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Trost
Kapitel 50-58
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Informationen
- Story: Trost
- Autor: Jainoh
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Lovestory
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- Kapitel 50
- Kapitel 51
- Kapitel 52
- Kapitel 53
- Kapitel 54
- Kapitel 55
- Kapitel 56
- Kapitel 58
- Nachwort
Vorwort
Die Kapitel 50 bis 58 sind zu weiten Teilen aus Jans Sicht geschrieben. Sobald Kai in Szenen dabei ist, findet aber die Handlung aus seiner gewohnten Perspektive statt. Ab Kapitel 59 ist dann wieder alles wie gewohnt immer nur aus Kais Sicht.
Kapitel 50
Jan warf seine Schlüssel mit der üblichen Handbewegung auf das Regal in seinem kleinen Wohnheimzimmer und streifte die Turnschuhe vor dem Teppich von den Füßen, während er bereits versuchte, die Lasche von dem Joghurt aufzubekommen, den er sich gerade aus seinem Kühlfach in der Gemeinschaftsküche genommen hatte.
Er fand mit den Füßen tastend in seine Schlappen und schob die Zehen hinein. Ein schneller Blick zu seinem Wecker sagte ihm, dass es schon zu spät war. Es war schon elf, was er mit Bedauern bedachte. 'Schade, hätte Kai gern noch vom Spiel erzählt.'
Sein Blick glitt unweigerlich durch das Zimmer zur Pinnwand, die genau wie der zerkratzte Schreibtisch, das kolossal unbequeme, viel zu schmale Bett, der hohe Kleiderschrank und das Regal bereits im Zimmer enthalten waren, als er einzog. Alles in Ekelbeige, so robust und hässlich wie möglich.
Er fühlte sich in Kais Zimmer mit den fröhlichen Gardinen mit farblich dazu passenden Rollos zu hellen Kiefernmöbeln erheblich wohler als hier. Aber eine aufwendige Wohnung war ihm zu Beginn seines Studiums unnötig erschienen, er war ja eh nie zu Hause.
An der Pinnwand, neben einem Fußballübersichtsplan mit allen Spielen, seiner Telefonliste und einem nicht wirklich schönen Poster von einem menschlichen Skelett, hatte er mittlerweile schon drei Fotos von Kai angepinnt. Es wunderte ihn immer mehr, dass niemand ihn darauf ansprach.
Na gut. Auf dem einen war er auch mit drauf. Das Foto hatte jemand von ihnen geschossen, als sie in der Cafeteria nebeneinander auf den nächsten Kurs gewartet hatten. Er grinste schief wie immer in die Kamera und seine Haare standen wuschelig um seinen Kopf herum, während Kai seinen üblich hilflosen, ein wenig schmolligen Ausdruck drauf hatte.
Auf dem anderen Bild waren außer Kai auch noch Bianca, Holger und drei andere Mitstudenten seines Biochemiekurses drauf, alle in vollgekritzelten und von missglückten Versuchen zerfressenen Kitteln und mit Wasserspritzflaschen bewaffnet. Das hatte er selber geschossen und er konnte nicht fotografieren, weswegen ihre Gesichter auch nicht alle scharf abgebildet waren, bis auf das von Kai. Es gefiel ihm besonders, weil Kai mit den anderen lachte und weil Kai unerreicht schön lachen konnte, was er leider zu selten tat.
Auf dem dritten Bild aber war in schwarz-weiß nur Kai, zudem schlief er und sah dabei verteufelt süß aus. Das hatte Lolli einmal von ihm gemacht, als er auf einem Videoabend auf dessen Sofa eingepennt war. Man konnte es auf dem Bild nicht erkennen, weil es nur Kais Gesicht zeigte, aber er hatte dabei auf Jans Beinen gelegen und nur wenn man es wusste, erkannte man seine Finger zwischen den hellen Haarsträhnen.
Jans Blick wanderte verlangend zum Telefon zurück. Kai hatte ihm leider mehr als einmal und ziemlich deutlich mitgeteilt, dass sein Schlaf ihm nicht unwichtig war, und der begann gegen zehn, nicht erst um halb zwölf, wie bei Jan selber.
Dann erst fiel sein Blick auf den Anrufbeantworter, der hektisch blinkte. 'Nicht Kai.' Das war Jan schon einmal klar. Der hätte auf die Mailbox vom Handy gesprochen. 'Also meine Eltern.' Der Gedanke erzeugte einen kleinen Stich in seiner Magengegend. 'Wie lange muss ich sie denn noch anlügen? Wann fragt denn endlich einmal jemand nach?!' Er hatte sich bei den letzten Besuchen Zuhause grauenhaft auffällig benommen, selbst ohne es zu wollen hätte er das, und er wollte.
Seine Mutter aber hatte ihn seit dem Wochenende im Ferienhaus nicht wieder nach Bianca, nicht nach überhaupt dem Thema Freundin gefragt. Er vermutete, dass sie beleidigt war, weil er nicht offen geredet hatte mit ihr. Aber damals war alles für ihn selber noch so neu, so ungewohnt gewesen, dass er es nicht in Worte hätte fassen können.
Nach Kai hatte sie ihn ein wenig ausgefragt, es war jedoch allgemein geblieben. Sie hatte nur wissen wollen, wie sie sich begegnet waren, weil Kai so anders war als seine vorherigen guten Freunde.
Das Schweigen schmerzte Jan, weil seine Mutter und er immer ein gutes Team gewesen waren. Sie hatten über alles geredet. Ihre kühle, wissenschaftliche Art hatte ihm geholfen, wenn er sich aufgeregt hatte, wenn er mal wieder viel zu stur war.
Seit dem Sommer redeten sie aneinander vorbei, wenn er mit ihr und den Hunden durch den Wald streifte, ihr im Garten half, oder sie abends vor dem Kamin saßen. Sie redeten über die Uni, den Sport, über den letzten Kinofilm, der ihr nicht gefallen hatte, oder ihre Arbeit. Sie redeten nur noch über derart hohle Dinge, dass er begann zu fühlen, wie seine Stimme schon hohl klang, zu leer für den Sinn, den sie enthalten sollte.
Er konnte nicht anfangen. Er konnte nur warten, bis sie 'Will sehen' sagte. Sie musste das Spiel beginnen, die ersten Fragen stellen. Erst dann konnten sie auch beide teilnehmen. Jan hatte den Eindruck, dass sie bei diesem einen Mal von ihm erwartete, dass er begann, dass er die Karten auf den Tisch legte. Das konnte er nicht. Dazu fehlten ihm aus einem Grund, den er nicht kannte, die richtigen Worte, und es fehlte ihm auch der Mut. Er konnte das, was mit ihm passiert war, nicht in Worte fassen, obwohl er sonst doch immer so ausgezeichnet über seine Gefühle hatte reden können. Wieso nur wusste sie es dieses Mal nicht? Wieso half sie ihm ausgerechnet jetzt nicht mehr?
Jans Finger verharrten auf dem blinkenden Knopf am Anrufbeantworter. Er wusste, dass es die Stimme seines Vaters sein würde. Während seine Mutter für die persönlichen Gespräche zuständig war, regelte sein Vater die offiziellen Belange zwischen ihnen und die telefonischen Abmachungen.
Versicherungen, das Auto, Geld und Mietverträge. Immer kam eine präzise Meldung auf dem Anrufbeantworter, dass sich gekümmert werden musste, dass sich gekümmert wurde. Die warme, dunkle Stimme seines Vaters, ein wenig einschüchternd und aufmunternd zugleich. Eine Stimme, der man so gut folgen konnte, die wie gemacht schien, ein Kind zu beruhigen und eine Mutter zu überzeugen. Sein Vater war der perfekte Kinderarzt, wenn es nach der Stimme ging.
Jan seufzte und drückte den Knopf, nebenbei nahm er wahr, dass Kai Recht gehabt hatte am Mittwoch, seine Fingernägel waren mal wieder in einem grauenhaften Zustand. Gleich drauf erklang, ein wenig blechern und fremd, die Stimme seiner Mutter, und sein Herz stockte.
"Hallo Jan. Bitte ruf gar nicht erst zurück, sondern komm nach Hause. Hannah ist im Krankenhaus und es sieht schlecht aus."
Mehr nicht. Typisch für seine Mutter, knapp und schnell, weil sie es noch immer hasste zu telefonieren Dabei auf Bänder zu sprechen, hasste sie noch mehr.
Jan spielte es sich noch zwei Male vor. Er verstand die Nachricht irgendwie nicht so, wie er sollte, das wusste er. Mechanisch ergriff er dennoch seine Sporttasche und warf sie vor dem hässlichen Kleiderschrank auf den Fußboden.
'Komm nach Hause... Hannah ist im... Krankenhaus... Scheiße! Oma!' Der Joghurt fiel zu Boden, als seine Finger kraftlos erschlafften. Erst in dem Moment begriff er wirklich.
Fluchend wischte Jan den ausgelaufenen Joghurt mit einem Papiertuch vom Boden ab, seine Gedanken begannen sich zu drehen.
Seine Oma Hannah, die Mutter seiner Mutter, war krank. Es war das allererste Mal, dass sie krank war. Der robusteste Mensch auf Erden konnte doch gar nicht krank werden! Von ihr hatte er seine kernige Gesundheit geerbt. Daneben die kräftigen Glieder, die auch seine Mutter hatte, die Gelenke und Knochen, die nichts vom Brechen hielten, egal wie rücksichtslos er sich hinwarf beim Fußball.
Sie war zäh wie Farn. Wenn sie krank war, sodass sie ins Krankenhaus musste, dann war wirklich etwas nicht in Ordnung, denn Hannah hasste Krankenhäuser. Ein Grund, weswegen sie die Wahl ihrer Tochter, ausgerechnet einen Arzt zu heiraten, nicht verstanden hatte, bis zum Tag noch nicht und auch nicht akzeptierte.
Jan ramschte einige Klamotten in die Tasche und warf den Rasierer obenauf. Dann fuhr er wieder zum Telefon herum. 'Das Handy hat er doch eh aus!' Bevor er zum Nachdenken gekommen war, hatten seine Finger die altbekannte Nummer gewählt. Das Freizeichen machte ihm erst klar, dass er soeben am telefonieren war.
Gleich drauf ertönte, ein wenig überrascht, aber so fröhlich wie immer, Lollis Stimme. "Lorenz!" Er konnte seinen Namen so merkwürdig singend betonen.
"Hi. Jan hier, gib mir Kai."
"Du, der schläft schon, Süßer."
"Egal. Es ist wichtig." Jan schluckte den 'Süßer-Titel' mal wieder wortlos runter und lauschte auf die Schritte, dann klopfte Lolli an, die Tür knatschte leise, endlich vernahm er Kais verschlafenes "Hmwasnlos?" Es raschelte, und Lolli kicherte, während er "Deine Flamme, wild auf dich", verkündete.
Kai gähnte, dann erst meldete er sich mit einem knatschigen "Jaaahn. Habschongeschlafehen."
Jan lächelte nachsichtig und konnte ihn vor sich sehen. Die Augen auf Halbmast, wenn nicht zu und mit einem Arm verdeckt, die Haare verwuschelt, einige der Locken in genau die falschen Richtung aufbegehrend und die Wangen ein wenig vom Schlafen gerötet.
"Ich weiß. Entschuldige, Baby."
Ein unterdrücktes Schnauben, Kai tat noch immer so, als würde er es nicht mögen. Jan grinste und fuhr so leise und so rücksichtsvoll wie möglich fort "Meine Oma liegt im Krankenhaus. Ich muss nach Hause fahren."
Es raschelte, dann machte es leise klick, als Kai das Licht anschaltete und sich im Bett aufsetzte. Jan konnte seinen anklagenden Blick zum Wecker förmlich fühlen.
Doch Kais Stimme war nicht mehr knatschig, sondern erschrocken und voller Mitgefühl, als er antwortete "Das tut mir so Leid, Jan. Ich unterschreibe im letzten Kurs morgen für dich, sonst fehlt dir einer."
Den Kurs hatte Jan gar nicht bedacht. Kai war immer so praktisch veranlagt, und die Ablenkung tat Jan genauso gut, wie Kais Stimme überhaupt zu hören. Mit Dankbarkeit bemerkte er, dass Kai nichts so abartig Hohles wie 'Was hat sie denn?' fragte. "Danke. Ich rufe dich morgen Abend an."
"Wenn du Zeit findest. Fahr vorsichtig, Jan."
Sorge klang mit einem Mal durch und ließ Jan eine bereits vertraute Wärme in seinem Bauch spüren. "Klar. Mach ich. Schlaf weiter."
Hastig legte er auf, bevor der Drang, doch schnell noch einmal vorbeizufahren, Überhand nahm. 'Scheiße! Hört das denn nie auf?!' Er nahm seine Tasche und eine Wachmach-CD, bevor er sich in die Turnschuhe stürzte und das Wohnheim wieder verließ.
Die CD, die er mitgenommen hatte, blieb ungehört. Jan machte sich keine Musik an, sondern versank in Gedanken, während er über die Autobahn fuhr. Er bemerkte die Lastwagen kaum, die er mechanisch überholte.
Seine Oma Hannah war immer ehrlich gewesen in ihrem Leben. Sie hatte sich von niemandem einschüchtern lassen, obwohl es für sie als alleinstehende Jüdin zu Kriegszeiten alles andere als einfach gewesen war.
Sie hatte sich auch nicht einschüchtern lassen, als sie ein uneheliches Kind zur Welt brachte nach dem Krieg, sondern hatte sich eine Arbeit gesucht, um sich und ihre Tochter zu versorgen. Sie hatte ihrer Tochter ein Studium und sogar die wissenschaftliche Laufbahn ermöglicht. Ohne Hannah wäre seine Mutter nicht in die Forschung gegangen.
Jan selber war mittags nach dem Kindergarten, dann nach der Grundschule, sogar nach dem Gymnasium immer zu seiner Oma zum Essen gegangen. Er hatte dort eine Stunde bei ihr in der Wohnung verbracht, um dann zu seinem Fußballverein zu fahren. Sie hatte aus diesem Grund in seinem Leben eigentlich alles als erste erfahren. Vom ersten Zahn, zur ersten Prügelei, zur ersten Freundin, Hannah hatte es jedoch stets nur zur Kenntnis genommen, nie über ihn entschieden.
Gleich danach dann hatte er seine Probleme und Erfolge mit seiner Mutter geteilt. Seine Mutter hatte entschieden. Sie hatte eine innere Skala, nach der sie die Ereignisse bewertete, wissenschaftlich festgelegt.
Das Ergebnis ihrer Berechnung hatte seine Mutter seinem Vater immer bereits im Flur des Hauses mitgeteilt, bevor dieser noch den Weg von der Garage in die Küche hinter sich gebracht hatte. Sie hatte ihn immer vorbereitet, sodass er das passende Gesicht machte, wenn er zu Jan in die Küche trat.
Insgeheim hatte Jan die Beziehung zu seinem Vater, vor allem als Kind, immer so gesehen, als sei er einer der Patienten, ein langjähriger Patient, von dem es hin und wieder Fortschritte oder auch Rückfälle zu berichten gab.
Ein wenig kam er sich von seiner Mutter schon verraten vor, wenn diese seinem Vater gleich erzählte, dass da eine Fünf geschrieben worden war, oder ein Tor geschossen, dass er den Sieg im Spiel erbracht hatte, aber andererseits war seine Aufgabe hinterher nur noch einfacher dadurch.
Jan saß bei Misserfolgen geknickt, aber stur in das ernste, tadelnde Gesicht hochsehend, bei freudigen Nachrichten entsprechend stolz, aber immer noch stur geradeaus in das Gesicht hochsehend, in dem jedoch anstelle des Tadels sanfte Freude stand, wie wenn die Patienten nach der Operation wieder gegessen hatten.
Es war ohnehin egal, denn nach der geheimen, inneren Skala verteilte seine Mutter auch die Strafe, die Belohnung. Das einzige Mal, zu dem er seinem Vater direkt etwas zeigen, sagen konnte und nicht seiner Mutter, war das Abitur gewesen.
Ausgerechnet zu dem Tag war sie auf einem Kongress fort, und so erfuhr sein Vater zuerst, dass Jan es geschafft hatte. Nicht übermäßig gut, aber bestanden. Er erinnerte sich noch lange Zeit an die deutlich zu spürende Unsicherheit, mit der sein Vater ihm in das freudige und zugleich noch immer sture Gesicht geblickt hatte.
Doch es hatte sich gelohnt, denn einmal durfte sein Vater über die Wahl der Belohnung verfügen, und er wählte, dass Jan sich das Auto kaufen durfte, das er von einem Kumpel angeboten bekommen hatte und nach dem er sich verzehrte, weil er das Radfahren im Regen gründlich satt hatte.
Das war die einzige nichtmedizinische Entscheidung, die sein Vater in Jans Leben getroffen hatte, aber Jan wusste doch, dass sie beide sich wenigstens einmal in ihrer beider Leben so gefühlt hatten, wie Vater und Sohn.
Entsprechend der Verteilung der Zuständigkeiten war seine Oma für Jan immer eine gute Freundin gewesen, denn sie hörte nur zu, richtete nicht über seine Probleme oder Erfolge. Seine Mutter war der Spiegel, in dem er sich so sehen konnte und musste, wie die Gesellschaft es anscheinend tat und sein Vater war die stille Sicherheit im Hintergrund. Die Versicherung, dass egal was auch passierte, das Leben vermutlich weiterging. Dass egal wie wunderbar ein Erfolg, aber auch der nächste Fall nicht lange warten würde.
Als Jan achtzehn geworden war, war seine Oma zu ihm gekommen und hatte ihm resolut mitgeteilt "Ab heute nennst du mich nicht mehr Oma, sondern Hannah. Es schmeichelt einer alten Frau, wenn ein attraktiver, junger Mann sie beim Vornamen nennt."
Jan liebte diese Allüren und die Besonderheit, die sie ihr verliehen. Sie war vermutlich nie wie eine Oma gewesen, weshalb es ihm gar nicht schwer fiel, sie Hannah zu nennen, lediglich Hannah in ihr zu sehen.
Sie war sein Vorbild gewesen. Sich selbst treu bleiben, auch wenn es mal schwer wurde. Ehrlich sein, und auch wenn es schmerzhaft war, die Meinung sagen, war ihre Devise.
'Du wärst so beschämt, Hannah.' Er rieb sich rasch über die Augen und überholte einen weiteren Lastwagen. 'Ich hätte so sein sollen, wie du. Ich hätte es allen gleich sagen sollen.'
Jan streifte den Beifahrersitz mit einem kleinen Blick. Dort wo seine Tasche lag, könnte auch Kai sitzen. Es hätte auch sein können, dass er ihn selbstverständlich mit nach Hause nahm, dass er selbstverständlich dazu stand, und seine Eltern alles wussten. Sonst hatten seine Eltern doch auch immer alles erfahren. Jeden Unfall, jede Schulsünde, jede Verliebtheit und jeden Streit hatte er mit seinen Eltern ausdiskutiert.
Diese Mal war es anders. Und nicht nur anders, weil Kai ein Junge war, sondern weil Jan es so anders erlebte, dass es ihn selber erschreckte. Auf diese Art hatte er nie zuvor gefühlt, bei keiner seiner Freundinnen.
'Bei keiner hab ich gedacht, dass Hannah sie kennenlernen muss Bei Kai hab ich gleich von Anfang an gedacht, dass Hannah ihm guttun würde, und er ihr. Dass er ihr gefallen würde.'
Und doch hatte Jan Kai nie auch nur von ihr erzählt, ihr umgekehrt nicht von Kai berichtet.
'Sie hätte es sofort gewusst, gleich gewittert, dass etwas nicht stimmt. Deshalb hab ich nichts gesagt. Und sie hätte meinen Vater angerufen, um ihm alles zu sagen, allein um ihren Krieg gegen ihn in eine weitere Schlacht zu führen.'
Das einzige, was Jan seiner Oma ab und zu krumm nahm, war dieser ewig währende Kampf gegen seinen Vater. Er selber wusste, dass seine Eltern nicht aus rasender Liebe, sondern sehr wahrscheinlich seinetwegen geheiratet hatten. Sich noch immer lediglich respektierten, freundschaftlich voneinander dachten und nicht mit Leidenschaft. Er konnte sich schwer vorstellen, dass sie je geflirtet hatten. Dazu waren sie zu nüchtern.
Aber er hatte sie nie streiten sehen, selten hatten sie unterschiedliche Meinungen vertreten und er wusste, dass sie beide zufrieden waren mit der Beziehung. Dennoch sah Hannah sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit dazu veranlasst, ihrer Tochter zu sagen, was sie von einer derartigen Ehe hielt.
Immerhin war sie selber allein mit dem Kind klar gekommen, wieso sollte ihre Tochter das nicht schaffen? Sie hätte nur eine leidenschaftliche Liebe gewählt, warum nur gab ihre eigene Tochter sich mit einer derart nüchternen Beziehung zufrieden? Hannah war von ihrer Tochter enttäuscht. Wie Jan immer gefunden hatte, zu Unrecht enttäuscht.
Jan verpasste beinahe seine Abfahrt. In letzter Sekunde bremste er scharf genug ab, um die gewundene Straße noch zu erwischen. Dabei erinnerte er sich an den einzigen offenen Streit zurück, den er als Kind zwischen Hannah und seiner Mutter mit angehört hatte. Das einzige Mal, zu dem die raue, dunkle Stimme seiner Oma schrill geklungen hatte, schrill und hässlich
"Charlotte, du hast dich so unwürdig von diesem Langweiler im Haus fesseln lassen! Nur weil du zu feige warst, um zu leben!"
"Hör damit auf, Hannah!"
"Womit?! Dir zu zeigen, was du nicht einzusehen wagst?!"
"Ich lebe! Ich lebe nur nicht auf Messers Schneide, so wie du damals!"
"So redest du jetzt also schon, Charlotte. Auch schon so langweilig geworden!"
"Ach, so ist das?! Ich will nicht, dass du mich in Frage stellst, nur weil mir das Risiko vielleicht nicht so fehlt im Leben, wie dir jetzt!"
"Weil dir der Mut im Leben fehlt, das wolltest du wohl sagen!"
"Dir fehlt der Mut. Du bist doch langweiliger als ich mittlerweile, Hannah!"
"Ich bin ja auch alt, du aber benimmst dich jetzt schon so, als seist du 80!"
An der roten Ampel im Ortskern lehnte Jan seine Stirn an das Lenkrad. Ja, Hannah war schwierig. Sie war mehr als das. Sie war mutig, stur und ungeduldig. Genau wie er, viel mehr noch als er. Hatte der Anteil Blut von seinem Vater ihn zu sehr zögern lassen im Sommer? Hatte ihn gerade das Zaudern seiner Mutter zu schwach gemacht?
Es war jetzt ja egal, denn nun schien er doch Hannahs Weg eingeschlagen zu haben. Denn nun tat er ja, wonach sie sich für ihre Tochter so gesehnt hatte. Er ging vom vorgefestigten, einfachen, vom langweiligen Weg ab. Mit einem leisen Lächeln dachte er mit einem Mal bei sich, dass sie es also verstehen müsste
Die Ampel wurde grün, dann schon wieder gelb, bevor er endlich losfuhr. Er war zu müde. An der nächsten Kreuzung zögerte er kurz zwischen dem Weg nach Hause und dem zum Krankenhaus, dann bog er zum Krankenhaus ein.
Den Weg kannte er gut. Sein Vater war immerhin Chef der Abteilung Kinderchirurgie und er hatte im Sommer dort rumgehangen, hatte versucht zu lernen, versucht all die Dinge aufzunehmen, die er wissen wollte über diesen Beruf. In Erfahrung gebracht hatte er eigentlich nur, dass er auf gar keinen Fall Kinderarzt und noch weniger Chirurg werden wollte.
Er parkte neben dem Kombi seines Vaters auf dem für den Stationsarzt der Urologie reservierten Platz. Rasch sprang er in die eisige Nachtluft hinaus. Es roch nach Schnee, fühlte sich schneidend kalt an und ließ ihn erschaudern. Die Müdigkeit fraß sich von der Kälte angetrieben in seine Knochen. Zum ersten Mal in seinem Leben nahm er statt der Treppen den Fahrstuhl zur Intensivstation im vierten Stock, nachdem der Nachtportier ihm die Zimmernummer genannt hatte.
Der weite Flur war dämmrig, lediglich von dem gelben Nachtlicht aus den Fenstern der Zimmer ein wenig erhellt. Jans Turnschuhe verursachten ein ekelhaftes Quietschen auf dem glatten Linoleumboden. Es ließ ihn bei jedem Schritt zusammenzucken und jagte Schauer über seinen Rücken. Im Schwesternzimmer saßen zwei Ärzte, drei Pfleger und sein Vater und tranken Kaffee, besahen sich dabei eine Akte, vermutlich die seiner Oma.
Er seufzte und betrat den schmalen Raum, nickte den anderen zu und sah seinem Vater ins Gesicht.
"Jan. Schön, dass du so schnell gekommen bist." Die warme Stimme hüllte ihn ein und er nickte leicht, bevor er sich kurz umarmen ließ. Sein Vater war einen halben Kopf größer als er, der Geruch von teurem Aftershave und das Gefühl des steifen Arztkittels an seinen Händen weckten ungeliebte Erinnerungen an Diskussionen um Kleidung, weswegen Jan sich rasch wieder frei machte.
"Wie geht es Hannah?" Seiner Stimme konnte er selber den Schrecken und die Müdigkeit anhören.
"Nicht gut, Jan." Sein Vater klappte die Akte auf und betrachtete sein Gesicht einen Augenblick, dann legte er ihm einen EKG-Ausdruck auf den Tisch.
Jan schloss die Augen einen Moment, dann schüttelte er den Kopf "Das will ich nicht sehen. Nicht bei Hannah!" sagte er abweisend und begann zu frieren.
Sein Vater seufzte, dann murmelte er "Dann sag ich auch nichts weiter, als – nicht gut, Jan. Geh zu ihr. Deine Mutter ist auch da."
Jan nickte betäubt und drehte sich fort.
Kapitel 51
Die Müdigkeit hatte Jans Knochen durchsetzt, jede Bewegung fiel ihm mit einem Mal viel zu schwer. Erinnerungen an Momente mit Hannah flackerten ungebeten vor seinem inneren Auge auf und ließen ihm jeden Schritt auf das Zimmer bleiern werden. Er wollte sie eigentlich lieber nicht so sehen. Eigentlich wollte er sie nur so in Erinnerung behalten, wie er sie gekannt und so unendlich bewundert hatte. Resolut, mit den schrecklichen Hosenröcken bekleidet, mit den Gartengeräten in der Hand und ihre dunklen Zigaretten rauchend, was man ihrer Stimme anhörte.
Doch das Zimmer kam unaufhaltsam näher, er konnte seine Beine nicht zum Anhalten und Umkehren bewegen. Schließlich stand er in der Tür und blickte auf das weiß bezogene Bett, auf dem die gebräunten Arme seiner Oma lebendiger aussahen, als er ursprünglich erwartet hatte.
Ihr Gesicht wirkte friedlich und gesund gegen das helle Kissen, sie schien zu schlafen. Der erste Eindruck musste täuschen, denn die medizinischen Details zeigten die wahre Lage. Sie hatte einen Sauerstoffschlauch um die Nase, EKG-Kabel schlängelten sich über die Decke und im linken Arm lag ein Zugang, über den eine Infusion stetig in sie getropft wurde.
Jan ließ den Blick mit schmalen Augen über die Infusionsflaschen gleiten. 'Lyse... sie hatte einen Herzinfarkt? Naja, sie hat schon seit Ewigkeiten stark geraucht, das reicht als Risikofaktor.'
Seine Konzentration wurde von seiner Mutter unterbrochen, die sich vom Stuhl neben dem Bett erhoben hatte und zu ihm kam. Sie brauchte nur wenige Schritte zur Tür, aber auch sie bewegte sich so quälend müde, dass es ihm lange vorkam, ehe sie vor ihm stand. Mit ungewöhnlich festem Griff umfing sie dann jedoch seine Schultern und drehte ihn um, schob ihn in den Flur zurück.
Seine Mutter umarmte ihn rasch, dann flüsterte sie "Schön, dass du da bist. Sie fragt schon dauernd nach dir."
Jan gab der Müdigkeit nach und lehnte sich an seine Mutter an. Diese hatte es nicht erwartet und taumelte mit ihm gegen die Wand zurück. "Wie geht es ihr?" Er versuchte in den Augen seiner Mutter etwas zu sehen, aber in den dunkelbraunen Tiefen war außer Müdigkeit nichts zu entdecken.
