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Manu und ich

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Die Welt ist so verdammt ungerecht. Ich könnte kotzen! Das fällt mir gerade mal wieder auf, weil ich kurz davor stehe, einen meiner Depressionsschübe zu bekommen. Seit einer gefühlten Ewigkeit rase ich durch die Wohnung und suche nach einem Armband. Natürlich finde ich es nicht und bin einem Nervenzusammenbruch sehr nahe. Das Armband war von einem meiner Ex-Freunde und bedeutet mir sehr viel. Nur anscheinend habe ich Dussel es irgendwo verloren. Ich weiß noch, dass ich es mir letzte Woche nach dem Squashspielen wieder umgebunden habe, aber jetzt ist es weg. Seit wann es fehlt, keine Ahnung. Das ist ja das Blöde. Ich habe nicht einmal gemerkt, dass es nicht mehr da war. So eine Scheiße!

Langsam schieben sich zwei Hände von hinten über meine Schultern und wandern über meinen Oberkörper. Warmer Atem streift meinen Nacken und wenn ich nicht so verflucht schlecht gelaunt gewesen wäre, hätte ich es genossen.

„Lass das“, raune ich stattdessen, schnappe mir meinen Kaffee und verschwinde ins Wohnzimmer.

„Was ist denn mit dir los?“, fragt Benni und setzt sich neben mich aufs Sofa.

„Ich habe mein Armband verloren.“

„Das von Patrick?“

„Ja“, maule ich und schalte den Fernseher an. Es kommt eigentlich nichts, was mich interessieren würde, aber das ist jetzt auch schon egal.

„Und das ist so schlimm, dass du dich von mir nicht anfassen lässt?“

„Ich kann nicht schlecht gelaunt sein und gleichzeitig mit dir kuscheln oder Sonstiges tun.“

„Dann vergiss deine schlechte Laune doch einfach.“

„Nö.“

„Was? Willst du dich lieber noch ein bisschen drin suhlen?“, fragt er bockig.

„Um ehrlich zu sein, ja. Ich weiß, dass du Patrick nicht ausstehen kannst und wahrscheinlich passt es dir ganz gut in den Kram, dass das Armband weg ist, aber mir war es sehr wichtig.“

„Ich finde, du solltest den Kerl endlich vergessen.“

„War ja klar, dass du das so siehst“, sage ich gereizt und stapfe ins Bad.

„Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, du bist jetzt mit mir zusammen. Zumindest dachte ich das.“

„Das ist mir aufgefallen. Vielen Dank für dein Vertrauen.“ Ich stecke mir die Zahnbürste in den Mund und fange an zu schrubben. Ich hasse Zähneputzen. Genauso wie ich es hasse mich mit Benni zu streiten. Besonders über dieses Thema. Er ist eigentlich gar nicht eifersüchtig, nur wenn es um Patrick geht. Aus irgendeinem Grund reagiert er auf ihn total allergisch. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich bei Benni ausgeheult habe, als Patrick Schluss gemacht hat. Ich war am Boden zerstört, weil es so plötzlich gekommen war und Benni war der Erste, dem ich es erzählte. Wir hatten uns erst kurz vorher kennengelernt und wussten nicht viel mehr voneinander als unsere Vornamen, aber er war eben zufällig da, als ich jemanden zum Reden brauchte.

Mir wird jetzt noch schlecht, wenn ich an diesen Tag denke. Vielleicht merkt Benni das auch. Trotzdem sollte er mich besser kennen. Ich laufe doch nicht jemandem hinterher, der mich wie einen abgelaufenen Joghurt weggeworfen hat.

„Tut mir leid, Manu“, sagt er uns schmust sich an meinen Rücken. „Aber den Kerl hab ich gefressen.“

Mit großen Augen sieht er mich durch den Spiegel an. Bei dem Blick bin ich sogar versucht meine schlechte Laune zu vergessen und beschließe, dass ich genug Mundhygiene betrieben habe. Benni grinst und streichelt währenddessen meinen Bauch.

„Was wird das denn?“, frage ich, als seine Finger meine Hose öffnen.

„Ich helfe dir beim Ausziehen.“

„Wie freundlich von dir“, sage ich und drehe mich zu ihm um. Seine Lippen legen sich auf meine und vertreiben endgültig die düsteren Gedanken aus meinem Kopf.

„Möchtest du jetzt immer noch schmollen?“, fragt er und zieht mich hinter sich her ins Schlafzimmer.

„Mach mir einen besseren Vorschlag, dann verzichte ich vielleicht darauf.“

Er lässt sich aufs Bett plumpsen, zieht sich sämtliche Kleidungsstücke aus und verschwindet unter der Bettdecke.

„Mir fällt nichts ein“, höre ich ihn murmeln.

„Mir auch nicht“, sage ich und krabble zu ihm.

„Man geht nicht mit seinen Sachen ins Bett.“ Er zupft an meinem Pullover.

„Ich dachte nur du würdest gerne damit weiter machen, was du im Bad angefangen hast.“

Seine Augen blitzen und dann liegt er auch schon auf mir und küsst mich.

„Unbedingt.“

Ich lege Stift und Block beiseite und lasse mich seufzend auf mein Bett fallen. Was würde ich nicht alles dafür geben, wenn ich jetzt auch einen Benni bei mir hätte. Das Problem ist nur: ich bin schüchtern und niemand weiß, dass ich schwul bin. Meine Eltern würden mich köpfen und darauf, dass es in der Schule jemand erfährt, kann ich auch verzichten.

