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Manu und ich

Teil 5

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"Was ist denn mit dir los?", fragt Benni, als ich am späten Nachmittag nach Hause komme.

"Gar nichts." Ich kann ihm nicht davon erzählen, er würde sich nur wieder fürchterlich aufregen. Besser ich behalte das für mich und hoffe ganz einfach, dass Patrick nie wieder auftauchen wird.

"Nichts?"

"Ja, nichts. Der Tag war einfach nur anstrengend." Ich versuche es mit einem Lächeln, scheine aber nicht sehr erfolgreich zu sein.

"Hat dich jemand blöd angemacht? Wegen des Artikels?"

"Nein, es war nur viel zu tun. Ich bin müde."

Ich gehe ins Bad und stelle mich unter die Dusche. Ausnahmsweise hat Benni daran gedacht den Hahn auf warm zu stellen, sodass ich nicht erst von einem eiskalten Wasserstrahl überrascht werde. Dafür brennt jetzt das heiße Wasser auf meiner Haut und lässt den Eisklotz schmelzen, der während des Vormittags aus mir geworden war. Es ist eigentlich ein Wunder, dass ich Patrick nicht an die Gurgel gegangen bin. Damals hatte ich mir geschworen, dass ich es nie wieder zulassen würde, ihn in meine Nähe kommen zu lassen. Lieber wollte ich zum Mörder werden. Wahrscheinlich war das aber damals eher auf meine Verzweiflung zurückzuführen. Und vor allem auf den Schmerz. Patrick war der Erste gewesen, mit dem es mir richtig ernst war. Alles andere davor waren diese typischen Kurzzeitbeziehungen, die irgendwann ihren Reiz verlieren. Man trennt sich und gut isŽ. Bei Patrick war es von Anfang an anders. Und ich dachte immer, dass es ihm auch so ginge. Ich hätte nie gedacht, dass mir so etwas mal passieren würde; dass ich auf so ein Arschloch reinfallen könnte. Vielleicht gibt es einfach niemanden, dem das nicht passieren könnte. Anscheinend ist niemand immun dagegen. Und jeder, der das behauptet, irrt sich gewaltig.

Im Nachhinein ist es mir sogar peinlich, dass ich ihn nicht durchschaut habe. Seine Ausreden waren mehr als hohl, aber ich habe nichts bemerkt. Erst als er so dreist war, eine seiner Bettgeschichten in unsere Wohnung zu bringen, hat es bei mir klick gemacht. Dämlich oder? Ich hätte es ahnen müssen. Dann wäre mir eine Menge erspart geblieben. Wenn ich es selber rausgefunden hätte, hätte ich ihn richtig anschreien können. Ich hätte vielleicht sogar auf ihn eingeschlagen, aber so konnte ich nur abhauen. Ich bin losgerannt und hab die ganze Zeit geheult, bis Benni mich irgendwann gefunden hat. Wie gesagt: wir hatten uns kurz vorher erst kennengelernt und deshalb konnte Patrick mich bei ihm auch nicht finden. Er wusste nichts von Benni. Ich bin nie dazu gekommen, die beiden einander vorzustellen.

Benni ist für mich in die Wohnung gegangen und hat alles, was ich ihm gesagt habe, mitgebracht. Patrick war nicht da, glücklicherweise. Ich hätte nicht gewollt, dass sie aufeinander losgehen. So wie ich Benni kenne, wäre das mit Sicherheit passiert. Er ist manchmal sehr voreilig, was mir nicht immer recht ist, aber in dem Fall hat es mir gut getan zu sehen, dass sich jemand für mich einsetzen würde.

Es hat lange gedauert, bis ich Benni an mich heranlassen konnte, aber seitdem habe ich mich wieder woher gefühlt. Bis heute.

Ich steige aus der Dusche und greife nach dem Handtuch. Benni steht in der Badzimmertür und sieht mich skeptisch an.

"Nichts, hm? Und warum stehst du dann eine dreiviertel Stunde unter der Dusche?"

"Ich wollte mich entspannen", sage ich leise aber bestimmt und weiche seinem Blick aus.

"Das hab ich gemerkt, aber wovon?" Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und gibt mir zu verstehen, dass ich, ohne eine Antwort zu geben, nicht das Bad verlassen werde. Ich werde ein wenig wütend. Habe ich ihm denn nicht gesagt, warum ich so erschöpft bin?

"Ich will nicht darüber reden."

"Ich aber. Ich will wissen, warum es dir nicht gut geht."

"Es geht mir gut!", sage ich jetzt schon etwas lauter und rubbel meine Haare trocken.

"Schön, dann können wir uns ja jetzt einen gemütlichen Abend machen", sagt er schnaufend und verschwindet.

Ich habe auf einmal ein schlechtes Gewissen, obwohl ich viel lieber sauer auf ihn wäre. Was muss er denn auch so lange rumstochern, bis wir beide genervt sind?

Seufzend setze ich mich auf den Klodeckel. Jetzt hat Patrick es also auch noch geschafft, dass ich mich mit Benni streite. Wunderbar!

"Ist es jetzt besser?", fragt Benni vorsichtig und steht auf einmal wieder im Türrahmen. Ich antworte nicht, also kommt er auf mich zu und setzt sich neben mich. "Wem darf ich denn nun für deine schlechte Laune danken?"

Ich atme einmal tief ein und sehe ihn forschend an. Ob er sich einigermaßen beherrschen kann, wenn ich ihm davon erzähle? Vielleicht wenn ich ihn bitte …

"Patrick."

Sein Gesicht sieht aus, als ob es schmilzt. "Was?"

"Er war in der Redaktion."

"Und was wollte er?"

"Sich entschuldigen und mich."

"Nee, oder? Das ist nicht sein Ernst", sagte Benni und steht auf. "Denkt er, dass er noch eine Chance bei dir hat?"

"Hat sich ganz danach angehört."

"Der spinnt doch", sagt er leise, mehr zu sich als zu mir. Dann sieht er mich auf einmal ganz merkwürdig an. Ängstlich irgendwie. "Du denkst nicht wirklich darüber nach, oder?"

"Natürlich nicht!", sage ich entsetzt. "Was denkst du denn von mir?"

"Tut mir leid, ich … ich hab nur gerade daran gedacht wie verzweifelt du warst, als du dich getrennt hast."

"Ja, weil ich verletzt war. Denkst du, dass ich zu so jemandem zurückgehen würde?" Ich fasse es nicht, dass er mir so etwas zutraut. Weiß er nicht, dass ich nur ihn liebe?

"Nein, das … Manu, das wollte ich damit nicht sagen. Ich war nur für einen Moment geschockt."

"Ich liebe dich, Benni! Du glaubst doch nicht wirklich, dass du nur ein Lückenbüßer bist, oder?"