Sie hob die Schultern. "Schlecht", brachte sie endlich unbestimmt hervor. Dann straffte sie ihre Schultern ein wenig und erklärte "Hör zu, Jan. Sie hat sich bestimmte Kleidungsstücke gewünscht. Ich fahre mit deinem Vater zu ihr nach Hause und packe eine Tasche für sie. Wir sind in spätestens zwei Stunden wieder hier."
"In Ordnung, ich bleibe bei ihr."
"Ist gut."
"Ist sie wach?"
"Ja. Rede mit ihr." Seine Mutter lächelte ein wenig ausdruckslos. Es sollte aufmunternd sein, aber ängstigte ihn. Dann drehte sie sich um und ging ins Zimmer zurück.
Er blieb kurz an die Wand gelehnt stehen und erneut begriff er verspätet. Erst als seine Mutter bereits wieder auf den Flur hinaustrat und schnell seinen Arm drückte, bevor sie zum Schwesternzimmer ging, verstand er den letzten Satz von ihr.
'Sie hat sich Kleidung gewünscht... das tut man nur, wenn man denkt, dass man entweder bald wieder gesund ist, oder... Nein! Nicht Hannah!' Er stürzte zu erschrocken und erstarrt zum Denken auf das Krankenhausbett zu, in dem seine Oma zu schmal aussah.
"Hannah? Bist du wach?!" Ungeduldig zog er sich den Stuhl dichter an das Kopfende heran und umfasste ihre schlaffen, kühlen Finger. Das Zischen vom Sauerstoffgerät nervte ihn ein wenig, es unterstrich die Stille im Raum. Doch dann wurde der Griff um seine Finger fester und sie öffnete die Augen.
"Ah, da bist du ja endlich! Wie lange soll eine alte Frau denn noch auf ihren Lieblingsenkel warten?!"
Sie versuchte ein Lächeln, aber Jan trieb es nur die Tränen in die Augen. "Ich hab mich beeilt. Nächstes Mal beeile ich mich noch mehr."
"Ach! Ich gehe kein zweites Mal in ein Krankenhaus! Das passiert mir nie wieder, und das wissen wir beide doch!"
Jan schluckte. Er hasste ihre Andeutungen, er hasste die ganze Situation. Doch sie ließ ihn nicht ins Grübeln abgleiten, sondern hustete einmal angestrengt, bevor sie erklärte "Ich bin schon ganz deppert von den Drogen hier! Hilf mir, mich etwas aufsetzen."
Schweigend schob Jan ihr das Kissen höher in den Rücken. Sie ruhte sich einen Moment nach Luft schnappend aus, dann murmelte sie mit einem unzufriedenen Blick zum Fenster "Ich wollte im August sterben, in aller Pracht, nicht im Februar, den ich immer schon so gehasst habe."
Er ballte seine Hand zur Faust und schlug ohnmächtig wütend auf die Matratze ein. "Lass das! Du stirbst nicht, Hannah!"
"Hör auf mich anzulügen und dich selber dazu!" fuhr sie ihn an, aber ihre Augen blickten trübe in seine Richtung. "Ich bin doch schon so alt, dass es lächerlich ist! Nein, das ist nicht schlimm. Ich will es, Jan." Sie sah ihm in die Augen und knurrte "Ich werde es deinen Eltern nie verzeihen, dass sie dir keinen anständigen Namen gegeben haben. Jan... der Name ist schon vorbei, bevor er begonnen hat. So heißt doch kein richtiger Mann!"
Jan grinste und entgegnete "Ich mag ihn. Er ist kurz. In der Grundschule, als ich noch nicht richtig schreiben konnte, war ich immer froh drum. Außerdem hast du meinen zweiten Vornamen vergessen, der ist lang genug." Hannah nickte leicht und rollte den Kopf in die Mitte zurück, um zur Decke hoch zu stieren.
Es blieb einen Moment lang still, dann murmelte sie leise und mühselig. "Du bist komisch gewesen in letzter Zeit. Ich will wissen, was du vor mir verbirgst."
Er blinzelte überrumpelt, sah sie nicht an, sondern starrte auf das hellblau gemusterte Krankenhausnachthemd. 'Also doch. Jetzt muss ich es also doch erzählen.'
Er erinnerte sich daran, wie er an der Kreuzung noch gedacht hatte, dass er es doch mit Sicherheit mit ihr teilen könnte. Aber das galt doch nicht für den Fall, dass sie so schwer krank war.
"Inwiefern komisch, Hannah?" Sie schnaubte leise, befand die Frage als nicht einer Antwort würdig.
Jan hob den Kopf und betrachtete ihr scharfes Profil, das energische Kinn und die hohe Stirn, um die ihre silbergrauen Haare nicht wie sonst genau wie bei ihm ein wenig wuschelig und störrisch umherstanden, sondern verschwitzt herabhingen.
"Wie kommst du darauf? Hat Mama was gesagt?"
Hannah drehte langsam den Kopf und starrte ihn verwundert und neugierig an, bevor sie an die Decke zurückblickte. "Aha. Es hat also nichts mit der langweiligen Elternschaft von dir zu tun? Es wird immer interessanter für mich", bemerkte sie scharfsinnig.
Jan wurde heiß und kalt. Ihm fehlten noch immer die richtigen Worte. Noch immer war er eigentlich nicht bereit für die Diskussionen, die es mit sich bringen musste. Er starrte seine Oma beinahe panisch an. Musste er nun Angst haben, dass sie, deren Aufrichtigkeit und realistische Ader er so sehr schätzte, sich so engstirnig verhielt, wie Kais Vater? Mit einem Mal war er sich überhaupt nicht mehr sicher. Deswegen schwieg er, bis seine Oma den Kopf wieder zu ihm zurückrollte, um den Blick ihrer scharfen, kleinen Augen über seinen Gesichtsausdruck gleiten zu lassen.
Ihre Blicke trafen sich und er beobachtete, wie ihre Augen schmal wurden, während sie ihn ansah und seine Zweifel und sein schlechtes Gewissen durchschaute. Endlich sagte sie. "Spucks aus."
Als er damals in der fünften Klasse eine Sechs geschrieben hatte und es nicht zu beichten wagte, da hatten sie zusammen am Esstisch gesessen und sie hatte ihn genauso über die Kartoffelsuppe hinweg betrachtet, hatte in fast demselben Ton genau das gesagt. Nur das, mehr nicht. Er seufzte.
Zu allem Überfluss dachte sie ebenfalls daran. "Von dem Sechser bist du auch nicht gestorben damals, also." Sie lächelte erneut ein wenig müde in seine Richtung.
Es trieb ihn mehr zur Eile an, als dass es ihn beruhigte. "Ich... hab mich verliebt." War das seine Stimme gewesen? Er ließ ein wenig wütend über seine Ungeschicklichkeit den Kopf hängen. Wie konnte er so anfangen, davon zu erzählen?! Idiotisch!
Hannah nickte statt einer Antwort zu dem Beistelltischchen hin und bat, von der Verkündigung anscheinend unbeeindruckt "Gib mir mal einen Schluck Wasser, bitte."
Es war ja auch nicht das erste Mal, dass er ihr von einer neuen Freundin erzählte. Es war aber das erste Mal, dass er 'verliebt' gesagte hatte, das erste Mal, dass er sich auch so fühlte. Jan hielt ihr den Becher von ihren kühlen Fingern unterstützt und gelenkt an die farblosen Lippen. Ein ungewohnter Anblick. Sonst hatte sie immer dunkelroten Lippenstift getragen, wenn er sie gesehen hatte.
Als er den Becher abstellte, fragte sie "In der Art verliebt, wie deine Mutter das nennt, weswegen sie deinen Vater geheiratet hat?"
Jan seufzte irritiert, weil er ihre Querelen nicht hören mochte. Dennoch half ihm der Satz weiter. "Nein. Ich hab mich so verliebt, wie du es von dem Kerl behauptet hast, der dich mit dem Kind hat sitzen lassen", schoss er gnadenlos zurück.
Sie verzog den Mund ein wenig nach unten, aber murmelte ein tonloses "Touché." Dann bedeutete sie ihm mit einem Nicken fortzufahren.
Jan zog sich den Stuhl nervös noch ein wenig näher zu ihr heran. Endlich murmelte er, vielmehr an ihre Hand als an ihr Gesicht gewandt. "Das war nicht erst jetzt, sondern schon im letzten Herbst. Ich hatte nur Angst davor."
Sie blinzelte ihn mit erwachender Neugierde an. "Du und Angst? Was ganz Neues. Warum? Schlägt dein Vater bei dir durch?"
Jan schüttelte den Kopf, dann quetschte er hervor "Nein... ich hab Angst bekommen, weil es sich um kein Mädchen handelt bei der Person, sondern einen Jungen."
Es war still im Raum. Das gleichmäßige Zischen des Sauerstoffgerätes blieb einige Atemzüge lang das einzige Geräusch zwischen ihnen. Dann spürte Jan unter seinen Finger, wie sie ihre Hand zur Faust ballte und zuckte zurück.
"Das war kein Scherz!?"
Jan schüttelte den Kopf und antwortete überflüssigerweise. "Nein... leider nicht."
"Leider?! Pah! Und das verbergen Charlotte und ihr Langweiler vor mir?!" Hannah sah ihn wütend an.
Jan schüttelte den Kopf. "Ich habe immer alles zuerst dir gesagt."
Sie schnaubte leise. "Das wäre ja auch noch schöner gewesen!" Sie hustete einige Male nach Luft ringend, dann murmelte sie mit schwacher, kippeliger Stimme "Du kannst von Glück sagen, dass ich vollgestopft bin mit Valium, Morphium und noch so einem Dumdidum! Sonst hätte ich dich doch noch verhauen!"
Jan hob erstaunt den Kopf. Hannah war nie sehr zart mit ihm umgegangen, aber verhauen hatte sie ihn nicht einmal, als er an einem Nachmittag mit dem Fußball gleich zwei Fensterscheiben eingeschossen hatte.
Sie meinte es aber ernst, griff ihm als nächstes recht schmerzhaft in die Haare und hielt ihn dicht in ihrer Nähe, während sie wütend zischte "Dachtest du, dass ich es aufrecht und bewundernswert finde?! Du kannst doch nicht im Ernst glauben, dass ich so etwas durchgehen lasse!"
"Aha?! Also waren deine Sprüche von der Ehrlichkeit gelogen?!" Nur seine Enttäuschung brachte ihn dazu, sie so anzufahren, obwohl ihre Finger zitterten, was er deutlich spürte.
"Was?! Bist du denn jeck geworden?!" Der Griff in seinen Haaren wurde unangenehm hart. "Sag mir jetzt nur noch einmal, dass du mich nicht auf meine letzten Tage,... nein, meine letzten Stunden, durch den Kakao ziehen willst!" Sie keuchte schon, aber zeterte weiter "Du hast dich in einen Mann verliebt?! Das willst du mir sagen?!"
Ihre Stimme... Jan schloss die Augen, ignorierte den scharfen Schmerz, der von ihren gnadenlosen Fingern ausgehend über seinen Kopf wanderte. Ihre Stimme war so hässlich schrill geworden. Den Ärger und die Ablehnung zu hören darin, den Schrecken, tat ihm mehr weh als das Reißen an den Haaren. Leise entgegnete er jedoch "Ja, das habe ich. Du tust mir weh, Hannah."
Sie starrte ihn an und verstand, wie er dies meinte.
Eine Krankenschwester stürzte in den Raum, als sie ihn gerade losließ. "Alles in Ordnung?! Ihre Werte sind eben so..."
"Ja!" Jan und seine Oma hatten gleichzeitig und beide nicht besonders freundlich geantwortet. Hannah hob ihre sehnige, gebräunte Hand und verlangte "Gib mir mal mehr von dem Dumdidum, das mich so herrlich ruhig gemacht hat vorhin!"
Die Schwester zögerte ein wenig, dann nickte sie und murmelte "Eine halbe können Sie wohl noch haben."
"Na, vielen Dank. Gib mir besser eine ganze. Ich brauche jetzt all die Ruhe, die ich kriegen kann." Bei diesem Satz sah sie Jan in die Augen, der den Blick stur erwiderte, nicht zu einem schlechten Gewissen bereit.
Die Nachtschwester blickte zwischen ihnen hin und her, dann schüttelte sie den Kopf und entgegnete fest "Mehr gibt es nicht!", bevor sie das Zimmer wieder verließ.
Jan senkte den Kopf und ließ die Arme zu den Seiten herabfallen. Die plötzliche Milde in der Stimme seiner Oma überraschte ihn, als sie nach einem kurzem Hustenanfall bemerkte "Du hast Recht. Ich will die Geschichte hören."
"Da gibt es nicht viel zu erzählen."
Sie legte den Kopf schief und erwiderte "Im Gegenteil. Ich bin mir fast nicht sicher, ob du es noch schaffen wirst, mir auch wirklich alles zu erzählen, was es braucht, damit ich DAS verstehe!"
Er zuckte zusammen, weil sie wieder so herrisch gesprochen hatte, wie sie es immer tat, wenn sie sich aufregte über jemanden, seinen Vater meistens.
Die Krankenschwester kehrte mit der Tablette zurück und reichte sie Hannah an, die sie mit angeekeltem Gesichtsausdruck und einem ganzen Becher Wasser schluckte. "Danke, Kindchen."
"Ich bin im Zimmer vorn, wenn Sie etwas brauchen..."
"Meine Ruhe, danke!"
Die Schwester nickte lächelnd, obwohl sie zweifelsohne 'Blöde Ziege' dachte.
Jan versuchte ihr Lächeln zu erwidern, es gelang ihm nicht mehr ganz, aber schien der Nachtschwester zu genügen. Mit einem freundlichen Nicken verschwand sie wieder.
Einige Momente lang blieb es still, dann sagte Hannah mit einem Mal versöhnlicher "Gib mir deine Hand, mir ist kalt."
Jan legte seine Hand wieder auf das Bett zurück und sie drückte seine Finger leicht. "So, erzähl mir diese Sache so, dass ich es verstehe."
"Wie soll ich anfangen? Ich bin so schlecht im Erzählen."
"Unsinn. Fang am Anfang an. Wie bist du... wie heißt... ich kann mich kaum dazu bringen 'er' zu sagen, meine Güte noch einmal!"
Jan seufzte und sie drückte seine Finger noch einmal. Er betrachtete ihre Hände, prägte sich die Fingerformen ein, während er noch einmal kurz überlegte, dann sagte er leise "Kai. Kai Hellmann." In dem Moment wurde er sich erst richtig bewusst, dass er dabei war, ihr davon zu erzählen. Ein Schauer rann seinen Rücken hinunter, aber Hannahs entsetzter Gesichtsausdruck stammte nun nicht davon, dass er wirklich einen männlichen Vornamen nannte.
Sie verdrehte die Augen und murmelte "Es hätte mir klar sein sollen, dass ich noch einen so kurzen, nichtssagenden Namen zu hören bekomme. So wirst du mein Verständnis nie erreichen. Wie hast du ausgerechnet ihn getroffen?"
Jan schloss sich erinnernd die Augen und gähnte.
Sofort wurde er angefahren "Du kannst später schlafen! Ich brauche deine Gesellschaft jetzt. Fang an zu erzählen!"
"Entschuldige Hannah."
"Jaja, wo hast du ihn also getroffen? Und wieso hast du, bist du... na, du weißt schon, erzähl halt..."
"Das war am ersten Tag in der Uni. Ich hab in der Begrüßungsvorlesung mit ein paar Leuten, die ich gerade kennengelernt hatte, in einer der letzten Reihen gesessen, und eigentlich hab ich den Professor nicht weiter beachtet. Er hat sich wichtig gemacht und leere Drohungen abgelassen. Doch nach der ersten Hälfte seiner Lesung hat sich aus einer Reihe weiter unten ein Junge durchgedrängelt, um rauszugehen. Als ich seinen Gesichtsausdruck sehen konnte, ist mir erst klar geworden, dass diese Reden, die der Idiot geschwungen hat, auch verletzend waren.
Es war der große Hörsaal und die Bankreihen sind recht lang dort. Der andere Student hat eine Weile gebraucht, um rauszukommen. Ich hab ihn einfach nur angestarrt, konnte mich auf die Unterhaltung nicht mehr konzentrieren. Dann ist er die Treppe rauf und musste an unserer Reihe vorbei. Er ist ausgerechnet auf Höhe unserer Bank gestolpert. Beim Festhalten hat er einen Kuli runtergeworfen und hat diesen mit einer leisen Entschuldigung aufgehoben. Das hat irgendwie gereicht. Die Stimme, oder so."
"Ah, was hat er denn gesagt?"
"Nichts wichtiges, nur so was wie 'Tut mir leid', aber ich hab meine Tasche fallen lassen, vor... ich weiß nicht wieso! Als ich meinen Rucksack aufgehoben hatte, war er schon weitergelaufen. Und ich hab mich erschrocken, weil ich dachte, dass er jetzt mit Sicherheit weg sein musste. Bevor ich darüber nachdenken konnte, bin ich aufgesprungen und hinterher. Ich musste mich auch durchdrängeln, und er war nicht mehr da, als ich vor dem Hörsaal ankam."
Prüfend blickte Jan auf das Gesicht seiner Oma, die ihre Lider geschlossen hatte. "Ich bin noch nicht tot. Erzähl weiter."
"Verstehst du?"
Sie schüttelte den Kopf leicht. "Das war aber vor einem Jahr! Wieso erfahre ich das erst jetzt?!"
"Ich war mir nicht sicher."
"Mach an der Stelle vor dem Saal weiter."
"Hm. Er war weg und ich stand wie begossen da und hab mich selbst hauen wollen, weil ich so losgerannt bin wegen einer Person, die ich noch nie zuvor gesehen habe, wegen nichts eigentlich.
Doch als ich die Tür vom Hörsaal schon in der Hand hatte, um zurück zu gehen, hab ich noch mal runtergesehen, da stand er am Geländer ein Stockwerk tiefer und hat in die Sonne geblinzelt. Er hat sich auf dem Geländer aufgestützt, zwischen den Fingern beider Hände hatte er einen Plastikbecher mit diesem ekelhaften Automatenkaffee. Da hab ich erst richtig bewusst gesehen, dass es ein Junge war."
"Wie sah er denn aus? Was hat er denn für Kleidung getragen? Irgendwas... feminines?" Die Stimme seiner Oma klang mit einem Mal interessierter, oder wollte Jan sich da täuschen und schaffte es auch? Er dachte nach, führte sich diese Szene wieder vor Augen.
Einen Moment lang stand er wirklich wieder oben auf der hässlichen Treppe mit den zerkratzten Geländern und blickte auf den Jungen runter, der in einem Sonnenfleck stand, das Licht anzuziehen schien. Dann erinnerte er sich erst an die Frage seiner Oma und schüttelte den Kopf. Auf die Klamotten hatte er gar nicht geachtet, etwas anderes war ihm viel mehr aufgefallen, aber das war zu schwer zu beschreiben.
"Nein. Er hatte ein T-Shirt an, ein grünes vielleicht, weiß nicht, und eine helle Hose, eine Jeans glaube ich. Überhaupt sah er hell aus, sauber irgendwie."
"Sauber?!" Sie klang als hielte sie ihn für einen Idioten.
Jan nickte hilflos, dann erklärte er verzweifelt. "Wie... klares Wasser, frisch, verstehst du? Seine ganze Aufmachung, die Frisur, die geschnittenen Fingernägel, die gebügelten Hosen und T-Shirts und die Schuhe immer geputzt..."
"... und nicht so verlatschte Dinger, wie deine, hm?"
"Ja, aber zu ihm passt das, zu mir nicht, Hannah."
"Das war kein Vorwurf! Erzähl weiter. Du hast ihn also angesprochen, oder was?"
Jan lehnte seine Stirn auf seinen Arm nach vorn und stöhnte leicht auf. "Jaha... ich hab etwas idiotisches gesagt, irgendwie so was wie 'schaust du den Mädchen nach?' oder so. Weil er so nach oben gesehen hat. In Wirklichkeit hat er vermutlich nur das Sonnenlicht genossen, das wusste ich doch auch.
Gerade weil er mich dazu gebracht hat, aus dem Saal zu laufen, ihm hinterher, hab ich was Extradämliches sagen müssen, nehme ich mal an. Ich hab es jedenfalls geschafft, mir wegen ihm gleich zwei Mal innerhalb von zehn Minuten völlig blöde vorzukommen. Das kam in meinem Leben vorher, glaube ich, nicht so oft vor."
Hannah gluckste ein wenig und tätschelte wortlos seine Schulter.
"Er hat sich umgedreht und... ich dachte nur, dass es mein Glück war, dass er mir zuvor den Rücken gekehrt hatte. Ihm ins Gesicht hätte ich im ersten Moment vermutlich gar nichts mehr sagen können, nicht einmal mehr etwas idiotisches.
Er allerdings hat auch nur 'Hm' oder so gemacht, schien mich für einen Deppen zu halten. Und ich konnte nichts weiter tun, als ihn anstarren und denken, dass das vor mir ein wirklich hübscher Junge ist. Gleichzeitig hab ich gedacht, dass es ja wohl nicht angehen kann, dass ich so etwas überhaupt an einem Jungen so sehen kann. Ich meine, ihn hübsch finden, ihn anzustarren und... egal, ich war verwirrt."
'... und ihn anfassen zu wollen, ihn streicheln. Sein Gesicht, diese Hände... Ich hätte ihn fast berührt in dem Moment, so sehr hat es mich hingezogen...' Jan verschwieg das jedoch.
Hannah stütze sich ein wenig auf und sah ihn neugierig an. "Hast du ein Bild dabei?"
"Nein."
"Dann sag mal, wie er aussieht."
"Blonde Haare, rotblond. Er hat ein paar Locken und Wellen, nicht überall, nur hier und dort ein paar. Blaue Augen." Jan wedelte vor seinem Gesicht herum. "Helle Haut."
"Und?"
"Und was?"
"Ein Gesicht besteht nicht nur aus Haaren und Augenfarbe!"
Jan schloss die Augen und nickte. "Ich kann ihn vor mir sehen, aber das Bild in Worte zu fassen, ist so schwer."
"Sag einfach, was du denkst, kümmere dich nicht um mich. Solange du redest, weiß ich, dass ich lebe."
Jan zog Brauen leicht zusammen und beschwor das Bild, das er von Kai hatte, herauf. Es bestand aus vielen Bildern, die sich rasch abwechselten, immer wieder veränderten und überlagerten. Endlich murmelte er stockend und unsicher. "Er ist wirklich hübsch..., ich meine, nicht schreiend schön, aber auf jeden Fall sehr fotogen. Sein Gesicht ist nicht so eckig wie meins, sieht weicher aus."
"Weicher?"
"Naja, das Kinn oder so. Er ist auch ein hellerer Typ, verbrennt schnell in der Sonne. Er hat große Augen, sie stehen weit auseinander, das macht ihn wohl so fotogen, nehme ich an. Und überhaupt sind seine Augen der Oberhammer. Dunkelblau, so was hab ich sonst nur bei kleinen Kindern gesehen. Nicht so wässrig oder verwaschen, strahlend."
"Meine Güte du schwärmst ja richtig."
Jan wurde ein wenig rot, aber nickte leicht.
Hannah sinnierte leise "Aber ich kann mir gut vorstellen, wie du gedacht hast."
Jans Mund verzog sich leicht, dann schüttelte der den Kopf. "Nein", widersprach er trocken. "Das kannst du bestimmt nicht."
"Na gut, erzähl weiter."
"Na, ich hab so was gesagt wie 'Der Kaffee ist doch bestimmt genauso schlecht, wie die Vorlesung eben.' Daraufhin hat er mir zugestimmt und gemeint, dass er darüber auch gerade nachgedacht hat. Und darauf hab ich vorgeschlagen, zusammen etwas in der Cafeteria um die Ecke zu trinken, und über Fachbücher zu reden.
Tja, als wir uns dann so nach zwei Stunden Quatschen voneinander getrennt haben, war ich verwirrter als je zuvor. Er hat mir zwar seinen Namen genannt, aber nichts, rein gar nichts über sich erzählt, während ich bereits mein Leben auf den Tisch gepackt hatte, wie es mir schien.
Ich kenne keinen, der so gut zuhören kann, dabei so gut verschweigen. Er war dermaßen zurückhaltend, dass ich mir schon abgewiesen vorkam, obwohl ich, je mehr wir zusammen in den Kursen waren, zusammen gelernt haben, noch mehr mit ihm machen wollte, hat er nicht mal seine Telefonnummer rausgerückt."
"Merkwürdig. Hast du nie gefragt?"
"Nee, ich kam mir immer, wenn ich ihn fragen wollte, dann so vor, als ob ich... seine Privatsphäre verletze, das wollte ich nicht. Mir waren meine Gefühle auch so schon peinlich genug. Mich fernhalten konnte ich aber auch nicht."
"Klingt anstrengend."
"Aber es war auch gut so. Er ist wirklich intelligent und er ist fleißig, viel fleißiger als ich, kann sich besser zusammenreißen. Wenn er nicht gewesen wäre, dann wäre ich in Anatomie und Chemie gleich durchgerauscht."
"Und dann? Das war ja noch immer vor einem Jahr. Und was war mit dieser..."
"Bianca?"
"Hm. Mit der warst du doch zusammen, oder nicht?"
"Ja, das war das Dümmste, was ich je gemacht habe."
"Ach, woher diese Erkenntnis? Sie sah mir wie ein nettes Mädchen aus."
Jan zögerte. "Kai... Er war so abweisend immer. Ich bin nicht über seine Oberfläche hinaus gekommen. Er hat nichts von sich erzählt. Er hat mir nicht erzählt, wo er wohnt, und er ist nur selten und dann ganz kurz auf den Partys aufgetaucht. Ich war verwirrt. Er war wirklich der perfekte Außenseiter. Ich hab mich durch sein Verhalten ausgeschlossen gefühlt, hab keine Chance gesehen, um ihn kennenzulernen.
Bianca hingegen, puh... Sie hat mir gleich in der ersten Vorlesung ihre Nummer, ihre Handynummer und die Wohnheimzimmernummer auf meinen Block geschrieben, hat mich angerufen, ob sie mich zur Party mitnehmen soll, hat... mich aufwendigst angebaggert, wie man so schön sagt."
"Ja, sie kam mir energisch vor."
"Ist sie, keine Frage."
"Und?"
"Naja, das hat mir zum einen geschmeichelt, zum anderen haben mich Kais Verhalten und meine eigene Reaktion auf ihn irritiert und zum Dritten ergaben sich eben null Gelegenheiten, um Kai kennenzulernen, während Bianca immer um mich war. Wie..."
Er stockte, aber Hannah lachte und fragte "Wie die Fliegen auf dem Misthaufen wolltest du nicht sagen, oder?"
"Nein, aber so was in der Art." 'Wie eben Mädchen um einen sind, egal, ob man ihnen sagt, dass man Stress hat, dass man mit den Kumpels was machen will, dass man einfach mal Ruhe braucht, dass man gerade nicht auf sie kann. Wie eben Kai nicht ist...'
Kapitel 52
Die Messgeräte um Hannah begannen zu blinken und die Blutdruckmanschette wurde automatisch aufgepumpt. Jan wartete schweigend ab, bis das EKG und das Blutdruckgerät ihre halbstündlichen Messungen absolviert hatten und dachte über seine jetzige Lage nach.
Kai war da, wenn er ihn brauchte, wenn er Kai anrief, dann war sein Freund aufnahmebereit für seine Probleme, wenn er am Mittwoch oder Sonntag vorbeiging, dann war Kai da, dann hatte er auch schon eingekauft für Jan, hatte ihm seinen Joghurt besorgt und er hatte ja sogar angefangen, unaufgefordert Tee zu kochen am Morgen. Aber niemals hatte Kai genörgelt, wenn Jan am Samstag mit seinen Freunden vom Fußball wegging, wenn er an allen anderen Tagen der Woche keine Zeit hatte.
Bianca... nein, jede andere Freundin zuvor war so vereinnahmend gewesen, sie alle hatten ihn samstags begleiten wollen, hatten nach wenigen Wochen angefangen, ihn in der Schule, in der Disco oder der Uni ständig an der Hand hin und her zu zerren und sie hatten es persönlich genommen, wenn er ein Wochenende mal für sich wollte. Kai tat das nicht, er ließ Jan seine Luft, verlangte nicht mehr Raum, als Jan bereit war ihm einzuräumen.
Nach der Pause fasste Hannah zusammen "Also, du hast... Kai kennengelernt, aber fühltest dich nur hingezogen, nicht wirklich... verliebt?"
Jan seufzte. "Ich weiß es nicht. Das war so bizarr. Ich wollte ihn kennenlernen, er wollte mich nicht näherkommen lassen. Ich wollte seinen Freiraum respektieren, wollte, dass er von sich aus mal was macht. Er hat sich nicht gerührt. Ich hab das nicht ausgehalten, bin wieder zu ihm hin. Er war da und war freundlich zu mir, aber das war dann eher noch schwerer für mich.