O Mann! Wie Manu müsste man sein. Einfach drauf los und nicht immer mit allem hinterm Berg halten, was man denkt und fühlt. Er sagt, wenn ihm etwas nicht passt und weiß immer ganz genau, wie er andere auf sich aufmerksam macht. Das bewundere ich total. Ich habe überhaupt kein Talent dafür, sexy auszusehen oder gar andere Typen zu verführen. Ob man das lernen kann? Na ja, und wenn schon… Ich überlasse das alles lieber weiterhin Manu. So habe ich schließlich auch ein bisschen was davon. In meiner Fantasie.

Ich mache das Licht aus und vergrabe mich unter meiner Bettdecke. Ab morgen sind Ferien. Endlich wieder ausschlafen. Und noch viel besser ist, dass meine Eltern eingewilligt haben, ohne mich in den Urlaub zu fahren. Ich glaube, das ist mit Abstand das Genialste, was mir jemals passiert ist. Und auch das dürfte eine Menge über mein bisheriges Leben aussagen.

Lautes Gepolter und Fluchen wecken mich am nächsten Morgen viel zu früh. Meine Eltern kommen mit dem Beladen des Autos wohl nicht planmäßig voran. Kein Wunder bei den Massen, die sie da hinein stopfen wollen. Unser gesamter Flur stand gestern voll mit Taschen, Koffern, Rucksäcken, Klappkisten und weiß der Kuckuck was noch. Und es ist ein langer und ziemlich breiter Flur.

Eine Weile bleibe ich noch liegen, weil ich das Gefühl habe, dass es noch mitten in der Nacht ist. Aber irgendwann muss ich mich hoch quälen, um meine geliebten Erzeuger zu verabschieden. Die sitzen gerade am Küchentisch und trinken Tee.

„Guten Morgen, Moritz. Du hättest doch nicht aufstehen müssen“, sagt meine Mutter und ich glaube ihr nicht ein Wort.

„Ich kann noch genug ausschlafen in den nächsten Wochen.“ Ich sage lieber nicht, dass man bei dem Lärm sowie nicht hätte schlafen können.

„Ich hoffe, es ist dir klar, dass du allein in den nächsten zwei Wochen für dieses Haus verantwortlich bist“, sagt mein Vater in seinem regulären Geschäftston. Der redet wirklich immer so. Ein Grund mehr ihn nicht in mein Geheimnis einzuweihen. Was für eine Schande das doch wäre…

„Das soll heißen: keine wilden Partys, bei denen Betrunkene in unserem Haus randalieren, keine Fremden und du achtest bitte darauf, dass alles abgeschlossen ist, wenn du das Haus verlässt oder zu Bett gehst.“

Also wirklich. Sehe ich so aus, als wollte ich wilde Partys feiern? Wer sollte denn da kommen? Echt ein guter Witz.

„Ich denke, wir sollten uns langsam auf den Weg machen, Schatz“, schaltet sich meine Mutter ein. Sie hat wenigstens nicht so ein schlechtes Bild von mir.

„Ja, du hast Recht.“

Kurz darauf sind sie verschwunden und ich kann endlich in Ruhe meinen Kaffee trinken. Diese Stille…

Benni war wirklich unersättlich letzte Nacht. Ich glaube, ich rieche jetzt mehr nach ihm als nach mir selber. Das scheint ihn allerdings nicht zu stören, denn er ist gerade dabei meinen Hals zu küssen.

„Hmm“, grummel ich, weil ich gerade erst aufwache.

„Ist ja echt unglaublich, wie fest du schläfst. Du hast sogar weiter geschnarcht, als ich…“

„Ja, sehr interessant“, unterbreche ich ihn und halte seine Hand davon ab unter die Bettdecke zu schlüpfen. „Ich gehe duschen.“

„Warte, ich komme mit“, sagt er und springt auf.

„Nein, ich brauche jetzt mal ne Pause. Du hattest deinen Spaß zu Genüge.“

„Spielverderber.“

Das Wasser, das mir entgegenkommt, ist eiskalt. Benni hat also mal wieder vergessen die Temperatur auf eine erträgliche Wärme zurückzustellen. Ich weiß nicht, wie oft ich ihm das schon gesagt habe. Und manchmal glaube ich, dass es ihm scheißegal ist. Ich würde schon nicht dran sterben, sagt er immer. Na ja, immerhin bin ich jetzt wach.

Benni liegt auf dem Bett und schaut auf den Fernsehbildschirm. Olympia. Was auch sonst? Ich glaube, der ist süchtig. Gerade wird irgendein Schwimmwettbewerb übertragen. Ich finde das todlangweilig und diese Anzüge sind ja wohl mehr als peinlich.

„Guck mal wie viele Muskeln der hat“, sagt er fasziniert und zeigt auf diesen Überflieger Phelps.

„Ich finde das schon nicht mehr schön. Und ich finde es auch nicht gut, dass du die so anstarrst.“

„Ich starre überhaupt nicht. Aber du musst zugeben, dass es geil aussieht, wenn die so klitschnass sind und dann die Muskeln.“

Ich bin entsetzt und stelle mich direkt vor den Fernseher, wenn er mich schon nicht freiwillig ansehen will.

„Und wenn ich klitschnass vor dir stehe, ist es nicht geil?“

„Doch“, sagt er und grinst mich verschmitzt an. „Und wenn du so eifersüchtig bist, gefällt mir das noch viel besser.“ Er zieht mich auf seinen Schoss und streichelt über meinen Oberkörper.

„Du wolltest mich also nur ärgern, ja?“ Ich hätte es mir denken können.

„Das war die Rache dafür, dass du mich hier allein gelassen hast. Und übrigens sieht niemand so geil aus wie du, wenn du aus der Dusche kommst.“

Ich küsse ihn und er schaltet dabei den Fernseher aus. Wow! Ich bin also doch wichtiger als die Flimmerkiste.

Eigentlich müsste Manu mir dankbar sein. Er ist unabhängig, hat einen süßen Freund und Sex. Das alles kann ich von mir nicht behaupten, aber ich bin ja auch erst sechzehn. Und anscheinend nicht mehr ganz dicht, wenn ich von Manu rede, als würde es ihn tatsächlich geben.