"Nein …"

"Das fehlt mir noch, dass du mir nicht vertraust."

Er kommt auf mich zu und legt beide Hände an meine Wangen. "Ich vertraue dir. Ich habe nur eben für eine Sekunde nicht nachgedacht." Er küsst mich und nimmt mich dann in den Arm.

"Meinst du, dass er noch mal auftaucht?"

"Er hat nichts gesagt, aber wundern würde es mich nicht. Er war nicht begeistert, als er erfahren hat, dass ich einen Freund habe."

Benni sagt nichts weiter, er hält mich nur eine Weile fest und streicht mir beruhigend über den Rücken.

Es klingelt. Endlich Schulschluss. Mein Block und meine Federtasche lasse ich so schnell wie möglich verschwinden, bevor jemand merkt, was ich da geschrieben habe. Ein unfreiwilliges Outing fehlt mir gerade noch. Und ja, ich habe im Unterricht nicht aufgepasst und stattdessen lieber an Manu und Benni gedacht. Etwas besonders Wichtiges wird am ersten Schultag nach den Sommerferien sowieso nicht durchgenommen und ich war in Gedanken immer noch bei dem Anblick eines leeren Fensters. Ich bin mir sicher, dass sich schnell jemand versteckt hat, als ich hoch gesehen habe. Und wer sollte sich vor mir verstecken außer Kai? Ich könnte Tim und die anderen fragen, welches ihr Klassenzimmer ist, aber irgendwie komme ich mir dämlich vor, bei dem Gedanken. Selbst wenn Kai dort gestanden und mich beobachtet hat, was sollte mich das interessieren? Soll er doch gucken, wenn er sich schon nicht traut mich anzusprechen oder in meine Nähe zu kommen.

Genervt verlasse ich das Schulgelände und schlendere nach Hause. Auf meine Eltern habe ich jetzt auch keine Lust, wie immer. Manchmal denke ich, dass ich sie seit den zwei Wochen, in denen ich alleine war, noch weniger leiden kann. Liegt das an mir? Vielleicht bin ich einfach ein Stück selbstständiger geworden. Oder es ist die Pubertät. Rebellion gegen die Eltern. Allerdings rebelliere ich ja gar nicht, nur innerlich. Ich bin trotzdem noch ein sehr braves, wohlerzogenes Kind, finde ich. Es könnte natürlich auch sein, dass es an meinen neuen Freunden liegt und somit auch daran, dass ich zum ersten Mal irgendwie stolz bin, schwul zu sein. Die meisten aus der Clique sind zuhause geoutet, und wenn ich mir dann vorstelle, es meinen Eltern zu erzählen, fange ich wieder an, mich zu schämen. Aber wofür denn bloß? Das geht mir ziemlich auf den Keks. Ich will ich selbst sein und meine Eltern sollen das bitte akzeptieren. Und da ist der Knackpunkt: Meine Eltern würden das niemals hinnehmen. Das weiß ich und deshalb kann ich mit ihnen auch nicht normal reden.

Tja, und dann die Sache mit Kai. Vielleicht würden ihm seine Eltern überhaupt keine Vorwürfe machen. Ich kenne sie nicht, aber wenn es so wäre, würde ich Kai noch weniger verstehen. Wenn ich so verständnisvolle Eltern hätte, mit denen ich über meine Sorgen und Probleme sprechen könnte, würde es mir jetzt bestimmt besser gehen.

Als ich zuhause ankomme, sehe ich, dass das Auto nicht da ist. Wo die wohl hingefahren sind? Es sieht ihnen überhaupt nicht ähnlich, dass sie wegfahren, ohne mir sämtliche Informationen ihres Aufenthaltsortes anzugeben. Für Notfälle natürlich.

Auch egal, vielleicht habe ich ja nur einen Termin vergessen. In der Küche liegt dann aber ein Zettel auf dem Tisch. Sie sind zu meiner Oma gefahren und werden wohl erst abends zurück sein. Glück gehabt. Normalerweise werde ich immer mitgeschleppt, aber wahrscheinlich wollten sie so früh wie möglich aufbrechen und konnten das nicht mit meinen Schulzeiten vereinbaren. Da war die Schule ja doch noch zu was gut. Wunderbar! Dann kann ich mich sogar mal wieder im Wohnzimmer aufhalten und erst mal meine Hausaufgaben erledigen. Hausaufgaben am ersten Schultag aufzubekommen ist auch etwas, über das ich mich jedes Jahr neu aufregen kann. Die Lehrer sehen es einfach nicht ein, dass man den Schülern den Wiedereinstieg in den Schulalltag auch einfacher machen kann. Immerhin ist es nicht ganz so viel. Ich bin schnell fertig, weil es alles hauptsächlich Wiederholung ist, krame in meinem Rucksack nach dem Schreibblock und schlage die Seite auf, die ich vorhin beim Klingeln so eilig zugeschlagen hatte.

Bevor ich jedoch anfangen kann, klingelt es an der Haustür. Mein Herz klopft sofort viel, viel schneller, weil ich aus irgendeinem unerfindlichen Grund denke, dass es vielleicht Kai ist. Ich rase zur Tür, öffne sie und bleibe wie angewurzelt stehen. Es ist Kai!

"Äh, hallo …", ist alles, was ich sagen kann und selbst das hört sich nur wie ein Flüstern an. Kai dagegen scheint seine Stimme gänzlich verloren zu haben.

"Woher weißt du, wo ich wohne?"

"Ich …" Er räuspert sich. "Ich bin dir nachgelaufen."

"Aber ich bin doch schon eine ganze Weile hier." Er hat nicht wirklich so lange vor der Tür gewartet, oder?!

"Ich musste erst nachdenken."

Ich fasse es nicht. Er stand eineinhalb Stunden vor meiner Tür und hat nicht geklingelt?

"Sind deine Eltern nicht da?", fragt er mit einem merkwürdig nervösen Gesichtsausdruck.

"Nein, die sind weggefahren. Willst du reinkommen oder lieber noch eine Stunde da stehen bleiben?"

Er macht einen Schritt auf mich zu und ich gehe automatisch zurück. Ich schließe die Tür hinter uns. Als ich mich wieder umdrehe, steht er ganz dicht vor mir. Er drückt mich gegen die Tür und küsst mich. Sein ganzer Körper lehnt sich gegen meinen, während sich seine Hände links und rechts neben mir an der Tür abstützen. Ohne es selber richtig zu bemerken, presse ich mich so dicht an ihn wie es nur geht und küsse ihn gierig zurück. Meine Finger klammern sich an sein Shirt und seine tun dasselbe. Es ist als würden wir zu Staub zerfallen, sobald wir uns loslassen, also klammern wir uns aneinander. Er muss überhaupt nichts erklären, ich verstehe auch so, was er mir sagen will.

