, dass er ihn ungefragt verfolgte. Vielleicht war es die Mühe auch gar nicht wert, aber er hatte da so ein Gefühl und für gewöhnlich konnte er sich auch darauf verlassen. Und eines wusste er mit Sicherheit: er musste diesen Mann kennenlernen. Um jeden Preis.
Du hast mein Leben neu gemacht,
steckst mich an mit deiner Kraft,
du machst alles so lebenswert,
ich will mich nicht dagegen wehren.
Du hast eine Kerze aufgestellt,
und bringst das Licht in meine Welt,
machst mein Leben zum Kartenhaus,
auf dir aufgebaut.
(Silbermond – Kartenhaus)*
Kinderspielchen
"Lass dich bloß nie wieder hier blicken!", hallte eine aufgebrachte Frauenstimme durch das Treppenhaus. Paul hatte sich abgewöhnt darauf zu reagieren. Seit zwei Monaten schon durfte er jeden Tag dem Streit seiner beiden Mitbewohner lauschen. Nichts Neues. Anfänglich hatte er sie noch auf den enorm erhöhten Lärmpegel aufmerksam gemacht, nun aber folgte er der Taktik das Haus zu verlassen, sobald sich die Luft verschlechterte.
Flüchtend vor Janes durchdringender Stimme stieg er nun Treppenstufe für Treppenstufe hinab, dem Lärm der Stadt entgegen. Auf halber Strecke überholte ihn Tom, der sich die Hände über die Ohren hielt.
"Wie willst du es denn dieses Mal wieder gutmachen?", fragte Paul.
"Ich weiß ja nicht einmal, was ich überhaupt verbrochen habe. Wie soll ich mich dann entschuldigen?"
"Gar nicht."
"Eben. Also bis später!"
Wenige Augenblicke später hörte Paul das Knarren der Haustür im Erdgeschoss und erinnerte sich an den Tag, an dem er selber von seiner Freundin vor die Tür gesetzt worden war. Lisa. Damals hatte sie sich auch ohne ersichtlichen Grund von ihm getrennt. Bedauert hatte Paul es allerdings nicht besonders. Sie war nie wirklich seine Freundin, nie die eine Person in seinem Leben. Eigentlich war sie immer nur eine Freundin. Das, wonach sich Paul sehnte, war tiefgründiger, emotionaler und einfach etwas für die Seele. Etwas, das er mit seinen 25 Jahren höchstens ein paar Mal aus der Ferne beobachten durfte. Für die Mehrheit der Menschen mag ein verliebtes Pärchen wie jedes andere aussehen, aber für Paul war Liebe nicht gleich Liebe. Freundschaftliche Liebe, schön und gut, aber nichts für die Ewigkeit. Ein One-Night-Stand? Das war Liebe am untersten Ende der Skala, wenn man dabei überhaupt noch von Liebe sprechen konnte.
Gedankenverloren schlenderte er eine Weile durch die hell erleuchteten Straßen der Innenstadt. Wie immer ging er in dem Wirrwarr des Großstadttrubels unter und wie immer war er froh darüber. Er war nicht gut im Umgang mit Menschen. Vor allem nicht mit Menschen, die er nicht kannte. Meistens zog er es vor, allein zu sein, um nicht in langweilige Gespräche verwickelt zu werden. Nicht, dass er sich nach besonders geistreichen Gesprächen sehnte, nein. Aber die meisten Leute, denen er begegnet war, waren zu sehr mit ihren eigenen größeren oder kleineren Problemen beschäftigt, um sich auf eine ausgeglichene Unterhaltung einzulassen. Es hatte einfach zu wenige Menschen gegeben, die seine Aufmerksamkeit erregt hatten und letztendlich hatte er es aufgegeben, danach zu suchen. Es schien ihm fast, als hätte ihm die Welt nicht mehr zu bieten, als den tristen Alltag, in dem er lebte.
In den Geschäften war die allgemeine Feierabendhektik ausgebrochen, als Paul beschloss seinen Streifzug zu beenden. Ob Tom schon wieder zu Hause ist? , fragte er sich, während er in eine schmale Seitenstraße einbog, die zum größten Teil von grellen Neonlichtern beleuchtet wurde. Paul sah sich um. In dieser Straße war er vorher nie gewesen und hatte auch eigentlich nicht die Absicht sie an diesem Tag zu besichtigen. Mit den Leuten, die hier am Straßenrand standen und ihre Körper verkauften, konnte er nichts anfangen. Prostitution war etwas, das weit außerhalb seines Vorstellungsbereichs lag und keinerlei Gemeinsamkeiten mit seiner Ansicht von Liebe hatte.
Kopfschüttelnd drehte er sich um und folgte erneut der Hauptstraße; der Straße der normalen Menschen. Wenn er aufmerksamer gewesen wäre, hätte er gesehen, dass die Seitenstraße laufend von "normalen" Menschen betreten und von Prostituierten verlassen wurde. Wahrscheinlich wäre ihm auch der Junge aufgefallen, der nur wenige Augenblicke nach ihm die Seitenstraße verlassen hatte und nun unmittelbar hinter ihm lief. Aber so zog alles an ihm vorbei.
Als er die Tür zu seiner Wohnung aufschloss, war es still. Entweder war Tom noch nicht zurückgekommen oder Jane hatte sich beruhigt und Tom, was auch immer, verziehen. Eigentlich egal, dachte Paul. Solange es ruhig war, würde er sich nicht beklagen. Dann konnte er sich noch ein wenig Ruhe und Erholung gönnen. Am nächsten Tag musste er schließlich wieder zur Arbeit, nachdem er zwei einsame Urlaubswochen hinter sich hatte.
Pauls Schützlinge waren am folgenden Morgen sichtlich begeistert, als sich ihr Pfleger näherte und obendrein noch das Frühstück mitbrachte. Die kleinen, sonst so scheuen Totenkopfäffchen des städtischen Zoos kamen von allen Seiten des Geheges auf ihn zugelaufen und klammerten sich verbissen an jeden Stofffetzen, den sie ergattern konnten, bis sie etwas Essbares in den Händen hielten. Die übrigen Bewohner des Affenhauses waren nicht weniger stürmisch. Aber das war für Paul ja nichts Neues. Genau genommen war es das einzig Aufregende in seinem tristen Leben. Die munteren Äffchen waren genau das Gegenteil von ihm. Warum sich also über ihr Benehmen beschweren? Das war nun mal ihre Natur.
Mit leicht zerzausten Haaren verließ Paul den Zoo gegen Mittag, um sich ein wenig Kleingeld für sein Mittagessen aus seinem Auto zu holen und wurde auch prompt von seinem Rückspiegel auf seine ruinierte Frisur aufmerksam gemacht. Während er noch damit beschäftigt war die Holzspäne aus seinen Haaren zu entfernen, sprach ihn unerwartet jemand an.
"Keine Sorge. Siehst wieder prima aus."
Paul fuhr erschrocken herum und sah in das Gesicht eines Jungen, der gerade dabei war sich eine Zigarette anzuzünden. Es war derselbe Junge, der ihm am Tag zuvor gefolgt war, doch nun deutete nichts darauf hin, mit welcher Art von Arbeit er sein Geld verdiente. Keine auffällige Kleidung und auch sein Gesicht wirkte wie das eines normalen Menschen. Paul erholte sich schnell von seinem Schreck, als er sah, mit wem er es zu tun hatte. In dieser Stadt konnte man ja nie wissen. Etwas verärgert über diese plumpe Bemerkung, erwiderte er die freche Art seines Gegenübers.