Besser ich gehe mal an die frische Luft und lenke mich ein wenig ab. Der Kühlschrank muss sowieso noch aufgefüllt werden für meine kurzfristige Unabhängigkeit. Eigentlich hasse ich einkaufen, aber irgendwie kickt das, wenn man für sich allein einkauft.

Viel ist nicht los. Zum Glück. Gedrängel kann ich auf den Tod nicht ausstehen. Und wenn dann auch noch Leute an der engsten Stelle stehen bleiben, könnte ich sofort anfangen zu schreien. Die denken doch alle immer nur an sich. Nach dem Motto: erst komme ich, dann ich und dann vielleicht du. Vielleicht sollte ich nicht so schlecht über meine Landsleute denken, aber sind sie nicht selber schuld? Ein wenig Rücksicht und Selbstlosigkeit kann doch nicht schaden.

Während ich gedanklich noch am Schimpfen bin, laufe ich an einer Gruppe Jugendlicher vorbei. Die sehen schon ziemlich freakig aus, aber auf eine faszinierende Art und Weise. Mitten in der Fußgängerzone sitzen die auf einer alten Mauer und haben offensichtlich ihren Spaß. Vor ihnen steht ein CD-Player und spielt, wie ich finde, gute Musik. Sommerliche Gute-Laune-Rhythmen dringen an mein Ohr. Kann ich grad sehr gut gebrauchen. Zwei von ihnen sehen das scheinbar genau wie ich und bewegen sich ganz ungezwungen und fröhlich zu dem Beat. Erst bei genauerem Hinsehen erkenne ich, dass es zwei Jungs sind. Ich bleibe wie angewurzelt stehen und beobachte sie. Der eine schmiegt sich an den Rücken des anderen und zusammen bewegen sie sich im Takt der Musik. Ich bin sprachlos. Das würde ich mich nie trauen. Es ist ja fast wie auf dem CSD. Die Parade habe ich mir dieses Jahr das erste Mal angesehen. Natürlich wussten meine Eltern nichts davon. Sie dachten, ich würde mit einem Freund lernen. Nicht zu fassen, dass sie auf diese billige Ausrede reingefallen sind, aber das war mir auch Wurst. Jedenfalls ist es an diesem Tag nichts Besonderes, wenn zwei Typen miteinander tanzen, aber heute? Was würde ich nicht tun, um an ihrer Stelle zu sein. Der Anblick versetzt mir einen Stich, also gehe ich weiter. Die Musik höre ich noch lange, nachdem ich die Gruppe schon aus den Augen verloren habe und in meinen Gedanken läuft immer wieder derselbe Film ab: die zwei Jungs, wie sie gelacht und sich ungeniert ganz eng aneinander gedrückt haben. Ihre Hände am Körper des anderen, das war schon ein geiler Anblick. Hoffentlich sind die wieder weg, wenn ich zurückgehe. Ich habe für heute genug gesehen, um mich beschissen zu fühlen. Und ich will immerhin meine Freiheit so lange genießen wie ich kann. Da kann ich diese depressive Stimmung ungefähr so gut gebrauchen wie ein nettes Abendessen mit meiner ganzen verrückten Familie.

Zu allem Überfluss stehe ich etwa zehn Stunden an der Kasse, bevor ich meine drei Sachen bezahlen und abhauen kann. Hab ich's nicht gesagt? Niemand hat mir angeboten vor zu gehen, obwohl sie alle ihre Einkaufswagen voll gepackt hatten.

Jetzt muss ich mir nur noch Eistee kaufen. Das Wichtigste. Meine Eltern verbieten mir sonst immer dieses „Zeug“ zu trinken, weil es doch so ungesund ist. Ich solle lieber Hohes C und Multivitaminsaft trinken. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass Alkohol auch nicht drin ist.

Fertig. Ich mache mich auf den Rückweg. Meinetwegen könnte es gerne ein bisschen wärmer sein, sommerlicher eben. Stattdessen laufe ich mit Jacke rum. Ist vielleicht doch schon Herbst? Aber wo war dann der Sommer?

Langsam komme ich der Stelle näher, an der vorhin die lustige Gruppe gesessen hat, aber ich höre keine Musik. Schön. Wenigstens das hat geklappt, denke ich und schlendere der Bushaltestelle entgegen. Hoffentlich muss ich nicht so lange auf den Bus warten. Kaum habe ich zu Ende gedacht, fährt besagtes Fahrzeug auch schon auf mich zu. Ist das so was wie ein Zeichen? Auf einmal funktioniert alles. Vielleicht sollte ich mir wünschen, dass mich heute noch ein hübscher Junge küsst, aber das wäre dann wohl zu viel des Guten. Die Türen öffnen sich mit diesem fürchterlichen Zischen und ich steige in den Bus. Alle Sitzplätze sind besetzt. Das zu dem Zeichen. Die Tüten lasse ich auf dem Boden stehen und kann mich gerade noch an einer Stange festhalten, bevor der Bus abrupt anfährt.

Ein paar Haltestellen und etwa achttausend Erstickungstode später kann ich endlich aus dem Bus steigen und sauge die frische Luft ein. Neben mir stand die ganze Zeit ein älterer Herr, der dringend eine Dusche gebrauchen könnte. Ich fühlte mich sehr schlimm eingenebelt von einer übelriechenden Schweißwolke. Gott sei Dank habe ich das überstanden und kann jetzt endlich nach Hause.

„Hey, warte mal!“, ruft jemand hinter mir. Aus Reflex drehe ich mich um, nicht weil ich denke, dass ich gemeint bin. Und mich trifft der Schlag. Die beiden Jungen von vorhin kommen auf mich zu. Die, die in der Fußgängerzone getanzt haben.