Unsere Lippen trennen sich, aber ich kann meine Finger einfach nicht von ihm lassen. Ich schlinge beide Arme um ihn und hoffe, dass er so nicht wieder wegläuft. Sein Herz schlägt genauso laut und schnell wie meins und sein Atem streift meinen Nacken. Ich glaube ich zittere sogar ein bisschen, so aufgeregt bin ich gerade.

"Ich hasse dich", flüstere ich und höre wie er leise kichert.

"Können wir uns irgendwo hinsetzen?", fragt er und lächelt mich an. Es ist genau das Lächeln, das mich bei unserem ersten Treffen schon so aufgewühlt hatte, dass ich flüchten musste. Genaugenommen ist dieses Lächeln sogar daran schuld, dass wir jetzt hier sind.

Ich gehe voran ins Wohnzimmer, lasse ihn aber nicht einen Augenblick los. Er scheint das auch zu merken.

"Ich laufe nicht weg."

"Wer weiß."

"Es tut mir leid, Mo … ich weiß, dass du allen Grund hättest mich wirklich zu hassen, aber dieses Mal bleibe ich."

Ich starre ihn an. Er hat "Mo" gesagt, nicht "Moritz"!

"Was ist?", fragt er argwöhnisch.

"Ach nichts. Ich bin froh, dass du hier bist, sonst hätte ich jemanden wahrscheinlich sehr unglücklich gemacht."

"Wen denn?"

"Manu und Benni."

"Und wer soll das sein?"

Ich muss laut lachen, so ulkig kommt mir die ganze Situation vor. "Erinnerst du dich, dass ich dir von meiner Geschichte erzählt habe?"

"Ja, aber… ach so. Sind das die Hauptfiguren?"

"Ja, und sie hätten mit großer Sicherheit auf den nächsten Seiten leiden müssen."

Jetzt sieht Kai mich anders an. Etwas Trauriges liegt in seinem Blick. "Ich wollte dich nicht verletzen."

In meiner Kehle bildet sich ein großer Kloß, den ich nicht runterschlucken kann. Ich will ihn nicht so traurig sehen, obwohl ich ihm recht geben muss.

Ich lege meinen Kopf auf seine Schulter und schmuse mich ein bisschen an ihn. Er legt sofort seine Arme um mich und krault mit den Fingerspitzen meinen Nacken. Das fühlt sich so ungewohnt schön an, dass auf einmal alles anfängt zu kribbeln. Nicht nur die Stelle, die seine Finger berühren. Einfach alles. Ich frage mich, ob es ihm genauso geht. Vielleicht fühlt er sich auch total unwohl.

"Wie kommt es, dass du hierher gekommen bist?", frage ich, ohne aufzusehen.

"Weiß ich auch nicht so genau. Wahrscheinlich weil ich es einfach nicht mehr ausgehalten habe … ohne dich."

"Wirklich?"

"Es war echt schwer in der Schule. Ich konnte dich sehen, aber nicht zu dir gehen."

"Warum nicht?"

"Weil ich befürchtet habe, dass ich mich dann nicht mehr zurückhalten kann. So wie eben."

"Und das wäre natürlich ein Weltuntergang gewesen", sage ich sarkastisch und könnte mir im nächsten Moment selber auf die Zunge beißen. Sehr hilfreich sind solche Kommentare bestimmt nicht.

"Ich kann einfach nicht so offen damit umgehen wie du."

"Wer hat denn mitten in der Fußgängerzone rumgeknutscht?"

"Das war was anderes. Das war nur …"

"Show."

"Ja, irgendwie schon", gibt er zerknirscht zu.

"Hast du Angst, dass man dich auslacht oder bedroht? Das kann an der Schule genauso wie in der Stadt passieren. Davor ist man nie ganz sicher. Wenn es dir in der Stadt und im Park egal ist, ob uns jemand sieht, warum dann nicht in der Schule?"

"Weil ich die Leute da jeden Tag sehen muss, verstehst du das nicht?"

"Doch schon." Lieber erst mal klein anfangen. Ich glaube nicht, dass ich irgendwie an ihn rankomme, wenn er sich von mir nicht ernst genommen fühlt. Es ist schon ein Wunder, dass er überhaupt her gekommen ist.

"Ich hab mit Tim gesprochen", sagt er irgendwann.

"Und?" Dass ich schon davon weiß, erwähne ich lieber nicht.

"Er hat gesagt, dass es dir nicht gut geht, und dass es meine Schuld ist. Ich hab vorher nie darüber nachgedacht wie du dich fühlst."

"Hauptsache du bist jetzt da."

"Es tut mir trotzdem leid. Ich wollte dich nicht so verwirren und erst recht nicht verletzen."

"Weiß ich doch."

Seine Finger streichen jetzt durch meine Haare und lassen mich beinahe alles vergessen, was in den letzten Wochen passiert ist. Kai ist so anders. Nicht, dass ich mich beschweren will, aber ich kann einfach noch nicht glauben, dass er wirklich hier ist. Bei dem Theater, das er veranstaltet hat, fällt es mir schwer zu glauben, dass ihm auf einmal alles egal ist. Akzeptiert er endlich, dass er schwul ist oder verschwindet er vielleicht doch wieder? Ich würde so gerne daran glauben, dass es von jetzt an besser wird.

"Woran denkst du?", fragt er.

"Ich frage mich, ob du es wirklich ernst meinst. Was denkst du, wie es jetzt weitergeht?"

"Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich bei dir sein möchte."

"Was ist mit unseren Freunden?"

"Anna ist so eine Plaudertasche", sagt er seufzend. "Und Susi ist noch schlimmer."

"Ist ja reizend. Können wir es ihnen nicht trotzdem sagen? Tim bringt uns sonst um."

Er dreht sein Gesicht zu mir und sieht mich nachdenklich an. Ich weiß, dass ich etwas verlange, das nicht leicht für ihn ist, aber ich will mich vor den anderen nicht verstecken.

"Okay, aber nur die Gruppe. Aus der Schule muss es niemand wissen."

"Kein Problem", sage ich glücklich und küsse ihn vorsichtig. Dieses für ihn riesige Opfer weiß ich wirklich zu schätzen. Seine Arme verschränken sich hinter meinem Rücken und ziehen mich noch näher zu ihm. Ich weiß nicht wie ich ihn jemals wieder loslassen soll. Dafür musste ich zu lange auf diesen Augenblick warten.

"Manchmal hätte ich dir am liebsten den Kopf abgehackt", sage ich und schaue ihn böse an.

"Das hab ich gemerkt. Ich hätte dich jedes Mal immer am liebsten hinter irgendeinen Busch gezogen."

