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Manu und ich
Teil 9
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Informationen
- Story: Manu und ich
- Autor: Ike
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Lovestory
In der Nacht hatte ich einen waschechten Alptraum. Mit allem drum und dran, das heißt mit angsteinflößendem Inhalt, Schreien beim Aufwachen und Heulen danach. Es war mir so peinlich, weil mich bisher noch nie ein Traum so mitgenommen hatte, dass ich schreien musste, aber ich konnte in dem Moment nicht darüber nachdenken. Ich konnte mich nur noch an meine Bettdecke krallen und versuchen, das Schluchzen so leise wie möglich zu halten. Erst morgens – als ich eine Stunde vor dem Weckerklingeln aufgewacht war – war es möglich, mit einem einigermaßen klaren Kopf zu überlegen, was all das zu bedeuten haben könnte.
Wie schon in der Nacht, als ich bei Kai geschlafen hatte, hab ich in dem Traum praktisch alles von oben beobachtet. Ich habe Kai mit unseren Freunden in der Fußgängerzone sitzen sehen und es schien alles normal zu sein. Sie saßen alle in den üblichen Gruppen zusammen, bis sich das Bild auf einmal änderte. Lippe, Anna und Susi saßen plötzlich allein, genau wie die anderen drei Jungs, mit denen ich weniger zu tun hatte. Sie alle starrten in eine Richtung. Ich fragte mich, wo Tim und Kai wohl abgeblieben waren und folgte schließlich dem Blick der anderen. An der Mauer saß Kai und dann sah ich auch Tim. Er hatte beide Arme um Kai geschlungen und küsste ihn sehr leidenschaftlich. Zumindest sah es so aus als hätten beide ihren Spaß. Dann war Tim wieder verschwunden und an seiner Stelle saß der blonde Junge, der damals schnell das Weite gesucht hatte, nachdem ihm meine Freunde so unsanft von Kais Absichten erzählt hatten. Ich schüttelte einmal kräftig den Kopf und sah noch mal hin. Dieses Mal saß ich auf Kais Schoß. Na also, dachte ich und entspannte mich wieder. Ich beobachtete mich selber und fühlte ein wohliges Kribbeln im Bauch als ich sah, dass alles in Ordnung war. Ein ganz anderes Kribbeln tauchte dann allerdings auf, als das Ich, das auf Kais Schoß saß, den Kopf hob und mich frech grinsend anstarrte. Das war mein Körper, aber das Gesicht von Kais verstorbenem Cousin. Mir wurde schlecht.
Das Finale kam aber erst, als Kai die Veränderung bemerkte und den Jungen erschrocken von sich schubste. Der Boden der Fußgängerzone verschwand und an seiner Stelle tauchten wie aus dem Nichts Bahngleise auf. Der Junge mit meinem Körper und dem Gesicht von Kais Cousin stürzte auf eines der Gleise und wurde von einem Zug erfasst. Sein Schrei vermischte sich mit meinem, als ich aus dem Traum aufwachte.
Ich zittere immer noch, wenn ich jetzt daran denke. Es war alles so echt. Ich habe sogar Kais Stoß gespürt. Warum habe ich das geträumt? Warum Kais Cousin? Ich kann mir das nicht erklären. Das Thema war doch abgeschlossen. Kai hat mir alles erzählt. Oder nicht? Ich muss sofort daran denken, was er mir gestern Abend gesagt hat. Irgendetwas verheimlicht er mir, aber das kann doch nichts mit seinem Cousin zu tun haben. Ich habe ihn nur gefragt, warum er geweint hat. Bestimmt hatte das nichts damit zu tun. Ich war nur so aufgewühlt und habe mir irgendeinen Schwachsinn zusammengeträumt. Das passiert schließlich öfter.
Unausgeschlafen und aus irgendeinem absurden Grund verängstigt, mache ich mich auf den Weg zur Schule. Das Klingeln eines Fahrradfahrers lässt mich beinahe auf den nächsten Baum springen, so sehr habe ich mich erschrocken und als mich plötzlich jemand von hinten packt, schreie ich einmal kurz und schrill auf. Mein Güte, wie peinlich. Ich bin doch sonst nicht so schreckhaft.
"Hey, was ist denn mit dir los?", fragt Kai kichernd. "Ich bin's doch nur."
Nur ist gut. Als ich sein Gesicht sehe, kann ich mich gerade noch davon abhalten, einen Schritt zurück zu springen. Das kann doch nicht sein. Ich habe Angst vor Kai?
"Hallo? Du tust ja gerade so als wollte ich dich umbringen." Er lacht.
Mir ist schlecht.
"Hey, du siehst total blass aus. Geht's dir gut? Mo?"
Und dann kommt das Peinlichste überhaupt: vor meinen Augen ist auf einmal alles schwarz.
Von einem komischen ruckelnden Gefühl und einem entsetzten Kreischen wache ich wieder auf. Irgendwie bewege ich mich vorwärts, aber ich kann mir nicht erklären, wie. Unter mir zittert etwas und mein Atem prallt an einer weichen Oberfläche ab.
"Moritz?", höre ich jemanden rufen und im gleichen Augenblick falle ich ein Stück nach unten. Das Zittern hat aufgehört und ich werde langsam auf etwas gelegt, das sich wie Gras anfühlt. Ich öffne die Augen und sehe wie, sich zwei besorgt aussehende Personen über mich beugen. Meine Mutter und Kai.
"Was ist passiert?", fragt meine Mutter aufgeregt.
"Ich weiß nicht. Er ist einfach umgekippt."
"Hast du ihn den ganzen Weg von der Schule hier her getragen?"
"Ja."