"Was machst du hier? Musst du nicht in der Schule sein?"
"Ich gehe schon seit Jahren nicht mehr zur Schule. Sonst noch eine Frage? Wenn nicht, möchte ich gerne weitergehen."
"Was sollte ich dich fragen wollen?"
"Sag duŽs mir."
Irritiert sah Paul den Jungen an, der an diesem Spielchen offensichtlich Gefallen fand. Er zog, ohne auf ein Grinsen zu verzichten, an seiner Zigarette und blies den weißen Rauch kurz darauf wieder aus. Sein aufgesetzter Gesichtsausdruck verriet weder etwas über seine Persönlichkeit, noch darüber, was er über Paul dachte. Er war sicher noch ein Kind und doch sprach aus seinen Augen und seiner Haltung eine gewisse Erfahrung. Jede Bewegung schien bestens überdacht und auf die Handlungen seines Gegenübers abgestimmt zu sein. Für Paul sah es aus wie ein Schutzmechanismus. Je selbstbewusster sich der Junge gab, desto unsicherer wirkte er.
"Ich muss jetzt wieder zur Arbeit", sagte Paul nach einer kurzen Pause.
"Ja ja, schon gut, ich gehe. Viel Spaß noch mit den Affen und pass auf deine Haare auf." Er ließ seine Zigarette fallen, trat sie mit dem Fuß aus und ging an Paul vorbei auf die angrenzende Hauptstraße zu. Der laute Stadtverkehr war auch im Zoo immer zu hören. Nirgendwo in dieser Stadt schien es ein ruhiges Plätzchen zu geben. Alles war von Hektik und Stress bestimmt und doch hatte Paul den Lärm während des vergangenen Gespräches vergessen.
Der Junge entfernte sich Schritt für Schritt und Paul ertappte sich dabei wie er ihm nachsah. Schnell wandte er den Blick ab und ging auf das große steinerne Zooportal zu. Den Lärm des Straßenverkehrs in den Ohren und den Geruch von Abgas in der Nase.
Ein merkwürdiger Typ, dachte er. Woher wusste er überhaupt von den Affen? Den Zoo hat er sicher nicht betreten und ich habe es ihm gegenüber auch nicht erwähnt. Verwirrt betrat Paul das Zoogelände, zeigte dem Pförtner seinen Ausweis und schlenderte weiter in Richtung Affenhaus. Wenn er einmal hier war, würde er sicher auch ein zweites Mal auftauchen und dann hatte Paul noch ein paar Fragen. Dieser Junge hatte ihn auf eine sehr ungewöhnliche Art und Weise fasziniert.
Der nächste Tag begann wie jeder andere auch. Paul stand auf, machte sich fertig für die Arbeit, frühstückte und fuhr mit dem Auto zum Zoo. Erst als er auf dem Parkplatz angekommen war, bemerkte er den Unterschied. Er blickte sich suchend um, doch weit und breit war nichts zu sehen. Nichts und niemand. Paul versuchte die Enttäuschung darüber zu unterdrücken, war aber nicht sehr erfolgreich. Erst als die Mittagspause zu Ende ging und nichts Ungewöhnliches passiert war, schimpfte er innerlich mit sich selber und nahm sich vor nicht mehr an den Jungen zu denken. Er war doch nichts Besonderes. Selbst, wenn er wieder auftauchen sollte, würde Paul ihm keine Aufmerksamkeit schenken.
Doch was auch immer ihn zum Zoo getrieben hatte, es schien nun nicht mehr wichtig zu sein. Er kam nämlich nicht wieder. Paul hatte sich jeden Tag auf dem Parkplatz umgesehen und trotz seines Vorsatzes gehofft die rauchige Stimme zu hören, doch da waren nur die Zoobesucher, die sich aufgeregt unterhielten.
Was sollŽs, dachte er. Er ist auch nur ein normaler Junge, der mit mir seine Spielchen spielen wollte. Nichts Besonderes.
"Ich gehe einkaufen", rief Paul Tom zu, bevor er die Wohnungstür hinter sich zuzog. Ein seltsames Gefühl die Wohnung zu verlassen, obwohl es ruhig war. Umso besser, dann musste er sich nicht lange fernhalten und konnte nur kurz etwas Essbares besorgen. Das Lebensmittelgeschäft seines Vertrauens lag allerdings trotzdem einen kleinen Fußmarsch entfernt, auf dem ihm noch nie etwas Ungewöhnliches aufgefallen war. Nicht so an diesem Tag.
Unmittelbar nachdem er das Haus verlassen hatte, kam ihm ein sehr auffällig gekleideter Mann gefolgt von einer Gruppe Jugendlicher entgegen. Auffällig gekleidet war eigentlich noch stark untertrieben. Die sieben Personen waren mehr nackt als bekleidet. Und das bei diesen nachwinterlichen Temperaturen. Paul sah ihnen fassungslos nach. Ein männlicher Prostituierter war ihm bisher noch nicht begegnet, geschweige denn eine ganze Gruppe. Die Premiere erlebte er nun direkt vor seiner eigenen Haustür, die nicht einmal in der Nähe der Neonstraße, wie er sie nannte, lag. Was machen die hier? , fragte er sich. Auf den Anblick hätte er gut und gerne verzichten können und doch konnte er seinen Blick nicht abwenden. Wie konnte man sich in diesem jungen Alter nur schon auf so etwas einlassen? Wurden sie womöglich dazu gezwungen? Fröhlich und unbeschwert wirkte jedenfalls keiner von denen. Sie kicherten zwar und winkten Paul spaßeshalber zu, aber als sich der ältere Mann zu ihnen umdrehte, wurde es schnell still.
Paul starrte die Gruppe voller Entsetzen an. Wie diese Jungen lebten, wollte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Er fand nicht einmal Worte dafür.
Die Gruppe zog vorbei und Paul widmete sich ebenfalls wieder seinem ursprünglichen Vorhaben. Er blendete das soeben Gesehene einfach aus und würde nicht weiter darüber nachdenken. Für ihn gab es keinen Grund sich mit den Problemen anderer zu beschäftigen, schon gar nicht, wenn diese Probleme so weit außerhalb des akzeptablen Bereiches lagen. Ein letzter Blick zurück und der Einkauf, der noch nicht einmal begonnen hatte, konnte fortgesetzt werden.
Lustlos und vollkommen durchnässt vom Regen, der ganz unerwartet eingesetzt hatte, trottete Paul die Straße entlang, sah manchmal in ein Schaufenster und ärgerte sich über die Autofahrer, die ohne jede Rücksicht in rasantem Tempo durch sämtliche Pfützen fuhren und die Fußgänger zusätzlich mit Wasser bedeckten, wenn sie nicht rechtzeitig zur Seite sprangen.
Schließlich erreichte er fröstelnd das Lebensmittelgeschäft und schwor sich das nächste Mal mit dem Auto zu fahren. Natürlich nicht auf die Art der Raudis, denen er teilweise seine aufgeweichten Jeans zu verdanken hatte. Gab es denn keine anständigen Menschen mehr in dieser Stadt? In der letzten Zeit schon mal nicht. Wo wohl auf einmal all diese merkwürdigen Leute ausgebrochen waren?, fragte er sich. Stricher, Raudis, freche und vor allem frühreife Jungs, die Tierpfleger auf Parkplätzen belagern, und der Rest, der Paul glücklicherweise noch nicht über den Weg gelaufen war. Aber genug davon.