„Du warst das doch, der uns beobachtet hat, richtig?“

„Äh…“ Ich kriege Schweißausbrüche. Die denken doch hoffentlich nicht, dass ich sie angestarrt habe. Oder womöglich, dass ich etwas gegen Schwule habe.

„Schon gut, das muss dir nicht peinlich sein“, kichert einer der beiden und zwinkert mir zu. Ich klappe gleich zusammen. Was zum Teufel wollen die von mir?

„Du sahst ein bisschen traurig aus. Stress mit deinem Freund?“

„Nein, ich… ich habe keinen Freund. Woher…?“

„Woher ich weiß, dass du auf Kerle stehst? Irgendwann bekommt man ein Auge dafür, aber es war auch offensichtlich, wie du uns angesehen hast. Wie heißt du?“

„Moritz. Tut mir leid, ich wollte euch nicht stören.“

„Das hast du nicht. Komm doch einfach mal wieder vorbei. Wir sind oft da und freuen uns immer über Besuch. Besonders, wenn er so niedlich ist wie du.“

In meinem Kaffee war bestimmt ein Halluzinogen, denn bevor die beiden wieder verschwinden, küssen sie mich gleichzeitig von beiden Seiten auf die Wange. Was für ein Tag! Ich bin so berauscht, dass ich mich zu Hause erst mal wieder Manu und Benni zuwende. Flucht in eine andere Welt. Meistens funktioniert das ganz gut.

„Na, gibt’s was Neues?“, fragt Benni, als ich von der Arbeit nach Hause komme und mich in voller Montur aufs Sofa fallen lasse.

„Allerdings. Die Polizei hat heute in der Pressemitteilung bekannt gegeben, dass es in der Innenstadt eine Schlägerei gegeben hat. Ganz übel. Irgendein Verrückter ist auf eine Gruppe Jugendlicher losgegangen. Und warum?“

„Keine Ahnung, spuck’s schon aus.“

„Sie hatten laute Musik an und haben getanzt.“

„Und was ist daran so schlimm?“, hakt Benni nach und massiert mir die Schultern.

„Es waren Jungs. Ich sag dir die Welt geht vor die Hunde. Jetzt ist Tanzen schon Erregung öffentlichen Ärgernisses. Und ich darf die Story schreiben.“

„Wieso du? Du machst doch da nur dein Volontariat.“

„Das hab ich mich auch gefragt. Jedenfalls habe ich keine Ahnung, wie ich diesen Artikel schreiben soll, ohne mich zu outen.“

„Rede doch noch mal mit deinem Chef. Irgendeine Ausrede wird dir schon einfallen.“

„Nee, keine Chance. Und wie war dein Tag?“, frage ich, um das Thema zu wechseln. Natürlich interessiert es mich auch, aber meistens sind Bennis Geschichten ziemlich eklig.

„Eklig.“ Hab ich’s nicht gesagt?

„Hat schon wieder jemand die Wände mit seiner Kacke verschönert?“

„Nein, ich sollte zusehen, als ein Verband gewechselt wurde. Also so was Übles habe ich echt noch nie gesehen. Die Wunde war richtig…“

„Ich glaube ich will das gar nicht so genau wissen“, unterbreche ich ihn und gehe in die Küche. „Was essen wir?“

„Hot dogs.“

„Schon wieder?“ Ich sehe lieber noch mal im Kühlschrank nach, ob es nicht noch eine Alternative gibt. Wenn ich nicht aufpasse, isst Benni nichts anderes mehr als Hot dogs. Danach ist er nämlich auch süchtig.

„Soll ich noch was einkaufen?“, fragt er und umarmt mich von hinten. Ich bin platt, weil er so was eigentlich immer mich machen lässt. Vielleicht schaffe ich es ja doch langsam, ihn ein wenig zu erziehen.

„Musst du nicht. Ich werfe einfach ein paar Sachen, die wir noch haben in die Pfanne und fertig.“

„Diese Schlägerei geht dir immer noch durch den Kopf, oder?“

„Wie kommst du darauf?“

„Das sehe ich dir an. Außerdem bist du noch nie so ausgepowert nach Hause gekommen.“

Ich seufze. „Einer der Jungen liegt im Krankenhaus. Gebrochene Rippen, Prellungen und eine ausgekugelte Schulter. Das ist doch krank. Wenn er mit einem Mädchen getanzt hätte, hätte man ihnen zugesehen und womöglich noch Beifall geklatscht. Nur weil er schwul ist, hat er die Arschkarte gezogen. Dürfen wir unseren Spaß etwa nur zu Hause haben? Und in Schwulenclubs?“

„Du weißt doch, wie die denken.“ Benni versucht mich zu beruhigen. Normalerweise regt er sich über so etwas genauso auf, aber wahrscheinlich denkt er, dass mich das jetzt nur noch mehr auf die Palme bringen würde. Na ja, wo er recht hat… Trotzdem ist es mir schleierhaft, was in den Köpfen solcher Leute vorgeht.

„Jetzt hab ich richtig Lust diesen Artikel zu schreiben. Morgen fahre ich ins Krankenhaus und besuche den Jungen.“ Haha, die werden schon sehen, was sie davon haben, mir die Story zu überlassen. Benni sieht mich irgendwie komisch an. Fast mitleidig. Das kann ich jetzt gar nicht gebrauchen. Wenn er denkt, dass ich verrückt geworden bin, soll er das bitte für sich behalten.