Kurz vor dem Ende des Semesters hab ich ihn endlich um seine Telefonnummer gebeten. Er hat gezögert, sie mir zu geben, aber hat sie rausgerückt mit den Worten 'Ich wohne in einer WG mit einem Verrückten. Kümmere dich nicht um den.'
Das kam mir komisch vor, aber zu dem Zeitpunkt wusste ich noch rein gar nichts über Kai, null über sein wirkliches Leben, wie er privat war. Ich kannte nur die winzige Ecke, die er mich hat sehen lassen, die allein hat mir ja schon ausgereicht."
"Aber das war ja schon in diesem Sommer, was ist denn passiert, dass ihr das Hindernis überwunden habt?"
"Ich hab ihn angerufen und auf eine Party eingeladen. Das war kurz vor Sommeranfang, in der letzten Semesterwoche. Die Feier fand für mich etwas ab vom Schuss statt, aber wie sich herausstellte, bei ihm in der Nähe. Einige Freunde von mir, aus dem Fußballverein, haben zusammengelegt und das Vereinshaus gemietet für ihre Party. Ich hab Kai angerufen, vielleicht auch bloß, um die Nummer auszuprobieren. Und zu meiner unendlichen Überraschung hat er zugesagt zu kommen."
"Aha. Und Bianca?"
"Ja, das war kompliziert."
"Das denke ich mir."
"Die Tage über, die ich wusste, dass er zur Party kommen würde, hab ich mich schon mit Bianca schlecht verstanden. Ich hab sie mit ihm verglichen, obwohl ich dazu weder das Recht noch die Grundlage hatte. Als dann auf der Feier noch Biancas merkwürdiger Exfreund aufgetaucht ist und sie mit ihm und mir zu einer anderen Party fahren wollte, da hat es mir gereicht und ich hab Streit angefangen, sie ist einfach abgehauen."
"Praktisch."
"Nee, ich war erschrocken über mein Verhalten, wütend über ihres und hab mich drei Stunden lang bei Kai ausgenölt, er hat kommentarlos zugehört. Endlich ist mir eingefallen, dass ich bei Bianca pennen sollte, sie mich ja abgeholt hatte, und ich nun nach Hause trampen musste. Da hat er mir aus einem mir nicht bekannten Grund angeboten, dass ich bei ihm übernachten könne."
Hannah legte sich auf die andere Seite zurecht und hustete angestrengt. Sie hielt sich die Brust und verzog den Mund.
"Alles in Ordnung, Hannah?"
"Natürlich. Erzähl schon."
Jan spürte, wie er rot wurde, dann beichtete er zerknirscht "Ich war zu hinüber, hab von der Nacht dort nur wenig Erinnerungen. Aber ich weiß, dass ich mit einem mächtigen Kater und mit Kai im Arm aufgewacht bin, und zwar richtig im Arm. Er hat zum Glück noch geschlafen, als ich aufgewacht bin. Ich war zu erschrocken und verkatert zum Denken."
"Im Arm? Und da hat er nichts zu gesagt?"
"Doch. Er war eigenartig am anderen Morgen, und zu meinem noch größeren Schock hat er das Wort benutzt, das mir noch gar nicht in den Sinn gekommen war. Schwul. Mir war aufgefallen, dass man in der Wohnung förmlich über nackte Männern stolperte, und als ich ihn am nächsten Morgen, von meinem Kater schlecht gelaunt, angesehen habe, und er schon wieder so sauber und frisch wirkte, sodass ich mir ekelig und gammelig vorkam - er hatte geduscht und tauchte in den weißen Arbeitsklamotten auf, weil er noch ins Altenheim musste, wo er jobbt - da war ich einfach so taktlos und hab ihn direkt gefragt, was ich denn von den vielen Männerbildern in der Wohnung zu halten hätte. Er wirkte in die Ecke gedrängt, ist rot geworden, aber hat mich angefahren, dass er schwul sei und ich ihn nun bitteschön in Ruhe lassen solle."
"Ah... du hast nicht vorher einmal daran gedacht, wie man dich nennt, wenn du einem Kerl hinterherrennst?"
Jan sah seine Oma an und überlegte. "Nein, ich hab Kai irgendwie bis zu dem Tag anders gesehen. Ich wollte ihn kennenlernen, wollte in seiner Nähe sein, fand ihn attraktiv, aber ich hab niemals zuvor daran gedacht, dass ich schwul bin deswegen. Diese Frage tauchte erst nach dem Morgen auf für mich. Zudem hat er mir dann erzählt, dass ich ihn geküsst hätte, woran ich mich nur dunkel erinnern konnte."
"Richtig geküsst?!"
Sie sah ihn ein wenig entrüstet beinahe an und das nervte ihn mit einem Mal. "Natürlich, Hannah! Du kannst dir doch denken, dass wir mittlerweile mehr als das machen, oder?!"
Sie ballte eine Hand erneut zur Faust und zog die Brauen zusammen, dann grummelte sie "Erspar mir bitte die Details, danke schön."
"Na gut. Er hat mir also nach der Nacht, an die ich nur lückenhafte Erinnerungen hatte, erzählt, dass er schwul ist, dass wir uns geküsst haben, dass er das gut fand, und er hat mir dann noch gesagt, dass ich es vergessen soll, zu meiner Freundin gehen. Erst in dem Moment hab ich kapiert, was er da sagt.
Zunächst war ich erst einmal froh, dass er mich auch mag. Dass er nur so versteckt geblieben ist, weil er gerade das versteckt hat, was ich mir ja wünschte, nämlich, dass er auf mich ebenfalls abfahren könnte. Doch den Moment der Freude hat er gleich wieder in realistisches, nettes Schwarz getaucht."
Jan schwieg und erinnerte sich an den Tag, an diesen Nachmittag, an dem er in seinem Zimmer im Wohnheim gelegen und nachgedacht hatte. An die darauffolgende Nacht, in der er nicht schlafen konnte, weil er sich mit tausend und einer Frage gequält hatte, jedoch jeder zweite Gedanke ihn wieder auf eines zurückbrachte, wie Kais Haare sich anfühlten, seine Haut, wie Jan sich fühlte, wenn er ihn im Arm hielt.
Er hatte die Sache mit der Knutscherei mit Kai ja im ersten Moment, aus Schreck und um es von sich zu schieben, abperlen lassen. Kais Gesicht, als er vor ihm stand, zum ersten Mal etwas wirklich Persönliches sagte, sah er noch deutlich vor sich.
Kai hatte gesagt, dass es gut gewesen war. Nur so nebenbei und undeutlich, aber eigentlich der wichtigste Satz, den Kai ihm bis dahin gesagt hatte. Wie hatte er nur damals gehen können?! Einfach weggehen, nachdem Kai sich einmal so sehr durchgerungen hatte?
Jan hatte sich durch Bianca ablenken lassen und vertagte eine Entscheidung zu dieser Sache so oft er konnte. Er war sich ja in dem Moment schon darüber klar geworden, dass er nichts anderes mehr wollte, als sich wieder so zu fühlen, wie mit Kai. Sein Verstand, seine Sturheit und natürlich all diese schwarzen Gedanken hatten ihn viel zu lange zögern lassen.
Er hatte sich nicht gut gefühlt am Morgen danach, sein Kater aber war ausnahmsweise das geringste seiner Probleme. Was ihm in dem Moment alles gleichzeitig durch den Kopf gegangen war, hatte ihm zu viel schlimmeren Schmerzen verholfen.
Jan blickte zu seiner Oma im Bett rüber, sie hatte es eben ja deutlich noch einmal gesagt. 'Wie man dich nennt, wenn du einem Kerl nachrennst... Ja, daran hab ich irgendwie nicht gedacht. Das will ich immer noch nicht bedenken.'
Es schmerzte Jan, dass er etwas, das sich so richtig anfühlte, verstecken sollte. Etwas, das ihn glücklich machte, würde seine Eltern und überhaupt alle Menschen in seiner Umgebung enttäuschen.
Hannah unterbrach seine Gedanken, indem sie murmelte "Und du? Hast du dir dann überlegt, was du willst? Ob du die ganzen Probleme willst, die das mit sich bringt?"
"Ja, die sind mir dann allesamt eingefallen. Nach und nach und täglich fallen mir wieder Dinge auf, die ich ungerecht finde, die mein Leben komplizierter machen, die mir Steine in den Weg legen, die mich bedrängen, alles nur wegen Kai!"
Er hielt inne, weil er so heftig gesprochen hatte. Sie konnte ja nichts zu seinem Frust, aber Jans Nerven gingen wirklich manchmal schon blank, wenn er sich dumme Witze anhören musste, wenn er Vorurteilen lauschen und die Klappe halten musste.
Es passte ihm nicht, dass er in seinem Verein nichts sagen durfte. Das fraß sich manchmal schon durch seine Schutzhülle. Er bewunderte Kai für dessen Gelassenheit diesen Sprüchen und stetigen Problemen gegenüber. Und es half ihm, Kais unpersönliche Art mit fremden Menschen zu verstehen.
Ablenkend fuhr er fort "Aber das ist ja jetzt. Im Sommer, da hab ich gedacht, dass ich nicht einmal die wenigen Dinge, die mir gleich eingefallen sind, ertragen könnte. Dass meine Fußballfreunde das nicht so toll fänden, dass meine Eltern und du es nicht so toll fänden. Das allein hat schon gereicht."
Hannah seufzte und murrte "Nicht genug gereicht."
Jan ignorierte sie und fuhr fort "Ich bin erst mal zu Bianca zurück und hab von den ganzen Neuerungen, die ich nicht verstanden habe, die mich verunsichert haben, zurückgezuckt. Ich wollte aber auf Kai nicht verzichten, obwohl er nicht mehr mit mir geredet hat in der Uni. Wir haben uns also nach zwei Wochen oder so auf Freundschaft geeinigt."
"Ein fader Kompromiss."
"Ja, es war ätzend, gefiel mir nicht. Aber ich musste erst einmal darüber nachdenken, was ich überhaupt will. Bianca war es nicht, das war mir sehr schnell schon klar. Ich hab Schluss gemacht, sie hat es bis heute nicht verstanden."
"Das arme Ding."
Jan seufzte und erinnerte sich an die ermüdenden Diskussionen, die er noch immer führen musste, sobald er auf seine Exfreundin traf, dachte an ihre Intrige zur Silvesterfeier, die ihn fast Kais Liebe gekostet hatte, aber fegte das Mitleid seiner Oma mit der Bemerkung "Ach, sie ist wirklich energisch." weg, bevor er sich deswegen noch schlecht fühlen, oder sich gar aufregen konnte.
Rasch fuhr er fort "Während meines Praktikums im Krankenhaus war Bianca einige Male hier, aber es ging ja nicht... wieso sie es nicht gepeilt hat, weiß ich nicht."
Jan erinnerte sich daran, wie Bianca vorbeigekommen war. Sie waren gute Freunde, er mochte ihre ehrliche Art und er hatte sie wirklich attraktiv gefunden zuvor. Doch im Sommer, als sie da war, ging gar nichts bei ihm. Das Allerschlimmste passierte, als er einmal doch mit ihr geschlafen hatte und in einer Art Flashback die Bilder aus der Nacht zurückkehrten, in der er Kai im Arm gehalten hatte.
Seine Oma trank mit kleinen Schlucken Wasser und er ließ die Erinnerung an diesen Tag nach der Party noch einmal zu. Er konnte Bianca gar nicht mehr in dem Zusammenhang sehen, sah nur Kai. Jan erinnerte sich an dessen Gesichtsausdruck im Schlaf, das Vertrauen, mit dem Kai sich an ihn gelehnt hatte.
Jan wusste noch genau, wie er aufgewacht war an dem Morgen und der hämmernde Kopfschmerz, das leichte Kratzen in seinem Hals und eine unangenehme Übelkeit ihn sofort überfielen. Aber im nächsten Augenblick spürte er warme Haut an seiner, erschauderte unter leichtem Atem, der über seinen Hals strich und noch bevor er die Augen geöffnet hatte und richtig erwacht war, hatte sein Körper für ihn entschieden und reagiert. Er hatte Kai mit einem Arm dichter an sich gezogen und das Gesicht in seinen Haaren vergraben. Es war doch vom ersten Moment an so gewesen. Eine chemische Reaktion zwischen ihnen, die sich exponentiell steigerte, die er nicht aufhalten konnte, sobald er Kai berührte, die einen berauschenden Effekt ausübte, dem er sich nicht entziehen konnte.
Als er mit Bianca im Bett gelegen hatte, vermisste jede Zelle seines Körpers den Rausch dieser Reaktion auf Kai. Er fand das Zusammensein mit ihr nur fade. Das war der Moment, in dem er einsehen musste, dass seine Gefühle für Kai nicht die zu einem Kumpel waren.
Es war eigentlich ein leichter Augenblick, denn er brachte Sicherheit. Ein schwerer Tag zugleich, denn Jan hatte einen schrecklichen Streit mit Bianca, hatte niemanden, mit dem er darüber reden konnte und wollte zu Kai, wollte sich aber erst beruhigen, wollte nichts Überstürztes, vollkommen Falsches und gegen Kai Unfaires tun.
Hannah stupste ihn an und er fuhr fort. "Ich hab dann beschlossen, dass ich nicht drumrum kommen würde. Ich musste mit Kai reden. Und ich wusste, dass ich es tun muss, der Junge macht ja den Mund nicht auf! Ich bin nach den vier Wochen zu ihm hin, um ihn zu fragen, wie er denkt, was er von uns hält, aber es ging schrecklich schief."
Hannah stütze sich mühsam höher und ließ sich von Jan noch einmal etwas Wasser einschenken. Die Schwester kam in dem Moment auch vorbei, um sich die Werte für Puls und Blutdruck von der Maschine abzuschreiben und nahm eine kleine Blutprobe aus Hannahs Fingerkuppe, aber sie sagte nichts dabei, nickte ihnen nur zu und Jan starrte blicklos zum schwarzen Fenster und erinnerte sich an den Tag, an einen der schrecklichsten Tage im letzten Jahr.
Er war so motiviert gewesen, und er war sich mit einem Mal sicher, dass Kai ihn doch auch mochte, dass alles gut werden musste, wenn er sich endlich einmal entschieden hatte. Noch immer konnte er sich an das Gefühl seines leichten Herzens, seines leichten Kopfes erinnern, das ihn befallen hatte, sobald er im Haus war, in dem Kai wohnte. Den Weg in den dritten Stock hatte er überdeutlich gespürt und wie die Türglocke geklungen hatte zum ersten Mal bewusst wahrgenommen. Doch von dem Moment an ging es mit der Achterbahn leider wieder steil bergab.
Jan sah Kais Gesichtsausdruck noch immer vor sich. Ein wenig Überraschung vermischt mit reichlich Schreck. Er war verwuschelt gewesen, verschlafen und mit nassem Gesicht und großen Augen auf ihn starrend noch niedlicher als sonst. Noch viel mehr genau das, was Jan wollte.
Kai hatte die Gelegenheit genutzt und war mal wieder rot geworden. Gleich drauf konnte Jan ja auch sehen, wieso er erschrocken wirkte und rot wurde. Als die Tür zufiel, hatte er direkt auf einen recht großen, nicht unattraktiven Mann geblickt, der lediglich mit Shorts bekleidet in Kais Zimmertür lehnte. 'Lukas...' Noch immer rief der Gedanke heftige Wut und Magenschmerzen in Jan hervor. Seine Oma musste ihn zwei Male ansprechen, bevor er reagierte, als die Schwester sich wieder zurückzog.
"Was ist denn schief gegangen?" Hannah sah der Schwester hinterher und Jan ebenfalls, bevor er sich die Augen rieb und mürrisch in leicht abgeänderter Form erzählte "Ich hätte anrufen sollen, es war eine Art Kurzschluss. Eigentlich wollte ich zum Ferienhaus hoch und nur noch meine Ruhe haben, aber bin dann doch zu Kais Wohnung abgebogen.
Er und sein Mitbewohner waren auf einer Party gewesen. Kai sah total verschlafen aus und verwuschelt. So gefiel er mir noch besser, als ordentlich, wie er sonst immer war. Aber als wir in der Küche saßen und ich ihn gerade ansprechen wollte, kam ein Typ um die Ecke, aus Kais Zimmer... Das war ein Schreck für mich. Ein schlimmerer Schreck war es zu sehen, wie die beiden sich küssten, wie dieser Typ meinen Kai angefasst hat!"
Jan ließ den Kopf hängen. Es war noch immer so, dass es ihm kalt die Wirbelsäule rauffuhr, wenn er nur daran dachte, dass Kai nicht treu sein könnte, dass er mit anderen rummachte. Es war mehr als Betrug für Jan, er konnte den Gedanken nicht ertragen. Einen Flashback an seine eigenen Vergehen und an die eifersüchtigen Anfälle, schob er lieber weit von sich.
"Er hatte also einen Freund."
"Ja. Lukas. So ein ätzender Typ. Ich hasse den, aber Kai findet ihn immer noch nett!"
"Eifersüchtig, hm?"
"Total!" gab Jan unumwunden zu und lächelte hilflos. Hannah tätschelte erneut seine Hand.
"Jedenfalls hatte Kai meine Welt erneut schwarz angestrichen. Ich hab mich gefühlt, als hätte jemand einen Stöpsel gezogen, die Luft rausgelassen. Nachdem ich ihn mit einem anderen gesehen habe, kamen mir meine Gefühle falsch vor. Ich konnte nicht mehr mit ihm darüber reden und bin einfach ins Ferienhaus gefahren. Ich hab dort eine Woche lang nur rumgesessen und mich scheiße gefühlt."
Vor allem, dass er sich nicht hatte beherrschen können und Kai den Arm entlang gestreichelt hatte. Das prickelnde Gefühl in den Fingern, wie ein Schauer und wie in einer Sektflasche reichte das Wenige aus, um in seinem Bauch überzusprudeln. Und in der Woche am Meer hatte es ihm Angst und Übelkeit bereitet, daran zu denken, dass dieser ätzende Typ Kai berührte.
"Liebeskummer," unterbrach Hannahs Stimme seine Erinnerungen.
"Hm..."
"Nein, wirklich. So nennt man das."
Jan gähnte, konnte es nicht mehr verhindern, doch Hannah klopfte gegen seine Finger und er riss sich zusammen. "Dann hab ich es nicht mehr ausgehalten. Ich hab ihn gebeten, auch nach oben zu kommen für ein paar Tage. Ich war total unfreundlich dabei, man hätte es auch Befehl nennen können. Kai dachte wahrscheinlich deswegen, dass ich ihn nur auf die Party einladen wollte, die ich im Semester geplant habe, sonst wäre er vermutlich nicht gekommen.
Aber dort haben wir endlich mal geredet und es fiel mir mit einem Mal nicht mehr schwer, die Entscheidung zu treffen. Seit dem Abend, an dem er angekommen ist, sind wir zusammen. Das alles war am Wochenende nach meinem Geburtstag."
"Zu deinem Geburtstag warst du auch nicht besonders gut gelaunt, ich erinnere mich."
"Am Wochenende danach war ich aber gut drauf."
Jan grinste und dachte an die Diskussion im Strandkorb zurück. Er hatte es geschafft, Kai zu reizen, sodass dieser mal aus sich herauskam. Und die Knutscherei danach war eines der berauschendsten Erlebnisse seiner Erinnerung. Jan wusste die Nummer vom Strandkorb noch immer und nahm sich gleich in dem Moment wieder mal vor, Kai dorthin zu schleifen im nächsten Sommer.
"Seit dem Sommer also schon?"
"Ja."
"Aber deine Elternschaft ist doch vorbeigekommen. Charlotte hat mir doch noch erzählt, dass sie da einen Freund aus der Universität kennengelernt haben, das war dann doch er, oder?"
"Ach ja, stimmt."
"Die haben nichts gemerkt?"
Jan lachte leise. 'Die hätten uns fast im Bett erwischt, aber sie haben nichts gemerkt.' Stattdessen fragte er "Haben sie was gesagt?"
Hannah hob die Schultern ein wenig. "Nein. Nur, dass er ein netter Junge ist, sehr ruhig, aber auch sehr taktvoll."
"Ist er."
"Charlotte war komisch, hat nichts weiter dazu sagen wollen, obwohl sie doch sonst immer gleich die Punktwertung hochhält."
"So? Naja, sie haben ihn ja nur beim Abendessen gesehen, nicht wirklich mit ihm geredet."
Hannah schwieg dazu, wie stets fällte sie kein Urteil. Sie blieb neutral wie immer. "Und nun? Wie organisierst du dein Leben?" fragte sie stattdessen. Typisch Hannah, sie dachte praktisch.
Er wiegte den Kopf, dann entgegnete er. "Kai und ich haben das Abkommen, dass wir unser Privatleben aus der Uni fernhalten. Er wollte es mehr als ich, aber hatte auch den richtigen Instinkt, weil wir wirklich Probleme bekommen könnten. Wir sehen uns mittwochs und sonntags, wenn ich kein Training oder Spiel habe."
"Das läuft gut?"
"Seit einem halben Jahr läuft das ganz gut. Sehr gut." Jan blinzelte einmal, aber verschwieg den starken Wellengang, den sein 'sehr gut' in Wirklichkeit enthalten hatte. Resolut schob er die Erinnerungen an Silvester, an die Zeit danach von sich.
Hannah blinzelte ihn an "Und wie ist er so? Was ist er für ein Typ? Sauber und frisch sind ja irgendwie keine besonders persönlichen Merkmale."
Jan seufzte auf "Er ist fleißig wie verrückt. Immer, wenn ich ihn anrufe, lernt er gerade, oder schreibt an einem Referat oder kommt von der Arbeit. Er mag keinen Sport machen. Er ist ein wenig anstellerisch, was Schwitzen und Muskelkater und so angeht."
"Naja, du bist nicht der Maßstab dafür, Jan. Es kann ja nicht jeder so verrückt sein, wie du."
Jan ignorierte den Einwand. "Er ist, was seine Person angeht, sehr ordentlich, seine Klamotten sind immer passend und die Schuhe sauber und so, aber ansonsten ist er gern schlampig. Wenn ich mittwochs vorbeikomme, dann liegen Klamotten von Sonntag noch immer da, wo ich darüber gestolpert bin. Wenn etwas im Kühlschrank steht, heißt das noch lange nicht, dass es essbar ist, oder von diesem Monat. Er sieht so was nicht, es stört ihn nicht, ist mir schleierhaft wieso."
"Hm... Aufräumen kann man lernen."
"Ne, Kai nicht. Und er kann nicht organisieren. Wenn man ihm drei Sachen gleichzeitig sagt, dann muss er eine Weile überlegen, bis er sich entschieden hat, was er zuerst machen will. Wenn er einkaufen geht, dann läuft er mindestens drei Mal wieder nach vorn, weil er doch noch was aus der Obstabteilung braucht.
Außerdem ist er, wie ich am Anfang schon sagte, still... kühl irgendwie, unpersönlich. Ich habe ja deswegen am Anfang auch gedacht, dass er mich scheiße findet. Erst im Nachhinein hab ich rausbekommen, dass er mich auch vom ersten Moment an mochte.
Man kann ihn schlecht kennenlernen. Nie sagt er mal, was er wirklich denkt und fühlt. Ich bin ständig am rätseln, was jetzt wieder nicht stimmt, weil er dabei auch noch total empfindlich ist. Er nimmt sich jeden Blick zu Herzen, den jemand falsch auf ihn wirft."
"Naja, nicht jeder kann so unbesorgt durchs Leben trampeln wie du, Jan."
"Ich trampel gar nicht! Ich sage es nur, wie es ist!" verteidigte er sich sofort, aber dachte bei sich 'Gegen Kais Methode, sich um Probleme herumzuschleichen, trampel ich sie wirklich um...'
"Und die guten Seiten? Ich meine mehr als Fleiß. Die hat er doch auch?"
Jan lachte auf und nickte leicht. "Klar. Er ist..." Jan zögerte. 'Lieb... zart, zärtlich. Großzügig. Er lässt mich so sein, wie ich will. Er nörgelt nicht an mir rum, an meinen Klamotten, an meinen Haaren.'
Jan grübelte und sagte dann "Auf eine schöne Art ist er zugleich robust gegen meine Launen und sensibel genug, um mitfühlen zu können. Er ist fast immer freundlich und unendlich geduldig. Ich bewundere seine Geduld."
Hannah schwieg und überdachte anscheinend, was sie gehört hatte. Jan beobachtete das EKG, das aufzeichnete und schwieg ebenfalls. Nach einem Moment der Stille sagte sie leise und nachdenklich "Ich würde ihn ja gern mal kennenlernen."
"Ehrlich?"
"Natürlich. Du solltest mal deine Augen sehen, wenn du so erzählst. Alte Leute wie ich sind schrecklich neugierig."
"Ich... ich könnte ihn anrufen, dass er herkommt."
Hannah blickte zu ihrer Armbanduhr, die auf ihrem Nachttischchen lag. "Ja, könntest du. Heute ist doch Freitag, nicht?"
"Ja. Wir haben heute einen Pflichtkurs, da trägt er uns beide ein. Aber er kann danach herkommen. Soll ich ihn wecken?"
"Nein, brauchst du nicht."
Jan blickte ebenso zu Wecker hin, es war gerade einmal fünf Uhr. In dem Moment hörte er die Schritte seiner Eltern auf dem Flur. Hannah und er sahen sich kurz an, dann murmelte sie "Keine Sorge, das musst du ihnen schon selber erzählen."
Und Jan lachte leise, voller Dankbarkeit.
Als seine Eltern um die Ecke bogen, sagte Hannah ihm mit gespielt strengem Blick "Du gehst jetzt erst mal nach Hause und schläfst dich aus, junger Mann! Wir sehen uns heute Nachmittag, solange werden sie mich hier bestimmt noch nicht sterben lassen."
Es beruhigte Jan, dass sie so energisch sprach. "Wehe, dann werde ich sauer, Hannah!" Er stand langsam auf und streckte seine Beine, dann sagte er zu seinen Eltern "Ich fahr nach Hause, schlafe ein paar Stunden und komme nachher wieder."
"Ist gut. Wir kommen auch gleich, Hannah muss sich sicherlich ausruhen."
Kapitel 53
Jan nahm den Weg durch den Ort und bis zu ihrem Haus kaum wahr. Die Hunde begrüßten ihn wenig euphorisch, erhoben sich nicht einmal von ihrem Schlafplatz an der Treppe. Er warf einen kleinen Blick in die Küche, aber entschied, dass er zu müde zum Essen war, obwohl sich die Zeit für ein Frühstück schon fast anbot.
Mechanisch putze er seine Zähne und zog sich das erstbeste T-Shirt über. Er sah sich einmal in seinem Zimmer um und seufzte. Hier änderte sich auch nie was. Er schaffte es noch gerade so, sein dunkles Rollo mit den hässlichen Zeichnungen der verbreitetsten Waldvögel zuzuziehen.
Mit schläfrigem Blick auf den Grünspecht, wie schon in all den Jahren zuvor, grübelte er darüber, wie Hannah jetzt wohl über ihn denken musste. Nach dem Gespräch fühlte er sich allerdings viel optimistischer. Sie hatte ihm zugehört und schien ihn zu verstehen, immerhin hatte sie sich nicht allzu sehr aufgeregt. Aber andererseits glaubte sie ihm vielleicht gar nicht so richtig? Sie hatte es noch nicht mit eigenen Augen gesehen, und das war es ja, was die Sache erst glaubwürdig machte.
'Sie hat gesagt, dass sie Kai kennenlernen will. Heute ist schon Freitag... Hat er am Wochenende Dienst? Scheiße, ich bin zu müde...' Jan schlief ein, bevor er sich erinnern konnte. Erst als er von einer trüben, durch die Nähte seines Rollos schummernden Sonne langsam geweckt wurde, konnte er den Gedanken fortführen.
Er streckte sich einen Moment lang in dem alten Jugendzimmerbett hin und her und vermisste Kais Luxusbett, einen Meter sechzig breit und ausgezeichnet gefedert, dann rollte er sich raus und schlappte in die Dusche.
Er lauschte auf dem Weg dahin nach unten, aber hörte seine Eltern nicht. Sie waren bestimmt schon im Krankenhaus. Jan hatte das Wasser schon aufgedreht, als ihm wieder einfiel, was er in der Nacht zuvor gedacht hatte. Er ging gleich wieder aus dem Bad und in sein Zimmer, um Kai anzurufen. Er blickte auf die Uhr und wählte das Handy, das Kai ja doch immer aus hatte.