Noch einmal tief einatmen und dann hinein in den Feierabendtrubel einer Großstadt beim Wochenendeinkauf. Zwei Liter Milch, Obst, Käse, Brot und ein paar Leckereien für zwischendurch in den Wagen geladen und schnell zur Kasse, an der der nächste Schock in Person eines Jungen lauerte und Paul schon von Weitem angrinste.
"Hey, heute ohne Auto unterwegs?"
"Wie du siehst." Paul war zu sehr über sein plötzliches Auftauchen entsetzt, als dass er ihn hätte ignorieren können. Offensichtlich war es kein guter Tag für ihn.
"GibŽs zu, du hast mich schon vermisst, oder?", fragte der Junge mit seiner üblich frechen Art.
"Ja, absolut. Ich konnte überhaupt nicht schlafen und hab mich ständig nach dir umgesehen." Einfach mitspielen und dann so schnell wie nur möglich nach Hause, dachte Paul.
"Ja, das hab ich gesehen."
"Was hast du gesehen?", fragte Paul gelangweilt.
"Dass du dich nach mir umgesehen hast." Als er Pauls fragenden Gesichtsausdruck sah, fügte er hinzu: "Auf dem Parkplatz vor dem Zoo. Jeden Tag."
Dieser Junge war eindeutig unheimlich. Unheimlich, aber dennoch hatte er etwas Faszinierendes. Paul versuchte nicht daran zu denken. Besser er blieb ruhig und ließ sich nichts anmerken.
"Okay, Kleiner. Was willst du von mir?"
"Ich von dir? Was willst DU von MIR?"
"Du schleichst mir doch offensichtlich nach!" Paul war sprachlos und lud seinen Einkauf so schnell es ging auf das Laufband der Kasse.
"Ich habe mir hier nur Zigaretten gekauft. Sag mir doch mal woher ich wissen sollte, dass du in diesem Moment hier einkaufen wolltest."
"Woher wusstest du denn, dass ich im Affenhaus arbeite? Ich hab es dir nicht gesagt."
"Ich hatte mal was mit dem Pförtner. Der hat mich umsonst reingelassen und ich hab dich bei den Affen gesehen. Zufrieden?"
Das warŽs! Der Tag war endgültig ruiniert. Paul wollte nur noch weg. Er drückte der Kassiererin fünfzehn Euro in die Hand, nahm seine Einkaufstasche und stürmte aus dem Geschäft.
"Ihr Wechselgeld!", rief ihm die verwirrte Frau nach.
"Ich nehme es für ihn mit, danke", sagte der Junge und folgte Paul, der allerdings schon außer Sichtweite war. Genau genommen hatte er sich in den nächsten Hauseingang gesetzt und hoffte, dass ihn eine gewisse Person nicht entdecken würde. Er hatte Glück. Der Junge ging zielstrebig an ihm vorbei. Paul wartete noch kurz, dann machte er sich auf den Rückweg.
Wie hatte er diesen Plagegeist nur faszinierend finden können? Es war nun wirklich nichts Tolles an ihm, eher ein Menge Abschreckendes. Angefangen bei seinem ständigen, unpassendem Auftauchen, seiner frechen Art, seinen Blicken, die alles zu durchbohren schienen, bis hin zu dieser Neigung, über die Paul nicht mal genauer nachdenken wollte. Das war doch alles nicht normal. Der ganze Junge war so sonderbar, dass man ihm einfach aus dem Weg gehen musste. Paul wollte jedenfalls nichts mit ihm zu tun haben. Er hatte viel zu viel Angst vor den ganzen neuen, abnormalen Dingen, die dadurch in sein Leben treten könnten.
In seinen Gedanken versunken, betrat er die Wohnung und verstaute die Einkäufe. Dieses Gesicht bekam er einfach nicht aus seinem Kopf.
"Hey Paul."
"Hallo Jane."
"Hast du an den Joghurt gedacht?"
"Ja, natürlich."
"Oh super. Ach ja", fügte sie stirnrunzelnd hinzu, "eben hat jemand hier angerufen, aber sofort wieder aufgelegt. Hast du einen Anruf erwartet?"
Pauls Gesicht wurde weiß. "Nein."
"Komisch. Vielleicht hat sich ja auch nur jemand verwählt."
"Kann sein."
"Sag mal, hast du in letzter Zeit eigentlich mal wieder was von deiner Ex gehört?"
Diese unerwartete Frage ließ die Horror-Visionen für einen Moment aus Paul Gedanken verschwinden. Er sah Jane verwirrt an und fragte sich wie sie ausgerechnet jetzt auf dieses Thema kam.
"Nein, warum?"
"Na ja, Tom und ich haben uns nur gewundert, dass du seit ein paar Tagen so still und irgendwie unruhig bist. Wir dachten es könnte etwas damit zu tun haben."
"Nein, es ist nichts."
"Na gut, aber wenn etwas sein sollte…" Sie warf Paul einen bedeutsamen Blick zu.
"Ja, ich weiß."
"Danke für den Joghurt."
Nachdem sie in ihrem Zimmer verschwunden war, ging Paul ins Wohnzimmer und ließ sich dort auf die Couch fallen.
"Ich glaub das alles nicht", seufzte er.
Der nächste Morgen und die ihm vorausgegangene Nacht waren furchtbar. Paul wurde von einer Menge schlafraubender Gedanken geplagt, die ihn einfach nicht losließen. Besonders fiese Vorstellungen machten sich in seinem Kopf breit, als er den Zoo betrat und dem Pförtner seinen Ausweis zeigen musste. Etwas derart Verwerfliches hätte Paul nicht von ihm erwartet und so wurde der arme Mann mit einer finsteren Mine, statt des üblichen Lächelns begrüßt.
Immer noch in Gedanken begann Paul mit der Arbeit. Einfach unglaublich, was ihm dieser kleine Rotzlöffel gestern erzählt hatte. Es war ihm nicht einmal peinlich gewesen, so etwas in der Öffentlichkeit zuzugeben. Zu den Affen sollte man ihn stecken, die würden sicher prima miteinander auskommen. Der Entwicklungsstand schien ja ungefähr auf derselben Stufe zu liegen.
Doch irgendwann gingen sogar Paul die Beleidigungen aus und die Empörung verebbte. Immerhin hatte er einen Tag und eine Nacht Zeit gehabt, sich mit dem abzufinden, was der Junge ihm erzählt hatte. Und nun kam doch wieder die Neugierde zum Vorschein. Der Junge hatte so vieles an sich, das Paul immer weit von sich geschoben hatte, doch genau diese Tatsache schien ihn jetzt anzuziehen. Selbstverständlich war es ihm egal, ob er den Jungen jemals wiedersehen würde, aber... Nein. Er wollte ihn nicht wiedersehen. Wer konnte schon sagen, was dann passieren würde? Am Ende hatte es der Kleine auch noch auf ihn abgesehen. Das Risiko wollte Paul nicht eingehen. Es war schon schlimm genug, dass der Junge seinen Arbeitsplatz kannte und ihn scheinbar ständig verfolgte. Vielleicht war er ihm sogar bis nach Hause gefolgt. Paul hörte schon die rauchige Stimme hinter seiner Haustür: "Paul, lass mich rein."
Wie gut, dass ihm niemand diesen Gefallen tun würde. Beängstigend welchen Einfluss der Junge auf sein Leben genommen hatte. Ein Kind. Lächerlich! Aber es war so, zumindest so lange Paul mitspielte. Und das würde nun ein Ende nehmen. Er wollte sein ruhiges, normales Leben zurück und darin war kein Platz für einen offensichtlich gestörten Teenager. Also zurück ins Leben, zurück an die Arbeit. Nach der Mittagspause natürlich.