„Dir ist schon klar, dass du gerade ein bisschen durchdrehst, oder?“

„Ja, ja. Ich mache jetzt Essen.“

So etwas Ähnliches habe ich neulich auch gelesen. Bei dem CSD in irgendeinem osteuropäischen Land sind Rechtsextremisten auf die Teilnehmer der Parade losgegangen. Da fragt man sich doch echt, ob die noch was anderes im Kopf haben als Hass und Gewalt. Ich bewundere wirklich alle, die da noch mutig genug sind, sich nicht zu verstecken. Leider kann ich mich selber nicht dazu zählen. Ich werde nie so sein wie die beiden schrägen Typen aus der Stadt. Denen könnte es nämlich schnell mal genauso ergehen wie dem Jungen in meiner Geschichte. Früher habe ich über diese Dinge überhaupt nicht nachgedacht, ich war ziemlich naiv.

Nachdem ich mir einen Überblick über den aktuellen Stand bei den Olympischen Spielen verschafft habe, gehe ich ins Bett. Es ist zwar noch ziemlich früh, aber ich bin ja auch früh aufgestanden. Und der Tag war schon um Einiges ereignisreicher als die davor. Ob ich morgen noch mal in die Stadt fahre? Immerhin wurde ich eingeladen von… Na super, ich weiß noch nicht einmal ihre Namen. Eigentlich auch frech nach meinem Namen zu fragen und sich selber nicht vorzustellen. Vielleicht sollte ich mir lieber nicht zu viel einbilden, auch wenn einer sagte, ich sei niedlich. Aber wer will schon niedlich sein? Und was ist mit dem Kuss? Ach, wahrscheinlich ziehen die diese Nummer bei jedem ab. Ich mache mich doch sicher total zum Affen, wenn ich da morgen wieder aufkreuze.

Sicher ist jedenfalls, dass ich nicht mehr ganz dicht bin, wenn ich auch nur darüber nachdenke. Ich sollte wirklich dringend einen Gang runterschalten und einfach abwarten, ob dieser Rausch morgen abgeklungen ist.

Ah, das nenne ich Ferien. Ausschlafen bis um elf, ruhiges Frühstück und einen ganzen Tag zur freien Verfügung. Erst mal gehe ich unter die Dusche und genieße das warme Wasser. Bin eben genau so ein Warmduscher wie Manu.

Aus irgendeinem Grund habe ich verdammt gute Laune. Ich gebe mir sogar mehr Mühe beim Anziehen, denn ein schlabbriges T-Shirt kommt heute nicht in Frage. Habe entschieden doch noch mal in die Stadt zu fahren. Ich kann mich ja immer noch irgendwo verstecken, falls ich mich unwohl fühle. Hoffentlich machen die heute nicht wieder so einen Zirkus, sonst bin ich nämlich sofort wieder weg. Was mich überhaupt da hin zieht, bleibt ein Rätsel, aber mit ein wenig Glück werde ich es nicht bereuen.

Der Bus ist auf jeden Fall schon mal pünktlich und es sind sogar noch Sitzplätze frei. Dann kann es ja los gehen. Es scheint allerdings, als hätte ich das bisschen Selbstsicherheit von heute morgen zu Hause vergessen. Während der Fahrt fangen meine Hände an zu schwitzen und ich komme mir vor, als wäre ich unterwegs zur Hölle. Lächerlich, ich weiß. Aber mir wird gerade klar, dass diese Typen und ich überhaupt nichts gemeinsam haben. Mal abgesehen von unserer Schwäche für andere Kerle. Was soll ich denn mit denen reden? Ich kann doch nicht mein langweiliges Leben vor denen ausbreiten.

„Hey, Moritz.“

Der Plan mich zu verstecken ist jedenfalls schon mal hinfällig. Die schreien die gesamte Fußgängerzone zusammen. Ich gehe also lieber schnell zu ihnen, bevor alle Welt meinen Namen kennt.

„Da bist du ja.“

„Äh, ja. Ich hatte nichts anderes zu tun“, stammle ich. Wenigstens läuft heute keine Musik.

„Umso besser. Ich bin übrigens Tim und das ist Lippe. Eigentlich heißt er Philipp, aber na ja, wir nennen ihn Lippe.“ Immerhin besser als Struppi, denke ich. Obwohl die beiden hier genauso unzertrennlich sein dürften wie das bekannte Comic-Duo.

Die Gruppe besteht aus sieben Jugendlichen, denen ich jetzt nacheinander vorgestellt werde. Eigentlich machen die einen ganz netten Eindruck und scheinbar wundert sich niemand über mein plötzliches Auftauchen. Einer, so wird mir berichtet, fehlt noch. Kai. Aber später wird er wohl auch noch dazu stoßen.

Ich fühle mich ziemlich verloren unter all diesen Fremden, besonders weil Tim und Lippe mich auf der Mauer abgesetzt und dann allein gelassen haben. Mir bleibt also nichts anderes übrig als den stillen Beobachter zu spielen, bis die zwei Mädels der Gruppe auf mich zu kommen. Anna und Susi.

„Entschuldige, dass ich so neugierig bin, aber stehst du auf Jungs?“, fragt Anna und ich muss aufpassen, dass ich nicht von der Mauer plumpse.

„Ja, warum?“

„Schade. Wäre spannend gewesen mal einen heterosexuellen Jungen in der Gruppe zu haben. Außerdem gefällst du mir.“

Meine Wangen fangen an zu glühen. Wo nehmen die bloß alle ihr Selbstbewusstsein her? Und zur Erklärung: Anna und Susi stellen den Hetero-Teil in dieser Gruppe. Alle anderen, sprich alle Jungs, sind schwul.

„Sorry, ich wollte dich nicht so überrumpeln“, kichert Anna. Sie findet mich offensichtlich auch „niedlich“. Und das gibt meiner Laune einen ziemlichen Dämpfer.

„Hast du nicht“, lüge ich zerknirscht.

„Wo haben Tim und Lippe dich denn eigentlich aufgegabelt?“, fragt Susi.