Ach deshalb hat es so geruckelt. Kai hat mich getragen. Meine Augen fallen wieder zu. Ich fühle mich als hätte ich ein Woche nicht geschlafen.
"Wir müssen ihn reinbringen", sagt meine Mutter.
"Ich mach das."
"Nein, das ist zu schwer."
"Das kurze Stück schaffe ich auch noch." Dann ist das Ruckeln wieder da und das Zittern auch. Es wird immer schlimmer und ich bekomme Angst, dass ich gleich falle, aber dann werde ich schon wieder abgelegt.
"Danke, Kai."
"Kein Problem."
"Vielleicht liegt es daran, dass er heute Morgen nichts gegessen hat. Er sagte nur, er wolle sich in der Schule etwas kaufen. Moritz?"
Ich schlage widerwillig die Augen auf, als mich eine Hand an der Stirn berührt.
"Ich will ins Bett", sage ich leise.
"Ich trage dich hoch", bietet Kai sofort an und steht auf.
"Nein. Ich hab zwei Beine. Ich gehe selber."
"Ich rufe in der Schule an", sagt meine Mutter. "Begleitest du ihn nach oben, Kai? Soll ich dich auch abmelden?"
"Ja, bitte. Meine Eltern rufe ich gleich selber an."
Warum sollte er, frage ich mich. Die denken doch sowieso, dass er in der Schule ist. Er kann es ihnen auch nachher sagen.
"Ich komme gleich nach." Dann verschwindet sie in der Küche.
Mit Kais Hilfe schaffe ich es relativ schnell in mein Zimmer und lege mich ins Bett. Wie gerne würde ich ihn jetzt zu mir ziehen und in seinen Armen einschlafen, aber meine Mutter wird gleich reinkommen. Außerdem … hatte ich nicht gerade noch Angst vor ihm und bin deshalb umgekippt? Werde ich verrückt?
"Du siehst nicht gut aus", sagt er mit einem merkwürdig bedrückten Tonfall.
"Danke."
"Was ist los mit dir? Ich hätte nicht gedacht, dass es dich so schnell umhauen kann."
"Ich weiß nicht", lüge ich. "Ich bin einfach nur müde."
In Wirklichkeit denke ich, dass es etwas mit dem Traum zu tun hatte, aber davon werde ich Kai nichts erzählen. Ich kann auch meine Geheimnisse haben, oder nicht? Er würde sich nur noch mehr Sorgen machen und sich schuldig fühlen.
Einmal, kurz und eindeutig zu schnell für meinen Geschmack, streicht er mir über den Kopf und ich fühle mich ertappt. Er sieht so schuldbewusst aus. Aber er kann doch unmöglich von dem Traum wissen.
"Ich mache dir viel zu viel Stress", sagt er ernst.
"Nein", lüge ich wieder und er glaubt mir nicht eine Sekunde.
"Ich weiß es."
Wenig später kommt meine Mutter rein und setzt sich neben mich, um mir tausend Fragen zu stellen. Ich sage ihr, dass ich gerne einfach nur schlafen möchte und frage vorsichtig, ob Kai vielleicht bleiben darf. Sie zögert nicht eine Sekunde, nickt und geht wieder.
"Komm zu mir."
Kai setzt sich mit dem Rücken zur Wand aufs Bett und ich lege meinen Kopf auf seinen Schoß. Seine Finger streichen, jetzt langsamer, durch meine Haare. Wie konnte ich nur Angst vor ihm haben? Nur wegen dieses blöden Traumes machen sich jetzt alle Sorgen um mich. Bescheuert! Es war doch nur ein Traum!
Aber leider war es ein Traum, der mich noch die ganze Woche verfolgte. Und sogar darüber hinaus. Unsere Freunde wollten natürlich wissen, warum Kai und ich nicht in der Schule gewesen waren und behandelten mich fortan, als könnte ich jeden Moment tot umfallen. Meine Mutter bestand darauf, dass ich auch den Tag nach meinem kleinen Zusammenbruch noch zuhause blieb, wollte es aber nicht verantworten, dass Kai in der Schule noch mehr verpasste. Ich war also den ganzen Tag allein.
Am Wochenende durfte ich wegen des Hausarrestes auch noch nicht weg, aber Kai war so gütig und leistete mir Gesellschaft. Wir redeten nicht viel miteinander, weil mir nur dieser Traum im Kopf herum spukte und er sich offensichtlich immer noch Vorwürfe machte. Ich konnte nur hoffen, dass er in seinen Gedanken auch berücksichtigte, dass ich an ihm kleben würde wie Kaugummi, falls er sich aus irgendeinem bescheuerten Grund von mir würde trennen wollen. Glücklicherweise schien das nicht der Fall zu sein, denn das Gefühl von seinen Lippen auf meinen war immer noch dasselbe und seine Hände fühlten sich immer noch schön warm an, wenn sie an meinem Gesicht, Bauch oder Rücken lagen. Das Einzige, das in dieser Hinsicht zwischen uns stand, war mal wieder das Thema Sex. Kai hatte mir sehr unmissverständlich klar gemacht, dass er keinen von uns noch mal so damit überfallen wollte wie das letzte Mal. Er sagte, er wolle nicht noch etwas falsch machen und wehrte jedes Gegenargument von mir sofort ab. Ich stehe dabei natürlich mal wieder zwischen zwei Stühlen. Einerseits möchte ich nicht, dass Kai sich noch mal so schlecht fühlt und wir uns tagelang nicht in die Augen sehen können, aber auf der anderen Seite kann ich dieses glühende Gefühl, das mich bei jeder seiner Berührungen überkommt, nicht einfach auslöschen. Besonders schwierig ist es, mir die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, wenn er mich mal wieder von sich schiebt.