Er hatte Glück, Kai ging abgehetzt nach dem dritten Klingelzeichen ran, im Hintergrund kicherte Lolli rum und Kai erklärte, nachdem Jan sich gemeldet hatte "Wir sind im Supermarkt."
"Beim jungen Gemüse!" rief Lolli dazwischen. Jan grinste, konnte Kai erröten sehen. Wie ein Mensch nur alles so peinlich finden konnte, war ihm schleierhaft.
"Hör zu. Meiner Oma geht es scheiße. Sie will dich kennenlernen. Ich will, dass sie dich kennenlernt."
Jan wartete ab, was Kai zu sagen hatte. Kai zögerte und schien verwirrt zu überlegen. "Ich muss noch... Wir wollten eben..."
"Komm bitte heute her!"
"Aber ich hab..."
Jan verdrehte die Augen. "Was jetzt?!"
Kai seufzte einmal, dann entgegnete er "Ich ruf dich zurück, wenn ich weiß, wann der nächste Zug geht."
"Du bist super!"
"Weiß ich, danke." Er lachte auf und Jan erklärte "Ich dusche erst mal und frühstücke dann, also hetz nicht zu sehr."
Kai stand mit dem Handy in der Hand und starrte auf die Porreestangen, war nicht fähig, einen Gedanken zu Ende zu denken. 'Seine Oma will mich... er muss es ihr erzählt haben,... aber wieso? Nein, weil es ihr schlecht geht, weil... aber ich soll zu seinen Eltern? Idiot! Natürlich, er war doch auch bei dir Zuhause, zwei Male schon! Scheiße... scheißescheißescheiße...'
Er hob den Kopf "Du, ich muss zu Jan fahren. Seine Oma scheint sehr krank zu sein und will mich kennenlernen."
Lolli legte den Kopf schief und lächelte dann. "Mach dir keine Sorgen, Maus. Dich muss man gern haben."
Kai lächelte gequält zurück "Man sieht also, dass ich mich sorge?"
Lolli fuchtelte über Kais Entsetzen amüsiert mit Grünzeug herum "Klar, man sieht dir immer an, was du gerade denkst. Welchen Fenchel soll ich nehmen? Der ist schon irgendwie labberig."
Kai stöhnte auf und erwiderte "Ich gehe schnell zu uns. Ich nehm den Wasserkasten mit, okay?"
"Ja, das wäre lieb, Maus."
Kai suchte sich den Zug heraus und dachte die ganze Zeit über daran, was er denn sagen konnte, um Jan zu helfen, um ihn aufzubauen. Er konnte doch unmöglich die Dinge sagen, die er immer zu den Angehörigen im Altenheim sagte, wenn ihre Oma oder Mutter schlechter wurde, oder ins Krankenhaus musste.
Er fand einen Zug, der ihm nur noch eine halbe Stunde zum Packen und Planen ließ. Hektisch und gestresst warf er ein paar Klamotten in den Rucksack und stand dann noch verwirrter und genervter vor seinem Kleiderschrank, wo er innere Kämpfe um die Klamotten, die er tragen wollte, ausfocht. Endlich zog er sich einen dicken Rollkragenpullover über und rief dann noch einmal auf Jans Handy an.
"Hi, bist du dir sicher, dass ich vorbeikommen soll?"
"Ja, Hannah will dich kennenlernen und irgendwann müssen meine Eltern es ja sehen."
Kai liefen leichte Schauer über den Rücken, aber er erwiderte ans Praktische denkend "Ich nehme mal für nur für zwei Nächte Sachen mit, einer muss ja auf jeden Fall am Montag in Biochemie unterschreiben, ja?"
"Ist gut. Ich hol dich am Bahnhof ab."
"Schön, bis dann." Jan unterbrach die Verbindung gleich drauf, aber Kai musste laufen, wenn er es noch zu seinem Bus und zu dem Zug schaffen wollte.
Er bekam sogar noch einen Sitzplatz und blickte die nächsten zwei Stunden aus dem Fenster, ließ die Landschaft an sich vorbeisausen, konnte noch immer keinen ordentlichen Gedanken fassen. Er begann über den Tod nachzudenken und fragte sich, wie Jan wohl dazu stand.
'Er wird ihn nicht mögen. Das ist etwas, bei dem er nichts tun kann, nicht helfen, nicht aufhalten, schon gar nicht heilen. Man kann nur Schmerzen und Furcht nehmen und man kann abwarten. Das wird er hassen.' Ein nicht beruhigender Gedanke, denn Jan war nicht einfach, wenn er etwas nicht mochte und nicht bekämpfen oder stur verhindern konnte.
Mit einem sehr mulmigen Gefühl kletterte Kai aus dem Zug und blickte auf dem Bahnhof entlang. Jan winkte schon und lief auf ihn zu. Kai zögerte einen Moment lang, aber Jan umarmte ihn einmal fest und nahm seine Tasche, ohne vorher zu fragen. "Komm, ich war noch nicht wieder da, meine Eltern sind schon hingefahren. Sie wissen, dass ich dich dahaben will, aber nicht wieso."
"Sie haben nicht nachgefragt?"
"Bis jetzt noch nicht. Schön, dass du da bist." Jan streifte sein Gesicht mit einem typischen Blick, voller Wärme, voller Gefühle, und Kai errötete und senkte den Kopf, worauf er leicht geknufft wurde.
Mit schnellem Schritt gingen sie zum Wagen und fuhren durch die Stadt zum Krankenhaus. Kai wusste, dass es noch mal eine halbe Stunde Fahrt zu dem Dorf war, wo Jans Eltern wohnten.
Jan erzählte nur kurz, dass Hannah erst ein wenig merkwürdig reagiert hatte, aber im Endeffekt doch neugierig geworden war auf Kai. Endlich kamen sie am Krankenhaus an und Jan parkte langsam ein, stellte den Motor ab und blieb mit Blick auf den Eingang sitzen. Kai blickte ebenfalls auf die elektrischen Türen und das Hinweisschild.
Sie schwiegen in gegenseitigem Einvernehmen noch einen Moment, dann murmelte Jan leise "Ich... fühle mich komisch." Er drehte den Kopf und lehnte ihn kurz gegen Kais Schulter.
"Das ist normal, ich fühle mich auch nicht wohl." Kai fuhr Jan leicht über die Haare und mit den Fingern auf seiner Wange entlang.
Jan seufzte leise auf und blinzelte einige Male, dann sagte er "Na gut, dann mal los!" und hob mit einem Ruck den Kopf. Im nächsten Moment war er aus dem Wagen gesprungen.
Sie gingen wieder schnell und schweigend an dem Pförtner vorbei und liefen die Treppen in den vierten Stock hoch, sodass Kai erst einmal nach Luft schnappte, als sie endlich vor der Schleuse in die Intensivstation standen.
Jan ignorierte die 'Zutritt nur für Personal'-Schilder und öffnete die Tür mit dem Schalter, den er blind betätigte. Kai erinnerte sich bei der Gelegenheit, dass Jan in diesem Krankenhaus sein Praktikum absolviert hatte und sich bestens auskannte.
Jan ging mit sicherem, schnellem Schritt den Flur entlang, nickte einer dunkelhaarigen, molligen Schwester zu und murmelte "Hallo, Ingrid."
Die Schwester hielt ihn jedoch auf und sagte mit ihrem Stethoskop nestelnd "Das tut mir so Leid, Jan."
Jan riss die Augen auf und fragte heiser "Was?!"
Verwirrt sah Ingrid ihn an und erklärte "Na, dass deine Oma hier liegt."
Jan atmete einmal durch und entgegnete gereizt "Verdammt Ingrid! Ich dachte, dass du jetzt sagst, dass sie gestorben ist! Tu das nicht mit mir."
Ingrid schüttelte den Kopf und erwiderte verschnupft "Das hätte ich anders gesagt."
Kai spürte, wie Jan sich anspannte und gab leise zu bedenken "Deine Eltern hätten dich angerufen, oder?" Jan entspannte sich ein wenig und nickte.
Ingrid starrte Kai neugierig an, doch Jan stellte ihn ihr nicht vor, sondern wendete sich schon wieder ab von ihr. Kai sah präzise an ihr vorbei und wartete etwas hinter Jan bleibend ab, dass dieser weiterlaufen würde. Kai konnte ohnehin nichts mehr sagen oder denken, weil er so nervös war, wie nie zuvor in seinem Leben.
Diese ganze Situation machte ihn fertig. Jans hektische, verletzliche Art auf dem Bahnhof und eben im Wagen hatte ihn ebenfalls sensibel gemacht und nun wollte er nur noch weg, weit, weit weg. Aber das ließ Jan natürlich nicht zu. Er sagte noch etwas zu der Schwester, dann lief er weiter in Richtung des Zimmers.
Vor der Tür drehte Jan sich noch einmal kurz zu Kai um und murmelte "Ich will nicht, dass meine Eltern dabei sind, warte noch einen Moment hier draußen."
Kai lehnte sich an die Wand neben der Tür und lauschte auf die gedämpften Stimmen vom Raum. Es schien eine Weile hin und her zu gehen, endlich kam Jan raus und zupfte an Kais Pulloverärmel. Die Eltern von Jan starrten sie beide an, als sie reinkamen, aber gingen kommentarlos aus dem Zimmer.
Kai spürte, dass er rot wurde und seine Hände feucht. So unwohl fühlte er sich sonst nur bei mündlichen Prüfungen. Aber Jan ging auf das Bett zu und strahlte die alte Frau darin an. Kai konnte sich nicht dazu bringen, sie auch nur direkt anzusehen.
Er blickte sofort mit medizinischen Augen und suchte schnell die Infusionsbeutel nach Hinweisen ab, dann das Langzeit-EKG und den Sauerstoff. Zuletzt betrachtete er Jans Oma selber, während sie sich im Bett aufsetzte.
Eine alte Frau, der man ansah, dass sie viel draußen gewesen war. In der kurzen Erklärung auf der Fahrt zum Krankenhaus hatte Jan erwähnt, dass sie gern im Garten arbeitete, und dass sie im Winter immer in die Sonne fuhr. Das sah man. Sie war ein dunkler Hauttyp, aber zusätzlich stark gebräunt, die Art ältere Bräune, die man bei Leuten sah, die nicht mehr so recht blass wurden.
Als er näher an das Bett trat, sah er allerdings noch andere Dinge. Er hatte schon so viele alte Menschen gesehen und beobachtete bei seiner Arbeit, dass er mittlerweile eine Art inneren Blick hatte. Sie sah aus, als habe sie Schmerzen, das leitete er von dem Ausdruck um ihren Mund ab. Sie sah zudem aus, als hasse sie ihre Situation. Die Art mit der sie im Bett saß, aufrecht, gekämmt, voller Abscheu gegen das offene Nachthemd, das sie vollkommen mit einer Jacke zu verdecken versuchte.
Er verglich sie mit Jan. Ein wenig war schon die Ähnlichkeit da. Die Augenpartie, das Kinn und der Ausdruck von sturer Entschlossenheit um den Mund kamen also von ihr. Aber bei Jans Oma war alles schärfer ausgeprägt, vermutlich auch durch das Alter. Zum ersten Mal überlegte Kai sich, wie Jan wohl als älterer Mann aussehen mochte.
Jan wollte gerade etwas sagen, als ein junger Arzt in den Raum kam. Er streifte Kai mit einem desinteressierten Blick, dann nickte er Jan zu und erklärte dessen Oma "Sie können gleich auf eine normale Station verlegt werden. Die akute Phase haben Sie gut überstanden."
Jans Oma sah ihn erstaunt an und auch Kai konnte ihre Verwirrung verstehen, da er selber nicht fand, dass sie zu den Patienten gehörte, über die man ‚gut überstanden’ sagen sollte.
"Ich bin gesund genug?"
"Nun ja, Sie sind nicht gesund, aber Sie bedürfen der intensiven Überwachung nicht mehr. Wir führen die Behandlung natürlich noch fort. Da Sie eine Operation abgelehnt haben..."
"Natürlich lehne ich so einen Schwachsinn ab! Ich bin über achtzig, meine Güte noch einmal! Verlegen Sie mich. Es ist mir egal wo ich sterbe, aber lassen Sie mich in Ruhe!"
Der Arzt lächelte ein wenig überheblich und erwiderte "Nein, Sie sterben uns nicht, keine Sorge."
Kai hob nachdenklich eine Braue, aber hielt sich lieber zurück.
Als der Arzt raus war, sagte Jan verärgert "Idiot! Kann der einen nicht mal in Ruhe lassen?!"
"Nein, anscheinend können sie das heutzutage nicht mehr," entgegnete seine Oma und blickte Kai interessiert ins Gesicht.
Jan seufzte und schien sich zu sammeln, um etwas zu sagen, da streckte sie ihren Arm bereits über die Bettdecke und sagte "Dann bist du Kai. Ich bin Hannah."
Kai drückte ihre Hand kurz und ließ sich dichter an das Bett ziehen. Seine Gedanken waren noch immer bei dem Arzt und seinen Überlegungen, sodass er seine Schüchternheit irgendwie vergessen hatte. Nun kehrte sie zurück, als er etwas sagen wollte. Er stockte und brachte endlich ein "Hallo" zustande.
Hannah musterte ihn einen Moment lang mit unleserlichem Gesichtsausdruck und ließ dann erst seine Hand los.
Jan ging auf die andere Seite vom Bett und setzte sich auf die Bettkante. "Du wolltest ihn kennenlernen, da ist er," sagte er nun schwungvoller, als Kai zumute war.
Hannah nickte einmal und sagte langsam "Ja, da ist er." Sie legte den Kopf schief und sah ihn einen Moment lang an. Dann drehte sie den Kopf zu Jan zurück und erklärte "Das ist nett, dass du dir Gedanken gemacht hast."
Kai blieb verwirrt und verunsichert am Bett stehen und wurde von Schwester Ingrid aus seiner Lage errettet, die hereingestürmt kam, um die Oma von Jan auf eine andere Station zu verlegen.
Jan ärgerte sich zwar, aber bot dann an "Ich schiebe dein Bett, dann können wir gleich weiterreden. Kai, hol doch mal Hannahs Tasche aus dem Schrank."
Ingrid schob die Papiere unter die Matratze und bemerkte "Sie geht auf die zehn, Zimmer zwei."
"Gut, dann machen wir das." Innerhalb von zehn Minuten war Hannah mitsamt dem Bett eine Etage tiefer in einem normalen Zimmer gelandet. Kai schloss das Sauerstoffgerät wieder an und verzog sich unsicher und nervös an die Fensterbank.
Jans Eltern waren zum Einkaufen gefahren, was Kai angenehm fand, weil es ihn gestresst hätte, von noch mehr Leuten so angeschaut und beobachtet zu werden.
Jan bemerkte kryptisch "Meier hat Dienst, da kaufen meine Eltern mehr ein." Im Endeffekt hieß es wohl, dass sein Vater am Wochenende Zuhause war, weil ein fähiger und sicherer Arzt Dienst hatte und der Chef somit nur sehr selten gerufen werden würde.
In dem neuen Zimmer versuchte Kai nun unsichtbar zu werden, während Jan und seine Oma sich anstarrten und wenig sagten. Er verstand ohnehin nicht, worum es sich drehte. Alles, was er wusste, war dass sie Recht hatte. Er sah es, wie sie es spürte.
Sie würde sterben, ihre burschikose Art konnte darüber nicht hinwegtäuschen. Sie hatte ein spitzes Gesicht, war blass um die Nase, hustete sehr oft und ihre Finger fühlten sich kühl an. Alles typisch, zudem hatte er ein dummes Gefühl, und das kannte er aus dem Altenheim nur zu gut.
Das einzige, das ihn an der Situation wirklich störte war, dass Hannah nicht zugeben wollte, dass sie Schmerzen hatte. Wollte sie das Schmerzmittel nicht, weil sie Angst hatte, dass sie zu müde wurde? Er konnte den Grund nicht so ganz verstehen. Er kam nicht zu weiteren Überlegungen, weil Jan ausrief "Ich lauf schnell hoch und hol die anderen Sachen." Kai blinzelte verwirrt, aber bekam den Auftrag "Bleib mal eben hier!" Jan war schon wieder zur Tür raus.
Das Schweigen war bedrückend, aber Kai wollte nichts sagen, was hohl war, es gab zurzeit nichts sinnvolles, das ihm einfiel. Bedrückt und nervös knibbelte er an seinem Pulloverärmel herum und ging neben dem Bett auf und ab.
"Setz dich, das macht mich nervös!"
Gehorsam nahm er auf dem Stuhl neben dem Bett Platz und starrte auf das Kopfende. Hannah schwieg noch einen Moment länger, dann lachte sie rau auf und hustete endlich so heftig, dass Kai aufsprang, um ihr auf den Rücken zu klopfen.
"Eh...ehentschuldige..." Hannah hustete noch einmal und seufzte auf. "Du ... bist nur wirklich so, wie Jan dich beschrieben hat. Ich bin überrascht."
Kai setzte sich langsam und blinzelte 'Ist das gut, oder schlecht? Was hat er ihr erzählt?!' Er wagte es nicht, sie zu fragen, aber Hannah erklärte von allein. "Du bist wirklich schüchtern und still. Irgendwie kommst du kühl rüber, wie du einen so anschaust. Man sieht, dass du etwas denkst... was denkst du denn, hm? Sagst du es mir?"
Kai dachte in einem typischen Kreislauf daran, dass Hannah dem Tode nahe war, aber er ihr das unmöglich sagen konnte.
Endlich stupste sie ihn an und sagte "Los doch, ich bin zu alt, um einen bösen Feind abzugeben."
"Sie haben Schmerzen." Kai klappte den Mund erschrocken zu und hauchte ein erschrockenes "Entschuldigung." hinterher.
Hannah sah ihn überrascht an, endlich nickte sie leicht und murmelte "Ja, aber es geht noch."
"Tut mir Leid."
"Nein, nein. Schon gut. Auch ein Mediziner, hab ich gehört? Nicht meine Lieblingsmenschen. Was siehst du denn noch?"
"Nichts, was Sie nicht schon wissen." Kai wollte nicht abweisend sein, aber er wollte nicht mit Hannah über ihre Lage reden.
Hannah ließ jedoch kein Verschweigen zu. "Du glaubst, dass ich bald sterbe, habe ich Recht? Ich hab gesehen, wie du gezuckt hast, als der Arzt eben so fröhlich rumposaunt hat."
"Ich... ich glaube gar nichts."
"Nein, du weißt schon was... sag es mir."
Kai wand sich gequält auf seinem Stuhl hin und her und schüttelte den Kopf "Nein. Menschen sind doch keinen Maschinen, bei denen man an Anzeigen ablesen kann", wiederholte er den schlauen Spruch eines Arztes, den er einmal gehört hatte.
Wie erwartet schnaubte Hannah und entgegnete "Natürlich nicht! Maschinen lassen sich ja auch willenlos aufschrauben! Ich nicht! Ich hab die Operation abgelehnt! Sie wollten mir eine neue Klappe verpassen. Und einen Schrittmacher! So ein Unsinn!"
"Vielleicht nicht."
"Was soll ich denn noch weiterleben? Ich hab es in den Knochen, in den Gelenken, an den Augen, den Ohren, so ein Quatsch! Wozu soll ich denn noch leben, hm?!"
Kai kannte diese Unterhaltungsart. Das war typisch, verständlich und er wusste nichts wirklich Optimistisches zu erwidern. Er antwortete jedoch an die Bettdecke gewandt "Vielleicht, um Jan beizustehen, bis er sein Studium fertig hat?"
Hannah schien dies einen Moment zu überdenken, dann machte sie eine vage Handbewegung und sagte "Dazu hat er jetzt ja dich."
Kai wurde sofort rot und sie tätschelte seine Hand kurz. "Brauchst nicht rot zu werden. Jan kann von Glück sagen, dass ich so schlapp bin. Ich wäre mit Sicherheit wütend geworden, wenn ich es noch gekonnt hätte. Als er mir gestern Nacht von... dir erzählt hat. Meine Güte! Die Schwester musste mir Beruhigungsmittel geben!"
"Tut mir Leid."
"Tut es nicht."
Kai schwieg verunsichert. Sie starrte ihn abwartend an. Nach einem Moment langte sie schnell vor und umfasste sein Kinn. Er zuckte ein wenig, aber sie ließ ihn nicht los. Sie hob sein Gesicht, um ihm in die Augen zu sehen. "Entschuldige dich nicht dauernd. Wenn ich so jemanden wie Jan hätte, würde ich mich auch nicht entschuldigen, sondern fröhlich mit meiner Beute von Dannen ziehen."
Ihre Finger taten ihm weh, aber er wich ihr dennoch nicht mehr aus. "Jan ist doch niemand, den man... erbeuten kann."
"Oh doch, das hast du fein gemacht. Schöne Bescherung ist das mit dir!"
Kai konnte nicht noch röter im Gesicht werden, aber versuchte es. Hannah war gnadenloser, als er es sich gedacht hatte.
Sie drehte sein Gesicht hin und her. Dann lächelte sie leicht und das beruhigte ihn. "Du bist so und siehst so aus, wie er es mir gesagt hat. Da bin ich froh."
Sie starrte noch einen Moment, mit scharfem Blick. Ihre Augen hatten dasselbe Braun wie die von Jan, eine ähnliche Form, aber die goldenen Funken fehlten. Ihre raue Stimme klang mit einem Mal versöhnlich und freundlich, als sie feststellte "Hast wirklich schöne Augen, da hat Jan Recht."
Kai fragte verwundert "Wieso froh?", während sie ihn losließ.
Hannah hustete eine Weile und hielt sich die Brust, dann antwortete sie "Weil er seine Freundinnen immer beschrieben hat, wenn er am Wochenende nach Hause kam. Er hat immer gesagt, was sie machen, was sie mögen.
Es war eigentlich hauptsächlich die Aufzählung der Sportarten, die sie betreiben. Aber bei keiner hat er die Fehler beschrieben, bei keiner hat er gesagt, was ihn stört. Bei dir schon. Gleich als erstes sogar. Zum Lachen."
"Was stört ihn denn?"
"Das weißt du selber, oder?"
"Dass ich so still bin?"
"Hm."
"Das ich nicht genug aufräume?"
Sie lachte leise auf und nickte.
"Was noch?"
"Ich verrate nichts!" Hannah verschloss symbolisch ihren Mund und Jan kam in dem Moment auch schon wieder ins Zimmer.
Er sah zwischen ihnen hin und her und fragte direkt wie immer "Na? Und?"
Hannah nickte leicht. "Ich kann es verstehen, aber ich zähle ja nicht. Bitte, erzähl es deinen Eltern hier im Zimmer... lass mich dabei sein, Jan."
Jan verzog den Mund. Er trat zu Kai und legte ihm eine Hand auf die Schulter, bevor er sichtlich sauer entgegnete "Ich finde die Tour scheiße, Hannah. Papa und du, ihr könnt euch um etwas anderes als ausgerechnet Kai streiten!"
Kai blinzelte und errötete erneut. Doch Jans Eltern kamen ohnehin zurück und der Blick, den sie auf Kai warfen, war schon Frage und Aufforderung genug.
Jan schaffte es, dies zu ignorieren und erklärte "Wir fahren nach Hause und kommen dann wieder her, soll ich was mitbringen?"
Jans Mutter runzelte die Stirn, aber sein Vater nickte kurz und erwiderte "Wenn du den Einkauf schon einräumen könntest, wäre das eine Hilfe. Die Hunde könntest du auch mal rauslassen."
"Okay. Schlüssel." Jan übernahm den Autoschlüssel und ging nach einem kurzen "Bis nachher!" schnell aus dem Zimmer, flüchtete förmlich.
Kapitel 54
Auf dem Parkplatz blickte er sich suchend um und sagte dann "Ich hole deine Tasche eben. Wir fahren dann mit dem Wagen von meinem Vater, der schwarze."
Kai fühlte sich müde und ausgelaugt von dem ganzen Stress. Ohne zu fragen wankte er zu dem Mercedes Kombi. Jan hatte die Türschlösser mit Fernbedienung bereits geöffnet und er sank auf den bequemen Sitz.
Jan stieg ein und stellte einmal schnell die Spiegel und den Sitz um, dann startete er den Wagen und fuhr an, bevor er sich anschnallte und dabei bemerkte "Sie schauen noch immer aus dem Fenster. Ich glaube fast, dass sie endlich mal beginnen, sich was zu fragen."
Kai wagte es nicht, einen Blick zurück zu werfen. Er war zu verunsichert und fragte sich nun, was mit Jan passiert war, dass er es so sehr wissen wollte mit einem Mal.
"Hat Hannah dich geärgert?"
Kai schüttelte den Kopf "Sie hat mir gesagt, dass du ihr erzählt hast, was dich an mir stört."
Jan nickte leicht und blinzelte in den Spiegel, bevor er vom Parkplatz rollte. "Hab ich."
"Und was hast du da gesagt?"
Jan lächelte. "Ich hab gesagt, dass du schlampig bist, dich nie entscheiden kannst, viel zu still bist und unterkühlt und ich hab gesagt, dass ich trotzdem verrückt nach dir bin."
Kai wurde rot und starrte erschrocken von dem Ausspruch aus dem Fenster. Dann knuffte Jan ihn ein wenig. "Was dachtest denn du?"
Kai entspannte sich ein wenig und schob nach einem leichten Zögern seine Finger auf Jans rechte Hand. Der Wagen hatte eh Automatik und Jan umfasste seine Finger und ließ sie nicht mehr los, bis er an einem Ortseingang bremsen musste.
Sie fuhren auf die Landstraße aus dem Ort hinaus und durch einen Wald. Da erst fragte Jan "Und? Denkst du, dass sie durchkommt?"
Kai betrachtete die vorbeihuschenden Baumschatten, dann würgte er hervor "Nein. Sie hustet zu viel, die Sättigung ist schlecht."
Jan schwieg einen Moment und bremste an der nächsten Ortseinfahrt. Bauernhöfe säumten die Straße hier, hinter einem bog er ein, bevor er leise sagte "Verdammter Mist."
Kai warf einen raschen Seitenblick. Er war nicht gut im Trösten. Er war nicht gut im Verstehen. Er war nur gut in Realismus. In Gefühlen und wie man sie zeigte, versagte er immer, fast so sehr, wie Jan darin wirklich Meister war. Wie auch jetzt. Jan schlug das Lenkrad ein und rollte in eine Auffahrt, die durch einen Wald zu führen schien. Doch er fuhr nicht weiter, obwohl das elektrische Tor sich vor dem Wagen öffnete.
Gleich darauf warf er sich gegen Kai und vergrub sein Gesicht in dem Pullover. Kai musste erst um ihn herumgreifen und den Gurt lösen, bevor er Jan richtig umarmen konnte. Jan konnte seine Gefühle nicht nur zeigen, er kam nicht ohne aus. Er wollte nicht nur ehrlich sein, er musste. Genau wie er in der Uni darunter litt, wenn er Kai nicht umarmen konnte, litt er nun darunter, dass sein Körper nicht genau wusste, was angebracht war.
Trauer war ein schwieriges Gefühl. Es machte wütend, hilflos, beengte einen, schnürte die Luft ab, alles zugleich, das wusste Kai und er konnte an Jan sehen, dass dieser dagegen kämpfte, die falschen Gefühle zuzulassen.
Jan drehte den Kopf und murmelte leise "Wieso so plötzlich?"
"Du hast sie doch noch. Es kann noch eine ganze Weile dauern, Jan."
"Nein... das will ich auch nicht! Nicht so! Verdammte Scheiße!"
Kai zögerte, dann sagte er leise "Ich glaube, dass Hannah ein Mensch ist, der sich genau die Zeit nimmt, die er braucht."
Jans Lippen berührten Kais Hals, als er leise sagte "Ja. Das passt zu ihr."
Kai lehnte die Wange an die strubbeligen Haare und nickte leicht. Er wollte noch etwas sagen, aber Jan hob den Kopf und küsste ihn, bevor er dazu kam.
Jan hielt sein Gesicht mit beiden Händen fest und küsste ihn dennoch nur leicht, dafür jedoch einige Male nacheinander. Kai hielt einfach nur still, von der Heftigkeit der Gefühle überrascht, die sein Freund aushalten musste. Vielleicht auch von der Heftigkeit seiner eigenen Gefühle erschrocken. Überraschen konnten sie ihn nicht mehr.
Er spürte, wie Jans Schmerz und Angst mit der Berührung auf ihn übergingen. Er spürte, wie er mitfühlen konnte, wie er sich dagegen sträubte, dass Jan litt, wie er versuchte die Trauer von ihm zu nehmen, obwohl das unmöglich war. Sachte streichelte er seine Haare und hielt still.
Jan küsste ihn ein letztes Mal und flüsterte "Danke, dass du gekommen bist."