„Gestern, als ich aus dem Bus gestiegen bin. Quatschen die jeden einfach so an?“

„Kommt schon öfter vor, ja, aber nur wenn derjenige ihnen gefällt. Bist du oft in der Stadt?“

„Nee, ich war einkaufen und dann habe ich sie tanzen sehen.“

„Ach, du warst das“, sagt Anna erstaunt. „Stimmt, jetzt wo du’s sagst. Du bist so ziemlich der ganzen Gruppe aufgefallen wie du den beiden zugesehen hast.“

Und schon wieder fange ich Feuer. Wie peinlich! „Das hab ich gar nicht gemerkt.“

„Hey Jungs!“, ruft Anna. „Das ist der Kerl von gestern. Ist euch das aufgefallen?“

„Na logo“, schreit einer zurück. „Sind ja nicht alle so blind wie du.“

Anna streckt ihm die Zunge raus und ich möchte mich sofort erschießen. Schlimmer kann es eindeutig nicht mehr werden.

„Da kommt Kai“, verkündet Tim und dreht sich dann zu mir um. „Sei lieber vorsichtig mit ihm. Du bist genau sein Typ und wenn du nicht aufpasst, hat er dich ganz schnell um den Finger gewickelt. Versteh mich nicht falsch, er ist ein ganz Lieber, aber meistens will er nur seinen Spaß. Besser du verliebst dich nicht in ihn.“

Wie bitte? Ich kenne den doch überhaupt nicht. Sehe ich aus als wäre ich so schnell rumzukriegen?

„Danke für den Tipp“, sage ich verwirrt und warte angespannt auf der Mauer bis Kai mich entdeckt hat und auf mich zu kommt.

„Hallo, hätte nicht gedacht, dass du so bald wieder auftauchen würdest. Ich bin Kai.“

„Moritz.“ Ich weiß gar nicht, was Tim hat. Der macht überhaupt nicht den Eindruck, als wolle er mich sofort verführen.

„Ah, Mo also, ja? Süßer Name“, sagt Kai und lächelt mich an. Jetzt weiß ich ganz genau, was Tim meinte. Schätze das mit dem Verlieben habe ich auch soeben hinter mir.

Anna und Susi sehen mich vielsagend von der Seite an und warten bis Kai sich wieder zu den anderen gesellt hat.

„Das solltest du lieber nicht tun“, flüstert Anna.

„Was denn?“

„Na, ihn so anzuschmachten. Kai täte es mal ganz gut, wenn er nicht immer bekommt, was er will.“

„Wer sagt denn…“, versuche ich mich zu verteidigen, aber Susi unterbricht mich.

„Hör lieber auf Tim und Anna. Sie kennen Kai schon ewig.“

„Ist ja gut. Ich gehe jetzt.“

„Jetzt schon? Haben wir was Falsches gesagt?“, fragt Anna.

„Nee, ich krieg nur langsam Hunger.“

„Kommst du mal wieder?“

„Klar.“ Aber erst, wenn ich Ordnung in diesen riesigen Chaosklumpen gebracht habe, der sich in meinem Kopf eingenistet hat.

Ich verabschiede mich noch höflich und verschwinde bevor Kai mir noch so einen Blick zuwerfen kann.

Die Frau an der Information sagt mir freundlicherweise sofort, wo ich das Zimmer des Jungen finde, sobald ich ihr meinen Presseausweis gezeigt habe. Ich gebe zu, dass ich mir schon ein bisschen wichtig vorkomme mit diesem Ding. Aber jetzt sollte ich mich lieber darauf konzentrieren, was vor mir liegt.

Ich klopfe kurz an die Tür und trete ein. Zwei Betten stehen in dem Zimmer, aber eines ist leer und mit einer Art Folie überzogen. Immerhin hat er hier seine Ruhe.

„Hallo Martin, ich bin von der Presse, und wenn es dir recht ist, würde ich dir gerne ein paar Fragen stellen. Ich darf doch du sagen, oder?“

„Ja, klar“, antwortet er mit schwacher Stimme. Mit mehreren gebrochenen Rippen atmet und spricht es sich wahrscheinlich nicht sonderlich gut.

Ich ziehe einen Stuhl an das Bett und setze mich. Wo soll ich bloß anfangen?

„Meine Name ist Manu und…“, ich zögere kurz, „…ich bin auch schwul.“

„Wissen deine Kollegen davon?“

„Nein.“

„Und wie willst du dann diesen Artikel schreiben?“

Ein helles Köpfchen und das in diesem Zustand. Das macht die Sache schon mal einfacher.

„Das weiß ich auch noch nicht“, antworte ich wahrheitsgemäß. „Aber ich werde sicher nichts auslassen.“

„Dann bin ich froh, dass sie dich geschickt haben. Ich dachte schon, dass ich es mit so einem konservativen Spinner zu tun bekomme und es nachher heißt ich sei selber schuld.“

„Die müssen die Story aber auch erst genehmigen. Nur weil ich sie schreibe, heißt das noch lange nicht, das sie auch gedruckt wird.“

„Wir werden es ja sehen.“

„Also… du bist achtzehn und gehst noch zur Schule, oder?“, beginne ich mein Interview. Er nickt. So geht das noch eine ganze Weile bis wir den offiziellen Teil hinter uns haben. Ich schreibe oder besser kritzle alles auf meinen kleinen Block.

„Seid ihr öfter an diesem Treffpunkt in der Stadt?“

„Wenn nichts anderes ansteht und das Wetter mitspielt, ja. Manchmal haben wir Musik dabei und manchmal hängen wir nur ab.“

„Hat euch schon mal jemand angegriffen oder irgendwie belästigt?“

„Einige Leute gucken mal komisch und tuscheln, aber uns hat noch nie irgendjemand angegriffen. Warum auch? Wir unterhalten uns nur und tanzen eben manchmal zu der Musik, wenn uns danach ist.“

„Warum hat der Typ euch deiner Meinung nach angegriffen?“

„Weil er ein homophobes Arschloch ist. Ganz einfach. Wir haben niemandem etwas getan, erst recht nichts, weshalb man zuschlagen müsste.“

„Wie genau ist es denn abgelaufen?“, frage ich und bereite mich schon mal darauf vor, viele Informationen in kurzer Zeit aufschreiben zu müssen.