Vielleicht hat er aber auch recht und jetzt ist wirklich nicht unbedingt der richtige Zeitpunkt, um an so etwas zu denken. Oh je, ich höre mich schon an wie er.
Am Sonntagabend liege ich im Bett und schimpfe mit mir selber, dass ich mir wegen jedem Dreck immer gleich so viele Gedanken mache. Kein Wunder, dass da etwas in mir auch mal streikt und sagt: bis hier und nicht weiter. Ich nehme mir also vor, mit diesem Traum abzuschließen und in der Sache mit Kai einfach noch eine Zeit lang abzuwarten. Immerhin hat er nicht gesagt, dass er nie wieder mit mir schlafen will. Er will nur das nächste Mal gründlicher darüber nachdenken und nicht aus irgendeiner Paniksituation heraus etwas überstürzen. Ich werde mich daran halten und ihm die Zeit geben, die er braucht. Das scheint mir gerade die einfachste Lösung zu sein. In guten wie in schlechten Zeiten, oder nicht?
Eine Weile liege ich einfach nur da und starre die Decke an. Wie es wohl wäre, wenn Kai ein Mädchen wäre? Kann es wirklich sein, dass dann alles so viel einfacher wäre? Und wenn ja: ist das fair? Man kann es sich doch nicht aussuchen, in wen man sich verliebt.
Dann denke ich an Manu, mache das Licht wieder an und fange an zu schreiben.
Ich hab vielleicht einen Mist geträumt! Mal wieder. Patrick ist in unser Haus eingebrochen und hat mich verschleppt. Bin schweißgebadet aufgewacht, aber ich glaube, Benni fand das Ganze noch weniger lustig. Er nimmt das viel zu ernst und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, fragt er sich, warum ich davon träume, dass Patrick mich entführt. Wann er wohl endlich mal kapiert, dass nicht mal der Hauch einer Chance besteht, dass ich Patrick jemals wieder irgendwo in meiner Nähe haben möchte? Sieht er das denn nicht?
Am Nachmittag klingelt es bei uns an der Tür und ich schrecke sofort vom Sofa auf. Benni und ich hatten es uns gemütlich gemacht und sind wohl irgendwann eingeschlafen.
"Gehst du?", fragt er verschlafen und offenbar nicht halb so erschrocken wie ich.
"Was, wenn es Patrick ist?"
In seinen Augen blitzt etwas und er steht seufzend auf. "Okay, ich komme mit."
An der Tür steht allerdings nicht mein verrückter Ex, sondern Frau Sonntag, eine unserer Nachbarinnen. Sie lächelt etwas verlegen, wahrscheinlich, weil wir nie viel miteinander zu tun hatten.
"Hallo", sagt sie höflich. "Sie wundern sich bestimmt, warum ich hier bin."
"Ähm, ja… schon", entgegnet Benni, nicht weniger verwirrt als ich es bin. "Wollen Sie reinkommen?"
"Nein, danke. Ich habe von dem Vorfall gestern bei Ihnen gehört und wollte mal nachfragen, ob es schon etwas Neues gibt."
"Nein, leider nicht. Aber Sie müssen sich keine Sorgen machen. Entweder wurde einfach wahllos eines der Fenster in dieser Straße eingeworfen oder aber man hatte es direkt auf uns abgesehen. Wie auch immer, für Sie besteht keine Gefahr."
"Daran habe ich auch gar nicht gedacht. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass wir die Augen aufhalten, für den Fall, dass Sie mal nicht zuhause sind. Ich habe von vielen Nachbarn gehört, dass sie ebenso empört über diese Angelegenheit sind wie ich es bin und wir würden gerne unsere Hilfe anbieten."
"Das… ähm", Benni sieht mich kurz an. "Das ist wirklich sehr nett von Ihnen."
"Wir sind alle der Meinung, dass Sie beide sehr liebenswürdige Menschen sind und man so etwas auf keinen Fall dulden sollte."
"Vielen Dank", ist alles, was ich gerade sagen kann. Ich wusste gar nicht, dass unsere Nachbarn so über uns denken. Ich muss zugeben, dass das nicht spurlos an mir vorbei geht.
"Also, wenn Sie irgendetwas brauchen…", sagt sie mit einem aufrichtigen Lächeln.
"Ja, danke, dann wissen wir, an wen wir uns wenden können." Benni erwidert das freundliche Lächeln und schließt nach einer kurzen Verabschiedung die Tür. Wir sehen uns an und zucken fast gleichzeitig mit den Schultern.
"Sachen gibt's", sagt Benni. "Ich hab ja schon öfter versucht, dir zu erklären, dass nicht alle Menschen nur Böses im Kopf haben."
"Haha, das weiß ich selber. Aber so etwas wie das eben, passiert trotzdem nicht alle Tage. Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen. Du warst nämlich genauso überrascht wie ich."
"Das streite ich ja auch gar nicht ab."
"Hast du schon mal länger mit einem unserer Nachbarn gesprochen?", frage ich.
"Nein, nur das Übliche. Ich hätte nie gedacht, dass diese Sache hier so viel Aufsehen erregt."
"Anscheinend haben wir mehr Freunde als wir immer dachten."
Und unsere Nachbarn hielten ihr Wort. Mehr als einmal rief jemand aus der Straße bei uns an und fragte entweder nach Neuigkeiten oder berichtete von einem Fremden, der angeblich unser Haus beobachtet hatte. Offensichtlich hatte die Polizei meine Beschreibung von Patrick an die Nachbarn weitergegeben und die fühlten sich nun verpflichtet, alle Passanten genauestens zu betrachten und auf äußerliche Ähnlichkeiten zu schauen. Einmal war ich mir sogar fast sicher, dass es sich tatsächlich um Patrick handeln könnte. Herr Sonntag hatte zumindest jemanden gesehen, auf den die Beschreibung zutraf.