Paul ging zum Ausgang, direkt auf das Pförtnerhäuschen zu, klopfte leicht an die Scheibe und bedeutete dem Mann dahinter mit einem freundlichen Lächeln, dass er kurz zu seinem Auto ging. Verwirrt lächelte dieser zurück und wandte sich, sobald Paul außer Sichtweite war, seiner Zeitung zu.
Paul war inzwischen bei seinem Wagen angekommen. Er hatte sich zwar kurz umgesehen, aber ansonsten nicht weiter darauf geachtet wer auf dem Parkplatz unterwegs war. Sogar sein kleines, nerviges Anhängsel sollte seit gestern bemerkt haben, dass Paul nicht besonders viel Wert auf seine Anwesenheit legte.
"Hey, Paul! Heute schon so früh Hunger?"
Es war nicht nötig sich umzudrehen. Die Stimme würde Paul mittlerweile aus Tausenden heraushören.
"Woher weißt du meinen Namen?"
"Ach, na ja, den hat mir dein Kumpel am Empfang verraten. Merkwürdiger Typ, oder?"
"Allerdings, wenn er was mit dir zu tun hat." Das kann doch nicht wahr sein. Pauls gute Laune verpuffte so schnell wie ein Spritzer Wasser auf einer heißen Herdplatte.
"Du hast doch auch was mit mir zu tun, also..."
"Nein!" Paul drehte sich um und sah sein Gegenüber jetzt genervt an. "Ich habe nichts mit dir zu tun und das wird sich auch nicht ändern, verstanden?"
"Ist ja gut. Ich wollte dir nur dein Wechselgeld von gestern vorbei bringen."
"Was?"
"Dein Wechselgeld."
"Das hab ich schon verstanden."
"Du bist auch ein merkwürdiger Typ, weißt du das? Ich habe der Kassiererin gesagt, dass ich es dir gebe, also gebe ich es dir auch. Wo liegt dein Problem?"
"Es steht direkt vor mir. Ich mag es nicht, wenn mir jemand hinterher schleicht."
"Ich schleiche dir überhaupt nicht hinterher", sagte der Junge fassungslos. So ein komplizierter Mensch war ihm vorher noch nie begegnet.
"Nein, natürlich nicht. Du bist immer rein zufällig hier beim Zoo, wenn ich meine Mittagspause mache. Und was sollte dieser Anruf?"
"Was denn für ein Anruf?"
"Ja, was für ein Anruf?"
"Ach, vergiss es einfach! Hier hast du dein Geld! So einen Schwachsinn muss ich mir nicht anhören." Der Junge entfernte sich ein paar Schritte, dann drehte er sich noch einmal um. "Auch wenn es dich nicht interessiert, mein Name ist Chris, nicht Kleiner." Mit den Worten verließ er den Parkplatz. Zurück ließ er einen verwirrten und stark verunsicherten Paul, der wie in Trance seinen Wagen abschloss und zurück zum Zoo trottete. Den Pförtner, der sich vor ein paar Minuten noch über Pauls zurückgekehrte gute Laune gefreut hatte und ihn nun höflich anlächelte, beachtete er nicht einen Moment. Der arme Mann saß in seinem kleinen Häuschen, in der einen Hand die Zeitung, die andere noch zum Gruß erhoben und verstand die Welt nicht mehr.
Menschen ändern sich
Es klingelte. Paul ging zur Tür, öffnete und wollte sie am liebsten sofort wieder zuschlagen. Eine breit grinsende und offensichtlich sehr gut gelaunte Lisa stand vor ihm.
"Was willst du denn hier?", fragte Paul genervt und sah sich schon selbst, wie er am späten Abend eine ganze Schachtel Aspirin schluckte.
"Ich wollte dich sehen."
Auch das noch. Einen besseren Zeitpunkt hätte sie sich nicht aussuchen können, um ihr schlechtes Gewissen loszuwerden. Wie lange hatte er sie nicht gesehen? Etwas über ein Jahr? Hätte Jane doch bloß nicht von ihr gesprochen. Vielleicht wäre sie dann nicht aufgetaucht?
Ganz offensichtlich wollte jemand Paul einen Streich spielen und das ausgerechnet, als er glaubte sein Leben würde von nun an ruhiger verlaufen. Er konnte sich tatsächlich nicht erinnern eine längere Zeit ein ausgeglichenes, sorgloses und vor allem glückliches Leben geführt zu haben. Seit er das Haus seiner Eltern verlassen hatte, wurde er von irgendjemandem oder irgendetwas verfolgt, angefangen mit dem Ärger um das Testament seines Großvaters, Georg, das eine Art Verkupplungsversuch dargestellt hatte. Die beiden Personen, um die es dabei ging, waren Paul und Lisa. Lisa war ausgewählt worden, da sie die Enkelin einer sehr alten Bekannten war, nämlich Georgs erster großer Liebe. Natürlich war es eindeutig gewesen, dass die beiden Enkelkinder zusammen gehörten und auch Paul war anfangs völlig überwältigt von diesen bedeutenden Worten wie Liebe, Schicksal und Familie. Er hatte sich in die Rolle des vorbildlichen Enkels und Familienerben gefügt, ohne auf seine inneren Gefühle zu achten, die ihm damals schon gesagt hatten, dass er den falschen Weg einschlug.
Aus Lisa und ihm wurde ein Paar, die gesamte Familie war glücklich und von dem Punkt an ging alles schief. Es gab häufig Streit, der durch den Umzug in eine gemeinsame Wohnung nicht gerade reduziert wurde und daher unausweichlich auf eine Trennung hinauslief. Eine Trennung, die zwar notwendig war, der aber trotzdem die Ursache gefehlt hatte. Sicher gab es viele Gründe, die dafür sprachen, aber der letzte Funken, der Lisa zu diesem endgültigen Schritt veranlasst hatte, hielt sich bis heute vor Paul versteckt. Scheinbar grundlos, stand Paul auf einmal ohne Wohnung und Freundin da. Doch das Schlimmste an der Situation war der anschließende Bruch mit seiner Familie, da er in ihren Augen gegen den letzten Willen seines Großvaters verstoßen hatte.
Völlig verwirrt und unsicher hatte sich Paul auf die Suche nach einer Unterkunft begeben und war schließlich Tom begegnet, der ihm ein Zimmer in seiner Wohnung angeboten hatte. Damals waren Tom und Jane noch nicht zusammen. Paul wäre in dem Fall wahrscheinlich auch sofort wieder ausgezogen.
Es folgten ein paar mehr oder weniger ruhige Monate, in denen er den Job als Tierpfleger annahm und Tom scheinbar jeden zweiten Tag eine neue Freundin in die WG einlud. Seit der Trennung von Lisa reagierte Paul etwas allergisch auf Liebespaare, die sich wenige Tage vergnügten, um sich anschließend nach einem neuen Partner umzusehen. Ganz tief in ihm steckten noch immer seine alten Vorstellungen von Liebe, die ihm seine Familie gelehrt hatte, und die ihn damals schon sehnsüchtig gemacht hatten, als er sich die Geschichten seines Großvaters anhörte. An das Schicksal glaubte er nicht mehr, aber an das Gefühl der Geborgenheit und inneren Ruhe, wenn man die wahre Liebe gefunden hatte.