„Mein Freund und ich haben zu der Musik getanzt, als auf einmal dieser Mann auf uns zu kam. Wir haben ihn schon von Weitem schimpfen hören, aber nicht damit gerechnet, dass er gefährlich werden könnte. Er hat diesen üblichen Schwachsinn von sich gegeben, dass wir pervers sind und hat uns mit sämtlichen Schimpfwörtern bombardiert. Die anderen haben gesagt ich solle ihn einfach reden lassen, aber das wollte ich nicht. Ich hab mir schon viel anhören müssen, aber dieser Kerl hat mich richtig sauer gemacht. Ich bin ihm entgegen gegangen und wollte ihm die Meinung sagen, aber so weit bin ich gar nicht erst gekommen.“ Martin legte eine Hand auf den Verband an seinem Oberkörper und verzog für einen Moment das Gesicht. Er atmete noch ein paar Mal ein und aus, bevor er weitersprechen konnte. „Er hat ausgeholt und mir ins Gesicht geschlagen, bevor ich auch nur den Mund aufmachen konnte. Ich bin zu Boden gegangen und dann hat er mich getreten. Immer wieder. Ich hab versucht mich zu wehren, aber ich hatte keine Chance. Irgendwie hat er dann meinen Arm zu fassen bekommen und so daran gezogen oder sonst was getan und damit die Schulter ausgekugelt. Das ging so schnell, dass ich überhaupt nicht mehr weiß, wie er es gemacht. Ich kann mich nur noch an den Schmerz erinnern. Das hat höllisch weh getan, das kannst du dir nicht vorstellen. Mein Freund ist mir hinterher gelaufen und hat den Kerl von mir weggezogen. Er hat diesem Schwein die Nase gebrochen. Unsere anderen Freunde sind dann auch noch dazu gekommen und haben den Kerl so lange festgehalten bis die Polizei gekommen ist.“

Ich bin sprachlos und habe nicht mal ein einziges Wort mitgeschrieben. Das werde ich so schnell nicht wieder vergessen. Martin siegt aus als hätte ihn das Erzählen ganz schön mitgenommen. Er atmet schwer und hat offensichtlich Schmerzen dabei.

„Soll ich jemanden holen?“, frage ich besorgt, denn ich habe keine Ahnung, wie ich ihm sonst helfen könnte.

Er schüttelt den Kopf. „Das Reden tut nur so weh.“

„Okay, dann lasse ich dich jetzt mal in Ruhe. Kann ich dich allein lassen? Soll ich nicht doch lieber jemandem Bescheid sagen?“

„Nein, geh ruhig. Mein Freund kommt bestimmt auch gleich.“

„Na gut. Ich komme morgen noch mal, ja?“

Er nickt wieder nur und ich verlasse das Zimmer.

Ich kann mich nicht richtig konzentrieren. Allein für die letzten Sätze habe ich ewig gebraucht, also lege ich den Stift lieber zur Seite.

Kai geistert durch meine Gedanken und ich frage mich, ob er wirklich so ist wie Tim gesagt hat. Zumindest hat er eine irre Ausstrahlung. Ich kann mir gut vorstellen, dass da schon einige schwach geworden sind und habe eigentlich nicht vor, mich in diese Liste einzureihen. Trotzdem ist da so ein kleines, fieses Etwas in mir, das sich genau das wünscht. Ich meine, wie er mich angesehen hat… Wahrscheinlich haben das die anderen auch gedacht und wahrscheinlich hat er schon viele Herzen gebrochen. Ich weiß das alles und bin trotzdem so verrückt mir zu wünschen ihm nahe zu sein. Dass ich wirklich sein Typ sein soll, kann ich mir dagegen überhaupt nicht vorstellen. Ich bin klein, nicht wirklich sportlich und wie gesagt ziemlich schüchtern. Bisher war es immer so, dass ich überall irgendwie untergegangen bin und niemand wirklich von mir Notiz genommen hat. In der Schule können sich die Lehrer nie an meinen Namen erinnern und meinen Klassenkameraden war ich schon immer zu uncool. Es würde mich wirklich brennend interessieren, wann jemand in ihren Augen cool ist. Vielleicht, wenn er einen schwulen Jungen mitten auf der Straße zusammenschlägt?

Kai ist bestimmt schon immer beliebt gewesen. Er sieht fantastisch aus, hat ein umwerfendes Lächeln und offensichtlich kein Problem damit, auf andere zuzugehen. Ob er wohl schon mal was mit einem Mädchen hatte? Die rennen ihm doch sicherlich in Scharen nach.

Nachdem ich beschlossen habe, dass dieses Gegrübel rein gar nichts bringt, mache ich mir tatsächlich erst mal was zu Essen. Vorhin war das selbstverständlich nur eine Ausrede, aber mit der Zeit schlägt der Hunger dann doch zu. Es gibt Ravioli aus der Dose, mein heimliches Lieblingsessen. Und natürlich Eistee. Juhu! Das Leben hat auch seine schönen Seiten. Dann fällt mein Blick allerdings auf die Zeitung und das Lächeln verschwindet aus meinem Gesicht. Sie berichten von dem Mord an einem Jungen. Er war spät abends auf dem Heimweg von der Disko und blieb nur kurz am Straßenrand stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Ein anderer Mann beobachtete ihn dabei und griff ihn an, weil er ihn für einen Stricher hielt. Der Täter wurde kurz darauf festgenommen und sagte beim Verhör, dass er seiner Ansicht nach das Richtige getan hatte. Erst als man ihm erklärte, dass er einen unschuldigen, heterosexuellen Jugendlichen umgebracht hatte, zeigte er Reue.