"Natürlich." Kai hatte es ebenfalls nur geflüstert und sah ihm in die Augen dabei. Dunkelbraun mit Goldregen. Jan erwiderte den Blick, während er die Hände sinken ließ. Kai beugte sich leicht vor und lehnte sein Gesicht leicht gegen Jans, nach einem kurzen Moment riss Jan sich jedoch los und fuhr weiter.
Erst nun begriff Kai, dass dies das Tor von der Auffahrt zu dem Haus von Jans Eltern war. Dass der Wald zu ihrem Grundstück gehörte, fiel ihm als nächstes auf, als die alten Buchen einer Rasenfläche wichen, auf der ein weißes, zweigeschossiges Haus stand.
Jan fuhr in die Garage und erklärte "Wir können von hier durchgehen zur Küche. Nimmst du auch einen Karton, bitte?"
Kai stolperte mit dem Karton mit Milch und anderen Lebensmitteln hinter Jan her in die dunkel geflieste Wohnküche, in der ein großer Eichentisch mit Bänken und Stühlen stand. Er hatte zum Glück die Kartons schon abgesetzt. Denn als die beiden riesenhaften Hunde in die Küche gelaufen kamen, fuhr er mit einem leisen Schreckensschrei zurück an den Tisch und hätte sie mit Sicherheit fallen lassen.
Jan lachte und klopfte dem einen der beiden Monster grob auf die Seite, der Hund streckte sich und gähnte, zeigte eine beunruhigende Reihe weißer Fangzähne. Kai wich noch ein wenig weiter zurück, aber Jan nickte zu den Viechern hin und erklärte "Irische Wolfshunde. Meine Mutter steht auf die Monster. Das ist Edna und ihre Tochter Fina. Nech, Finchen? Du bist die Schmusetante von den zweien. Sagt 'Hallo' zu Kai. Du musst ihnen die Hand hinhalten."
Kai hielt folgsam seine linke Hand hin, aber die Hunde schnupperten nur kurz und nicht sonderlich interessiert daran. Jan sah sich in der Küche um und lief dann leise pfeifend zur Garage, die Hunde trabten hinter ihm her. "Ich lasse sie raus, damit du nicht ständig gegen sie gegen rennst. Die beiden stehen einem immer im Weg!" rief er zurück.
Als er wieder in die Küche kam, begann er sofort schweigend mit dem Wegräumen der Lebensmittel. Kai stand in einer Ecke und versuchte nicht zu stören. Er versuchte sich zu beruhigen, während er sich diskret umsah.
Die Küche allein war so groß, wie das Wohnzimmer seiner Eltern. Jans Eltern hatten Geld, das fiel ihm mit endgültiger Sicherheit mal wieder auf. Jan stupste ihn an und sagte "Ich zeige dir das Zimmer oben." Er nahm Kais Tasche und lief durch einen dunklen Flur, in dem Trockensträuße neben Ziertellern an der Wand hingen. In einer Ecke waren Decken, auf denen Bälle und Plastikknochen lagen. Daneben führte die Treppe in das Obergeschoss. Jan zog sich vor der Treppe die Schuhe aus und Hausschuhe an. Er nahm zwei Stufen auf einmal und Kai folgte ihm neugierig.
Jan hatte zwei Zimmer für sich. Ein Schlafzimmer, in dem sein Bett und dazu passende Schränke standen. Daneben ein Arbeitszimmer mit Schreibtisch, Sofa und einem Tischchen. Alles aus dunklem Holz.
"Ich hab eine Matratze in meinem Bettkasten. Ich bezieh dir gleich die Sachen, wenn wir was gegessen haben." Das zweite Zimmer beherbergte einen Schreibtisch und eine Sitzecke mit Fernseher. Jan warf Kais Tasche auf den Fußboden und zog das braune Rollo hoch. Er blickte in den trüben Garten hinaus und seufzte einmal, rieb sich über die Augen.
Kai blieb ein wenig hinter ihm stehen und wartete einen Moment lang ab, was Jan wohl vorhatte. Er hätte ihn gern umarmt, aber Jan begann so entfernt zu wirken, so unerreichbar in einer anderen Welt, dass Kai die ausgestreckte Hand wieder fallen ließ.
Er wendete sich stattdessen ab und streifte die Pinnwand und einigen Fotos mit einem Blick. Auf einem war eine Geburtstagsfeier zu sehen und Kai erkannte, dass es die von Jans Vater war, der fünfundfünfzig wurde. Er trat näher, um festzustellen, dass Jans Eltern wirklich nicht mehr die Jüngsten sein mussten, denn auf dem Bild sah Jan deutlich jünger aus, es war schon etwas her.
Jan schreckte von allein auf und murmelte "Komm, lass uns was essen und zu Hannah und meinen Eltern zurück." Sie gingen langsam wieder in die Küche. Im Vorbeigehen erspähte Kai noch drei Zimmer, in einem standen ein Schreibtisch mit Computer und eine ausladende Bücherwand. Das musste das Arbeitszimmer von Jans Vater sein, wenn man nach den Büchern ging.
Das Wohnzimmer war noch riesiger, als Kai es gedacht hätte, weil es über einen Wintergarten noch vergrößert wurde. Er erkannte von der Tür aus eine Kaminecke mit dunklen Ledermöbeln. An der einen Wand stand ein Klavier.
Jan ging jedoch in die Küche weiter durch. Sie aßen weitgehend schweigend. Doch als er die Butter und den Käse fortstellte, begann Jan zögerlich "Ich..." Er blickte auf die Teller hinab und hielt inne. Kai konnte förmlich spüren, wie er sich verspannte. Dann gestand er leise "Ich hab Angst, dass..."
Kai hielt die Luft fast an. Nur die alte Uhr im Flur schien noch zu ticken, ansonsten war alles still. "Ja?"
"..., dass sie es nicht verstehen."
Kai runzelte die Stirn, dann murmelte er "Das brauchst du nicht. Sie werden sich vermutlich einkriegen. Deine Eltern sind so ruhig immer. Sie werden es... akzeptieren, weil sie dich akzeptieren."
Jan seufzte. Er räumte die Teller in die Spülmaschine und ging dann nach hinten raus, um die Hunde zurückzupfeifen. Kai wich den beiden Ungeheuern aus und zog seine Jacke wieder an, alles nur, weil man die Dinge so machte, nicht, weil er es wollte.
Als sie auf die Station kamen, war dort schon wieder einiges los. Jan blickte verwirrt auf das leere Zimmer. Im Schwesternzimmer griff er sich die erste Schwester, die ihm begegnete und fragte ungehalten "Wo ist meine Großmutter hin?!"
"Zum Röntgen. Sie hat einen Zentralen bekommen, die Kontrolle läuft gerade."
"Ist meine Mutter mit hin?"
"Nein, die ist noch mal schnell in die Stadt, um etwas zu kaufen. Sie ist gerade los."
"Wo ist mein Vater?"
Die Schwester blinzelte überfragt, aber eine andere rief von hinten "Doktor Bawenhop operiert in Saal vier!"
Jan lief mit Kai im Schlepp durch zwei Flure und bog in den OP-Trakt ab. Er ging mit sicherem Schritt hinein, zerrte Kai mit sich in die Umkleide und warf ihm die grünen Klamotten zu. "Komm mit, wir fragen, was mit Hannah wird."
Kai stolperte hinter Jan her, der sich in Rekordzeit in die Sachen geworfen hatte und mit Mütze und Mundschutz sehr fremd wirkte.
Im OP war Stress, der Anästhesist fluchte und hantierte recht hektisch mit dem Beatmungsgerät, zwei Schwestern rannten hin und her und die Ärzte verlangten in rasend schneller Abfolge nach Instrumenten. "Bleib hier stehen, da kannst du nichts falsch machen." Kai drückte sich an die Wand und starrte auf die grünen und blauen Abdecktücher.
Jan schielte auf das Absauggerät und murmelte "Scheint zu bluten." Er verfolgte die Abläufe eine Weile und wartete ab, dann fragte er leise an die eine Schwester gerichtet "Susanne? Wie weit ist er?"
"Moin, Jan. Er hat gerade das Netz drin, willst du was?"
Jans Vater sah sich nicht um, aber rief "Ah Jan, bist du gewaschen?"
"Nein. Ich will nur wissen, wieso Hannah einen ZVK hat."
"Sie ist eingetrübt, schau sie dir an."
"Scheiße! Sie wollte doch, dass nichts läuft!"
"Ja, aber das hat sie nicht unterschreiben wollen. Stiel, Pinzette, Kauter!" Jans Vater hantierte einen Moment herum, dann rief er über die Schulter zurück "Sie hat es nur gesagt, nicht unterschrieben. In diesem Zustand weißt du doch selber, wie das ist. Wir dürfen das nicht anders."
Jan fluchte leise und sein Vater tupfte etwas an dem Kind herum und erklärte seinem Kollegen "Meine Schwiegermutter, Zustand nach Infarkt. Nein, nicht schon wieder, so ein Mist! Klemme, Klemme, gleich noch mal, Umstechung! Was für eine Sauerei! Immer am Wochenende! Geh zu ihr, Jan. Charlotte kommt auch gleich zurück."
Der Kollege sagte nuschelig "Tut mir Leid, Jan.", aber musste sich zu sehr auf die Arbeit konzentrieren in dem Moment. Frustriert ging Jan wieder raus und trat auf seinem Weg gegen den Mülleimer.
Kai war verwirrt und fragte "Wieso operiert dein Vater?"
"Weil der Diensthabende von der allgemeinen Chirurgie nebenan operiert, nehme ich an. Inkarzeriert kann nicht warten. Vielleicht hat er auch nur was arbeiten wollen. Saal vier hätte sonst niemand genommen. Er ist Kinderchirurg, macht eigentlich mehr so Herzgeschichten."
Kai blinzelte beeindruckt zum Saal zurück, aber Jan fügte wegwerfend hinzu "Schweinelangweilig. Eingriffe von zehn und mehr Stunden zum Teil."
Genervt pfefferte Jan seine grünen Sachen in einen Wäschesack und Kai tat es ihm verunsichert nach.
Jans Oma war wieder hochverlegt worden in die Intensiv und Kai lief betäubt hinter Jan her, der verärgert mit einer Schwester und dem arroganten Arzt in Streit geriet. Endlich betraten sie das Zimmer, in dem seine Oma lag und Kai seufzte unwillkürlich auf, weil Hannah in der Tat in den wenigen Stunden, die sie fort gewesen waren, zunehmend schlechter geworden war.
Jans Mutter war ebenfalls im Zimmer und umarmte Jan rasch, um ihm dann leise zu erklären, was passiert war.
"Scheiße. Papa braucht wohl noch ein Weilchen."
"Hm, habe schon gehört."
Jan ließ sich auf den Stuhl fallen und begann vor sich hin zu brüten. Kai drückte sich in eine Ecke und wagte es kaum zu atmen, wollte bestimmt nicht auffallen.
Doch nach einigen Momenten der Stille, drehte Jans Mutter den Kopf und sagte leise "Hallo, Kai."
Er erschrak, weil er nicht gedacht hätte, dass sie seinen Namen behalten hatte. Sie strich sich die dunklen, ein wenig silbern schimmernden Haare mit einer raschen Bewegung hinter die Ohren und schob ihre Brille über den Pony hoch auf den Kopf, während sie ihn weiterhin ansah.
Ein Arzt mit Vollbart und reichlich Bauch kam in das Zimmer, unterbrach ihren Blick und umarmte sie rasch. "Hallo Charlotte. Wie sieht es aus? Tach, Jan."
Sie seufzte und murmelte "Nicht gut, Heinz. Musst du drauf schauen?"
"Ich hab die traurige Aufgabe. Das CT zeigt was und die Jungs unten denken, dass es eine Blutung sein könnte, die nun aber sistiert."
Jans Mutter seufzte noch einmal und sagte leise und ernst "Damit war zu rechnen. Es ging vorhin doch arg schnell." Der Neurologe nickte leicht und begann dann die Untersuchung.
Sie sah ihm kurz zu, dann legte sie eine Hand auf Jans Schulter und sagte leise "Kai und ich holen Kaffee, willst du einen?"
Jan nickte leicht, aber sagte nichts, starrte auf die Bettdecke und auf das maskenhafte Gesicht seiner Oma. Sein Gesicht wurde beinahe zu einer ebensolchen Maske. Kai hätte ihm so gern etwas Tröstendes gesagt, aber ihm fiel nichts ein, und er hätte sich eh nicht getraut in dem Moment.
Jans Mutter ging zur Tür, und Kai öffnete sie rasch, ließ ihr den Vortritt, vor allem, weil er ja gar keine Ahnung hatte, von wo sie Kaffee besorgen wollte.
Seine erste Vermutung war schon richtig gewesen. Sie steuerte zielsicher die Küche der Schwestern an und rief hinein "Können wir einen Kaffee bekommen?" Eine Schwester stellte ihnen gleich mit schon wieder nervender Fürsorge ein Tablett und Kaffee, Milch, sogar Kekse hin. Aber sie hatte den Takt zu verschwinden.
Jans Mutter nahm das Tablett auf, aber trug es nur bis zum nächsten Fensterbrett. Dort stellte sie es ab und blickte über den trüben Park hinweg, in dem es schon wieder dunkler wurde.
Kai trat zu ihr und wartete verwundert und nervös ab, was sie von ihm wollte. Er hatte deutlich den Eindruck, dass sie etwas wollte und hoffte nun nur, dass er keine dämlichen Fragen beantworten musste, oder schlimmer noch, dass sie ihm nicht etwa sagte, dass er hier nicht hergehörte. Denn das stimmte nicht. Er fühlte sich nicht so, als würde er nicht hergehören. Er fühlte sich so, als habe Jan ihn zu Recht hergerufen, als sei er zu Recht dabei und da für ihn. Er befürchtete die abwertenden und zweifelnden Fragen dennoch. Aber so war Jans Mutter nicht. Er sollte gleich drauf merken, wie sie wirklich war, als sie endlich etwas sagte.
Sie warf einen raschen Seitenblick aus scharfen, dunklen Augen auf seine Hände mehr als sein Gesicht. "Ich weiß, warum du hier bist."
Kai wurde rot, aber blinzelte dennoch verwirrt und schwieg. Ihm fiel auf, wie viele ihrer Haare bereits grau oder silbern wirkten, wie zwei Linien um den Mund ihre Stimmung deutlich machten. Wie alt waren Jans Eltern überhaupt? Sie mussten älter gewesen sein, als er geboren worden war. Jans Mutter sah weiterhin hinaus, schien ihn nicht zu beachten, obwohl sie doch mit dem Reden angefangen hatte.
Schließlich drehte sie sich zu ihm um und sagte leise "Gleich im Sommer wusste ich, dass etwas nicht stimmt. Ich wusste aber auch, dass ich nicht das Recht habe, ihn zu fragen. Ich kenne meinen Sohn ziemlich gut. Ich habe ja auch nur den einen. Hat er dir von Niklas erzählt?"
Kai schüttelte den Kopf und begann sich zu fragen, was er noch alles über Jan erfahren würde. Dass seine Eltern Monsterhunde hatten und im eigenen Wald wohnten, hatte er auch nicht geahnt.
Er wagte es nicht, Jans Mutter eine Frage zu stellen, deswegen schwiegen sie beide wieder einen Augenblick.
Endlich sagte sie jedes Wort für sich, nicht in einem Satz, so schwierig schien es ihr zu sein. "Im Sommer... im Ferienhaus... da wart ihr nicht die einzigen,... die nicht schlafen konnten."
Kai blinzelte einige Male und erschrak dann, als er langsam begriff. Jans Mutter strich sich erneut die Haare hinter ihre Ohren, eine für sie typische Geste und es zeigte, dass sie ein wenig nervös war. Lange nicht so nervös wie Kai in dem Moment. Er starrte auf den Park hinaus und fühlte, wie sein Herz zu jagen begann. Innerlich betete er, dass Jans Mutter nicht das übliche zu ihm sagen würde. Das tat sie nie, auch jetzt nicht.
Sie lächelte leicht und murmelte "Ich bin nicht enttäuscht. Ich hab es in dem Moment schon gesehen, wie einen fairen Ersatz. Verstehst du? Ein Ersatz für Niklas. Ich darf nur nicht anfangen, dich so zu nennen, nehme ich an."
Kai verstand gar nichts mehr, aber nickte drämelig. Sie nahm das Tablett auf und trug es zum Zimmer hin, eine längere Rede hatte sie nicht geplant.
Der Nachmittag und Abend zogen sich lang hin. So lang, dass Kai nicht mehr wusste, wo er noch hinstarren sollte. Er musste doch alles weg gestarrt haben, was es zu Starren gab.
Jans Eltern waren abwechselnd fort. Zum Haus, um etwas zu Essen zu holen, zu Freunden von Hannah, um denen Bescheid zu geben, zu ihrem Haus, um noch etwas zu holen. Freunde von Hannah kamen und hielten einen Moment ihre Hand, gingen dann wieder.
Jan saß die ganze Zeit am Bett und blickte auf Hannahs Gesicht. Hannah öffnete die Augen hin und wieder noch, aber es waren unfokussierte Blicke. Sie sah nichts an, sah nur nach oben und ein wenig nach links, sodass Kai auf einen weiteren Schlaganfall tippte.
Als er dachte, dass er es gleich nicht mehr aushalten konnte, driftete sie zum ersten Mal ab. Das EKG pfiff einige Male und ein Arzt und zwei Schwestern kamen ins Zimmer. Doch Hannah holte einige Male Luft und das EKG erholte sich zur gleichen Zeit. Jans Vater seufzte und nach einer kurzen Beratung wurde das EKG abgebaut. Wenig drauf beschleunigte sich Hannahs Atmung erneut und Kai dachte daran, dass es nur gut war, dass keine Maschine mehr schrille Warntöne ausstieß. Es passierte noch einmal und in dem Moment hielt Kai es nicht mehr aus und ging zu Jan hin.
Leise und vorsichtig sagte er "Bitte... es hat keinen Sinn, wenn du sie ununterbrochen ansiehst." Er wagte es nicht, ihm auch nur zu Nahe zu kommen.
Jan reagierte wie erwartet auch gereizt und wendete sich knurrig ab, aber seine Mutter sagte gleichzeitig. "Bitte, Jan. Du musst ein wenig raus, geh ein paar Schritte mit Kai. Macht irgendwas und kommt dann in einer halben Stunde wieder."
Jan ging unter leisem Protest hinter Kai her, der nicht wusste wohin, aber einfach mal mit sicheren Schritten voran ging.
"Was sollte das denn?!"
Kai blieb am Fahrstuhl stehen und drückte den Knopf. "Du weißt, dass sie stirbt, Jan. Dazu musst du es nicht sehen. Zudem ist es wirklich nicht schön."
"Aber meine Mutter..."
"Dein Vater ist doch auch da." Jan trat gegen einen weiteren Mülleimer an dem Tag, aber ging mit Kai einmal bis vor die Tür.
Sie atmeten die feucht-kalte Luft ein und schwiegen, beide die Hände in den Hosentaschen vergraben. Kai zögerte, fragte sich, ob er Jan davon erzählen sollte, dass dessen Mutter sie gesehen hatte. Er betrachtete das angespannte Gesicht von seinem Freund und entschied sich dagegen. 'Es ist ihm wirklich wichtig gewesen, dass ich hier bin.' Der Gedanke wärmte Kai, auch wenn er sich der Verantwortung bewusst wurde, die Jan ihm zudenken musste.
Es stellte sich heraus, dass sie genau zum richtigen Moment aus dem Zimmer gegangen waren. Als sie wieder nach oben kamen, standen Jans Eltern auf dem Flur und redeten mit einer Schwester. Jan stürzte zu ihnen, Kai hielt sich zurück.
Jans Oma hatte, kurz nachdem sie aus dem Zimmer waren, aufgehört zu atmen. Da sie zu Lebzeiten eine Reanimation deutlich abgelehnt hatte, wurde auch nichts gemacht. Jan umarmte seine Mutter und schien mit einem Mal müde zu sein, die nervöse Anspannung wich Unsicherheit. Er wusste noch nicht, wie er sich fühlen sollte, das sah Kai.
Erleichtert, weil seine Oma nicht mehr leiden musste. Traurig, weil sie nun nicht mehr da war? Froh, weil er sie noch einmal gesehen hatte? Wütend, weil er nichts tun konnte für sie, weil sie einfach gegangen war, weil er sie nicht noch einmal gesprochen hatte? Aber das hatte er ja. Er hatte ihr sogar Kai vorgestellt.
Kai wurde erneut bewusst, wie wichtig Jan ihn hatte werden lassen. Niemand sonst war noch da. Nur Jan, seine Eltern und er. Das machte ihn in diesem Moment zu einer Art Familienmitglied. Die Schwestern und Pfleger, die über den Flur huschten, betrachteten ihn auch mit Neugierde und blickten zwischen ihm und der Familie hin und her, als ob sie so herausfinden könnten, in welcher Art er dazu gehörte. Er selber wusste es ebenso wenig. Konnte er das denn je? Dazugehören? Vermutlich nicht.
Kapitel 55
Jan entschied sich von allen in ihm um die Vorherrschaft streitenden Gefühlen für Wut. Sie warteten in Schweigen gehüllt in der Besucherecke, als sein Ärger langsam durchbrach. Zuerst begann er auf und ab zu laufen, dann trat er noch einmal gegen einen Mülleimer und fluchte herum, warf Kai endlich vor, dass er seinetwegen nicht da gewesen war.
Er stand mit hitzigem Gesichtsausdruck vor Kai, der die eher neugierigen und ein wenig betroffenen Blicke von Jans Eltern zusätzlich auf sich spürte.
"Du wolltest, dass ich gehe! Scheiße!"
Kai schloss die Augen und seufzte "Es hat ihr nicht mehr geholfen, Jan..." Er stockte und drehte sich von Jans Eltern fort, der Blick der beiden, direkt auf sein Gesicht, machte ihn nervös.
"Ach, ich dachte, dass man da sein soll?! Was soll denn das scheiß Gelaber dann immer, von wegen begleiten und so?!"
Jan ballte eine Hand zur Faust und spannte sie an. Es tat Kai weh, ihn so zu sehen. Er trat vorsichtig näher und sagte leise "Vielleicht... weißt du, vielleicht hat sie nicht gewollt, dass du da bist."
"Was soll das?! Wieso?!"
Jans Stimme war unnötig laut, er wehrte Kais Hand unwirsch, fast aggressiv ab. Kai zuckte einmal zurück, aber erklärte weiterhin leise "Sie hat gewartet, bis du gehst. Du hast sie gehalten und sie wollte erst gehen, wenn du loslässt." Es war der übliche Quatsch, aber in diesem Moment kam es Kai nicht so falsch vor. Zum ersten Mal glaubte er, was er da sagte.
Jan starrte ihn an, seine Lippen bebten, die Spannung blieb in seinen Schultern für einen Moment noch erhalten, dann sackte er ein wenig in sich zusammen und umarmte Kai endlich, fiel förmlich gegen ihn.
Über Jans Schulter hinweg blickte Kai direkt auf die Gesichter von seinen Eltern und versteifte sich deswegen. Doch gleich darauf dachte er, dass es vollkommen egal sein musste. Wenn Jan ihn jetzt brauchte, dann war das wichtiger, nicht seine Eltern, und schon gerade nicht die Schwester, die auch noch ins Zimmer kam, um die Tasche der Oma zu bringen.
Langsam hob Kai die Hände und umarmte Jan ebenso, zog ihn ein wenig dichter an sich. Er strich ihm sogar über die Haare und den Nacken. Während Jan sein Gesicht tief einatmend auf seiner Schulter anlehnte, begann Kai leise auf ihn einzureden. "Du hast sie gestern und heute gesehen und gesprochen, Jan."
"Aber nicht... es war nicht..."
"Ihr habt euch alles gesagt, oder?"
"Hm."
"Sie wusste, wie viel Zeit ihr noch bleibt."
"Aber, so wenig?"
"In dem Zustand, mit dem leeren Blick, hätte sie, wenn es schlecht gelaufen wäre, auch noch einige Tage oder Wochen überleben können."
"Hm."
"Das wäre doch nicht so schön gewesen."
"Hmhm."
Kai redete leise weiter und streichelte über Jans Rücken und Schultern. Jan hatte die Augen halb geschlossen und krallte sich in die Wolle von Kais Pullover, schien nur auf seine Stimme und die Berührungen zu achten, wenn er überhaupt etwas beachtete, das sich außerhalb seiner eigenen Gedanken abspielte. Kai nahm sich vor, Jan erst dann loszulassen, wenn auch er sich nicht mehr festhalten wollte. Zum ersten Mal fühlte er sich mit dem Gedanken, dass alle es sehen könnten, total wohl.
Die Schwester gaffte sie perplex an, schien erst in dem Moment zu begreifen, was Kai überhaupt bei der Familie für eine Rolle spielte, aber sie verzog sich geistesgegenwärtig wieder, vielleicht auch nur, um die Neuigkeiten zu verbreiten. Jans Eltern jedoch blieben dort gegenüber sitzen, starrten ihren Sohn an, sahen sich an und schwiegen betroffen, verunsichert.
Nach einer kleinen Ewigkeit, wie es Kai erschien, ließ Jan ihn los, weil ein Arzt reinkam und Jans Mutter Fragen stellte, um den Totenschein ausstellen zu können.
Jans Vater erhob sich und sagte leise, aber bestimmt "Fahr nach Hause. Hier gibt es nichts mehr zu tun. Iss was und beruhig dich erst mal, Jan."
Jan nickte leicht und ließ sich ein wenig drücken. Dann umarmte er seine Mutter noch einmal und trottete mit Kai im Schlepp zum Fahrstuhl.
Auf dem Weg durch den Korridor sah Jan ihn ein wenig von der Seite an. Dann seufzte er und hielt Kai seine Hand hin. Der Blick auf sein Gesicht schnitt Kai. Es kam ihm vor, als erwartete Jan, dass er ihn abweisen würde. Er lächelte Jan leicht an und zog ihn mit einem Arm an sich. "Ich fahre," verkündete er dann. "Du musst mir nur den Weg ansagen."
Das schien für Jan das Stichwort gewesen zu sein, sich endgültig hängen zu lassen. Er lehnte seinen Kopf zur Seite auf Kais Schulter und dieser schob ihm den Arm um die Hüfte. Kai spürte die Blicke der anderen auf seinem Hinterkopf regelrecht kribbeln, aber es war egal. Das Gefühl war schön. Er fühlte sich wohl, wie am rechten Ort, wie in der richtigen Situation.
Jan im Arm zu halten war genau das, was er jederzeit wieder tun würde, ihn trösten können, da zu sein für ihn. Er lächelte sogar ein wenig, als er sich im Fahrstuhl umdrehte und tatsächlich sah, dass zwei Schwestern und die Eltern von Jan ihnen mit Blicken gefolgt waren. Nun drehten sich alle rasch weg, während Jan davon nichts mitbekam, nur mit dem noch immer zur Maske gefrorenen Gesicht auf den Fußboden starrte.
Während sie zum Wagen gingen, erinnerte Kai sich an Hannahs Worte ''Wenn ich so jemanden wie Jan hätte, würde ich mich auch nicht entschuldigen, sondern fröhlich mit meiner Beute von Dannen ziehen.' Das werde ich dann wohl tun. Wenn sie mich schon für so eine Art Raubritter hält.' So hatte Kai sich zuvor noch nicht gesehen. Er hatte nie gedacht, dass er den Eindruck erwecken könnte, als habe er Jan erbeutet. War es nicht umgekehrt gewesen? Was hatte Jan seiner Oma wohl erzählt?
Er verstaute Jan auf dem Beifahrersitz und stellte die Spiegel vom Golf um. Er war den Wagen mittlerweile ja schon gewohnt, weil er so oft damit von Partys nach Hause fuhr, wenn Jan was trinken wollte. Jan sagte ihm spartanisch den Weg an, war stumm ansonsten. Erst vor der Garage sagte er leise "Fahr hinten rum. Wir stellen den Wagen in dem Schuppen unter, damit wir nicht kratzen müssen, wenn ich dich morgen zur Bahn bringe."
Kai nickte leicht und vermutete dann "Du wirst hierbleiben bis zur Beerdigung?"
"Ja. Und bis meine Eltern sich abgeregt haben wegen dir." Typisch für ihn, dass er die Schlacht gleich ausstehen wollte.
Kai stellte den Motor ab, nachdem er vorsichtig in den offenen Schuppen gerollt war und sie gingen schweigend und müde in die Küche. Die Wärme schlug ihnen zusammen mit Essensduft entgegen. Sie waren kaum in der Tür, als neben den Hunden auch noch eine ältere Frau angelaufen kam.