Ich fühlte mich immer mehr wie in einem Krimi, denn die Anspannung wurde durch diese Ungewissheit nicht wirklich erträglicher. Benni versuchte wie immer ruhig zu bleiben, aber auch er hasste es, nicht zu wissen, ob Patrick draußen rumschlich oder nicht. Ich mochte das Haus schon gar nicht mehr verlassen, wenn ich wusste, dass Benni dort allein war und blieb selber auch nicht gerne allein zuhause. Mit der Zeit war ich schon so weit, dass ich Patrick selber verprügelt hätte, wenn er es wagen sollte hier aufzutauchen. Ich wollte mir mein Leben nicht noch mal von ihm verderben lassen. Das hatte ich mir doch fest vorgenommen, aber wie es aussieht, habe ich keinen Einfluss darauf.
Am Sonntagabend versuchen Benni und ich, es uns so gemütlich zu machen wie es eben möglich ist. Für ein paar Stunden wollen wir alles vergessen. Benni hat Pizza bestellt und ich habe uns einen lustigen Film ausgeliehen. Abschalten ist angesagt.
"Willst du noch was?", fragt Benni.
"Nee, ich bin satt. Außerdem willst du doch bestimmt nicht, dass ich noch mehr zunehme, oder?"
"Wo hast du denn zugenommen?"
"Überall. Hot Dogs und Pizza setzen eben an."
Er lacht. Wie schön das zu hören. Noch besser wäre es allerdings, wenn er nicht gerade über mich lachen würde.
"Du hast echt einen an der Waffel, weißt du das?" Er beugt sich runter und küsst meinen dicken Bauch.
"Versuchst du wieder, Medizin zu spielen?"
"Soll ich?" Jetzt grinst er schelmisch.
"Wenn du ein Diätmittel bist, ja."
"Oh ja, das kann ich."
Er küsst mich auf den Mund und streicht dafür mit einer Hand über meinen Bauch. Der Film, der immer noch im Hintergrund läuft, ist schon längst vergessen.
Okay. Meine Gedanken schweifen wohl gerade etwas in die falsche Richtung ab. Das heißt, nicht allgemein in die falsche Richtung, aber der Zeitpunkt ist wohl nicht der beste. Tja. Sonntagabend. Morgen ist Schule und ich sollte wahrscheinlich langsam mal ans Schlafen denken. Tue ich aber nicht. Ich schüttele einmal kräftig den Kopf, blättere auf die nächste Seite in meinem Schreibblock und versuche, mich zu konzentrieren.
Am nächsten Morgen sind wir beide sehr unausgeschlafen und schleichen gähnend ins Bad. Ich lasse mich von Benni überreden, ausnahmsweise auch mal eine kalte Dusche zu nehmen und wickle mich ein paar Minuten später schlotternd, aber wach, in mein Handtuch.
"Das ist ja eklig. Wie kann man das nur immer freiwillig machen?"
"Man gewöhnt sich dran."
Nicht gerade überzeugt ziehe ich mich an und gehe dann in die Küche, um so schnell wie möglich den Kaffee aufzusetzen. Das ist wenigstens etwas, an das man sich nicht erst gewöhnen muss, wenn man wach werden möchte. Und es ist schön heiß!
Widerwillig verabschiede ich mich zwanzig Minuten später von Benni und verlasse unser Haus. Schon wieder hab ich eine ganze Woche in der Redaktion vor mir. Fünf Tage, an denen ich mich immer fragen werde, ob das Haus noch so sein wird, wie ich es verlassen habe, und ob es Benni gut geht.
Ich schnappe mir mein Fahrrad und will gerade losfahren, als mir einfällt, dass ich das Schloss vergessen habe. Fluchend drehe ich mich um und bleibe auf der Stelle wie angewurzelt stehen.
"Benni!", rufe ich so laut wie möglich, sodass er es auch im Haus hört.
Er hat es gehört und kommt sofort aus dem Haus gestürmt.
"Was denn? Ist er hier?"
"Nein. Aber schau dir doch mal unsere Haustür an." Ich deute auf die ehemals ganz weiße Tür, auf der jetzt ein großes, neongrünes, durchgestrichenes Herz zu sehen ist. Damit dürfte dann auch geklärt sein, dass die Sache mit dem Stein kein Zufall war. Irgendjemand hat es auf Benni und mich abgesehen. Und bei dem Anblick dieses Zeichens liegt es wohl ebenfalls nahe, dass tatsächlich Patrick dafür verantwortlich ist.
Benni rennt sofort wieder ins Haus und telefoniert mit der Polizei, während ich draußen stehen bleibe und fassungslos auf diese Kritzelei starre. Mareike Sonntag und zwei andere Nachbarn kommen auf mich zu, offenbar angelockt von meinem lauten Rufen.
"Das gibtŽs doch nicht", sagt Mareike, die wir seit neuestem duzen dürfen und legt eine Hand auf meine Schulter. "Habt ihr das schon gemeldet?"
"Benni ist gerade dabei. Das muss heute Nacht passiert sein."
"Wir haben nichts bemerkt. Oder?", fragt sie an die anderen gewandt.
"Nein", antworten beide.
"Meint ihr, dass es dieser junge Mann war?"
"Patrick? Ja, ich denke davon kann man ausgehen."
Sollen doch alle hier wissen, wer es war. Vielleicht traut er sich ja nicht mehr her, wenn er merkt, dass er von der ganzen Nachbarschaft beobachtet und verachtet wird.