Tom war es scheinbar gelungen, denn er lud eine bestimmte Frau immer und immer wieder ein, bis sie schließlich als drittes Mitglied in die WG einzog. Doch es verlief ähnlich wie bei Paul und Lisa. Die Streitereien häuften sich und Paul sah Tom schon auf der Straße nach einer anderen Wohngelegenheit suchen. Falsch gedacht! Auf jeden Streit folgte eine Versöhnung und auf jede Versöhnung der nächste Streit. Ein einfaches Prinzip, aber leider äußerst nervtötend für einen dritten Mitbewohner, der ohnehin nicht gut auf diese Art von Beziehung reagierte.
Und nun? Es gab kaum noch Streit, die Wohnung war angenehm ruhig und wo war der Haken? Den gab es natürlich auch. Genau genommen hörte er auf den Namen Chris und stellte sich als größere Plage heraus, als die, die Tom und Jane oder Lisa jemals gewesen waren. Verfolgt von einem Kind! Von einem schwulen Teenager! Paul konnte es immer noch nicht glauben, aber immerhin schien sich dieses Problem in Luft aufgelöst zu haben. Dafür stand aber auch schon das nächste vor der Tür. Im wahrsten Sinne des Wortes! Es hatte sogar geklingelt und wollte scheinbar nicht so schnell wieder verschwinden.
"Wie wärŽs mit einem 'Komm doch rein‘ und 'Schön dich zu sehen‘?", fragte Lisa.
"Soll ich etwa lügen?", entgegnete Paul mit einem gespielt bestürzten Gesichtsausdruck.
"Sehr witzig!"
"Dein 'Ich wollte dich sehen‘ war aber auch nicht schlecht."
Ohne noch ein Wort zu verlieren, drängte sich Lisa an Paul vorbei in die Wohnung.
"Was soll das denn werden? Willst du mich jetzt auch noch aus dieser Wohnung vertreiben? Ich hab genug Stress, also: Was willst du hier?"
"Das hab ich doch schon gesagt."
"Das glaube ich dir aber nicht."
"Es ist aber so."
Vielleicht war diese Frau doch eine noch größere Plage als Chris. Immerhin schien er sich endgültig aus Pauls Leben geschlichen zu haben, im Gegensatz zu Lisa, die es gerade erst wieder betreten hatte. Und zwar mit Pauken und Trompeten und allem drum und dran.
"Ich habe mit deiner Mutter gesprochen", sagte Lisa, während sie sich auf dem Sofa im Wohnzimmer niederließ.
"Ach, mit dir spricht sie und mir geht sie aus dem Weg. Bin ich etwa der Einzige, der gegen Großvaters letzten Willen verstoßen hat? Du hast dich immerhin von mir getrennt."
"Eigentlich wollte sie auch nicht mit mir sprechen, aber ich hab es doch irgendwie geschafft."
"Ja", schnaufte Paul. "Ich kenne dich! Du bekommst immer, was du willst."
"Du wolltest mich nicht einmal zur Tür reinlassen."
"Ja, warum wohl? Denk mal drüber nach."
"Ich weiß, was du von mir denkst, Paul."
"Ach ja? Dann weißt du ja auch, dass ich nie verstanden habe, warum du dich von mir getrennt hast, oder?"
Lisas Anwesenheit wurde immer unerträglicher. Die Richtung, in die das Gespräch lief, gefiel Paul nicht. Lisa kam ihm so verändert vor. Sicher, sie hatten sich lange nicht gesehen, aber irgendetwas war dennoch anders. Es sah sogar so aus, als wollte sie ihn tatsächlich nur wiedersehen. Aber warum?
"Ja, das weiß ich, aber wenn du es nach der langen Zeit noch nicht herausgefunden hast, werde ich es dir auch jetzt nicht sagen. Es liegt an dir. Ich würde dir keinen Gefallen tun, wenn ich es dir sage. Wahrscheinlich würdest du es mir ohnehin nicht glauben und mich nachher noch mehr hassen."
"Geh jetzt bitte, Lisa", sagte Paul mit zittriger Stimme. Das Ganze gefiel ihm nicht.
"Paul..."
"Bitte."
Lisa stand auf und ging tatsächlich. Vor der Tür drehte sie sich ein letztes Mal um und es schien als wollte sie etwas sagen. Ihre Lippen bewegten sich, aber Paul hörte nichts. Dann öffnete sie die Tür, trat in den Hausflur und schloss die Tür hinter sich. Paul blieb regungslos sitzen und starrte auf seine noch immer verkrampften Finger. Was war das denn jetzt schon wieder? Woher sollte er wissen, warum sie sich getrennt hatte? Warum konnte sie es ihm nicht einfach sagen? Er stand auf und lief einige Schritte durch das Zimmer. Konnte es sein, dass doch er schuld an der Trennung war? Lisas Worte schwirrten durch seinen Kopf und stießen auf alte, vergrabene Erinnerungen. Ob die bei der Beantwortung einiger Fragen behilflich sein würden? Paul erinnerte sich kaum an die Zeit, bevor die Streitereien begonnen hatten. Lisa war ihm als die Frau in Erinnerung geblieben, die ihn auf die Straße gesetzt und nicht einmal einen Grund dafür genannt hatte. Das sollte er schließlich alleine herausfinden. In welchen Film war er nur geraten?
Dumpfes Murmeln und das Klacken des Türschlosses brachten Paul zurück in die Gegenwart.
"Hey Paul, hattest du Besuch? Wir sind gerade fast mit einer Frau auf der Treppe zusammengestoßen, die deinen Namen gemurmelt hat."
"Ja, das war Lisa."
"Die Lisa, die dich vor die Tür gesetzt hat?"
"Genau die."
"Lief nicht so gut?"
"Doch bestens", zischte Paul sarkastisch. "Ich gehe ins Bett."
"Ins Bett? Es ist neun Uhr und morgen ist Wochenende."
"Umso besser, dann kann ich ja lange schlafen. Gute Nacht!"
Wochenende. Ein schönes Wort. Wenn er es doch nur genießen könnte.
Lange schlafen? Schön wärŽs! Die halbe Nacht hatte er sich den Kopf zerbrochen und als er endlich Schlaf fand, fingen die Vögel vor seinem Fenster bereits lauthals zu zwitschern an. Warum war Lisa gerade jetzt zu ihm gekommen? Hätten sie dieses Gespräch nicht schon vor einem Jahr führen können? Vielleicht hätte Paul sie nicht wegschicken sollen. Vielleicht hätte er noch ein paar Antworten bekommen, wenn sie geblieben wäre. Hätte, hätte... Das half ihm auch kein Stück weiter.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, war sein Kopf für eine ganz kurze Zeit frei von diesen quälenden Ereignissen, die ihn in letzter Zeit massenweise heimsuchten. Er schlug die Augen auf, blinzelte in die grelle Sonne, drehte sich zur Zimmertür und .... zog sich die Bettdecke wieder über den Kopf.
"Das gibtŽs doch nicht! Was willst du?", nuschelte es aus dem Stoffhaufen.
"Ich möchte gerne mit dir reden."
Ich aber nicht mit dir, dachte Paul, wunderte sich aber über die förmliche Ausdrucksweise.
"Das hier ist mein Schlafzimmer, in dem du sicher nichts zu suchen hast. Also, zisch ab!"
"Da ist aber jemand morgenmuffelig, Herr Flemming." Chris schloss die Tür hinter sich und setzte sich neben Pauls Bett auf den Fußboden.