Sie war recht klein und trug eine Kombination aus braunem Rock und beiger Bluse, alles möglichst unkleidsam, genau wie ihre Kurzhaarfrisur.
"Oh, was machen Sie denn noch hier?" fragte Jan ein wenig überrascht.
Sie machte ein besorgtes Gesicht. "Deine Eltern haben mich vorhin gebeten, etwas zu Essen zu machen für dich und den Besuch." Bei dem Wort streifte sie Kais Gesicht.
Jan nickte und erklärte während er seine Jacke und Schuhe auszog "Sie ist eben verstorben. Ich bleibe jetzt hier. Sie können auch nach Hause fahren, Anita."
Die Frau seufzte und umarmte ihn dann leicht, nur der Form halber, wie es schien. "Das tut mir Leid, Jan. Sie wird mir sicherlich sehr fehlen." Es hörte sich wie eine freundliche Lüge an.
Danach erst stellte Jan vor "Anita, unsere Haushälterin. Das ist mein Freund Kai."
Anita gab Kai die Hand, drückte sie nicht richtig, hielt ihre Finger nur hin, was es unangenehm machte. Sie seufzte noch einmal, als erwarte sie etwas.
Jan ging an ihr vorbei und warf einen Blick auf den Herd, auf dem zwei Töpfe standen und Kai zog geschäftig kramend seine Jacke aus, um ihrem fragenden Blick zu entgehen. Als keine weitere Erklärung folgte, sagte sie steif "Ich geh dann mal."
"Ja. Danke, Anita."
Kai starrte ihr hinterher. Sie räumte eifrig noch einige Tücher fort und ging dann mit einer knappen Verabschiedung zur vorderen Tür. 'Haushälterin? Verdammt, verdammt. Wie reich sind die denn noch?'
Jan ließ sich auf einen Stuhl fallen und stützte das Kinn in seine Hände. "Willst du etwas essen, Jan?"
"Weiß nicht."
Kai seufzte auf. Dann ging er zu seinem Freund hin und umarmte ihn von hinten, lehnte sich über seine Schulter nach vorn. "Soll ich dir einfach einen Teller vor die Nase stellen?"
Jan umfasste Kais Finger und nickte dann leicht, aber ließ ihn nicht los.
"Willst du vielleicht einen Tee dazu?" Kai sah sich suchend auf den Borden um und entdeckte einen Wasserkocher. Jan hob die Schultern. Er wirkte so entfernt, in Gedanken und Überlegungen gefangen. Kai wusste nicht so recht, wie er sich ihm wieder nähern konnte. Jan hielt zwar seine Finger fest, aber schien ihn nicht wirklich wahrzunehmen, schien weit weg zu sein im Inneren, das Festhalten war nur Reflex, genau wie im Krankenhaus zuvor.
Kai beugte sich vor und küsste ihn kurz entschlossen auf die Wange, um ihn zu wecken. Jan zuckte einmal zusammen, aber lehnte den Kopf dann doch in den Nacken, um den Kuss zu erwidern, um nach Kais Mund zu suchen.
Kai sah ihn an und lächelte leicht. "Entschuldige, ich will dich nicht nerven, Jan. Ich wollte nur wissen, ob du bei mir bist."
Jan lächelte ein wenig zu knapp zurück, aber hob eine Hand an Kais Wange und küsste ihn noch einmal. Er murmelte leise "Ich bin da. Ich muss nur darüber nachdenken, wie ich mit meinen Eltern reden kann."
Kai wollte gerade sagen, dass Jans Mutter es schon wusste, als Anita in die Küche zurückkam und er zurückzuckte.
Nicht so sehr wie sie allerdings. "Ich hab nur meine..." Sie quiekte undeutlich und hob eine Hand an ihr Herz.
Jan blinzelte sie trübe und desinteressiert an, dann erhob er sich langsam. "Ihre Schlüssel liegen bestimmt im Flur auf der Kommode."
Anita lächelte gequält und nickte. "Ja... ja, bestimmt."
Jan ging zum Herd und murmelte in Kais Richtung "Ich zeig dir eben wo der Tee steht, dann bin ich kurz draußen mit den Hunden. Okay, Baby?"
Kai sah, wie Anitas Gesicht eine Spur verschlossener wurde, während sie zum Flur schwankte.
Jan schien sie gar nicht zu beachten. Er nickte deswegen bloß und erwiderte "Ist gut, ich schaff das schon." Im Hintergrund fiel die Tür ins Schloss
Erst als Jan von Draußen wieder reinkam, sah er ein wenig wacher aus. Sein Gesicht wirkte auch lebendiger. Er setzte sich an den Platz, der sein Stammplatz zu sein schien, auf die Bank am Fenster, mit Blick auf die Tür. Das stellte sich als gut heraus, denn so konnte er den Hunden gleich verbieten, in die Küche zu laufen, wenn diese ihre großen, zotteligen Nasen auch nur zur Tür reinsteckten.
Es gab einen Auflauf aus Kartoffeln und Gemüse, der sich leicht in der Mikrowelle erhitzen ließ. Nach dem Essen stand Jan auf und fragte Kai "Willst du noch Kuchen? Wir haben hier welchen in der Speisekammer." Er ging bereits raus, ohne die Antwort abzuwarten und kehrte mit einem Teller mit Gewürzkuchen und einer Flasche Rotwein zurück. "Lass uns zum Kamin rübergehen", schlug er als nächstes vor und gab Kai den Teller und die Flasche "Ich stell eben das Geschirr noch weg, sonst gehen die Hund dabei. Lauf schon mal vor."
Kai ging ängstlich nach den Hunden Ausschau haltend durch den Flur in das Wohnzimmer hinüber und war überrascht zu sehen, dass hinter einem Glasschirm bereits ein Feuer brannte. Gleich drauf fiel ihm die Haushälterin ein.
Jan kam zu ihm und brachte die Hunde mit, sehr zu Kais Leidwesen. "Sie fiepen sonst im Flur rum, das nervt immer so."
Das Telefon klingelte. Jan stellte seufzend die Gläser ab und ging in den Flur zurück. Kai starrte wie gelähmt auf den größeren der beiden Hunde, aber dieser gähnte lediglich und trottete auf einen geeigneten Platz neben dem Kamin, um dort nach einigen Wanderschaften im Kreis niederzusinken.
Kai stand noch immer wie ein Idiot im Raum, mit Teller und Flasche in den Händen, als Jan wiederkam.
Jan blinzelte einmal zum Kamin und dann zum Hund und erklärte "Meine Eltern sind noch essen gegangen. Um zu reden. Über uns, nehme ich an. Sie kommen später. Meine Güte, stell ab, setz dich und entspann dich, Kai. Das sind nur Hunde!"
"Große Hunde." Kai stellte nach einem Moment des Zögerns erst den Kuchen ab, dann reichte er Jan die Flasche, nachdem dieser aus einer Vitrine zwei Gläser befördert hatte. Kai ließ sich auf dem dunklen Ledersofa nieder und streckte sich einmal, dann beobachtete er Jan, der den Wein aufzog und in die Gläser laufen ließ.
"Das ist ein teurer, aber das gehört sich auch so für Hannah."
Kai nickte und schrak zusammen, als Jan der Hündin zurief "Aus! Ich seh das, du gierige Tante!"
Der Hund japste und lief anscheinend beleidigt vom Tisch fort und zum anderen Monster in die Ecke. "Edna, sie ist immer besonders verfressen. Zieh deine Schuhe aus, Kai."
Kai nahm das Weinglas an und stellte es vorsichtig auf den Couchtisch, dann streifte er seine Schuhe ab und stellte sie um die Ecke, um nicht darüber zu fallen. Endlich setzte Jan sich neben ihn, nachdem er noch einmal ein Stück Holz ins Feuer geworfen hatte.
Sie stießen die Gläser nicht aneinander, sondern hoben sie nur schweigend an, bevor sie tranken. Das Feuer schenke dem Wein eine schöne, tiefe Farbe. Stille senkte sich nach dem ersten Schluck über sie hinweg. Jan saß Kai zwar zugewandt, aber sah ihn nicht an, saß auch zu weit entfernt, um sich durch Kais Handbewegungen, wenn er an dem Glas nippte, aufschrecken zu lassen.
Nach einer halben Ewigkeit schreckte Jan von allein auf und lächelte entschuldigend. Dann runzelte er die Stirn und fragte "Was hat meine Mutter eigentlich vorhin mit dir zu bereden gehabt?"
Kai blinzelte überrascht, dann stellte er sein Glas ab, um sich über die Augen zu reiben. "Sie hat... erinnerst du dich noch an die Nacht im Ferienhaus, als deine Eltern da waren?"
Jan lächelte und nickte. "Im Garten?"
"Ja." Kai senkte den Kopf und wurde rot, konnte es nicht verhindern.
Jans Lächeln vertiefte sich. "Was ist damit?"
"Deine Mutter hat uns gesehen."
Es blieb einen Moment lang still. Endlich atmete Jan aus und stellte sein Glas auch ab. Er sah Kai in die Augen. "Scheiße"
Kai schüttelte den Kopf "Nein. Sie fand es nicht schlimm... Sie hat mir gesagt..." Er runzelte die Stirn. "Sie hat etwas Merkwürdiges gesagt."
"Was denn?"
"Sie sagte, dass sie begonnen hat, einen Ersatz für Niklas in mir zu sehen."
Jan riss die Augen auf. "Was?!"
Kai zuckte mit den Achseln. "Sie hat mich gefragt, ob du mir von Niklas erzählt hast, das hast du bislang nicht, aber das musst du auch nicht."
Jan schüttelte den Kopf und fuhr sich dann ein wenig hektisch durch die Haare.
"Ist was mit dem?"
"Nein... nichts. Wie soll ich dir das erklären? Es ist zum einen schön, zum anderen schlimm, ich weiß nicht, wie ich anfangen soll."
Kai war verwirrter denn je, aber goss Jan als Antwort noch ein wenig Wein nach. "Wie wäre es, wenn du am Anfang anfängst?"
Jan lachte und sagte dann leise "Das hat Hannah auch gesagt, als ich ihr von dir erzählt habe. Merkwürdig."
"Das ist der leichteste Weg."
Jan lehnte den Kopf zurück, dann nahm er blind sein Glas auf und trank einen Schluck. Kai konnte sehen, wie er den Wein im Mund erwärmte, bevor er ihn herabrinnen ließ. Allein das zu sehen, weckte den Wunsch in ihm, Jan zu küssen, ihn zu schmecken. Unzufrieden blickte er in sein Glas und wurde von Jans Stimme aufgeschreckt.
"Also gut. Es beginnt alles damit, dass meine Mutter vor ein wenig über zwanzig Jahren den Entschluss gefasst hat, bei einer pharmazeutischen Firma als Wissenschaftlerin anzufangen. Sie ist dadurch verpflichtet gewesen auf einen Kongress in der Schweiz zu fahren, um mit den Kollegen zu lernen, wie die Firma ihre neuen Produkte, resorbierbares Nahtmaterial und so was in der Art, auf einer Vortragsreihe vermarkten wollte.
Dort ist sie auf einem Abend nach einem Vortrag für Herzchirurgen auf meinen Vater getroffen, der dadurch mein Vater wurde. In einer Weinstimmung, vor dem Kamin, wie es sich gehört."
Kai blinzelte in das Feuer und dachte darüber nach, wie seine eigenen Eltern sich kennengelernt hatten und wieso es nur ihn gab, keine weiteren Kinder.
Jan lehnte den Kopf noch immer auf die Sofalehne und fuhr eher an die holzvertäfelte Zimmerdecke gerichtet fort "Meine Mutter und mein Vater fanden sich wissenschaftlich gesehen interessant, redeten gern miteinander und mochten beide irische Wolfshunde leiden. Eigentlich reicht das nicht für eine Ehe, eher eine Freundschaft.
Sie haben meinetwegen geheiratet, weil mein Vater das so wollte und meine Mutter keinen Grund gesehen hatte, warum sie es nicht machen sollten. Das hat Hannah nie vertragen. Sie wollte immer, dass ihre Tochter so kompromisslos wird, wie sie es war. Aber so war meine Mutter noch nie. Sie hat schon immer abgewogen und das Beste für alle gesehen, um dem zu folgen.
Als ich vier war, sind meine Eltern nach Italien in den Urlaub gefahren, damals dachte meine Mutter schon, dass sie jenseits der Wechseljahre war. Sie war ja bei meiner Geburt schon fast vierzig. Aber das war sie anscheinend nicht, denn sie kam zurück und war schwanger. Es war schon von Anfang an eine Risikosache, wegen ihres Alters vor allem.
Das Kind war ein Junge und ist gleich nach der Geburt gestorben. Er hatte vertauschte Herzgefäße, eine seltene Geschichte. Mein Vater hätte es vielleicht operieren können, auch damals schon, aber es war zu spät erkannt worden. Tja, das war Niklas."
Kai starrte auf das Feuer und fühlte sich scheiße. Er konnte nicht anders. Jans Mutter verglich ihn also mit einem Familienmitglied, das freute ihn. Doch mit seiner Frage hatte er nun eine weitere Erinnerung zu Jans ohnehin präsenter Trauer herbeigerufen. Endlich riss er sich zusammen und murmelte "Das tut mir so Leid."
"Nein, nein. Das ist zu lange her dazu. Ich bin so froh, dass meine Mutter die Sache so sieht. Scheiße ist nur, dass sie bestimmt sauer ist, dass ich ihr nicht vertraut und ihr alles erzählt habe."
Kai überlegte und warf ein "Aber sie weiß bestimmt, dass du dich damit nicht leicht getan hast, oder? Das hab ja sogar ich verstanden mittlerweile."
Jan schüttelte in Erinnerung den Kopf und knuffte ihn. "Stimmt, sogar du! Aber du bist nicht meine Mutter. Ich hab ihr sonst alles erzählt."
"Nun, hast es halt noch nicht geschafft."
Jan seufzte und leerte sein Glas. Kai zögerte mit der Flasche in der Hand, aber Jan hielt ihm sein Glas hin und murmelte "Eins schaffe ich auf jeden Fall noch. Wie spät ist es denn eigentlich?"
Kai blickte auf die Armbanduhr und seufzte "Kein Wunder, dass ich so geschafft bin. Es ist schon zwölf."
Jan lächelte. "Willst du dich schon hinlegen? Ich bleiben noch einen Moment und..."
"Nein, ich bleibe hier." Kai leerte ebenfalls sein Glas und legte den Kopf auf Jans Beine. "Ich bleibe. Wenn ich einschlafe, dann musst du mich halt wecken."
Jan nickte und stützte eine Hand mit dem Glas auf der Armlehne auf, mit den Fingern der anderen Hand begann er Kai durch die Locken zu kraulen. Von der Stirn aus hinter den Ohren entlang, die er dabei leicht streifte, und Kai schloss die Augen, bevor er seinen Arm um Jans Hüfte legte und seine Finger dort unter den Pullover und das T-Shirt auf dessen warme Haut mogelte.
Sie schwiegen einen Moment lang, dann murmelte Jan "Niklas, das hat sie zu dir gesagt?"
"Hmhm. Sie hat gesagt, dass sie es als einen fairen Ersatz für Niklas sieht."
"Hm."
Jan schwieg wieder und strich ihm weiter über die Haare. Allmählich driftete Kai in den Schlaf, er konnte es nicht mehr verhindern.
Kai wurde durch ein sanftes Rütteln und weiche Stimmen geweckt. Er lag noch immer auf Jans Schoß und gähnte, wehrte die Hand an seiner Schulter knurrig und müde ab. Endlich vernahm er Jans Stimme "Komm, wir können oben weiterschlafen."
Dann hörte er im Hintergrund Jans Mutter sagen "Wir reden morgen, Jan."
Er schreckte hoch und rieb sich blinzelnd die Augen. Das erste, was er deutlich sah, war dass Jans Eltern im Wohnzimmer um das Sofa standen, mit den Hunden zusammen, und sie ansahen. Jan erhob sich nun auch, als Kai den Kopf von seinen Beinen nahm.
Kai unterdrückte ein Gähnen und rappelte sich auf, strich sich von einigen Haarsträhnen genervt über den Kopf. Die Eltern von Jan nahmen ihn gar nicht so recht wahr. Sie nickten ihm nur zu und redeten dann im Flur noch leise mit Jan, der die Gläser in die Küche brachte. Als Kai in den Flur torkelte, verschwanden sie gerade die Treppe hinauf und bogen in dem Flur oben nach rechts ab, während Jans Zimmer auf der linken Seite lag, wie Kai sich dunkel erinnerte.
Im Flur auf den kühlen Fliesen fiel Kai erst auf, dass er seine Schuhe noch nicht wieder an hatte. Er holte sie hinter dem Sofa hervor und behielt sie in der Hand, wartete an der Treppe auf Jan, der noch den Wein fortstellte.
Sie kletterten schweigend die Treppe hoch und gingen mit gesenkten Köpfen in Jans Zimmer. Dort fiel ihnen erst auf, dass sie noch kein zweites Bett bezogen hatten. Jan gähnte und sah Kai fragend an, dann sagte er "Mir macht es nichts aus, können wir drauf verzichten?"
Kai nickte verschlafen. "Gehe Zähne putzen." Er fühlte sich, als sei ein Laster über ihn drüber gefahren, mehrmals vermutlich. Das Licht im Bad war zu grell, das Wasser lief zu laut und die Toilettenspülung erschreckte ihn.
Als er ins Zimmer kam, hatte Jan das Rollo zugezogen und ein kleines Nachtlicht angeknipst. Jan sah ihm prüfend ins Gesicht. Dann fuhr er ihm einmal mit der flachen Hand über die Haare und die Wange. "Müde, hm? Leg dich schon mal hin." Nichts hätte Kai auch noch davon abgehalten. Er war schon eingenickt, als Jan wieder ins Zimmer kam und die Tür schloss
Kaum hatte Jan sich neben ihn gelegt und das Licht ausgeknipst, gähnte er noch einmal und driftete schon wieder fort. Jan schob das Gesicht an seine Halsbeuge und gähnte auch. Doch nach einem Moment spürte Kai Jans Finger über seinen Rücken fahren. Er knurrte ein wenig, weil er seine Ruhe haben wollte, aber aus dem Streichen wurde ein Greifen. Gleich drauf zog Jan ihn viel zu fest an sich und drängte sein Gesicht an Kais Halsbeuge. Kai erschauderte und war mit einem Mal wieder wach. Er umfasste Jan ebenfalls und fragte leise "Jan? Was ist denn?"
"Ich fühle mich... es ist so schwer zu verstehen, dass sie jetzt weg ist."
"Ja, das ist schwer zu verstehen."
Jan begann zu Kais Erleichterung nicht zu weinen, sondern atmete eine Weile an Kais Haaren ein und aus, dann erklärte er leise "Wenn sie bei uns übernachtet hat, hat sie immer in meinem Bett geschlafen und ich nebenan auf dem Sofa, deswegen hatte sie ihr Handtuch, ihre Duschsachen und so hier im Schrank. Eben hab ich all das Zeug in meinem Bad gesehen. Ich hab daran denken müssen, wie oft ich mich über den Platz geärgert hab, den sie mir immer weggenommen hat."
Kai schwieg und wurde von der Frage überrascht "Leben deine anderen Großeltern noch?"
"Nein. Nur die Oma, die du schon kennst."
"Wie war das, als deine anderen Großeltern gestorben sind?"
Kai seufzte. "Meine Opas hab ich nicht gekannt, aber die andere Oma ist ganz plötzlich gestorben, Aortenriss. Es war ein Schreck. Aber ich hatte kein so enges Verhältnis zu ihr. Sie war sehr... konservativ und starrsinnig. Außerdem hat sie mich auf jeder Familienfeier seit der vierten Klasse stur nach meiner kleinen Freundin gefragt, ich hab nichts weiter sagen können, als dass ich noch keine habe. Das fand ich immer ätzend."
Jan stütze sich auf und fragte "Wieso wusstest du, dass Hannah stirbt?"
"Ich wusste, dass es demnächst sein wird. Dass sie so plötzlich geht, hätte ich auch nicht gedacht."
"Du hast es gewusst, warum?"
"Jan, ich arbeite in einem Altenheim und Sterbehospiz. Ich hab allein im letzten halben Jahr acht unserer Omas in den Tod begleitet. Das gehört zu dem Job dazu."
"Acht?!"
"Im Winter sterben sie viel mehr, vermutlich weil es so deprimierend und dunkel ist."
"Du hast nie darüber geredet, ist das nicht schwierig für dich?"
Kai überdachte dies, endlich schüttelte er den Kopf und sagte "Nein, ich bin immer froh, wenn sie nicht leiden müssen. Ich bin froh, wenn ich da sein konnte."
"Da sein."
"Ja, nichts weiter. Das ist das Allerbeste, was man tun kann. Das hast du für sie getan."
"Aber ich war doch gar nicht da!"
"Ja, deine Oma ist kein Mensch, der ängstlich war dabei, sie wollte sterben und wollte nicht festgehalten werden, so sehe ich das."
"Das passt zu ihr."
"Genau wie zu dir. Du hast auch keine Angst." Jan schwieg darauf, aber atmete dann auch bald tiefer, der Griff um Kais Schulter erschlaffte allmählich und endlich war Kai sich sicher, dass Jan schlief.
Kapitel 56
Jan wachte auf, weil es an seine Zimmertür klopfte. Er gähnte leicht und streckte sich. Kai lag neben ihm, hatte ihm die halbe Decke weggezogen, aber es war ohnehin zu warm im Zimmer, weil sie vergessen hatten, die Heizung runterzuregeln.
Es klopfte erneut und Jan schwang die Beine auf die Bettkante, bevor er leise rief "Ich bin wach, komme gleich."
Seine Mutter linste durch den Türspalt und öffnete die Tür dann halb, um sich im Rahmen anzulehnen, während sie ihn und Kai nachdenklich betrachtete.
Jan spürte ihren Blick mehr, als dass er sie ansah. Er zupfte die Decke über Kai und flüsterte ein wenig gereizt "Ich komme gleich!"
Seine Mutter rührte sich nicht, starrte und schien in Gedanken. Jan gab auf und suchte nach seinen Schlappen, bevor er aufstand und zu ihr ging.
Endlich schreckte sie auf und seufzte. "Hast du einigermaßen geschlafen?"
"Ja, wir haben Rotwein getrunken, das hat mich umgehauen. Außerdem war ich die Nacht davor ja auf."
Sie nickte und blickte noch immer auf Kais stilles Gesicht. Es schien sie nicht zu kümmern, dass dieser aufwachen könnte. Zudem überfiel Jan wieder das Gefühl, dass er Kai verteidigen musste, genau wie bei seiner Oma am Tag zuvor.
'Hannah...' Die Erinnerung kam langsam, sickerte durch, lief gleichzeitig weiter, hielt nicht. Floss wie feiner Sand durch seine Finger und war schon wieder fort. Er konnte es nicht greifen, konnte nicht fassen, dass sie weg sein sollte.
"Habt ihr zu zweit dort geschlafen?"
Jan blinzelte, es klang verwundert, nicht entrüstet. "Ich war zu müde, um noch was zu beziehen."
"Aber das hat Anita doch gemacht."
Jan blickte in sein Arbeitszimmer rüber, das Sofa war tatsächlich bezogen. "Oh, darauf hab ich gar nicht geachtet."
Er streifte Kais hellen Schopf mit einem leichten Blick und murmelte "Ist egal, sind wir schon gewohnt."
Er hörte, wie seine Mutter Luft einsog, aber beachtete sie nicht, wollte noch nicht diskutierten, sondern unterbrach sie rasch "Ich dusche und komme dann runter, dann können wir reden."
"Ja... das sollten wir wohl."
Jan seufzte und beendete das Gespräch, indem er sich an seiner Mutter vorbeidrängte, um zum Bad zu gehen.
Als er aus der Dusche kam, stand sie noch immer im Flur und starrte durch die Tür auf das Bett. "Was ist denn?"
Sie zuckte zusammen und hob schuldbewusst die Schultern. Anscheinend hatte sie unbewusst so lange gestarrt.
Jan ging zum Bett und zog sich aus, suchte nach seinen Klamotten. Seine Mutter starrte noch immer, das wunderte ihn. Endlich, in Jeans, noch ohne T-Shirt und Socken, hielt er es nicht mehr aus. Er setzte sich zu Kai auf das Bett, in ihr Blickfeld und fragte sie heiser flüsternd "Was ist denn los?"
Seine Mutter senkte den Kopf "Ich denke manchmal, dass ich dir alles beigebracht habe, dass du so sehr bist wie ich. Aber jetzt gerade... ich fühle mich plötzlich, als ob du doch Hannahs Junge bist und nicht meiner."
Jan sprang erschrocken auf und umarmte sie. "Das stimmt doch gar nicht!"
"Doch... doch." Sie strich ihm leicht mit kühlen Fingern über die nackten, noch feuchten Schultern und schob ihn dann wieder von sich. "Kai... das ist so sehr, wie Hannah sein würde, wie sie Dinge tun würde."
"Nein! Sie hätte es nicht verheimlicht!" Erschrocken blickte er sich zu Kai um, weil er so laut gesprochen hatte, aber der schob nur den Daumen über seine Nase und Mund und vergrub das Gesicht tiefer in dem Kissen.
Jan seufzte, nahm seine Socken und setzte sich wieder auf die Bettkante. Er streifte die Socken über seine ausgekühlten Füße und vernahm dann gedämpft, während er das T-Shirt überzog "Meine Güte, der kann ja alles verschlafen."
Jan grinste leicht und blickte auf Kais Gesicht. Er erinnerte sich, wie oft er ihn schon morgens angestarrt hatte, ihn gepiekt, oder ihm über die Haare gestreichelt und Kai hatte sich lediglich näher gekuschelt, oder war unter die Decke geflüchtet, aber nicht wirklich aufgewacht.
Jan hatte auch schon einige Male gedacht, dass Kai wach war, weil dieser sich an ihn angeschmiegt hatte und hatte angefangen mit ihm zu reden, erst bei Ausbleiben einer Antwort war ihm aufgegangen, dass Kai noch immer schlief, sich nur im Traum bewegte. Wie auch jetzt. Kai schob sein Gesicht gegen Jans Hüfte und tastete mit den Fingern über das Kopfkissen. Jan lächelte und hielt ihm seinen Zeigefinger als Köder hin. Kai umfasste den sofort und seufzte leise, schlief einfach weiter.
Jan befreite seinen Finger zögerlich wieder und strich Kai einmal über die verwuschelten Haare. An seine Mutter gewandt flüsterte er "Witzig, nicht? Das macht er automatisch so."
Jans Mutter seufzte noch einmal, dieses Mal klang es ein wenig deprimiert beinahe. Sie wandte sich ab und ging durch den Flur davon. Jan seufzte auch auf und folgte ihr, nachdem er sich einen Pullover angezogen hatte.
Sie hatte die Jacke schon an und er leistete ihrer Aufforderung Folge, indem er sich schweigend anzog und ihr durch den feuchten, nebeligen Garten folgte. Edna und Finchen tollten über die Pferdeweide, während sie die Tiere aus dem Stall führte und Jan lehnte sich an das Gatter an. Er erinnerte sich an den vergangenen Tag. Noch nie war ihm ein Tag so schwierig und zugleich so klar erschienen.
Er hatte Kai vom Bahnhof abgeholt, ihn ins Krankenhaus gebracht, zu Hannah ins Zimmer gesteckt und auch noch allein gelassen mit ihr. Kai hatte nichts gesagt dazu, hatte alles mit sich machen lassen, hatte keine Fragen gestellt.
Aber Jan hatte Recht gehabt, Hannah mochte Kai. Deutlich konnte er das an ihrem Gesichtsausdruck sehen. Er war nicht erleichtert deswegen, aber er fühlte sich bestätigt. Der Nachmittag verflog irgendwie, rauschte an ihm vorbei. Der erste Moment, den er wieder klar vor sich sah, war als Kai ihn aus dem Zimmer brachte. Noch nie hatte er dem Parkplatz vor dem Krankenhaus Beachtung geschenkt, doch in diesem Moment sah er jeden Grashalm zwischen den Pflastersteinen an. Alles erschien ihm mit einem Mal wichtig genug, um ihn von Hannahs leerem Gesicht, von den kalten, starren Fingern und von der Atmosphäre, dem Geruch um sie herum abzulenken.
Der nächste scharfe Moment war das Gesicht seiner Mutter vor ihm, als sie ihm leise erklärte "Hannah hat eben aufgehört zu atmen, Jan." 'So einfach. Viel zu schnell...' Erst als zweites hatte er gedacht, dass Kai ihm den Moment genommen hatte, den letzten Augenblick von Hannahs Leben einfach gestohlen.