"Hat er etwas gegen… euch?"
"Ja, aber nicht, weil wir schwul sind, sondern weil ich Benni liebe und nicht ihn."
"Ach Eifersucht. Na ja, immerhin hat er dann die richtige Farbe ausgewählt."
"Ja, das stimmt", gebe ich zu und muss sogar ein bisschen lachen.
In dem Moment kommt auch Benni wieder und erzählt uns, dass die Polizei schon auf dem Weg ist. Im Krankenhaus hat er auch angerufen und gesagt, dass er heute nicht kommt. Ich hatte schon vollkommen vergessen, dass ich eigentlich heute arbeiten müsste, also laufe ich schnell rein und melde mich ebenfalls ab. Meinem Chef sage ich nur, dass es ein persönlicher Notfall ist, damit er nicht auf die Idee kommt, über diese Sache einen Artikel schreiben zu wollen. Das fehlt mir gerade noch.
Mitten in dem Wirrwarr mit der Polizei taucht dann plötzlich auch noch Martin mit seinem Freund auf. Eigentlich hatte er uns nur besuchen wollen, um uns Dominik vorzustellen, aber nun interessiert es ihn natürlich, was die Polizei bei uns zu suchen hat.
"Habt ihr was ausgefressen?", fragt er kichernd.
"Nee, wir werden bedroht", sagt Benni. Ich nicke zustimmend, als Martin mich ungläubig ansieht. Wenn jemand den Ernst der Lage versteht, dann wohl er.
"Aber doch nicht wegen des Artikeln, oder?"
"Nein, wahrscheinlich steckt mein Ex dahinter, der mit meiner Beziehung zu Benni nicht wirklich einverstanden ist."
"Und was heißt 'bedroht‘?"
"Vor einer Woche wurde eines unserer Fenster eingeworfen und heute Nacht hat er unsere Haustür angepinselt. Wir glauben zumindest, dass er es war."
"Ist der bescheuert?"
Dominik greift nach Martins Hand, offenbar um ihn zu beruhigen.
"Ja, ist er", sagt Benni. "Und das trifft es noch nicht mal annähernd. Er hat Manu damals ständig betrogen und will ihn jetzt, nach zwei Jahren, wieder zurück. Leider bin ich ihm dabei im Weg."
"Ja, Eifersucht kann schlimme Dinge mit einem Menschen anstellen", sagt Mareike, die sich gerade zu uns gesellt hat. Ich stelle ihr erst mal Martin und Dominik vor und erzähle unseren Freunden dann von der Hilfsbereitschaft unserer Nachbarn.
"Wow. Das ist ja toll. Ich wünschte, es gäbe mehr von Ihrer Art", sagt Martin anerkennend.
"Ach, das ist doch nichts. Wir machen hier keinen Unterschied zwischen Liebe und Liebe."
Ich finde, das hat sie sehr schön gesagt, aber leider hilft das in diesem Fall auch nicht. Schließlich geht es hier nicht darum, dass jemand etwas gegen unsere Lebensart hat. Es ist aber trotzdem schön zu wissen, dass man Verbündete hat, wofür auch immer.
Die Mehrheit meiner Freunde scheint meinen kleinen Schwächeanfall glücklicherweise längst vergessen zu haben, als ich sie am Montag auf dem Pausenhof treffe. Genauer gesagt: alle bis auf Tim. Wer auch sonst würde merken, dass Kai und ich uns nicht wie immer verhalten. Wahrscheinlich hätte ich es selber nicht bemerkt, aber Tim hat mal wieder seine Fühler ausgefahren und sofort kapiert, dass etwas nicht stimmt. Dass er allerdings zuerst mich darauf anspricht und nicht etwa Kai, der immerhin schon Jahre lang sein bester Freund ist, wundert mich schon.
"Na, was ist es dieses Mal?", fragt er argwöhnisch, während Kai sich mit zwei Mädchen aus seiner Klasse unterhält, die ich nicht kenne.
"Was meinst du?"
"Du und Kai. Habt ihr schon wieder Stress?"
Dieses 'schon wieder‘ macht mich ein wenig ärgerlich. Es hört sich ja schon fast so an, als würden wir überhaupt nichts auf die Reihe bekommen und uns nur streiten.
"Wie kommst du darauf?"
"Äh … ist dir noch nicht aufgefallen, dass ihr euch nicht mal zwei Sekunden lang in die Augen sehen könnt?"
"Doch", gebe ich zerknirscht zu.
"Also?"
"Ich glaube, bei Kai liegt es irgendwie immer noch an dieser Sache vom letzten Mittwoch. Er denkt, dass er mir zu viel Stress macht."
"Und woran liegt es bei dir?"
Ich zögere. "Das ist eine längere Geschichte."
"Ich hab nichts Anderes erwartet. Seit wann sind deine Geschichten kurz?"
Soll ich ihm wirklich alles erzählen? Das fühlt sich so falsch an, so unfair Kai gegenüber. Ich kann ja erst mal bei dem Traum anfangen, schließlich ist das nichts, das Kai mir anvertraut hat. Über meine eigenen Gedanken kann ich immer noch selber entscheiden.
Dass ich damit allerdings schon viel mehr verrate, als ich eigentlich beabsichtigt hatte, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Ich weiß nur, dass Tim mich auf einmal sehr merkwürdig ansieht. Es ist eine Mischung aus Verwirrung, Mitleid und dem sogenannten Aha-Effekt. Ich interpretiere es mal so, dass er mehr weiß als ich.
"Was ist?"
"Ähm, ich weiß nicht, ob…"
"Sag schon!", drängle ich.