"Ach, warum hast duŽs nicht getan?"

Er legt den Kopf schief.

"Ich wär bestimmt mitgegangen."

"Eben", sagt er und sieht mich vielsagend an.

"Du wolltest mich ja nur ins Bett kriegen", schmolle ich.

"Das hatten wir doch schon. Seit du mich im Park umarmt hast, wollte ich dich jedes Mal küssen, wenn ich dich gesehen habe."

"Aber wir haben uns doch gar nicht mehr oft gesehen."

"Du mich nicht, aber ich dich." Er wird ein bisschen rot bei diesem Geständnis und ich auch, als ich verstehe, was er mir sagen will.

"Du hast mich beobachtet?"

"Ja."

Unglaublich! Wir haben uns wochenlang verrückt gemacht und dabei doch nur aneinander gedacht. Hätte ihm das Licht nicht ein bisschen früher aufgehen können?

"Weißt du, was das Schlimmst war?", frage ich zögernd.

"Nein, was?"

"Als du mich Moritz genannt hast. Da dachte ich, dass es vorbei ist; dass ich mir keine Hoffnung mehr machen muss."

Wieder sieht er mich so traurig an. Er hat verstanden, was ich meine und fühlt sich schuldig. Langsam streicht er mit einer Hand über meine Wange, als wolle er es damit wieder gut machen. Und es funktioniert. Ich kann ihm nicht länger böse sein.

"Ich…", beginnt er, aber ich unterbreche ihn.

"Du musst dich nicht tausend Mal entschuldigen. Ich weiß, warum du das alles getan hast."

"Ich wollte mich gar nicht entschuldigen."

"Was denn dann?"

"Ich wollte sagen: ich liebe dich."

Alles dreht sich. Ich bin sprachlos. Das einzige, was ich noch kann, ist grinsen und ihn küssen. Nicht, dass das wirklich neu für mich ist, nein das nicht. Aber es ist doch etwas anderes, wenn man es schließlich gesagt bekommt.

Erst als ich das Geräusch einer zugeschlagenen Autotür höre, schrecke ich wieder hoch. Im ersten Moment ist mir gar nicht bewusst, dass meine Eltern uns hier vielleicht nicht so sehen sollten, aber dann werde ich auf einmal ganz hektisch. Was soll ich ihnen sagen?

"Meine Eltern kommen", sage ich zu Kai und stehe blitzschnell auf.

"Was?"

"Ich hab das Auto gehört."

Und dann dreht sich auch schon ein Schlüssel im Türschloss um und die Haustür geht auf. Kai sitzt wie versteinert auf dem Sofa und starrt meine Eltern an. Dass er sie so schnell kennenlernen würde, hätte er wohl auch nicht gedacht.

"Hallo Moritz", sagt meine Mutter. "Oh, du hast Besuch?"

"Äh, ja. Das ist Kai."

"Hallo", sagt er und zwingt sich zu einem Lächeln.

"Geht ihr in eine Klasse?" War ja klar, dass sie wieder alles genau wissen muss. Am liebsten würde ich sagen, dass sie das gar nichts angeht, aber das wäre wahrscheinlich nicht ratsam.

"Nein, Kai ist eine Klasse über mir."

"Ich muss jetzt auch wieder gehen", sagt er schnell, bevor noch mehr Fragen aufkommen.

"Wir sehen uns morgen?"

"Ja." Und dann verschwindet er so schnell es nur geht. Kaum hat er die Tür hinter sich geschlossen, überkommt mich ein ganz mulmiges Gefühl. Wahrscheinlich wird es von nun an immer so sein, dass wir uns nur heimlich hier treffen können, wenn meine Eltern nicht da sind. Und wann ist das schon mal so? Der Park ist auch noch eine Möglichkeit, aber ich kann mich nach der Schule nicht noch stundenlang rumtreiben, ohne dass ich meinen Eltern eine Erklärung abgeben muss. Wie soll ich ihnen denn erklären, was ich so lange mache? Ich befürchte, dass das ganz und gar nicht einfach wird. Vielleicht sollte ich mir aber auch nicht zu viele Gedanken machen und einfach mal abwarten. Erst mal bin ich jedenfalls froh, dass Kai endlich aufgewacht ist. Dieser Nachmittag war so überwältigend, dass ich noch gar nicht daran glauben kann. Es war einfach viel mehr als ich gehofft hatte. Und dann so plötzlich. Ich kann es kaum abwarten morgen in die Schule zu kommen.

"Wie lange kennt ihr euch denn schon? Du hast noch nie von ihm erzählt", sagt meine Mutter tadelnd. Ich hatte ganz vergessen, dass ich noch immer im Wohnzimmer stehe. Hoffentlich hat niemand meinen schmachtenden Blick bemerkt und die kleinen Herzchen, die aus meinen Augen hüpfen.

"Wir haben uns in den Ferien erst kenngelernt. Ich gehe in mein Zimmer."

Wie Kai ergreife ich schnell die Flucht, um den unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen. Ich sehe meiner Mutter an, dass sie eigentlich noch lange nicht fertig war. Mein Vater dagegen hat sich kommentarlos in sein Arbeitszimmer zurückgezogen und wird wohl auch die nächsten Stunden dort bleiben. Manchmal tut mir meine Mutter auch leid. Vielleicht wäre sie gar nicht so, wenn sie einen anderen Mann geheiratet hätte. Ich an ihrer Stelle hätte mir schon lange die Kugel gegeben. Sie ist fast immer allein, weil mein Vater so lange arbeitet und zuhause gleich damit weitermacht. Unglücklich wirkt sie eigentlich nicht, aber ich bin sicher, dass sie auch nicht ganz zufrieden ist. Wer weiß. Wenn sie mich nicht wie ein kleines Kind behandeln würde, könnte ich viel eher mit ihr auskommen. Bei meinem Vater ist das schon schwieriger. Er müsste sich von Grund auf ändern, wenn er das Verhältnis zwischen uns verbessern wollte, aber das ist leider ein Gedanke, an den ich mich nicht unbedingt klammern sollte. Wer ändert sich schon grundlegend?

Wenn ich doch nur etwas über Kais Eltern wüsste. Sind sie genauso oder noch schlimmer? Wissen sie, dass ihr Sohn schwul ist? Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, aber möglich wäre es rein theoretisch schon. Es würde alles sehr viel einfacher machen, wenn Kai zuhause mit jemandem reden könnte, und vielleicht könnten wir dann auch bei ihm ungestört zusammen sein. Ich schäme mich etwas bei dem Gedanken, aber dann hätte ich vielleicht auch ein zweites Zuhause, wo ich mich wohlfühlen könnte. Als ich bei Tim war, hatte ich auch schon so ein eigenartiges Gefühl. Seine Mutter war so anders als meine. So freundlich und hilfsbereit. Sie hat meine Mutter am Telefon sogar angelogen, obwohl sie gar nicht genau wusste warum eigentlich und für wen. Sie hat nicht nachgefragt und Tim und mich einfach allein gelassen. Sogar etwas zu essen habe ich bekommen. Das ist für mich eine richtige Familie.