Er war regelrecht wütend darüber gewesen. Er erinnerte sich, wie er Kai angesehen und dummsinnig angemeckert hatte. Und er erinnerte sich noch deutlich daran, wie warm die Stimme von seinem Freund mit einem Mal war, wie lebendig und wie ihn dies beruhigt hatte.
Er hatte Kai zuhören wollen, ihn umarmen, ihm nah sein, niemandem sonst. Obwohl er sich der Anwesenheit seiner Eltern bewusst war, wollte er sie nicht ansehen, nur Kai. Erst als der Arzt ins Zimmer kam, wurde Jan bewusst, dass nun das gesamte Krankenhaus und damit der gesamte Ortskreis wusste, dass er mit einem Mann zusammen war.
Auf eine Art war es ihm egal, andererseits dachte er mit einem Mal beschämt daran, wie unfair es seinen Eltern gegenüber gewesen war, ihnen keinen Vorlauf auf diese Neuigkeit zu gewähren. Aber darüber nachzudenken begann er ja erst, nachdem Anita sie dabei erwischte, wie sie sich küssten Er erinnerte sich dunkel, dass er Kai mit 'Baby' angesprochen hatte vor ihr.
Jan ließ seine Arme über das Gatter hängen, ließ seinen ganzen Körper hängen und beobachtete wie seine Mutter Wasser in den Trog laufen ließ für die Pferde. Er versuchte aus ihrem Gesichtsausdruck zu lesen, was sie dachte. Es erwies sich als unmöglich.
Es war ihm bewusst, dass sie das Recht hatte, ein wenig sauer oder gar enttäuscht zu sein, aber er hoffte, dass sie es einsah. Er hoffte darauf, dass sie einsah, was ihm an dem eben vergangenen Tag erst so richtig bewusst geworden war. Er hatte Kai dahaben wollen, weil er ihn brauchte, weil er ohne ihn nicht sein wollte in der schwierigen Situation. Es war nicht wegen Hannah gewesen, dass er Kai gerufen hatte, sondern seinetwegen. Dies zu wissen machte den Tag leicht mit einem Mal.
Seine Mutter kam langsam auf ihn zu und lehnte sich ebenfalls an das Gatter an. Sie beobachtete die Hunde einen Moment lang und murmelte ohne Einleitung "Als ich deinen Vater getroffen habe, wusste ich gleich, dass wir uns niemals streiten werden."
Jan runzelte die Stirn und sah sie fragend an.
Seine Mutter fuhr fort. "Weißt du, alle sagen immer, dass wir deinetwegen geheiratet haben, nur der Ruhe halber. Ich werde nicht wütend, wenn die Leute das sagen, wenn... als Hannah das gesagt hat, auch nicht. Ich hab es mir gefallen lassen, obwohl sie im Unrecht waren. Wir haben geheiratet, weil wir wussten, dass die Basis reicht, um nicht enttäuscht zu werden." Sie sah in sein Gesicht und vermutete "Das denkst du nun auch, nicht?"
"Was?!"
"Nun ja. Ich weiß, dass du mit deinen Freundinnen nie geplant hast, nie überlegt hast und nie warst du so… nervös. Warum also bei ihm? Du denkst darüber nach, was morgen ist, nicht?"
"Nein!" Er hasste es, wenn sie unbequem war und auch noch im Recht.
"Doch. Das ist normal. Denn wenn du ein Mädchen kennengelernt hättest, dann wäre es kein Problem... das Morgen. Aber mit ihm. Alles ist anders mit ihm, viel unbequemer und komplizierter", durchschaute sie seinen Ärger mit der Sorte kühler Berechnung, die seine Zurückhaltung viel zu leicht zerfraß.
"Was soll das?! Ich weiß nicht, was du willst!" Das Problem war, er wusste es ganz genau.
Seine Mutter war selten heftig, nun umfasste sie seinen Arm mit hartem Griff und schimpfte unvermittelt "Ich will, dass du ein wenig nachdenkst! Nachdenkst, bevor du solche Sachen machst, wie gestern!"
"Ach, und warum?!"
"Warum? Aus Rücksicht!"
"Auf euch? Ihr habt doch keine Probleme mehr mit Vorurteilen, ihr seid schon so lange hier, dass alle euch kennen."
Sie senkte kurz den Kopf, bevor sie ihn aus dunklen Augen erneut fixierte, die Finger noch immer fest in den Ärmel seiner Jacke gekrallt. "Ja, das ist wohl wahr. Aber die dämliche Kuh von der Intensiv sagte doch glatt zu mir 'Herzliches Beileid, Frau Bawenhop' und dann... dann sagt sie doch noch 'auch wegen ihrem Sohn'! Weißt du, wie ich mich gefühlt habe?! Ich hab keine Chance gehabt, um ihr zu sagen, dass ich damit gut leben kann, weil auch ich es erst gerade in dem Moment gesehen habe!"
"Das stimmt doch gar nicht! Du hast es schon im August gesehen!" schoss er gereizt zurück. Gereizt auch, weil sie ihn all die Monate hintergangen hatte mit ihrer Verschwiegenheit.
Sie schwieg einen Augenblick und lehnte sich schwer auf das Gatter. Dann nickte sie. "Das war ein Schock für mich. Ich kann nicht schlafen, weil ich mir Sorgen um meinen Jungen mache, und was sehe ich bei einem flüchtigen Blick in den Garten ausgerechnet? Meinen Jungen, der einen anderen Jungen küsst. Danach konnte ich nicht mehr schlafen, weil ich mir erst Recht Sorgen um meinen Sohn gemacht habe."
Sie ließ ihn los und murmelte, an den Ärmeln ihrer Wachsjacke zupfend "Ich bin reingefallen damals. Ich hab mir Kai angesehen und habe ihn gesehen, als sähe ich Niklas, deswegen mochte ich ihn gleich und konnte ihm nicht mehr so richtig übel nehmen, als er meinen Sohn geküsst hat. Ich wollte immer zwei verschiedene Kinder, wenn ich schon überhaupt zwei haben muss. Und ihr zwei seid so verschieden. Er war, wie ich mir immer vorgestellt habe, dass Niklas einmal geworden wäre."
Jan starrte sie betroffen an. 'Niklas... ihn als Argument zu bringen, ist nicht fair. Ich kann doch nichts dafür...' "Ich kann doch nichts dafür, dass ich so bin, wie ich..." Ihre kalten Finger auf seiner Hand unterbrachen ihn.
"Jan! Ich wollte dich nie anders haben! Ich hab nur gesagt, dass ich, wenn ich zwei von deiner Sorte hätte, vermutlich verrückt werden würde, weswegen mir Kai ganz gut gefällt und mich an den Niklas erinnert, den ich gern mit dir zusammen großgezogen hätte. Dass der Niklas ein stiller, braver und immer fleißiger Junge sein sollte, der seine Klamotten nicht kaputt macht und seine Knie nicht aufscheuert an jedem zweiten Tag und der nicht pro Sommer zwei Fahrräder kaputt fährt, drei Scheiben einschießt, weswegen unsere Haftpflicht astronomisch ist, und der nicht wie eine Finkenwerder Grünscholle aussieht nach einem Klassenausflug." Sie lächelte schräg. "Einen von der Sorte wollte ich ja. Habe ich auch prompt bekommen, nicht?"
Jan grinste schief und ein wenig erleichtert zurück, dann nickte er und erwiderte "Ja, das hast du wohl."
"Allerdings hab ich im August so bei mir gedacht, dass es eine Phase ist bei dir. Eine Laune. Ich hab gedacht, dass du nicht weißt, was du willst und einfach mal was ausprobierst. Als ich in der Uni gearbeitet hab, da war es groß Mode unter den Studenten, alle wollten alles ausprobieren. Und zum Ausprobieren hattest du dir einen wirklich hübschen, netten Jungen ausgesucht. Er und du, ihr habt mich reingelegt. Ich konnte einfach nicht böse sein."
"Ausprobieren? Das hab ich noch nie so gemacht."
"Ganz oder gar nicht. Ich hätte gleich wissen müssen, dass du Hannahs Junge geworden bist in diesem Sommer."
Jan senkte den Kopf und ließ sie sagen, was sie wollte. Sie hatte Recht. So hatte er es doch auch betrachtet. Er war Hannahs Weg gegangen. Kompromisslos wie sie, war er allerdings nicht dabei. Die Stimme seiner Mutter drang wieder zu ihm durch.
"Und du bist dir der Nachteile voll bewusst?"
Er nickte. "Ich hab genügend Zeit damit verbracht, darüber nachzudenken."
"So...?"
Er ballte eine Hand zur Faust und zählte aufgebracht auf "Ich kann es im Verein nicht sagen, weil ich vielleicht nicht mehr trainieren darf! Ich darf mich nicht offen mit ihm rauswagen, weil wir angepöbelt werden! Ich darf mich von den drei besten Freunden von mir verabschieden, weil diese höchstwahrscheinlich ein Problem mit mir hätten. Ich muss darauf verzichten, auf meiner Arbeitsstelle Bilder aufzustellen, und ich werde immer und überall damit konfrontiert, dass AIDS anscheinend eine prädominierende Schwulenseuche ist! Ich weiß das alles! Es kotzt mich auch alles ganz mächtig an! Aber ich..." Er stockte und senkte den Kopf. 'Das kann ich nicht so sagen, wie ich es ausdrücken will.'
Seine Mutter blickte ihm schweigend in das Gesicht, dann murmelte sie "Du kannst all das in die eine Waagschale legen und noch immer überwiegt die andere für dich?"
Jan nickte dankbar für den Vergleich. Er hätte fast etwas weitaus persönlicheres gesagt. "Ja. Es reicht nicht aus, um mir die Sache zu vermiesen."
"Schön, wollen wir mal hoffen, dass es auch so bleibt."
'Ich hätte so gern Worte für das Kribbeln in den Fingern, in meinem Bauch, in meinem Kopf, wenn ich ihn sehe. Für diesen Sekundenbruchteil, wenn unsere Blicke sich treffen, für diesen winzigen Moment, der so klein nur ist, aber alles überwiegen kann, was ich schon weiß und noch viel mehr, wenn ich sicher bin.'
Jan seufzte, weil er keine Worte fand für diese eine Sache. Aber er dachte zudem auch daran, dass er seiner Mutter selbst die erklärbaren Dinge nicht sagen konnte.
Kais hübsche Augen waren ja nicht das einzige, das Jan anziehend fand. Der Schmollmund war nicht zu übertreffen. Jan liebte es, wenn Kai irgendetwas schief ging und er dann schmollig und konzentriert überlegte, woran das liegen könnte. Wie konnten nur so kleine Veränderungen der Gesichtsmuskulatur solche Wirkungen erzielen?
Oder das schüchterne, nicht richtig gewagte Lächeln, mit dem Kai ihn am Morgen in der Uni begrüßte, weil andere es sehen könnten. Kais Eigenart, selbst am Morgen vor der normalen Uni vor dem Schrank zu stehen und zu grübeln, ob diese Hose mit diesem T-Shirt wohl passen könnte und dabei seine totale Ignoranz gegen Jans meist alte und abgetragene Jeans und seine T-Shirts mit Vereinsaufdruck oder noch besser mit der Werbung für ein Medikament. Noch nie hatte Kai sich an Jans Klamotten gestört, ihn mit Sprüchen dazu belästigt, was Jan in das Gefühl akzeptiert zu werden förmlich einhüllte.
Jan mochte Kais Körper, das hatte ihn von Anfang an ein wenig verwundert, da er wirklich männlich war. Er mochte die schlanken Beine, er mochte Kais Arme und seinen hellen Hals, seinen Nacken und er mochte seinen Hintern. Er liebte es, Kai anzufassen, wenn sie allein waren, wenn Kai es wagte und sich ihm zuwendete, mit diesem kleinen zufriedenen Lächeln, wenn Jan die richtigen Stellen streichelte. Er liebte es, wie Kai sich dann zu ihm drehte, an ihn kuschelte. Er liebte das Vertrauen, das Kai nur ihm entgegenbrachte, niemandem sonst. Und er mochte es, wie Kai ihn ansah. Diese Art Blick, die er nur für Jan übrig hatte, die er nur ihm schenkte und auch nur, wenn sie allein waren.
Jan folgte seiner Mutter, die das Gespräch als beendet ansah, zum Haus und erinnerte sich daran, wie er den Entschluss gefasst hatte, dass er im Sommerhaus jetzt sofort am besten alles lernen wollte, was man mit einem Mann im Bett so anstellen konnte. Er gab für sich zu, dass er es selbst damals für eine Laune gehalten hatte. Heute hätte er beim Gedanken an das Vorhaben, dies von Kai zu lernen, vermutlich vor Lachen am Boden gelegen.
Kai war in der ersten Nacht so vorsichtig und nervös wie er. Seine vorsichtige Art rührte daher, dass er keinerlei verwertbare praktische Erfahrung hatte, das lernte Jan später. Er war so sehr und haargenau das, was Jan wollte, dass es egal war, dass auch Kai keinerlei Ahnung hatte, wie man was machen sollte.
Der Mangel an Erfahrung auf Kais Seite erstaunte ihn, denn er hatte immer geglaubt, dass Kai Angebote sicherlich mit der Mistgabel abwehren musste. Das war aber auch bevor er mitbekam, wie eisig und abweisend Kai sein konnte, vielleicht auch sein musste.
Ihrer beider Nervosität störte den Beginn der Beziehung nicht gerade wenig. Jan erinnerte sich noch deutlich daran, wie er diese beiden Jungs am Strand vorgeschoben hatte als Entschuldigung, um nicht mit Kai allein zu sein, weil er sich nicht sicher war, was und wie und vor allem ob sie etwas tun sollten miteinander.
Bei Mädchen war das einfacher gewesen. Dachte er zumindest. Er fand in der Nacht sehr rasch heraus, dass ein Mann einfacher zu lesen war, was die Signale anging, die der Körper zeigte. Einfach war mit Kai zwar im Grunde sonst nichts, aber im Bett war er herrlich. Jan wusste ihn vom ersten Augenblick an richtig zu berühren, nicht zu weich, das machte ihn ungeduldig, aber vor allen Dingen nicht zu schnell, zu hastig, das machte Kai stets Angst.
Grinsend fiel ihm Kais beleidigtes Gesicht ein, als Jan ihn zum ersten Mal 'Baby' nannte. Kai konnte zu dem Zeitpunkt vielleicht nicht ahnen, dass er das genau war für Jan. Sein Baby, sein Schatz. Zum Beschützen und Gernhaben gemacht, zu nichts anderem als zum Glücklichmachen.
Und Kai ließ sich auch stets so behandeln. Er ließ sich, wenn sie allein waren, immer umarmen, streicheln, anfassen. Er ließ Jan alles tun. Natürlich war Kai für Jans Geschmack manchmal ein wenig zu passiv, aber das glich er aus, indem er durch seine Körpersprache so deutlich zeigen konnte, dass ihm etwas gefiel, dass Worte nicht mehr gebraucht wurden.
Jan hatte am Anfang darüber reden wollen. Ob sie es richtig machten, ob Kai sich wohlfühlte mit ihm im Bett, ob Jan ihm aus Versehen wehgetan hatte. Aber er stellte nach einer kurzen Zeit schon fest, dass es egal war, ob er fragte, oder nicht. Kai würde sich nur währenddessen offen zeigen. Gleich nach dem Sex war er wie gegen den Strich gebürstet, haute ins Bad ab, wollte Jan für wenigstens eine halbe Stunde nicht einmal umarmen. Aber währenddessen zeigten sein Gesicht, sein Körper, seine Gesten und Laute deutlich genug, was er mochte und was nicht.
Eines war sehr typisch für ihn und belastete Jan. Wenn Kai etwas nicht mochte, dann wehrte er sich nicht. Er hatte stattdessen eine Art zu erschlaffen, eine Opferhaltung einzunehmen, die Jan rasend machte, weil er stets dachte, dass Kai dies bestimmt bei jedem anderen als ihm auch in eine genau solche Lage bringen konnte. Der andere musste nur zu stumpf, uninteressiert, oder einfach grob genug sein, um das Stillhalten auszunutzen.
Nicht selten dachte Jan in diesem Zusammenhang ganz gern auch mal an Lukas, aber Kai redete nicht darüber. Jan bekam nur Andeutungen und seine eigenen Vermutungen. Diese hatten schon gereicht, um ihm Albträume zu bescheren, in denen Kai verletzt wurde, aber bestätigt hatten sich seine Thesen ja bislang nicht. Mit Lukas benahm sich Kai nie, als würde er dem Mann misstrauen, aber seine Haltung wenn Jan einmal zu schnell mit ihm schlafen wollte, oder wenn er Kai nicht vorsichtig genug behandelte, ein leichtes Versteifen der Schultern, ein Erkalten, das durch Kai hindurchlief, als sei er ausgeschaltet worden, ging nicht fort.
Lächelnd dachte Jan wieder daran, wie merkwürdig richtig ihm das Gefühl, mit Kai im Bett zu sein, vorgekommen war. Vom ersten Tag an schon. Vom ersten Mal an. Er hatte ihn angestarrt, die Lotion gegen Sonnenbrand als Ausrede benutzt, um ihn zu berühren. Das hatte er sich ohnehin gewünscht und Kai ließ ihn, ließ ihn alles machen. Ließ zu, dass Jan ihn überall dort berührte, wo er wollte. Und das hatte sich seitdem nicht mehr geändert. Kai ließ Jan zu, und deswegen fühlte Jan sich wohl mit ihm, fühlte sich, als könnte er Kai etwas geben, genau wie Kai ihm so viel gab, nur weil er da war.
Seine Mutter ging in den Schuppen und begann das Pferdefutter zu mischen und Jan half ihr, goss Wasser dazu und starrte auf die Säcke mit Hafer. Noch heute rätselte er darüber, wie er darauf gekommen war, dass er wollte, dass Kai mit ihm schlief. Es war eine Blitzentscheidung gewesen. Es hatte sich gut angefühlt von Kai berührt zu werden, und er wollte ihn noch mehr spüren.
Im Nachhinein, nachdem er sich ein wenig mehr informiert hatte und vor allem mit Ultraschallgel von seinem Vater versorgt, mit dem alles einfacher wurde, hätte er es wirklich erst auf einen Zeitpunkt verschoben, zu dem sie einander besser kannten.
Der Eindruck war verwischt mit der Zeit, aber wage erinnerte er sich noch daran, dass es vornehmlich unangenehm mit Tendenz zu schmerzhaft war am Anfang. Er hätte Kai allerdings auch nicht für derart rigoros gehalten. Heute wusste er ja, dass sich hinter dem stillen, immer viel zu kühlen und abweisenden Kai auch ein richtiger Mann versteckte, und zwar einer, der auch energisch werden konnte. Sehr energisch, nicht nur im Bett, nicht nur, wenn er Top war.
Jan schloss die Augen und dachte an ihren Streit zurück. Er dachte daran zurück, wie ihn die Eifersucht zerfressen hatte, nachdem er Schluss gemacht hatte, wie die Verzweiflung gewonnen hatte. Und er dachte auch erneut an diese Albträume zurück, dass Kai einen anderen finden könnte, der ihn schlecht behandelte und Kai still leiden würde, alles über sich ergehen lassen. Er wusste ja selber, dass auch Kai gehörig heftig sein konnte und auch gern mal verletzende Dinge zu sagen wusste, aber dennoch war er diese Bilder nicht mehr losgeworden, bis sie sich vertragen hatten.
Doch all das würde er seiner Mutter nicht begreiflich machen können. All die Sicherheit, die er aus diesen Erinnerungen und aus den Gefühlen zog, war nichts für Worte. Seufzend wusch er sich die Hände in dem eiskalten Wasser und meinte leise "Ich sammle mal die Hunde ein und geh frühstücken." Er streifte sein Schlafzimmerfenster mit einem Blick, das Rollo war hochgezogen. 'Er ist schon auf und hat mich mit ihr reden sehen.' Seine Mutter streichelte die gierig fressenden Pferde und sah ihn nicht mehr an, sondern nickte nur leicht. "Mach das, ich komm gleich nach, Jan."
Kapitel 57
Kai wachte allein im Bett auf, das war er schon gewohnt. Wenn er ausschlafen konnte, dann tat er das auch. Er gähnte einmal, dann sah er sich um und stellte fest, dass Jan schon angezogen sein musste, seine Jeans fehlte. Er streckte sich eine Weile lang noch, dann rollte er sich aus dem Bett und ging duschen. Verunsichert blieb er in Jans Zimmer, nachdem er sich angezogen hatte. Er hatte keinen Fön gefunden, weswegen seine Haare an der Luft trocknen mussten und sich beleidigt in verschiedene Richtungen lockten.
Endlich zog er das Rollo hoch und sah in den Garten hinunter. Dort erblickte er an einem Pferdegatter Jan und seine Mutter. Die riesigen Hunde saßen um sie herum und ein Pferd stand daneben. Sie redeten miteinander, das konnte er ausmachen. Ihre Gesichter wirkten nicht gespannt, oder als ob sie sich streiten würden. Ein wenig erleichtert wandte er sich ab und versuchte das Chaos zu beseitigen, das entstanden war, weil er sein Duschgel in seinen Rucksack mal wieder ganz unten gepackt hatte.
Endlich ließ es sich nicht mehr vermeiden, unsicher ging er nach unten in die Küche. Dort war auf einem Platz am Küchentisch gedeckt. Ein Glasteller mit Käse stand mit Folie abgedeckt in der Tischmitte, eine schwere Steingutkanne verströmte Teeduft von einem Stövchen, aber auch Kaffee wurde in der Maschine warm gehalten. Kai lauschte ins Haus, aber er war anscheinend allein. Seufzend goss er sich einen Becher Kaffee ein und nahm sich eine Scheibe Brot, obwohl er keinen Hunger hatte.
Er hob gerade an, vom Becher zu nippen, als eine dunkle, selbstsichere Stimme hinter ihm "Guten Morgen", sagte.
Kai quiekte erschrocken und verplemperte Kaffee über seine Finger. "Oh... Schei..." Er bekam wortlos ein Küchentuch vor die Nase gehalten und bedankte sich.
"Entschuldige Kai, ich wollte dich nicht erschrecken."
Jans Vater stellte einen dunkelblauen Kaffeebecher mit seinem Namen auf den Tisch. Kai linste darauf, aber konnte nicht den ganzen Namen lesen. 'La..? Mir fällt kein La-Name ein, scheiße.' "Guten Morgen. Ich... war wohl... ist nichts passiert."
Jans Vater wirkte mit dem dunklen Pullover so anders als in dem Kittel am Tag zuvor. Aber noch immer hatte Kai einen Heidenrespekt vor ihm. Er wagte es kaum, sich zu rühren, während der andere sich einen Kaffee einschenkte und Milch und Zucker in die Tasse gab.
Jans Vater betrachtete ihn in der Tasse rührend einen Moment lang und fragte endlich "Hast du dich ausgeschlafen?"
Kai blinzelte verwirrt und nickte dann, kam sich blöd vor, weil er nichts zu sagen wusste.
Jans Vater schien ebenso ein wenig unsicher zu sein. Endlich stellte er die Tasse wieder ab und setzte sich Kai gegenüber. Seine Brillengläser blitzten auf, als er sich über den Tisch beugte. Er verschränkte die Finger in einer gewohnt erscheinenden Geste, bevor er gestand "Ich hätte nicht gedacht, dass eine Situation noch einmal neu sein würde für mich. Es scheint, man lernt nie aus, egal wie alt man wird."
Kai trank einen Schluck Kaffee und schwieg verunsichert abwartend.
Jans Vater trank ebenso einen Schluck und mutmaßte dann "Du... bist schon länger mit meinem Sohn zusammen?"
Kai wollte antworten, aber fand, dass seine Stimme fremde Wege ging. Endlich krächzte er "Seit August."
"Seit dem Wochenende, an dem wir dich kennengelernt haben?" Es klang überrascht. "Hast ihn also richtig gern?" Das klang so friedlich, als redeten sie über eine Geburtstagsfeier.
Kai nickte unglücklich. Jans Familie war anders als seine, das stellte er mal wieder fest. Hier wurde nicht geschwiegen, wenn es peinlich war.
Jans Vater sah ihn noch einmal an und murmelte "Meine Frau regelt solche Sachen immer, aber irgendwie fühle ich mich, als sollte ich auch einmal etwas sagen. Weißt du, wissenschaftlich gesprochen verhält es sich so: Ich habe die Chancen, dass so etwas bei Jan passiert, ehrlich für gleich null gehalten. All der Fußball und sein mangelndes Interesse für Kleidung waren in meinen Augen gute Ausschlusskriterien. Aber das war wohl viel zu wenig weitsichtig gedacht."
Kai blinzelte verwirrt. Er beobachtete, wie Jans Vater seinen Becher ein wenig hin und her drehte. Endlich vernahm er die dunkle Stimme "Du machst es einem nicht gerade leicht."
Kai stutzte und erwiderte "Ich? Aber... was soll ich denn...?" Er konnte endlich den Namen auf der Tasse lesen und runzelte die Stirn. 'Lasse?! Das ist der unlassigste Lasse, den ich je kennengelernt habe!'
"Ich meine, ich hab es gestern ja schon gesehen. Ich dachte erst, dass Jan... ja, was hab ich eigentlich gedacht? Dass Jan uns mal wieder irgendwas beweisen will, habe ich natürlich gedacht. Er hat an den letzten Wochenenden ja schon darüber geredet." Lasse zog die Stirn kraus, dann nickte er sich selber zustimmend.
"Darüber?"
"Naja, er hat sich mit Charlotte gestritten, ob es genetisch bedingt ist, wenn man homosexuelle Veranlagungen hat, oder ob es eine frühkindliche Prägung ist. Das kam mir schon merkwürdig vor. So hitzig diskutiert er sonst nur die Bundesliga."
Kai grinste ein wenig und auch Jans Vater lächelte. "Aber er wollte uns gestern nichts beweisen. Er wollte..."
'..., dass ich da bin.'
"Er wollte dich wirklich dabei haben, nicht uns ärgern, oder mal wieder etwas demonstrieren. Das macht mich so... unsicher jetzt."
Mit gesenktem Kopf starrte Kai auf seinen Teller. Er gestand es ein, bevor er sich dessen bewusst geworden war. "Mich auch."
Jans Vater lächelte noch einmal und trank einen Schluck Kaffee. "Weißt du, vermutlich denkst du jetzt, dass es mir etwas ausmachen würde. Aber ich muss gestehen... das tut es nicht."
Frappiert hob Kai den Kopf und begegnete dem gelassenen Blick hinter den rahmenlosen Brillengläsern.
"Oder nicht sehr. Ich vertraue darauf, dass Jan sich der Nachteile, der Gefahren und der Probleme in nahezu komplettem Umfang voll bewusst ist, wenn er wieder reinkommt, dafür wird Charlotte sorgen. Sie hat die halbe Nacht nicht geschlafen wegen dieser Unterhaltung. So nervös ist sie sonst nur vor einem Kongress."
Kai wurde rot. Er wusste nicht, was er solchem Gewicht an Sicherheit entgegensetzen konnte. Sein Vater fiel ihm ein, dessen hilfloses, hasserfülltes Schweigen. So viel stärker und schöner war die Reaktion von Lasse, dass Kai begann, ihn glühend zu bewundern. Jan beneidete er mit ebensolcher Glut um einen Vater, der ruhig redete und nicht hysterisch und peinlich brüllte.
Wie um das Bild abzurunden, lehnte Lasse sich zurück und streckte seine Schultern ein wenig. Nun erst fiel Kai auf, dass Jan von ihm die kräftige Statur geerbt haben musste. Sein Vater sah ihm nicht sehr ähnlich, aber die ruhige Kraft in der Ausstrahlung, ein paar Details an der Körperhaltung, die Art, die Arme zu verschränken, stimmten überein.
"Es macht mir nicht so viel aus, weil ich nie damit gerechnet habe, dass ich sehr viel Anteil an Jans erwachsenem Leben haben werde, Enkel und dergleichen. Ich habe mich immer für zu alt gehalten."
"Das sind Sie doch noch gar nicht!" Kai klappte den Mund zu und blickte erschrocken auf die Tasse in seinen Händen.
Einen Moment drauf hielt ihm Jans Vater die Hand über den Tisch hin und sagte "Ich bin Lasse, wie du schon gelesen hast. Das reicht mir."
Kai nahm die Hand kurz und drückte sie vorsichtig, wie eine Waffe, die ihn verletzen könnte. "Danke", flüsterte er und war sich klar, dass er es nie wirklich wagen würde, Jans Vater mit dem Vornamen anzureden.
Das Gespräch wurde von Türenklappen unterbrochen und gleich drauf kam Jan in den Vorraum getrampelt, die Hunde im Schlepp. Sein Vater hob den Kopf und rief "Hoi, keene natte Hond binnen de schier Köke, Jan!"