"Du bist ja immer noch da." Konnte es noch schlimmer kommen? Eindeutig nicht! Immerhin besuchte ihn gerade sein schwuler Stalker in seinem Schlafzimmer.
"Ich muss mit dir reden, Paul. Ich weiß, dass du mich nicht leiden kannst, aber es ist wichtig."
Warum wollte eigentlich jeder mir ihm reden? Hatte jemand eine Anzeige in die Zeitung gesetzt: Wenden Sie sich an Paul Flemming!? Und überhaupt: wer hatte diesen Bengel zur Tür reingelassen?
"Also gut", seufzte Paul, schlug die Bettdecke ein wenig zurück und lehnte sich an das Kopfende seines Bettes. "Worum gehtŽs?"
"Um mich."
"Ach was!"
"Ich wollte dich fragen, ob ich eine Weile bei dir wohnen könnte."
"Sehr witzig, echt. Jetzt sag schon, was du willst."
Chris antwortete nicht, er sah Paul nur an. Sein Blick war ernst. Etwas zu ernst für diesen sonst so quirligen Jungen. Paul wurde ganz mulmig, als er in seine starren Augen sah, in denen er keine Anzeichen eines Scherzes entdecken konnte.
"Du meinst das doch nicht ernst, oder?"
"Doch."
"Und warum, wenn ich fragen darf?"
"Ich bin weggelaufen."
Na super! Ein ausgebüchster Teenager!
"Ich wusste nicht, wohin ich gehen soll", sagte Chris und starrte nun auf den Boden.
"Und weil wir uns so gut verstehen, dachtest du, dass du gleich bei mir einziehen kannst."
Wieder sagte Chris nichts. Paul war verwirrt. Bei ihrem letzten Zusammentreffen hatte er den Eindruck gehabt, dass er Chris beleidigt hatte, aber offensichtlich war der Ärger darüber schnell verflogen. Oder er hatte tatsächlich niemanden, bei dem er wohnen konnte und Paul war seine letzte Chance.
Und was sollte er jetzt tun? Er konnte doch niemanden bei sich wohnen lassen, der jeden Augenblick über ihn herfallen könnte. Wer weiß, wozu der Kleine noch fähig war. Wo sollte er überhaupt schlafen? In Pauls Bett? Das konnte er sich abschminken! Und das Essen? Das würde auch auf Paul sitzen bleiben. Der Junge war doch kein Stück selbständig. Geld hatte er bestimmt auch keines. Wie stellte er sich das nur vor?
"Wie stellst du dir das denn vor? Wo willst du schlafen? Was willst du essen? Du hast ja nicht einmal frische Kleidung."
"Ich hab ein bisschen Geld. Nicht viel, aber es sollte für die erste Zeit reichen."
"Ja sicher!" Paul verdrehte die Augen. "Und das Geld hast du woher? Geklaut?"
Chris sah ihn überrascht an. "Ich stehle nicht. Und außerdem dachte ich, du wüsstest wie ich mein Geld verdiene und kannst mich deshalb nicht leiden."
"Woher sollte ich wissen, wie du an Geld kommst?"
"Ich dachte du hättest mich gesehen. An dem Abend, bevor wir uns das erste Mal auf dem Parkplatz getroffen haben."
"Und wo sollte..." Langsam verstand Paul worauf Chris hinaus wollte. Aber das konnte nicht sein. Chris war einer von denen? Nicht auch noch das! Deshalb diese merkwürdige Ausstrahlung, diese freche, aber zugleich unsichere Art. Er war einer von denen. Paul konnte es nicht fassen. Aber gleichzeitig löste dieses Wissen in seinem Kopf noch etwas Anderes aus. Er war gar nicht so sehr angeekelt wie er vermutet hätte. Es war ganz merkwürdig, aber auf einmal erinnerte sich Paul wieder an seinen ersten Eindruck von Chris. An seine Bewegungen und sein Verhalten, das auf Paul so hilfesuchend gewirkt hatte. Vielleicht war das ja auch schon alles, was es zu sehen gab. Vielleicht war er einfach nur auf diese Fassade des selbstbewussten Jungen reingefallen und hatte nicht mehr auf den Menschen an sich geachtet. Hatte Chris ihn die ganze Zeit nur um Hilfe bitten wollen?
"Du wusstest es nicht?" Chris` Stimme war kaum zu hören, so leise sprach er.
Paul schüttelte nur abwesend den Kopf.
"Oh."
Eine Weile sagte keiner der beiden etwas. Sie saßen nur still da und dachten nach, bis Chris auf einmal aufstand und zur Tür ging.
"Wo willst du hin?", fragte Paul und wusste selber nicht warum.
"Weg. Ich weiß, wann ich unerwünscht bin und das ist ja offensichtlich der Fall."
"Und warum bist du dann erst gekommen?"
"Weil ich dachte, dass deine Meinung von mir sowieso nicht schlechter werden kann, selbst wenn ich dich um so etwas Verrücktes bitte. Aber wie ich sehe, lag ich völlig daneben. Du mochtest mich noch nicht mal, bevor du wusstest, was ich bin. Ich möchte gar nicht erst wissen, was du jetzt von mir denkst."
"Wie alt bist du?"
"Was hat das denn damit zu tun?"
"Eine ganze Menge. Also?"
"Achtzehn."
"Und wie lange machst du das schon?"
"Etwa zwei Jahre."
Paul schüttelte den Kopf. Ein Kind, das sein Geld als Stricher verdiente. Unglaublich! Wer hat sich so was bloß ausgedacht?!
"Was sagen denn deine Eltern dazu?"
"Die können nicht viel dazu sagen. Sie sind bei einem Unfall gestorben, als ich fünfzehn war."
"Das tut mir Leid ..."
"Was soll das Ganze, Paul? Es interessiert dich doch sowieso nicht! Für dich bin ich doch nur pervers und dreckig, oder nicht? Was macht es für einen Unterschied wie alt ich war? Stricher bleibt Stricher. Erzähl mir nicht, dass du es auf einmal akzeptierst. Das glaub ich dir nicht!"
Chris stand noch immer vor der Tür, doch er war lange nicht mehr so ruhig, wie noch vor wenigen Minuten. Jedes Wort von ihm klang für Paul wie ein Schmerzensschrei und ein Hilferuf, der jahrelang überhört wurde. Wahrscheinlich wusste Chris nicht einmal selber, was ihm diese zwei Jahre angetan hatten, wer er geworden war. Und doch schien er bemerkt zu haben, dass es ihn zerstörte und war geflohen. Paul sah ihn an. Er war so anders als die anderen in der Neonstraße. Er hatte sich nicht von seiner Menschlichkeit und Scham getrennt. Man sah ihm deutlich an, dass er sich schämte, auch wenn er es mit lauter Stimme und wilder Gestik zu verstecken versuchte. Vielleicht hatte Paul ihm deswegen nichts angesehen.
'Das glaub ich dir nicht!‘ Chris` Worte schwirrten durch Pauls Kopf. Er hatte Recht, aber irgendwie auch nicht.
"Es stimmt. Ich kann mit dieser Lebensweise nicht umgehen und normal finde ich es auch nicht, aber.... ach, ich weiß auch nicht. Du bist irgendwie anders."
"Ach, und was macht mich zu etwas anderem? Nur weil ich noch minderjährig war, heißt das nicht, dass ich nicht dasselbe gemacht habe wie die Erwachsenen. Was glaubst du wie viele Kinder dort arbeiten! Darauf ist doch das ganze Geschäft aufgebaut!"