Mir läuft ein kalter Schauer den Rücken runter, während ich den Artikel lese. Jeder Jugendliche hätte das Opfer sein können, das muss man sich mal vorstellen. Weil es solche kranken Leute gibt, muss man Angst haben auf die Straße zu gehen. Die Welt geht echt vor die Hunde.

Bevor ich nach Hause gefahren bin, habe ich noch mit einer Krankenschwester gesprochen. Sie sagte mir, dass die Gefahr einer Lungenentzündung besteht, weil Martin durch die Schmerzen nicht tief genug einatmet. So weit ich das verstanden habe, gelangt der Sauerstoff dann nicht in die Lungenspitzen und das kann zu der Entzündung führen. Deshalb müssen Patienten mit einer Rippenfraktur auch regelmäßig Schmerzmittel nehmen.

Das hat Martin mir natürlich verschwiegen. Gut, dass ich doch noch jemanden angesprochen habe, denn die Krankenschwester meinte, es sei unbedingt notwendig, dass er bei diesen Schmerzen etwas einnimmt.

Etwas erleichterter habe ich also das Krankenhaus verlassen und bin nach Hause gefahren. Benni ist noch nicht zurück, aber das dürfte auch nicht mehr lange dauern. Ich mache mir einen Kaffee, weil ich tierische Kopfschmerzen habe und nicht gleich was einwerfen will. Ich werde davon wenigstens nicht schwerkrank.

Eine halbe Stunde später höre ich, wie sich die Haustür öffnet, und kurz darauf kommt Benni ins Wohnzimmer. Das sehe ich zwar nicht, weil ich mir ein Kissen aufs Gesicht gelegt habe, aber wer sollte das sonst sein?

„Was machst du denn da?“, fragt er belustigt.

„Ich habe Kopfschmerzen. Das Kissen ist zum Abdunkeln da.“

„Aha. Ich habe hier etwas, das deine Kopfschmerzen bestimmt schnell verschwinden lässt.“

„Wenn es etwas zu Essen ist, vergiss es. Schlecht ist mir nämlich auch.“

„Du bist ein richtiger Blödmann“, sagt er beleidigt. „Jetzt guck doch endlich mal.“

Widerwillig lege ich das Kissen zur Seite und sehe zu Benni hoch. In der Hand hält er…

„Mein Armband! Wo hast du das denn gefunden?“

„Tja, ich bin eben der Beste“, sagt er grinsend und setzt sich neben mich. Er greift nach meinem Handgelenk und bindet das Armband darum. „Ich hab mir gedacht, dass man sich auf dein Gedächtnis lieber nicht verlassen sollte und bin zu diesem Sportzentrum gefahren. Irgendjemand hat es wohl gefunden und abgegeben. Von wegen du hast es nach dem Squash wieder umgemacht.“

„Idiot“, sage ich, ziehe ihn zu mir und küsse ihn auf den Mund.

„Und was ist nun mit deinen Kopfschmerzen?“

„Immer noch da.“

„Gibt’s ja nicht. Dann muss ich dich wohl noch ein bisschen mehr ablenken, oder?“ Schon sind seine Hände unter meinen Pullover geschlüpft und seine Lippen liegen wieder auf meinen.

„Du bist ein Ferkel“, lache ich und ziehe ihm sein Shirt über den Kopf. „Aber ein süßes.“

„Na vielen Dank auch“, sagt er und schubst mich zurück, so dass ich wieder auf dem Sofa liege. Mein Pulli landet auf dem Boden und Bennis Lippen wandern augenblicklich über die nackte Haut meines Oberkörpers. Sie küssen meinen Bauch, meine Brust und meinen Hals bis sie wieder bei meinem Mund angekommen sind. Das Pochen aus meinem Kopf wandert weiter nach unten und nistet sich in meiner Brust ein. Auch nach zwei Jahren Beziehung fängt mein Herz jedes Mal noch wie wild an zu schlagen, sobald Benni mich berührt. Ich hoffe, dass das noch ewig so sein wird, und dass uns niemals so was passiert wie Martin. Feinde haben wir da draußen genug, aber mit ein bisschen Glück, werden wir es mit ihrem absurden Hass niemals zu tun bekommen.

Auf dem Sofa wird es langsam ziemlich kalt und so wahnsinnig viel Platz zum Kuscheln hat man hier auch nicht. Das brauche ich jetzt aber unbedingt, also ziehen wir ins Schlafzimmer um. Benni streichelt mit beiden Händen meinen Rücken und zieht mich ganz fest an sich, weil ich Frosch vor Kälte schon anfange zu zittern.

„Dass ich neben dir noch nicht erfroren bin, ist ein echtes Wunder“, sagt er und zieht die Bettdecke noch höher. „Wie kannst du nur immer so schnell wieder abkühlen.?“

„Keine Ahnung. Das ist halt so.“

„Und wie geht es deinem Kopf jetzt?“

„Prima“, sage ich und weiß schon genau, was er darauf antworten wird.

„Schade.“

„Hä?“ Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hätte schwören können, dass er so was sagt wie „Besser als ich ist eben nichts anderes“.

„Ich hatte eigentlich gehofft, dass du noch eine zweite Ladung Schmerzmittel brauchst.“

Ich seufze. „Kriegst du denn nie genug?“

„Nein, nicht bei dir.“

„Bei wem denn sonst?“

„Du weißt genau, was ich meine.“

Ja, das weiß ich und glücklicherweise kann er mein Grinsen jetzt nicht sehen.

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