"Ich glaube es wäre nicht so schlau, dir davon zu erzählen, wenn Kai es dir bisher verschwiegen hat."
"Das hat dich doch sonst auch nicht zurückgehalten."
"Aber das hier ist etwas Anderes. Das sollte er dir wirklich selber sagen. Und zwar, wenn er es für richtig hält."
Ich verstehe nur noch Bahnhof. Für mich hört sich das gerade genauso an wie das, was Kai mir neulich erklären wollte. Hatte ich am Ende recht und diese beiden Geschichten hängen tatsächlich zusammen? Also die Sache mit seinem Cousin und das Geheimnis, von dem er mir nichts erzählen will? Das würde aber doch auch bedeuten, dass er damals am See wegen seines Cousins geweint hat, oder nicht?
Ich fühle mich schon wieder sehr schwindelig. Keine Ahnung wie viele Geheimnisse und Rätsel ich noch ertragen kann. Ich meine, wer ist schon gerne mit jemandem zusammen, von dem man glaubt, dass man ihn kennt und dann kommen immer wieder neue Dinge ans Tageslicht. Und warum muss ich immer alles aus Kai raus quetschen, verdammt noch mal?! Das ist echt nicht mehr witzig.
Deshalb beschließe ich auch jetzt und hier, mein Vorhaben von gestern Abend aufzugeben und Kai zu einer Antwort zu zwingen. Das ist zwar nicht gerade die netteste Art, aber darauf kann ich keine Rücksicht mehr nehmen. Er soll mir erklären, was zum Teufel in seinem Kopf vorgeht. Ansonsten werde ich gezwungenermaßen die schwerste Entscheidung meines Lebens treffen müssen.
Ich hab zwar mal gesagt, dass ich nicht immer derjenige sein will, auf den man Rücksicht nehmen muss, aber ich hab irgendwie das Gefühl, dass Kai das zu ernst genommen hat. Jetzt muss ich selber aufpassen, dass ich nicht noch mehr runter gezogen werde. Darüber, wie es danach weiter geht, denke ich lieber noch gar nicht nach. Vielleicht geschieht ja ein Wunder und Kai kapiert endlich, was er mit seinem Verhalten anrichtet.
"Oh-oh", sagt Tim auf einmal und reißt mich damit aus meinen Gedanken.
"Was?"
"Du willst ihn fragen, oder?"
"Allerdings. Und ich hoffe, dass er mir eine Antwort geben wird."
"Sonst?"
Ich antworte nicht, sondern schaue lieber zu Kai rüber. Für Tim ist das genug, um zu verstehen, wofür ich mich entschieden habe. Er folgt meinem Blick und lässt die Schultern hängen.
"Bist du sicher?"
"Ja. Ich gehe schon rein. Es klingelt sowieso gleich."
Als ich an Kai vorbei gehe, sehe ich aus dem Augenwinkel, dass er mir hinterher schaut und muss einmal kräftig schlucken. Bis ich im Schulgebäude angekommen bin und sich die Tür hinter mir schließt, kann ich seinen Blick spüren. Es zieht mich fast zu Boden, so schwer fühlt es sich an. Aber das ist noch gar nichts im Vergleich zu dem, was mich noch erwartet. Ob ich das wirklich durchziehen kann? Immerhin hab ich erst gestern noch gedacht, dass ich eine Trennung auf keinen Fall akzeptieren würde. Oder hab ich mir das nur eingeredet? Wusste ich vielleicht unterbewusst schon lange selber, dass es so nicht weitergehen kann? Und weiß Kai das auch? In den letzten Tagen war es wirklich sehr verkrampft zwischen uns. Und dann jetzt auch noch diese Geschichte. Vielleicht war das der letzte Tropfen.
Kai wollte heute gleich nach der Schule mit zu mir kommen und das heißt, dass mir keine Zeit zum Überlegen bleibt. Wenn ich ihn heute nicht frage, schaffe ich es vielleicht nie. Wahrscheinlich wird er mich sowieso fragen, was heute mit mir los war, dann kann ich mir die Ausreden auch sparen. Ja. Ich will das endlich hinter mir haben.
"Mo?", fragt er, als wir vor meiner Haustür stehen.
"Hm?"
"Warum sagst du nichts? Den ganzen Weg hast du nicht einen Ton von dir gegeben."
"Ich will warten, bis wir in meinem Zimmer sind."
"Womit warten? Bist du sauer?"
Ich antworte ihm nicht, sondern schließe schnell die Tür auf.
"Okay. Du bist also sauer. Auf mich?"
Ich sage wieder nichts.
"Also ja."
Ist es normal, dass mich sein kleiner Monolog aggressiv macht? Kann er nicht einfach abwarten?
"Ist deine Mutter gar nicht da?"
"Doch, wahrscheinlich im Garten", sage ich knapp und gehe die Treppe hoch. Er folgt mir.
Ich schließe die Tür zu meinem Zimmer hinter uns und befinde mich im nächsten Moment schon in seinen Armen. Er hat mich einfach geschnappt und ganz fest an sich gedrückt.
"Was auch immer ich getan habe, es tut mir leid", sagt er dicht an meinem rechten Ohr und küsst meinen Hals.
Mein Ärger ist im Nu verpufft und ich muss mich unheimlich konzentrieren, um mich daran zu erinnern, was ich eigentlich vor hatte. Ich schiebe ihn weg und setze mich aufs Bett. Er folgt mir wieder.
"Ich muss mit dir reden und ich will, dass du ehrlich bist", sage ich.
"Das kommt ganz darauf an, was du wissen möchtest."