"Aber du bist nicht mehr da. Du hast verstanden, was es bedeutet seinen Körper zu verkaufen. Oder warum bist du sonst von dort weggelaufen? Du hast bemerkt, dass es das Falsche war und das unterscheidet dich von den Anderen. Du kannst mir glauben, dass du nicht in meinem Schlafzimmer sitzen würdest, wenn ich dich mit denen gleichsetzen würde."
"Na toll! Zuerst kannst du mich auf den Tod nicht ausstehen und jetzt? Was soll das werden? Du kannst doch nicht ständig deine Meinung ändern." Chris` Stimme klang schon ruhiger. Er ließ sich vor der Tür auf den Boden fallen und stützte seinen Kopf mit den Händen ab. "Ich werde aus dir nicht schlau, Paul."
"Ich auch nicht", gab dieser wahrheitsgemäß zurück. "Ich schlage vor, wir einigen uns auf einen Waffenstillstand."
"Und dann?"
"Dann legen wir die Regeln fest."
"Ich darf bleiben?" Etwas skeptisch, als wollte er dem Frieden nicht trauen, schielte Chris zu Paul hinüber.
"Aber nur probeweise. Wenn du irgendetwas Komisches machen solltest, vor allem mit mir, kannst du wieder gehen, klar? Oh Gott, ich glaube ich bereue es jetzt schon", murmelte er und warf sich die Bettdecke wieder über den Kopf. Wahrscheinlich hatte er einfach zu wenig Schlaf bekommen und über Nacht den Großteil seines Verstandes eingebüßt.
"Hey!", schimpfte er, als sich Chris zu ihm aufŽs Bett geworfen hatte, um ihn stürmisch zu umarmen. "Das zählt auch zu 'etwas Komischem‘."
"Danke, danke, danke", sagte Chris nur und gab Paul zu allem Überfluss auch noch einen Kuss auf die Wange.
"Und das erst recht!"
"Sorry", sagte er grinsend.
"Das kann ja was werden!", seufzte Paul und schlug die Bettdecke zurück.
"Wer war eigentlich der Kerl, der mir die Tür aufgemacht hat?", fragte Chris scheinbar nebenbei.
"Ach, das war Tom. Er wohnt mit seiner Freundin, Jane, hier."
"Ach so. Ich dachte..."
Ein Blick von Paul und Chris war still. "Denk so was nicht einmal, ok?"
"Ja, klar."
"Na gut, dann suchen wir dir jetzt einen Schlafplatz und etwas, das du anziehen kannst."
"Etwas von dir?"
"Chris!"
"Ist ja gut! Tut mir Leid."
Am Nachmittag verließ Chris die Wohnung noch einmal, um ein paar Sachen abzuholen. Er meinte, dass er jemanden gebeten hatte, einen Rucksack mit dem Wichtigsten zu packen und aus der Bar, in der er gearbeitet hatte, zu schmuggeln. Er selber konnte sich da unmöglich noch mal blicken lassen. Das wäre zu gefährlich, weil sicher alle nach ihm suchten. Paul wurde ganz komisch, als er all das hörte. Er hatte mit dieser Szene noch nie etwas zu tun gehabt und kannte sich da auch überhaupt nicht aus. Was Chris erzählte, klang so ernst. Dass das die Realität sein sollte, war für Paul unvorstellbar. Man kennt diese Geschichten sonst nur aus dem Fernsehen oder aus der Zeitung. Und nun war er unmittelbar davon betroffen. In gewisser Weise geriet er sogar selber in Gefahr, da er jemandem Unterschlupf bot, der sich einfach aus dem Staub gemacht hatte. Bekanntermaßen wurde das nicht sehr gerne gesehen. Darüber hatte er überhaupt nicht nachgedacht. Eigentlich hatte er an überhaupt nichts gedacht, als er Chris erlaubt hatte zu bleiben. Außer dass er diesem Jungen helfen musste, war ihm nichts weiter in den Sinn gekommen. Sehr naiv. Aber jetzt war es zu spät. Er konnte Chris nicht vor die Tür setzen. Was würde dann aus ihm werden? Paul wollte sich auf keinen Fall die Schuld dafür geben müssen, wenn Chris etwas zustieß.
Nach zwei Stunden kam Chris zurück. Ohne Rucksack. Er hatte genauso viel bei sich wie am Nachmittag und sah ein wenig verängstigt aus.
"Was ist?", fragte Paul. "Wo sind deine Sachen?"
"Er ist nicht gekommen."
"Der Typ, der dir den Rucksack bringen sollte?"
Chris nickte. "Was sie wohl mit ihm gemacht haben? Wenn ihm was passiert ist, bin ich schuld."
"Das kannst du nicht wissen. Vielleicht ist er einfach nicht weg gekommen. Sie müssen ihn doch nicht gleich erwischt haben."
Paul war nervös. In einer solchen Situation war er bisher noch nie gewesen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Trösten und Beruhigen waren nicht gerade seine Stärken.
"Geh doch erst mal duschen. Dir ist bestimmt kalt vom langen Warten."
"Danke", sagte Chris leise und verschwand im Bad.
Paul suchte inzwischen einen Schlafanzug, Bettwäsche und ein Laken aus seinem Schrank. Was hatte er sich da nur eingebrockt? Wie konnte er sich nur so einen Haufen an Problemen ans Bein binden? Einen Ausreißer bei sich aufzunehmen, ohne gründlich darüber nachzudenken, war wirklich verrückt. Aber wer hätte ihm sonst geholfen? Es war richtig, sagte sich Paul. Viel besser fühlte er sich trotzdem nicht.
Wenig später kam Chris aus dem Bad. Er sah immer noch ziemlich angespannt aus. Seine Haare waren noch nass und seinen zierlichen Körper verbarg nur ein dünnes Handtuch. Als er an Paul vorbei ging, fiel diesem zum ersten Mal das kleine Tattoo auf, das Chris im Nacken trug. Es war eine Sonne.
"Musst du hier so rumlaufen?", fragte Paul. Unsicherheit machte sich breit.
"Entschuldigung."
"Hier." Paul hielt ihm eine Shorts und den Schlafanzug hin. "Zieh den an. Müsste warm genug sein."
Chris nahm die Sachen und ging wieder ins Bad. Paul wunderte sich über sein Verhalten. Er war gar nicht frech, aber auch nicht so unbeschwert und fröhlich wie sonst. Er war so unsicher, fast schüchtern und vor allem wirkte er traurig. War wirklich der Chris wieder zurückgekommen, der die Wohnung am Nachmittag verlassen hatte?
"Du hättest uns ruhig fragen können", maulte Tom am nächsten Morgen. "Ich hab mich fast zu Tode erschreckt, als der Kerl heute Morgen immer noch da war. Wer ist das eigentlich und warum schläft er auf unserem Sofa?"
Natürlich hatte Chris nicht in Pauls Bett geschlafen und auch nicht in seinem Zimmer. Die einzige Möglichkeit war also die Couch im Wohnzimmer.
"Er ist... tut mir Leid, aber das kann ich dir nicht sagen. Er muss eine Weile hier bleiben, er hat sonst niemanden."
"Ja, ist gut, aber frag uns das nächste Mal, ok?"
"Natürlich." Als ob es ein nächstes Mal geben würde.
"Aber warum schläft er hier und nicht auf dem Sofa in deinem Zimmer?"
"Das... äh..." Paul schoss sofort das Blut in den Kopf und eine geeignete Ausrede fiel ihm auch nicht ein.