Vielleicht verrät mir Kai morgen etwas über seine Eltern. Ich möchte nicht immer zu Tim gehen, wenn ich etwas über ihn wissen will. Das sollte jetzt auch eigentlich nicht mehr nötig sein. Ich hoffe, dass Kai mir so weit vertraut und mir etwas von seinem Leben erzählt. Genaugenommen wissen wir gar nichts voneinander. Ich weiß noch nicht mal, welche Musik er gerne hört und was seine Hobbies sind. Da sieht man mal, wie unwichtig so etwas sein kann.

Dass mir etwas derart Merkwürdiges mal passieren würde, hätte ich sowieso niemals gedacht. Ich meine, ich hab mich in einen Jungen verliebt, nachdem ich ihn nur einmal angesehen habe. Das ist doch nicht normal. Hätte mir jemand noch vor drei Monaten gesagt, dass ich in den Ferien jeden Tag mit einer Gruppe Jugendlicher in der Fußgängerzone rumlungern würde, hätte ich ihn für verrückt erklärt. So bin beziehungsweise war ich nicht. Tim und die anderen haben mich total umgekrempelt und es macht mir nicht mal etwas aus. Ich bin ganz froh, nicht mehr immer nur nach der Pfeife meiner Eltern zu tanzen, sondern das zu tun, wonach mir gerade ist. Durch den ganzen Stress mit Kai ist mir gar nicht aufgefallen wie sehr ich mich verändert habe.

Ich schließe meiner Zimmertür hinter mir und lasse mich aufs Bett plumpsen. Auf dem Nachttisch liegt noch eine angebrochene Tafel Schokolade, die ich mir jetzt Stück für Stück in den Mund stopfe. Ich weiß zwar nicht, ob mein Körper noch mehr Endorphine vertragen kann, aber was sollŽs. Ich konnte noch nie auf Süßes verzichten. Weder auf Schokolade, noch auf Kai. Weiß der Teufel, warum ich da immer nicht nein sagen kann. Am Süßigkeitenregal im Supermarkt vorbeizugehen, ist quasi unmöglich für mich, und Kai bin ich ja sogar noch nach tausendmaliger Abfuhr hinterher gelaufen.

Vielleicht bin ich zu misstrauisch, aber ich kann einfach nicht mit absoluter Sicherheit sagen, ob sich das gelohnt hat. Während unseres Kusses vorhin habe ich das alles ausgeschaltet und jetzt bekomme ich es nicht mehr aus dem Kopf. Wenn ich in seiner Nähe bin, denke ich immer, dass alles möglich ist; dass er sich wirklich ändern will. Und wenn er dann gegangen ist, macht das für mich alles keinen Sinn mehr. Immerhin habe ich mitbekommen wie schwer es für ihn ist, sich selbst zu akzeptieren und ich habe darüber gelesen.

Deshalb war ich auch so erstaunt, als er einverstanden war, dass wir unseren Freunden von uns erzählen. Er hat zwar gezweifelt, aber er hat mir seine Zustimmung gegeben. Wenn ich nur wüsste, wo bei ihm die Grenzen sind. Es Freunden zu erzählen scheint eher ein kleines Problem zu sein, aber was ist mit der Familie und mit völlig Fremden. Aber das größte Fragezeichen ist bei mir immer noch, wovor er eigentlich genau Angst hat.

Benni ist immer noch angespannt. Seit ich ihm gesagt habe, dass Patrick wieder aufgetaucht ist, benimmt er sich ganz merkwürdig mir gegenüber. Ich will das eigentlich gar nicht denken, aber manchmal frage ich mich, ob er nicht doch Angst hat, dass ich ihn verlasse. Er sieht mich immer so komisch an, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme und das erste, das er mich fragt, ist immer, ob Patrick wieder da war. War er aber nicht. Für mich ist es schon anstrengend genug, jeden Tag in die Redaktion zu gehen und immer damit rechnen zu müssen, dass dort schon jemand auf mich wartet. Aber wenn ich dann auch noch zuhause damit konfrontiert werde, ist das einfach zu viel. Ich möchte mich zuhause bei Benni wohl fühlen und nicht neben jemandem einschlafen, der mir nicht vertraut. Ich weiß ja nicht, was in Bennis Kopf vorgeht. Eifersüchtig wäre ich an seiner Stelle bestimmt auch, aber das muss man doch nicht so auffällig zeigen. Ich könnte ihm jedes Mal den Kopf abhacken, wenn er mich so misstrauisch ansieht. Und wenn sich unsere Lippen berühren, ist es immer, als würde ich eine Statue küssen.

Jetzt ist gerade wieder so ein Moment. Ich komme aus der Redaktion nach Hause, schließe die Tür auf und sehe Benni schon aus der Küche auf mich zu kommen.

"Nein", sage ich, ohne die Frage abzuwarten.

"Wie nein?"

"Nein, er war nicht da."

"Das wollte ich dich doch gar nicht fragen", sagt er schnippisch.

"Ach, das ist ja mal ganz was Neues!" Natürlich wollte er das fragen. Was denn sonst? Wie mein Tag war? Das hat er mich schon ewig nicht mehr gefragt.

"Musst du mich gleich so anblubbern?"

"Musst du mir immer auf die Nerven gehen?"

Oh je, so weit ist es also schon gekommen. Wir können nicht mal mehr normal miteinander reden. Benni funkelt mich böse an. "Entschuldige bitte!" Er lässt mich einfach stehen und setzt sich im Wohnzimmer auf den Sessel. Ich beschließe, ihn einfach zu ignorieren und suche mir in der Küche etwas zu essen zusammen. Er hat währenddessen den Fernseher angeschaltet und sieht sich irgendeine Sportsendung an. Einen Moment starre ich ihn an, aber er hat nur Augen für den Bildschirm. Ich wende mich ab und verschwinde im Schlafzimmer. Lieber sitze ich hier auf dem Bett und esse in Ruhe, als dass ich mir seine schlechte Laune antue. Hier kann ich immerhin die Tür zu machen und ein wenig abschalten.

Sonst haben wir uns immer zusammen aufs Sofa gesetzt und vom Tag erzählt. Er von seinen ekligen Krankenhausgeschichten und ich von allem Möglichen, über das wir in der Zeitung schreiben. Jetzt sitzt er im Wohnzimmer vorm Fernseher und ich im Schlafzimmer mit meinem Mittagessen. Zum Kotzen!