Na toll, das fängt ja schon mal gut an. Wer wünscht sich denn nicht einen Freund, der einem nur eingeschränkt die Wahrheit sagt.
"Guck nicht so", sagt er beschwichtigend. "Es gibt nur eine Sache, über die ich mit dir nicht reden will. Noch nicht. Und das habe ich dir schon erklärt. Ansonsten kannst du mich natürlich fragen, was du möchtest."
"Dann haben wir ein Problem."
"Warum musst du das unbedingt wissen?"
"Weil ich alles über dich wissen will, Kai. Das ist doch ganz normal."
"Normal ist es auch, dass man sich vertraut", sagt er mit einem scharfen Unterton.
"Ja, das sehe ich auch so. Warum also vertraust du mir nicht genug, um mir zu erzählen, was dich beschäftigt. Wenn du so ein Geheimnis darum machst, kann ich doch auf gar keinen anderen Gedanken kommen, als dass es etwas Schlimmes ist. Ich will dir nicht immer alles aus der Nase ziehen müssen, damit ich ruhig schlafen kann."
"Du kannst auch so ruhig schlafen."
"Nein, das kann ich eben nicht und das ist genau das, was du nicht begreifst. Es ist nicht alles in Ordnung, nur weil du es dir so einredest."
"Du glaubst also, dass ich unsensibel und rücksichtslos bin, weil ich ein einziges Geheimnis habe, über das ich nicht mit dir sprechen möchte?"
"So in etwa schon, ja", gebe ich zu, woraufhin Kai verächtlich schnauft. "Aber es ist ja nicht nur deswegen. Du hältst ja generell immer erst mal mit allem hinterm Berg, während ich vor Sorge fast kaputt gehe. Und es ist dir egal."
"Es ist mir überhaupt nicht egal! Wie kommst du darauf? Ich weiß selber, dass es schwer für dich ist, wenn ich mich so dämlich verhalte, aber ich kann mich auch nicht immer wieder für dasselbe entschuldigen. Ich dachte, wir hätten das geklärt. Und ich dachte auch, dass du Verständnis dafür hast, dass ich… ja, dass ich noch nicht so selbstverständlich mit unserer Beziehung umgehen kann."
"Das ist ja auch so", versuche ich jetzt mich zu verteidigen. So war diese Diskussion eigentlich nicht geplant. "Aber irgendwann geht auch mir mal die Puste aus, Kai."
"Was soll das heißen?", fragt er und sein Gesichtsausdruck ist auf einmal ganz leer.
"Das soll heißen, dass ich mit Tim über etwas gesprochen habe, was mich nachdenklich gemacht hat. Und zwar ging es dabei um deinen Cousin. Ich habe das Gefühl, dass sein Unfall irgendetwas mit unserem Problem zu tun hat. Tim wollte mir nichts sagen, also…"
"Ich werde dir dazu auch nichts sagen", zischt er durch die Zähne und ich denke zum ersten Mal, dass es falsch war, ihn darauf anzusprechen. Wenn ich mir sein Gesicht ansehe, ist es offensichtlich, dass meine Vermutung richtig war, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass es ihn so sehr aus der Bahn werfen würde. Er sieht aus als hätte er vor irgendetwas panische Angst.
"Ist es wirklich so schlimm?", frage ich und lege meine Hand auf seine. Er zieht seine weg und steht auf. Ich kann ihn gerade noch davon abhalten zu gehen, indem ich mich vor die Tür stelle.
"Was hast du vor?"
"Ich gehe."
"Nein, du gehst nicht. Ich will eine Antwort."
"Sonst was?", fragt er und funkelt mich wütend an. "Drohst du mir, dass du dich sonst von mir trennst? Dann tu es doch. Sag doch einfach, dass du keine Lust mehr hast."
"Spinnst du?!"
"Das ist es doch, was du mir sagen wolltest, oder? Dass du Schluss machen willst, wenn ich dir nicht die Wahrheit sage."
"Ist das so abwegig für dich? Kannst du dir gar nicht vorstellen, wie es für mich ist, wenn ich immer gegen eine Wand rede und nie weiß wie es dir gerade geht, was in deinem Kopf rum spukt? Das ist echt anstrengend!"
"Das hättest du dir auch früher überlegen können."
"Wie das denn? Wie hätte ich denn wissen können, dass dir deine Geheimnisse wichtiger sind als ich?"
"Das hab ich nie gesagt", behauptet er.
"Doch, gerade eben."
"So ist es aber nicht", sagt er ganz leise.
"Wie ist es dann? Hast du nicht eben noch gesagt, dass ich mich trennen soll, wenn es das ist, was ich will?"
"Ja, wenn es das ist, was du willst. Genau."
Muss ich das jetzt verstehen? Würde er es einfach so hinnehmen, wenn ich Schluss mache? Soll das heißen, dass er noch nicht mal versuchen würde, mich davon abzuhalten?
Ich starre ihn fassungslos an, aber er weicht meinem Blick aus. Sieht ganz so aus, als würde ich ihm einen Gefallen tun, wenn ich unsere Beziehung hier und jetzt beende. Wie konnte ich nur so blöd sein und ihm damit drohen wollen? Wo es doch genau das ist, was er will.
"Okay", sage ich, gehe zur Seite und mache ihm damit den Weg frei. Soll er doch gehen. Was macht er noch hier?
Er bewegt sich allerdings keinen Millimeter, sondern starrt immer noch die Tür an. Ich setze mich auf meinen Schreibtischstuhl und drehe ihm den Rücken zu. Das war's dann also.
"Mo… ich…"
"Du kannst jetzt gehen. Ich halte dich nicht mehr auf."