"Paul schnarcht so laut. Ich bin gestern Abend noch ins Wohnzimmer umgezogen." Chris grinste ihn frech von der Seite an. Er war wieder ganz der Alte. "Das muss dir nicht peinlich sein, Paul."
"Haha, sehr witzig! Komm jetzt, wir suchen dir etwas zum Anziehen raus."
"Aber ich dachte..."
"Willst du den ganzen Tag im Schlafanzug rumlaufen?"
"Nein, aber...."
"Na, also."
"Ich dachte du willst nicht, dass ich etwas von dir anziehe."
"Stimmt, aber versuch mal am Sonntag etwas in der Stadt zu kaufen."
"Ich beschwer mich ja gar nicht. Ich würde gerne deine Sachen anziehen."
Paul seufzte nur kurz und öffnete die Tür seines Kleiderschranks. "Hier, das könnte dir passen und jetzt ab ins Bad."
"Ok", sagte Chris und tat wie ihm geheißen.
"Und hör auf an meinen Sachen zu schnüffeln!"
"Und wenn nicht?"
"Dann nehme ich sie dir wieder weg und du musst nackig rumlaufen."
"Wenn du das willst...", lachte Chris.
Der Kerl bringt mich um! , dachte Paul und stapfte in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten. Kurze Zeit später hörte er das Plätschern der Dusche. Wie lange Chris wohl bleiben würde? Er hatte keine Familie, keine Wohnung und kein Geld, oder zumindest nicht besonders viel. Wie wollte er weiter leben, wenn er nicht mehr bei Paul wohnte? Gab es überhaupt eine Möglichkeit für ihn ein normales Leben zu führen? So weit Paul wusste, hatte er nicht einmal einen vernünftigen Schulabschluss. Wie stellte er sich das vor?
Die Kaffeemaschine röchelte im Hintergrund, während Paul seinen Gedanken nachhing.
"Hey, vom Grübeln bekommt man Falten."
Chris hatte sich unbemerkt zu Paul an den Tisch gesetzt und lächelte ihn fröhlich an. Wahrscheinlich hat er noch gar nicht darüber nachgedacht, dachte Paul.
"Kein Kommentar zu deinen Klamotten?"
"Doch, steht dir gut." Sie standen ihm mehr als gut. Paul ertappte sich dabei wie er Chris musterte und ihn... attraktiv fand. Schnell wandte er sich der Kaffeemaschine zu, die gerade einen letzten Seufzer von sich gegeben hatte, und füllte zwei Tassen mit der dampfenden Flüssigkeit.
"Wir müssen aber trotzdem etwas Eigenes für dich besorgen, oder was meinst du?"
"Sehe ich so schlimm in deinen Sachen aus, oder findest du es immer noch ekelig, wenn ich etwas von dir trage?"
"Ich habe nie gesagt, dass ich es ekelig finde und noch mal zum Mitschreiben: Es steht dir wirklich gut, ok? Ich habe nur nicht genug Kleidung für zwei in meinem Schrank."
"Na gut. Aber wir müssen günstig einkaufen, sonst habe ich bald kein Geld mehr."
"Sicher."
"Und was machen wir heute?", fragte Chris und trank einen Schluck heißen Kaffee.
"Keine Ahnung, schlag was vor."
"Wir machen es uns hier gemütlich. Ich möchte nicht rausgehen, falls... du weißt schon."
"Ja, klar. Also etwas Leckeres kochen und fernsehen, oder wie?"
"Genau. Natürlich nur, wenn es dir nichts ausmacht."
"Wenn mir was nichts ausmacht?"
"Dass ich mich in deinem Schlafzimmer aufhalte. Da steht doch immerhin der Fernseher, oder?"
"Vorausgesetzt du rückst mir nicht auf die Pelle."
"Was denkst du eigentlich von mir? Außerdem bist du gar nicht mein Typ."
"Dann kann ich ja beruhigt sein", sagte Paul kühl, und trotzdem schwirrte Chris` letzter Satz laut und klar durch seine Gedanken. Irgendetwas hatte er in Paul ausgelöst. Es fühlte sich merkwürdig an. So ungewohnt. Sein Herzschlag pochte ihm in den Ohren. Es war ein ähnliches Gefühle wie Aufregung, Nervosität oder Angst.
"Was ist denn jetzt schon wieder?", fragte Chris verwirrt.
"Nichts, ich geh jetzt duschen. Kannst du die Sachen zurück in den Kühlschrank stellen?"
"Sicher, aber...."
Paul ging, ohne die Fragezeichen in Chris` Augen zu beachten ins Bad und schloss die Tür. Sobald er allein war, fühlte er sich wohler. Einfach, weil er unbeobachtet war. Hier musste er nichts verbergen und nicht darauf achten, ob sein Gesicht zu viel preisgab. Er atmete einmal tief durch und stieg dann in die Dusche. Er wusste ja nicht einmal selber, was es in seinem Gesicht zu sehen gab und warum. Seine Gefühle waren ihm selber so fremd geworden, dass er es nicht riskieren wollte, sie vor Chris offen auszubreiten. Womöglich würde er sie falsch interpretieren.
Alles, was Paul wusste, war, dass sich auf einmal alles veränderte. Wo war denn bloß der alte Paul geblieben mit seinem normalen Leben? Er konnte sich nicht erklären wie sich alles so schnell und so unbemerkt verändert haben konnte. Jetzt war es schon so weit gekommen, dass er sich in seiner Wohnung in seinem eigenen Badezimmer verstecken musste. Und alles nur wegen eines einziges Satzes von Chris. Das kam ihm so absurd vor und es machte ihm Angst, dass nichts mehr sicher zu sein schien. Und noch weniger Sinn machte seine Reaktion. Ob er Chris gefiel oder nicht konnte ihm doch egal sein, das war es auch. Aber warum hatte sein Körper so reagiert? Völlig übertrieben.
Das Wasser lief warm und beruhigend über Pauls Körper. Mit jeder Sekunde, die verging, fühlte er sich wieder mehr wie er selber. Das merkwürdige Pochen war verschwunden, aber er hatte immer noch ein komisches Gefühl im Bauch. Er fragte sich, ob es alles vielleicht nur etwas damit zu hatte, dass Chris ständig in seiner Nähe war. Noch vor wenigen Tagen hätte ihn allein die Vorstellung schon abgeschreckt, mit so jemandem zusammen wohnen zu müssen, aber jetzt musste er irgendwie damit klarkommen. Vielleicht hatte er sich ungewollt eingebildet, dass sie eine viel engere Bindung zueinander haben, weil er Chris unbedingt helfen wollte. Das war bisher noch nie vorgekommen und könnte doch diese merkwürdigen Gefühle ausgelöst haben.
Als Paul das Gefühl hatte, dass er genug Wasser verschwendet hatte, drehte er den Hahn ab und stieg aus der Dusche. Er war voll und ganz zufrieden mit seiner Erklärung, beschloss allerdings, Chris so weit wie es möglich war, aus dem Weg zu gehen. Er musste es schließlich nicht darauf ankommen lassen, dass sein Verstand ihm wieder Streiche spielen konnte. Wie er das beim gemeinsamen Fernsehen anstellen wollte, wusste er zwar noch nicht, aber er würde ja während des Kochens genügend Zeit zum Nachdenken haben.
*
Silbermond – Kartenhaus
Geschrieben und getextet von: Stefanie Kloß, Thomas Stolle, Andreas Nowak und Johannes Stolle
Verlag: Valicon Songs/EMI Songs und Silbermond Musikverlag/Copyright Control
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