Als ich meinen Teller zurück in die Küche bringe, ist Benni verschwunden. Der Fernseher ist aus und der Sessel leer. Im Badezimmer ist er auch nicht. So langsam bekomme ich Angst. Warum geht er einfach, ohne mir was zu sagen? Ist es jetzt schon so weit, dass er es nicht mehr mit mir in einer Wohnung aushält? Das kann doch nicht sein. Ist der nicht mehr ganz dicht?!

Ich gehe zurück ins Schlafzimmer. Wenn ich alleine bin, fühle ich mich hier am wohlsten, weil es ein kleiner, gemütlicher Raum ist. Ich könnte auch nie in einem großen Haus wohnen. Die vielen Zimmer und großen Räume bewirken immer nur, dass ich mich wahnsinnig klein und einsam fühle.

Von diesen merkwürdigen, zusammenhanglosen Gedanken muss ich irgendwann eingeschlafen sein. Es ist auf einmal so heiß hier. Ich blicke mich um und sehe, dass die Bettdecke über mir ausgebreitet ist. Dann fällt mein Blick auf den Arm, der um meine Taille gelegt ist. Benni liegt neben mir. Wo war er? Wann ist er zurückgekommen?

Ich liege mit dem Rücken zu ihm, sodass ich nicht sehen kann, ob er wach ist. Aber als ich nach seiner Hand greife, schließen sich seine Finger um meine. Es fühlt sich an wie immer. Als ob überhaupt nichts gewesen wäre.

"Wo warst du?", frage ich leise.

"In der Stadt. Wir hatten nichts mehr zu Essen." Seine Stimme ist so weich wie ich sie lange nicht mehr gehört habe. Es ist verrückt, aber diese wenigen Tage, in denen wir nicht normal miteinander umgehen konnten, fühlen sich an wie einige Wochen. Hoffentlich ist das jetzt vorbei. Ich bin froh, dass er den ersten Schritt gemacht hat.

"Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt?"

"Ich wollte dich nicht nerven."

Ich drehe mich zu ihm um und sehe ihm in die Augen. Er lächelt, aber so ganz echt sieht es noch nicht wieder aus. Ich weiß nicht, was ich tun oder sagen soll, also kuschel ich mich einfach an ihn. Seine Arme schlingen sich sofort um mich und geben mir endlich wieder das Gefühl, dass alles in Ordnung ist. Zumindest zwischen uns.

"Ich dachte schon, dass Patrick alles kaputt macht", sage ich.

"Wie kommst du denn darauf?"

"Du warst so komisch in den letzten Tagen. Was hast du denn gedacht? Dass ich doch wieder zu ihm zurück gehe?"

"Nein, eigentlich nicht. Ich weiß ja, wie sehr du ihn hasst. Aber gleichzeitig hab ich immer daran gedacht, dass du glücklich mit ihm gewesen sein musst, weil du so fertig warst, als plötzlich Schluss war, und weil du dieses bescheuerte Armband immer noch trägst."

"Das hat aber nichts mit Patrick zu tun. Ich wollte es gerne haben, weil es mir gut gefallen hat und Patrick war nun mal derjenige, der es mir geschenkt hat. Das kann ich nicht ändern."

"Ich weiß, aber…"

Ich unterbreche ihn und sehe ihn so überzeugend an wie es gerade möglich ist.

"Du hast überhaupt keinen Grund eifersüchtig zu sein. Patrick ist ein Arsch und ich will ihn nach Möglichkeit nie wieder sehen. Du kannst zwar auch manchmal ziemlich unerträglich sein, aber dich hab ich trotzdem lieb."

"Ach ja?", sagt er und drückt mich auf die Matratze. Ich muss grinsen. So kenne ich meinen Benni und ich will ihn auch gar nicht anders haben.

Dann endlich legt er seinen Mund auf meinen und küsst mich das erste Mal wieder richtig. Wenn man mal eine längere Zeit darauf verzichten musste, merkt man erst, wie wichtig das ist und deshalb bekomme ich jetzt auch gar nicht genug davon.

Die Schule ist aus und ich schlendere gemütlich an der Straße entlang. Mit Kai. Wir gehen nämlich zu ihm nach Hause.

Ich hab ihn heute in der Pause ein bisschen über seine Eltern ausgefragt und bin fast vom Hocker gefallen, als er mir erzählt hat, dass sie schon alles wissen. Sie waren sogar die Ersten, die davon erfahren haben und jetzt soll ich sie kennenlernen. Meiner Mutter hab ich gesagt, dass ich bei Kai bin und sie war ganz aus dem Häuschen. Er sei ja so ein netter Junge und habe bestimmt einen guten Einfluss auf mich, weil er ja schon älter und vernünftiger ist. Ich musste sehr an mich halten, um nicht in den Hörer zu prusten. Kai konnte sich allerdings überhaupt nicht zurückhalten, als ich ihm davon erzählt habe. Es ist schön ihn mal so richtig fröhlich zu sehen. Ich kenne bei ihm eigentlich nur dieses traurige oder verzweifelte Gesicht. Jedenfalls scheint er sich wirklich zu freuen, mich seinen Eltern vorzustellen. Sie hatten sich bestimmt auch schon Sorgen gemacht.

Tim, Lippe, Anna und Susi konnten wir es aber noch nicht erzählen, weil wir nie alleine waren. Immer standen noch andere Leute aus deren Klasse bei uns. Irgendetwas müssen sie allerdings bemerkt haben, weil Kai und ich ganz normal miteinander umgegangen sind. Das kann ihnen nicht entgangen sein. Glücklicherweise hat uns niemand darauf angesprochen. Sie haben wohl gemerkt, dass es nicht gleich die ganze Schule wissen sollte.

"Du musst nicht nervös sein", sagt Kai und lächelt mich an. "Sie mögen dich ganz bestimmt."

"Ich weiß nicht."

"Mach dir keinen Kopf. Sie sind nicht wie deine Eltern."

"Das ist ja auch nicht so schwierig. Die sind einzigartig."

Er legt einen Arm um mich und klopft einmal auf meine Schulter. "Wer könnte dich denn nicht mögen?"

Ich bin noch ein bisschen verdattert über diese öffentliche Berührung und antworte deshalb nicht. Er lässt mich wieder los und schweigt ebenfalls bis wir vor seiner Haustür stehen.

"Du musst nicht mit rein kommen, wenn dir das so unheimlich ist", sagt er, aber ich sehe, dass ihn das enttäuschen würde. Ich will ja auch unbedingt seine Eltern kennenlernen, aber das ist so neu für mich. Ich wurde noch nie jemandem als Freund vorgestellt. Noch nicht einmal bei einem Schulfreund, weil ich nie jemanden hatte, der mich zu sich nach Hause eingeladen hat.