"Ich wollte doch nur sagen, dass ich es akzeptiere, was du willst. Nicht, dass ich es auch will. Ich will mit dir zusammen sein, aber wenn es dir besser geht, wenn wir uns trennen, muss ich das akzeptieren. Glaubst du, ich fand es lustig, als du neulich zusammengeklappt bist? Ich weiß genau, dass es an mir lag. Es ist mir nicht egal wie es dir geht, aber diese eine Sache kann ich dir nicht erzählen. Ich habe noch nie jemandem davon erzählt, weil ich es einfach vergessen möchte."
"Du machst es dir ganz schön leicht, findest du nicht? Aber jetzt hast du ja, was du willst. Niemand wird jemals von deinem Geheimnis erfahren." Wenn ich nicht so sauer und verletzt wäre, würde ich mich in dieser Sekunde wahrscheinlich schon für meine Worte schämen, aber jetzt ist mir alles egal. Nur gut, dass ich mit dem Rücken zu ihm sitze. Dann kann er wenigstens nicht sehen, wie die Tränen über mein Gesicht laufen.
"Du bist derjenige, der sich trennt. Nicht ich."
"Ja. Was für ein Glück für dich."
"Könntest du bitte aufhören, mir die Worte im Mund umzudrehen?" Auf einmal steht er neben mir und dreht meinen Stuhl in seine Richtung.
"Ich liebe dich", sagt er. Scheinbar überhaupt nicht überrascht von meinem Anblick. "Warum willst du Schluss machen, wenn dich das so traurig macht?"
"Weil du es nicht ernst meinst."
"Doch, das tue ich."
"Aber ich kann nicht mehr. Ich will dir nicht immer hinterher rennen."
Das scheint er verstanden zu haben und richtet sich wieder auf.
"Okay. Vielleicht denkst du ja noch mal darüber nach. Ich lasse dich jetzt allein."
Und das tut er tatsächlich. Ohne ein weiteres Wort geht er zur Tür, öffnet sie und schließt sie kurz danach wieder hinter sich. Ich höre, wie er die Treppe runter geht und wie schließlich die Haustür ins Schloss fällt.
Nachdem er gegangen ist, verkrieche ich mich für den Rest des Tages im Bett. Alles, was ich denken kann, ist, dass ich den größten Fehler meines Lebens gemacht habe. Diese Einsicht trifft mich so plötzlich, dass es schon richtig unheimlich ist. Egal wie sehr ich mich über ihn geärgert habe, ich hätte nie auch nur mit dem Gedanken spielen sollen, mich von Kai zu trennen und ich hätte ihm auch nicht unterstellen dürfen, dass er genau das beabsichtigt hat. Es war doch so deutlich in seinen Augen zu sehe, wie sehr ihn das verletzt hat. Was war nur los mit mir? Ich habe uns beide unnötig verletzt und wohlmöglich alles kaputt gemacht. Leider fallen einem diese Dinge scheinbar immer erst ein, wenn es zu spät ist. Und jetzt ist es eindeutig zu spät. Kai ist weg, wir sind auf unbestimmte Zeit getrennt und ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie alles angefangen hat. Wann habe ich angefangen, mich unwohl zu fühlen? War es nach dem Traum, nach der Nacht bei ihm zuhause, oder vielleicht schon nach dem ersten Kuss? Und war es wirklich so schlimm, dass ich mich trennen musste? Ich weiß es nicht mehr. Der Schmerz von diesen vergangenen Auseinandersetzungen ist wie ausgelöscht. Oder zumindest überdeckt von diesem neuen, viel schlimmeren Schmerz.
Jetzt weiß ich auch, warum Tim mich gefragt hat, ob ich mir sicher bin. Er muss gewusst haben, dass ich mich danach nur noch schlechter fühlen würde. Und er muss auch gewusst haben, dass Kai sein Geheimnis nicht verraten wird. Ist es normal, dass man in seiner ersten Beziehung diese Fehler macht oder bin ich nur zu sensibel, um mit Problemen umzugehen? Vielleicht neige ich auch einfach zu unüberlegten Kurzschlussreaktionen. Ich finde, das kommt dem Ganzen sehr nahe.
Doch obwohl ich es gerade kaum aushalten kann, dass Kai nicht bei mir ist, ist da immer noch ein kleiner Teil in mir, der sauer auf ihn ist. Wenn er wirklich mit mir zusammen sein will, hätte er doch irgendetwas unternehmen müssen. Er hätte kämpfen können. Aber es war ihm wichtiger, sein Geheimnis zu bewahren. Warum nur? Was ist damals mit seinem Cousin passiert, das er mit niemandem besprechen kann? Worin besteht die Verbindung zwischen seinem Tod und unserer Beziehung? Und dann läuft es mir auf einmal eiskalt den Rücken runter. Hat Kai nicht mal gesagt, dass er mich mit seinem Cousin in Verbindung bringt? Dass es für ihn viel schwieriger ist, mit mir über ihn zu reden als mit irgendjemandem sonst? Gibt es da etwas, das ich mit seinem Cousin gemein habe? Hat Kai Angst, dass mir auch etwas zustoßen könnte? Nein, das ist absurd. Das damals war ein Unfall. Aber vor irgendetwas hat Kai Angst. Das habe ich gesehen. Gerade eben und auch an dem Tag im Park, als er geweint hat. Da hat er mich genauso angesehen wie heute. Von wegen es ist nichts Schlimmes.
Das ist alles so verrückt. Wie kann sich an einem Tag alles ändern? Kaum zu glauben, dass ich mir gestern noch Sorgen darüber gemacht habe, warum Kai nicht mit mir schlafen will. Zumindest werde ich darüber jetzt nicht mehr nachdenken müssen.
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