"Doch, ich will."

"Okay." Er sieht sich um und nimmt dann plötzlich meine Hand.

Im Haus riecht es nach Kuchen. Ich will nur hoffen, dass Kais Eltern den nicht extra für mich gebacken haben. Mit solchen Gesten kann ich nämlich überhaupt nicht umgehen. Das ist mir immer so peinlich, wenn sich jemand diese Mühe macht.

"Hallo?", ruft Kai. "Wir sind da."

"Hallo, Schatz, ich bin in der Küche!", höre ich eine Frauenstimme antworten.

Wir ziehen uns die Schuhe aus und gehen dann den Flur entlang. Es sieht auf jeden Fall alles sehr einladend warm aus. Man bekommt sofort den Eindruck, dass hier nette Menschen wohnen. Eine kleine Kommode fällt mir als erstes auf. Die sieht aus wie aus dem 19. Jahrhundert. Bestimmt ein Erbstück, aber sehr hübsch. Meine Güte, bin ich nervös. Wenn ich schon anfange die Einrichtung zu beurteilen, muss es sehr schlimm um meine Nerven stehen. Normalerweise fällt mir so etwas nämlich nicht auf.

Der zweite Raum auf der rechten Seite ist die Küche. Kai geht vor und zieht mich hinter sich her. Gerade kommt eine riesige Rauchwolke aus dem Ofen und mitten darin steht eine hübsche Frau mittleren Alters. Sie wedelt mit den Händen und sieht dann mich an.

"Hallo, du musst Moritz sein", sagt sie freundlich und reicht mir die Hand. "Du kannst mich gerne Marion nennen. Ich denke wir werden uns jetzt wohl öfter sehen."

Ich bin wahrscheinlich knallrot im Gesicht, versuche aber trotz meiner Nervosität so höflich wie möglich zu sein. "Ja, hallo. Freut mich Sie … dich … kennenzulernen."

"Er ist ja wirklich süß, Kai. Wenn ihr wollt, könnt ihr nachher noch ein Stück Kuchen essen."

Ich wusste es!

"Ja, vielleicht. Wir gehen erst mal hoch, oder?" Er sieht mich fragend an.

"Ja." Ich möchte nur noch raus aus dieser peinlichen Situation.

In seinem Zimmer fühle ich mich schon viel wohler. Nicht nur, weil wir jetzt alleine sind, sondern auch, weil es hier so gemütlich ist. Das Zimmer ist nicht groß und deshalb auch etwas überfüllt, aber nicht unordentlich. Man kann genau sehen, mit was sich Kai in seinem Leben beschäftigt hat. Ich mag es immer nicht, wenn ein Zimmer so zwanghaft modern ist. Es ist doch viel besser, wenn man beim Anschauen schon erkennen kann, was für ein Mensch hier lebt.

Das Bett ist riesengroß und schön weich. Einen Schreibtisch gibt es nicht, aber einen kleinen Tisch unter dem Fenster, auf dem ein Laptop liegt. Gleich links im Raum steht ein Kleiderschrank und daneben ein Sofa. Ein kleines Bücherregal gibt es auch, aber das läuft schon über, sodass auch ein paar Bücher davor auf dem Boden liegen. Das Beste ist aber die große Korkpinnwand über dem Bett, an der ganz viele Fotos, Eintrittskarten und Postkarten hängen.

"Na fertig?", höre ich Kai fragen und drehe mich um. Er steht immer noch an der Tür und grinst. "Ich hab noch nie gesehen, dass sich jemand ein Zimmer so genau anschaut wie du."

"Es gibt ja auch viel zu sehen."

"Und? Gefällt es dir?", fragt er, während er auf mich zu kommt.

"Ja, es passt zu dir."

Er steht jetzt ganz dicht vor mir. "Und meine Mutter? War es so schlimm sie kennenzulernen?"

"Nein, aber ich will nicht, dass sie mich süß findet. Das klingt so komisch, wenn sie das sagt."

"Und wenn ich es sage?"

"Das muss ich mir noch überlegen."

"Hm", sagt er schmunzelnd und setzt sich im Schneidersitz auf sein Bett. Mich zieht er an der Hand hinterher. "Ich hab dich vermisst."

"Ich dich auch." Auf einmal ist wieder dieses kribblige Gefühl da, das sich immer durch meinen Körper schleicht, wenn Kai so nahe bei mir ist. Er streckt seine Hand aus und streicht über meine Wange. Das macht es nicht leichter. Dann wandert sie in meinen Nacken und zieht mich näher zu ihm. Als sich unsere Lippen berühren, weiß ich wieder ganz genau, warum ich so lange gewartet habe, und dass es sich doch gelohnt hat.

Der Kuss wird immer fordernder und Kais Hände haben sich schon lange unter mein T-Shirt geschoben. Irgendwann liege ich auf dem Rücken und Kai auf mir. Meine Beine haben sich wie von alleine um seine Hüften geschlungen und meine Finger suchen immer wieder nach einer neuen Stelle, wo sie sich festhalten können. Ich möchte ihn einfach nicht wieder loslassen. Nicht so wie bei Tim oder gestern bei mir. Ich möchte am liebsten nie wieder etwas anderes tun. Wer braucht schon Schule oder die nervigen Eltern. Sogar Tim und meine anderen Freunde sind mir jetzt gerade reichlich egal. Manu würde es genauso gehen. Endlich bin ich ein Stückchen mehr wie er.

Mein Atem wird immer schneller, je weiter Kais Hand meinen Bauch entlang nach unten wandert und als sie über die Innenseite meines Oberschenkels streicht, vergesse ich für einen Moment ganz zu atmen. Kai bemerkt meine Reaktion und sieht mich ein bisschen geschockt an. "Sorry, ich hab … vielleicht sollten wir lieber aufhören."

"Nein, wieso denn?"

"Ich will dich nicht überfordern. Wir sollten das etwas langsamer anfangen."

"Du überforderst mich nicht."

"Ich will aber nicht, dass du das nachher bereust oder denkst, dass ich nur …"

"Was? Dass du wieder nur mit mir schlafen wolltest? Das denke ich nicht." Warum wollen nur immer alle anderen wissen, was am besten für mich ist?!

Er seufzt und legt seinen Kopf auf meine Brust. "Ich will einfach nichts falsch machen."

Vielleicht hat er ja auch recht. Obwohl ich jetzt schon ein wenig enttäuscht bin. Jedenfalls ist ein Streit das Letzte, das ich jetzt möchte.

"Bist du jetzt sauer?"

"Nein. Ich will nur nicht immer derjenige sein, auf den man Rücksicht nehmen muss. Das ist überhaupt nicht nötig."

"Ich weiß. Das war wohl eher ich. Wenn du nicht so hartnäckig gewesen wärst, wären wir vielleicht gar nicht hier."

"Genau! Da hast du's."

Er lacht und küsst mich kurz. "Ich liebe dich und du bist wirklich süß."

"Okay, bei dir hört sich das besser an. Du hast meine Erlaubnis es öfter zu sagen."

"Wow, was für eine Ehre."

Er kuschelt sich wieder an mich und wir bleiben eine ganze Weile so liegen.

Wir sind nicht eingeschlafen, das wäre ja auch Verschwendung, aber die Zeit vergeht trotzdem viel zu schnell. Ich mag gar nicht daran denken, dass ich irgendwann wieder nach Hause gehen muss. Zu meinen Eltern, in mein leeres Zimmer. Einmal kam mir ganz kurz der Gedanke, dass ich einfach hier bei Kai bleibe. Immer. Aber dann hat sich das schlechte Gewissen gemeldet und gesagt, dass ich das meiner Mutter nicht antun kann. Kais Eltern wären bestimmt auch nicht gerade begeistert noch jemanden durchfüttern zu müssen. Und offensichtlich ist es ja auch gar nicht nötig, dass ich hier einziehe, wenn ich jeden Tag nach der Schule her kommen kann.

Das ganze Schönreden hilft aber auch nicht, wenn ich Kai ansehe. Seine strahlenden Augen, die verführerischen Lippen… Jeder Gedanke ans Nachhausegehen ist dann nicht mehr möglich.

"Die anderen wollen morgen nach der Schule mal wieder in den Park gehen, kommst du mit?", fragt Kai.

In den Park. Mit Kai. Wäre einen Versuch wert. Mal sehen, ob wir es schaffen, dass nicht wieder jemand abhaut. Dann können wir auch endlich das Geheimnis lüften, ohne dass jemand zuhört.

"Ja, klar", stimme ich also zu.

"Ist es für dich auch so komisch?"

"Was?"

"Zusammen in den Park zu gehen. Bisher ist das immer nicht so gut ausgegangen."

"Ja, daran hab ich auch gerade gedacht. Aber jetzt haben wir immerhin die Chance das zu ändern. Oder bist du so abergläubisch, dass du nie wieder hingehen willst?"

"Nein, überhaupt nicht", sagt er und dreht sich auf den Rücken. Wir liegen jetzt Schulter an Schulter nebeneinander und sehen uns an. "Irgendwie hat ja auch alles da angefangen."

"Ja, und beinahe hätte es da auch wieder geendet."

"Hört sich ganz so an, als seiest du zu abergläubisch, um wieder hinzugehen." Er grinst.

"Bin ich aber nicht."

"Also gehen wir morgen mit?"

"Ja."

"Und jetzt? Es ist schon dunkel", sagt er und schaut aus dem Fenster.

"Willst du mich loswerden?" Ich piekse ihm einmal kurz in die Seite, dann noch mal und dann kann ich nicht mehr aufhören. Ihn zu berühren, ist wie eine Sucht.

Er krümmt sich zusammen und versucht meine Hände abzuwehren, aber ich finde immer wieder eine Stelle, die er nicht verdecken kann. Ich bin über ihn gebeugt und dann zieht mich auf einmal eine Hand zu ihm runter. Ich höre sofort auf ihn zu kitzeln und er grinst mich frech an.

"Gibst du immer so schnell auf?"

"Ich habe eben meine Prioritäten."

"Gut zu wissen." Er hebt seinen Kopf und küsst mich. "Meinst du nicht, dass deine Eltern sich Sorgen machen?"

"Du willst mich also doch loswerden."

"Ich will nur nicht, dass du dir eine Standpauke anhören musst."

Ich setze mich auf. "Ist mir doch egal, was meine Eltern denken."

"Das kann ja sein, aber du musst es doch nicht drauf ankommen lassen. Wir sehen uns außerdem morgen in der Schule und danach gehen wir in den Park."

"Ich hab aber noch gar nichts von dem Kuchen bekommen, den deine Mutter gebacken hat."

Das haben wir tatsächlich total vergessen, aber natürlich ist das jetzt nur eine Ausrede.

"Ich bringe dir morgen was davon mit."

"Hm", sage ich nur und schaue ihn böse an.

"Soll ich dich nach Hause bringen?"

"Nein, das schaffe ich gerade noch alleine."

"Umso besser", sagt er und setzt sich ebenfalls auf. Seine Hände an meinem Gesicht fühlen sich schön warm an und sein Mund auf meinem noch um Einiges mehr.

Als ich aufstehe, fällt mir eines der Fotos auf, das mit einer Reißzwecke an der Pinnwand befestigt wurde. Kai ist darauf zu sehen mit einem anderen Jungen, der genau dieselben Augen hat. Es ist fast unheimlich wie die beiden mich ansehen. Mit dem gleichen Blick.

"Wer ist das?", frage ich neugierig. Ich wäre ja eifersüchtig, weil die beiden Jungen so vertraut aussehen, aber diese Ähnlichkeit ist zu offensichtlich. Wahrscheinlich jemand aus der Familie.

"Das ist… mein Cousin." Kais Stimme klingt belegt.

"Ihr seht euch ziemlich ähnlich. Das Foto ist aber schon älter, oder?"

"Ja, das war vor drei Jahren. Kurz darauf ist er gestorben."

"Oh Gott, tut mir leid. Wie ist das passiert?"

"Ein Unfall", sagt er schnell und tonlos und öffnet die Zimmertür. Offensichtlich möchte er nicht darüber reden.

Was muss ich auch immer so neugierig sein? Ich kann Kai ansehen, dass er seinen Cousin sehr mochte. Auf dem Bild sehen beide sehr glücklich aus.

Die Stimmung ist irgendwie gekippt. Kai sieht mir abwesend dabei zu wie ich meine Schuhe anziehe und obwohl er sich scheinbar große Mühe gibt normal zu sein, habe ich das Gefühl, dass ihm etwas zu schaffen macht. Er ist ganz still und auch als wir uns zum Abschied noch einmal küssen, fühlt es sich komisch an. Ein kleines, schwaches Lächeln umspielt seine Lippen und ich mache mich auf den Weg nach Hause.

Mir ist auf einmal sehr kalt, obwohl es immer noch um die 17, 18 Grad sein müssen. Ich verlasse widerwillig das Grundstück und versuche mir selber zu erklären, was eben passiert ist. Es muss etwas mit dem Foto zu tun haben, aber warum redet er nicht mit mir darüber? Ich dachte die Zeit der Geheimnisse und versteckten Gefühle wäre vorbei.

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