"Jo! Net opreegen!" Jan bremste scharf ab und pfiff die Hunde zur Garage zurück.
Kai blinzelte einen Augenblick lang überrascht, dann warf ihn das jungenhafte Lächeln in Lasses Gesicht schier um, bevor dieser entschuldigend sagte "Ich stamme von einem Bauernhof, wir haben dort immer nur Platt gesprochen. Es wird immer mehr vergessen heutzutage. Wir erziehen Jan deswegen... ja, zweisprachig kann man sagen."
Kai nickte benommen und wusste keine Antwort, außer, dass er Jan zu der Sprache einmal löchern wollte. Der hatte noch nie erzählt, dass er so etwas Merkwürdiges konnte. Nach einem Moment kehrte Jan in die Küche zurück und warf sich zu Kai auf die Bank. Er starrte seinem Vater ins Gesicht und fragte mit aggressivem Unterton "Und? Willst du mir jetzt auch noch einen Vortrag halten?!"
Kai zuckte ein wenig zusammen, weil er so unfreundlich sprach. Es konnte nur heißen, dass Jans Mutter in der Tat nicht so reagiert hatte, wie Jan sich das vorgestellt hatte.
Doch sein Vater lächelte leicht und hob eine Hand, um Jan über den Wuschelkopf zu streichen. "Düllkopp. Nee, du weest, dat ick ehr Meenung deele... und nichts hinzuzufügen habe."
Jan senkte den Kopf und ließ sich einen Augenblick lang streicheln. Dass sie so zärtlich miteinander verfuhren, hätte Kai nie für möglich gehalten. Die Glut seines Neides auf diesen Vater verstärkte sich deutlich während Lasse Jans wilden, nassen Haarschopf mit seinen großen, sicheren Händen noch ein wenig durcheinander brachte.
Dann erhob sich Lasse und sagte "Denkst du dran, dass heute Sonntag ist und die Züge nicht alle fahren?"
"Ich checke mal im Internet, welchen Kai nehmen kann."
Kai trank einen Schluck Kaffee und schwieg, bis Jans Vater mit einem "Mach das, Jan." aus der Küche gegangen war.
Dann betrat Jans Mutter die Küche und streifte ihn und ihren Sohn mit einem irgendwie müden Blick. "Guten Morgen, Kai."
"Guten Morgen."
Ihre Stimme klang freundlich. Die Situation kam Kai merkwürdig vor, weil Jan sie so hitzig ansah. Doch Charlotte nickte nur einmal. "Ich werde mich jetzt noch mal hinlegen, bleibst du bis zum Mittagessen, Kai?"
"Ja, tut er." Jans Kinn zeigte deutlich, dass er einen sturen Tag hatte.
Kai blinzelte und fügte dem hinzu "Wenn ich nicht zu sehr störe... ich weiß nicht genau, welchen Zug ich nehmen kann."
"Ist gut." Es klang wie 'Ist egal.' Rasch ging sie davon.
Jan hockte neben Kai und war knurrig und unausgeschlafen und generell gereizt, weswegen Kai seine Taktik zu schweigen und still zu bleiben anwendete, während er auf dem Brot herumkaute.
Endlich hob Jan den Kopf und verlangte "Komm mit nach draußen, ich zeig dir den Garten und so."
Sie waren ein ganzes Stück gegangen und Kai hatte bereits nasse Füße, als Jan endlich etwas sagte. "Sie hat mich gefragt, was morgen ist."
"Morgen?" 'Montag, Unitag, was... will er denn...? Oh nein, sie meint das Morgen. Scheiße.'
"Morgen. So wie das Morgen, wenn alle unsere Kommilitonen heiraten und Kinder bekommen und Häuser bauen und so."
Der Tonfall troff vor Sarkasmus und tat Kai weh. 'Scheiße, was soll ich denn dazu sagen?'
Jan riss im Vorbeigehen an einigen toten Ästen und begann einen Teil davon zu zerpflücken. "Es war nicht ihre Schuld, ich hab sie darauf gebracht."
"Auf was überhaupt?"
"Auf die Frage, ob ich dich morgen auch noch will." Jan drehte sich zu Kai um und deutete mit einer großzügigen Geste vor sich. "Das ist das gesamte Grundstück. Von hier kann man alles überblicken. Ob ich dich zu dem Preis will, den es kostet."
Kai trat an das Gatter der Pferdeweide, die sie umrundet hatten und blickte auf das helle Haus, das in einiger Entfernung zwischen den Bäumen aufzuleuchten schien. Seine Gedanken hüpften wie in einem Spiel, in dem man der tödlichen Lava oder Säure über kleine Trittflächen entkommen musste. Jedes Wort, jedes Thema schien sich jedoch in seinem Kopf in Säure zu verwandeln. 'Beschissenes Morgen?! Morgen... Kinder... und ich? Was will ich morgen machen? Scheiße! Wieso bin ich nur hierher gekommen!'
Jan lehnte sich neben Kai gegen den Zaun, bevor Kai ihn daran hindern konnte, und saute sich seine Jacke ein, ohne sich darum zu kümmern. Hitzig sah er hinüber und verkündete lauter als nötig "Natürlich werde ich dich morgen noch wollen!"
Kai lächelte leicht, dann murmelte er bedenklich "Ich will nicht, dass du solche... Versprechungen machst, Jan." 'Ich will gar nicht davon reden. Zukunft. Der letzte Streit. Wie ich ihn hab leiden lassen, aus sturer Dummheit. Das hat mir gereicht.' Statt es direkt zu sagen, begann er lieber indirekt und küsste Jan auf die Wange. "Ich bin so froh, dass wir wieder zusammen sind, dass ich es nicht aushalte, wenn du so viel auf einmal willst. Können wir nicht kleinere Schritte machen?"
Jan schnaubte. "Welche Schritte machen wir denn?"
Ein wenig beleidigt wendet Kai sich ab. "Deine Eltern und es ihnen zu sagen, habe ich als Schritt empfunden, Jan. Das war anstrengend für mich, sie sind so..."
"Ja, aber das war nur ein Schritt irgendwo hin. Keiner, der uns... uns näher gebracht hat, Kai!"
Kai senkte den Kopf und blickte auf seine durchweichten Schuhe. Bevor er es verhindern konnte, sagte er "Gestern kam es mir so vor, als ob es so ein Schritt gewesen wäre."
Jans Hände drehten ihn gleich darauf um und er wurde gezwungen, dem Blick aus den lebendigen, schönen Augen zu begegnen, intensiv auf ihn, auf seine Gefühle gerichtet. Jans Finger gruben sich fest in seine Schultern und Kai hatte schon Angst, dass er etwas Falsches gesagt hatte, aber gleich darauf seufzte Jan und entschuldigte sich, bevor er Kai umarmte.
Kai begann jedoch sehr bald, ungemütlich herumzuruckeln und schaffte es, Jan zum Haus zurück zu bugsieren. Sie aßen noch mit Jans Eltern gemeinsam Mittag, aber die Stimmung war gedrückt, das Thema waren vorwiegend organisatorische Fragen, die zwangsläufig nach einem Todesfall aufkommen mussten.
Jan brachte Kai mit dem großen Wagen seines Vaters zum Bahnhof, aber nicht auf den Bahnsteig, wofür Kai insgeheim wirklich dankbar war. Noch nie zuvor hatte er Jan als dermaßen anstrengend empfunden, ohne dass dieser wirklich etwas dafür konnte. Seine Anspannung allein reichte, um Kai auch in einen angespannten Zustand zu versetzen, der ihn auszulaugen begann.
Als er am Abend in der WG ankam, torkelte er vollkommen erledigt ins Bett und schlief fast sofort ein, auch wenn die Gedanken, die Jan in seinen Kopf gebracht hatte, noch immer in endlosen Kreisen und ohne einen Ausweg umgingen. 'Das Morgen. Morgen wird es doch eh von allein. So ein Scheiß! Verdammt noch mal, Jan! Kannst du nicht einmal etwas einfach abwarten?'
Jan hatte Kai nicht auf den Bahnsteig bringen wollen, weil er sich so schrecklich labil fühlte, dass es ihn schon wieder reizte. Er fürchtete, dass er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen könnte und damit Kai verschrecken und ihn sicherlich auch beschämen würde.
Stattdessen brachte er mit angespanntem Gesicht den Wagen in die Garage zurück und ging bis Einbruch der Dämmerung mit den beiden Hunden durch die Wiesen. Die frische Luft half ihm, seine Ruhe wieder zu finden, aber seine Gedanken waren einfach nicht zu ordnen.
Immer wieder begann er damit, sich vorzustellen, wie das Leben nun ohne Hannah sein würde, und schaffte es nicht. Im Gegenteil kam auf diese Art eine nach der anderen Erinnerung zu ihm zurück. Längst vergessene Dinge, die seine Großmutter mit ihm zusammen unternommen hatte, die sie ihm beigebracht hatte, wie das Fahrradfahren zum Beispiel, wie das Pfeifen auf zwei Fingern, das Erkennen von Vogelstimmen und essbaren Pilzen im Wald.
Zugleich mit den Erinnerungen an seine Oma quälte ein anderer Gedanke Jan. Der an seine Gefühle für Kai und daran, wie er sich fühlen würde, wenn sein momentaner Lebensmittelpunkt einmal nicht mehr bei ihm war.
'Wenn er noch einmal Schluss macht, wenn wir uns noch einmal trennen müssen... ich glaube nicht, dass ich das ertragen kann.' Er verdrängte die Erinnerungen an Hannah mit den noch viel frischeren und damit viel schärfer schmerzenden Dingen, die gerade erst passiert waren.
Kai mit Lukas zusammen sehen zu müssen, seinen zarten, wunderschönen Freund zusammen mit diesem unsensiblen Typen, der ihn sehr offensichtlich nur hatte haben wollen, weil er ihn vorzeigen konnte und weil Kai sich so lange geziert hatte. 'Und dann scheitert alles nur am Sex. An meiner gottverdammten Unentschlossenheit. Und das ausgerechnet mir!' Wut über sich selber begann Jan zu ergreifen, auch wenn er schon zuvor ahnte, dass es nichts geben konnte, das ihm diese Sorge um die Zukunft abnehmen würde.
Er senkte den Kopf, ignorierte den einsetzenden Nieselregen nicht mehr länger, sondern gab gegen das ekelhafte Wetter auf, um zum Haus zurückzukehren. Jan hätte sehr gern gedacht, dass der Streit vor allen Dingen auf Kais Unsicherheit zurückzuführen war, aber Kai und auch er selber wussten doch schon seit längerem, dass der eigentliche Schwachpunkt ihrer Beziehung bei ihm lag, bei ihm allein. Kai hatte es ihm erklärt und Jan gab ihm seufzend Recht. Es war einfach so, dass Kai der realistischere von ihnen beiden war. Er hatte es schon richtig gesehen. Jan war nun einmal nicht rein und ausschließlich an Männern interessiert. Der Vorfall im Skiurlaub war dafür ja sehr deutlich ein Beweis.
Grummelnd gab Jan seiner Mutter mit einem Mal im Nachhinein das Recht zu den Fragen nach dem Morgen. Es war schmerzlich richtig. Er hatte mit keiner seiner Freundin darüber nachgedacht, mit keiner, von Bianca abgesehen. Und das hatte er im Skiurlaub mit einem Mal getan, eben weil sie in Konkurrenz zu Kai stand.
'Kinder. Die anderen werden heiraten und Kinder bekommen. Das kann ich vergessen, wenn wir zusammen bleiben.' Jan kam am Haus an und ging gleich ins Bad, um sich eine Wanne einzulassen. Im Wohnzimmer saßen seine Eltern bei einem Glas Wein zusammen und sortierten die wichtigen Papiere seiner Großmutter, die sie anscheinend bereits aus der Wohnung geholt haben mussten.
Im heißen Wasser liegend dachte Jan weiter darüber nach. 'Kai. Er kann natürlich sowieso keine Kinder bekommen. Dazu aber mag er Kinder nicht besonders. Hunde kann er nicht leiden und Kinder auch nicht. Schwierig. Bei mir ist das anders. Ich hab den Trainerschein doch gemacht, weil ich Kinder gern hab, weil ich gern mit ihnen trainiere, weil es mir Spaß macht, ihnen was beizubringen.'
Er tauchte unter, die Welt wurde still, bis auf seinen Herzschlag. Während die Luft knapp wurde, schwor Jan sich, dass er sein Baby niemals wieder anlügen würde, niemals würde er ihm etwas verheimlichen. Schon gerade diesen Konflikt nicht. Auch wenn er genau wusste, dass Kai sich da lieber ausschweigen wollte, bis das Problem endlich einmal so groß geworden war, dass selbst er es nicht mehr ignorieren konnte.
Kapitel 58
Doch die aktuellen Geschehnisse sollten Jan die Entscheidungen in seinem Leben auch gerade Kai betreffend schon sehr bald aus der Hand nehmen. Er bekam aber erst am nächsten Morgen eine Ahnung davon, als ihm sein Vater nach dem Frühstück mitteilte, dass sie zu Hannahs Anwalt fahren würden, um die Erbschaftsdinge zu regeln.
Der Anwalt und Notar der Familie war mit Hannah befreundet gewesen und etwa in ihrem Alter. Jan hatte ihn immer mit Misstrauen betrachtet, vermutlich rührte das von einer albernen Eifersucht, die er empfunden hatte, weil Hannah ihn geschätzt hatte.
Aus diesem Grund schob Jan auch Müdigkeit und eine beginnende Erkältung vor, um nicht mit zu ihm hinfahren zu müssen. Es stellte sich als unklug heraus, denn die Testamentseröffnung barg eine für Hannah zwar zu erwartende, aber vielleicht gerade deswegen von niemandem bedachte Überraschung.
Jan hatte sich mit Anita angeschwiegen. Es nervte ihn unendlich, dass ihre Haushälterin aus falschem Mitgefühl heraus schwarze Kleidung trug, während er mit seiner alten Jeans und dem Schlabberpulli, den er schon einige Male vor der Kleiderspende gerettet hatte, auf dem Sofa rumhing.
Zu seinem Glück war sie noch immer peinlich berührt, weil er sie mit seiner perversen Neigung konfrontiert hatte, es war ihm in dem Augenblick gar nicht so wichtig erschienen, aber im Nachhinein freute er sich darüber. Anita tat immer so verhuscht, aber hinter dem Rücken seiner Eltern lästerte sie sehr ausgiebig über das Privatleben, über ihn, über den Haushalt und die Unterwäsche seiner Mutter, das hatte Jan einmal per Zufall von einem Klassenkameraden erfahren.
Ihre bigotte Art nervte ihn schon so lange an, dass er es eigentlich gern noch eine Spur breiter übertrieben hätte mit Kai. Aber dazu war er an dem Abend zu geschockt und traurig gewesen. Die neue Stille zwischen ihm und Anita tat ihm jedoch dermaßen gut, dass er beschloss, sich bei seinem nächsten Besuch Zuhause vor ihr extra schwul aufzuführen. Grinsend in das Kaminfeuer starrend malte Jan sich aus, wie es wohl wäre, wenn er sich wie Lolli benehmen würde. Den Blicken nach zu urteilen schien Anita genau darauf und nichts anderes zu warten.
Seine Eltern kehrten sehr früh zurück und verhinderten so, dass er begann, die Haushälterin mit Testaktionen im schwulen Benehmen zu quälen. Jans Vater rief in der Klinik an noch bevor er seinen Mantel ausgezogen hatte und verabschiedete sich gleich wieder, um nach dem Rechten zu sehen, wie er sich ausdrückte. Seine Mutter hingegen kam mit einem Becher Kaffee zu ihm und legte ihm wortlos einige Bilder von einem weiß gestrichenen Wohnhaus hin, in guter Wohnlage nach den zwei Autos vor der Tür zu urteilen.
Dankbar nahm Jan wahr, dass sie sich normal angezogen hatte, ein rostfarbenes Hemd und die Wollhose, der man sogar ansah, wie teuer sie gewesen war. Die Lammfellpuschen wirkten ein wenig deplatziert, aber betonten für ihn, dass sie sich jetzt ausruhen wollte und keine anstrengenden Diskussionen vorhatte.
Verwundert wendete er den Blick auf die Fotos, weil keine Erklärung von seiner Mutter kam, die sich in ihren Kaffee vertiefte. Das Haus war dreigeschossig, hatte einen kleinen Garten, der professionell gemacht wirkte. Eine Tiefgarage gehörte dazu und auf einem Bild konnte man eine weiträumige Dachterrasse sehen, die von den beiden Parteien des dritten Stocks genutzt wurde. Die riesenhaften Veluxfenster gefielen ihm.
"Wie findest du das Haus?"
"Hannahs?" Er nahm eines der Bilder vorsichtig in die Hand. Von Immobilien hatte sie mal gesprochen, aber es hatte ihn nie sonderlich interessiert.
Seine Mutter versteckte ihr Gesicht hinter dem Becher, den sie mit beiden Händen umfasst hielt und nickte.
"Es ist chic. Was ist damit?"
"Würdest du darin wohnen wollen? Es ist in der Stadt. Oben am Leinfeld. Nur zehn Minuten mit dem Fahrrad zur Uni, wenn man dem Makler glauben darf, der das hier geschrieben hat." Sie schob einen Bogen mit Anpreisungen in sein Sichtfeld. Der Quadratmeterpreis schien die Hölle zu sein.
Jan beugte sich mit einem Mal interessierter über die Bilder. "Klar. Welche Wohnung ist es denn?" Im Geiste sah er schon Kais hellgrüne Vorhänge vor den Balkontüren zur Dachterrasse.
Seine Mutter schwieg einen Augenblick, dann fragte sie zurück "Welche würdest du denn haben wollen?"
Jan schob die Bilder hin und her. Der Garten war auch nicht ohne, sogar ein kleiner Teich war darin und auf der Terrasse war ein gemauerter Grill zu sehen. "Schwer zu entscheiden. Die haben sicherlich alle ihre Vorteile."
"Na so ein Glück. Du hast nämlich das ganze Haus geerbt."
Jan riss die Augen auf und starrte seine Mutter an, das Foto entglitt seinen Fingern. "Wie bitte? Ich hab ein Haus mit sechs Wohnungen geerbt?"
"Ja. Das ist wohl so. Du bist Hannahs Alleinerbe, um es genau zu sagen. Sie hat mir ihren Schmuck und sentimentale Erinnerungen vermacht. Alles, was sie an Geld und Immobilien hatte, vor allen Dingen dieses Haus, geht direkt an dich."
Jan brauchte eine ganze Weile, um sich von dem Schock zu erholen. Danach erklärte seine Mutter, dass sie nach der Beerdigung sicherlich Zeit finden würden, um die Details zu besprechen. Vor allen Dingen würden sie das Haus, in dem Hannah gelebt hatte, recht bald verkaufen oder vermieten müssen, damit es ihnen nicht auf der Tasche lag.
Wehmütig dachte Jan daran, dass er den kleinen Bungalow mit dem großen Garten, mit dem Gartenhäuschen und der Schaukel in dem dicken Eichenbaum nicht an Fremde abgeben wollte. Es kam ihm so vor, als würde Hannahs Geist sicherlich dort noch umgehen.
Seine Mutter wollte vor der Beerdigung nicht weiter über das Testament reden, wollte nicht diskutieren oder planen und sie wollte schon gar keine Entschuldigung. Sie hatte schon lange gewusst, dass Jan Hannahs Ein und Alles war und immer sein würde. Es war nur logisch, dass sie all ihren Besitz an ihn hatte gehen lassen. Aber eine Frage wollte Jan sich und seiner Mutter nicht ersparen. Sie begann ihn fast sofort zu quälen und musste raus. "Hätte sie nach dem Wissen über Kai und mich auch so entschieden?"
Sie zuckte mit den Achseln, starrte in das nur noch glimmende Feuer und hob die Schultern noch einmal, in einer eher fröstelnd wirkenden Geste. "Nein. Ich glaube, dass sie nicht alles so entschieden hätte, Jan." Ein Geständnis, das ihm ein schlechtes Gewissen machte, auch wenn er dankbar war, weil seine Mutter ihre Ehrlichkeit bewahrte.
"Ich hätte es ihr früher sagen sollen."
"Ach. Und was ist mit uns?"
Die Spitze saß und war berechtigt, dennoch verteidigte Jan sich vehement mit seiner Unsicherheit, mit den vielen offenen Fragen, die weder er noch Kai beantworten konnten. Eins wurde ihm jedoch klar, seine Mutter hatte überhaupt keine Lust, sich seinen Fragen auch nur annähernd zu widmen. Sie wies ihn mit ungewohnt heftigen Worten ab und zog sich in ihr Schlafzimmer zurück.
Als die Tür geschlossen wurde, bemerkte er erst so richtig, dass sie mit Sicherheit noch trauriger und schockierter war, als er es sein konnte. Auch wenn er sich nicht sicher war, warum er nicht das gleiche Recht auf Trauer haben sollte wie seine Mutter, gestand er ihr den gefühlsmäßigen Vorsprung streitlos zu und legte sich ins Bett, starrte auf den Grünspecht auf seinem Rollo und versuchte sich so unbesorgt zu fühlen wie im letzten Sommer, vor Kai, vor Bianca, bevor sein Leben eine Achterbahn geworden war, in der er offensichtlich zu schnell fuhr, um aussteigen zu können.
Am nächsten Morgen ging der Stress in der Familie weiter. Es begann mit einem stummen Frühstück von drei Personen in drei verschiedenen Räumen. Jan in der Küche am Tisch, den er für seine Eltern gedeckt hatte. Vor seinem und zwei weiteren leeren Tellern sitzend dachte er über seine Pläne nach, wie sie sich innerhalb von nur einem Tag geändert hatten, und wie er sie Kai würde verkaufen können.
Sein Vater war schon im Krankenhaus, in das er sich geflüchtet hatte, seine Mutter trank im Arbeitszimmer seines Vaters Kaffee und blieb den Vormittag über am Telefon mit Freunden und entfernten Verwandten. Noch nie hatte Jan sich durch seine Eltern enttäuscht gefühlt, aber mit einem Mal kam er sich alleingelassen vor.
Er hatte es ihnen gesagt, er hatte ihnen alles gesagt, um offen sein zu können und nun liefen sie weg und versteckten sich. Seine Mutter, weil sie keine wissenschaftliche Lösung finden konnte für das Problem schwuler Sohn, sein Vater... vielleicht weil er keine beeindruckend beruhigende Rede halten konnte, weil es nichts zu heilen gab an Jans Zustand. Vielleicht auch, weil es ihm egal war. Das vermutete Jan mit einem Hauch Bewunderung für die stoische Gelassenheit seines Erzeugers.
Anita kam gegen zehn Uhr ins Haus, trug schwarze und graue Kleidung und eine sauertöpfische Miene zur Schau, die Jan dermaßen reizte, dass er sich auf die Fingerknöchel biss, um ihr nicht noch peinliche, pubertäre Kommentare anzutun, für die er eigentlich zu alt sein müsste.
Kurz nach Anita kam eine Dame in grauem Kostüm von dem Beerdigungsinstitut, bei dem Hannah ihre persönlichen Wünsche bereits angegeben und auch schon bezahlt hatte, wie sich herausstellte. Eine Einäscherung im kleinen Kreis, Beisetzung mit einem schwarzen Stein, in dem lediglich der Vorname stehen sollte. Nur Hannah, kein Datum, kein Nachname und erst recht keine Sprüche.
Jans Mutter kritisierte zwar, dass solch ein Stein sich wie der eines Haustiers ausnehmen würde, aber unterschrieb dennoch die Anforderungen dafür, offensichtlich hatte Hannah sogar noch im toten Zustand die Macht, ihren Kopf durchzusetzen. Die Dame legte Mutter einige verschiedene Trauerkarten vor, aus denen sie wählen konnte. Es war keine schwere Wahl, Hannah hatte auch bei diesem Detail eine Meinung gehabt.
Müde rieb Jans Mutter sich schließlich die Augen. "Kein Silber, auf gar keinen Fall Gold, keine Palmblätter, keine Bibeltexte, nichts Hebräisches, nichts Jüdisches und am besten kein... gar nichts! Verdammt, Mutter! Starr und schwierig auch jetzt noch!" Sie raufte sich die Haare ein wenig und Jan musste lachen, obwohl ihm den ganzen Tag zum Weinen zumute gewesen war.
"Es bleibt nur noch dieses hier übrig, nicht wahr?" Er zog eine cremefarbene Karte mit schwarzer, geschwungener Schrift heraus, deren einziger Zierrat ein ebenso schwarzer Rand war. Im Innern fand sich cremefarbene Schrift auf matt schwarzem Grund und wirkte verdammt edel und teuer. "Weißt du, eigentlich sollte der Rand rot sein, Hannah hat Rot am liebsten gemocht. Wie ihr Lippenstift."
Seine Mutter überraschte ihn damit, dass sie ihn fest umarmte und an sich drückte, die ebenfalls überraschte Dame vom Bestattungsinstitut sah taktvoll fort. Es reizte Jan und brachte ihn dazu zu verlangen "Lass uns rot nehmen! Für Hannah, lass uns alles in Rot nehmen!"
Seine Mutter lachte und nickte leicht "Das hätte ihr gefallen. Nicht im Februar, sondern im August, nicht in schwarz und grau, sondern in leuchtendem Rot, in Orange, in allen Farben des..." Sie stockte und sah ihn an. "... des Regenbogens", endete sie dann und ließ ihn los. "Wir werden die Blumen so farbenfroh und so reichlich wie möglich wählen, mein Junge, das verspreche ich."
Und sie hielt ihr Wort. Das Grab war ein buntes Paradies, einige kleinere Gestecke mit zurückhaltenden Schleifen vom Friseur, vom Hausarzt und dem Reformhaus, wo Hannah bekannt war, stachen gegen die Bouquets der zahlreichen Freunde von ihr, die alle offensichtlich von ihrem Wunsch, in Pracht ihren Abschied zu nehmen, gewusst hatten, durch Trübsinn regelrecht hervor.
Auch im Gasthaus zum 'Alten Hirschen', in dem Jan schon seine Taufe, seine Brit Mila, die Beschneidungsfeier, missglückt wie sie damals war und den Tanzkurs erlebt hatte, wie auch einige Beerdigungen von alten Kollegen seines Vaters, ging es fröhlicher zu, als er gedacht hatte. Mit einem Mal, als er die Tafel entlang blickte, den Stimmen lauschte und dem vereinzelt aufkommenden Lachen, begann Jan einen zuvor nie da gewesenen Stolz zu fühlen. Dafür, dass er Hannah hatte kennen dürfen, dafür, dass er ihre Liebe für sich beanspruchen durfte, ihre Geduld, ihr Wissen und ihren Kampfgeist.
In Gedanken entschuldigte er sich einige Male bei ihr, weil er so spät vertraut hatte. Seine Konflikte hätte er gleich mit ihr bereden müssen. Sie hätte seinen Kopf grade gerückt, aber hätte ihm auch Schützenhilfe geleistet.
Jan streifte seine Eltern, beide genau wie er in sehr teurer, schwarzer Kleidung, mit einem Blick. Sie redeten gerade mit seinen Großeltern von väterlicher Seite, wie er so schön sagte. Diese beiden waren so gewöhnliche Großeltern, wie Hannah eine ungewöhnliche Großmutter gewesen war.
Oma Gerda und Opa Otto, beide grauhaarig, altmodisch angezogen. Sie sprachen nur Platt, die Sorte altbekanntes Platt, das sich an die modernen Zeiten gewöhnt hatte, sodass ein eingestreutes 'Computer, Weltraumfahrt oder Waffenstillstandsgesetz' dem derben Charme keinen Abbruch tat.
Oma Gerda trug seit einiger Zeit diese schrecklichen Stützstrumpfhosen und flache Schuhe mit Einlegesohlen. Der Opa hatte Hosenträger an der Hose, die ihm vermutlich auch so nie über den tüchtigen Bauch gerutscht wäre. Sie tätschelten einander hin und wieder die Hand und wiesen sich auf Blutdruck und Zucker hin, wenn es um das Essen und Trinken ging.
Die beiden hatten ihn lieb, das wusste er. Sie würden ihn immer lieb haben, da war er sich sicher. Aber sie würden es nicht verstehen. Genau wie sie nie verstanden hatten, dass ihr älterer Sohn den Hof nicht übernehmen wollte, sondern Herzchirurg geworden war. Es wäre Energieverschwendung, mit ihnen zu reden, sie aufzuwecken aus ihrer kleinen Welt, mehr nicht.
Mit einem Mal, als Oma Gerda ihn zu sich winkte, ihm einen Geldschein zusteckte und der Opa ihm eine Spur zu kräftig auf die Schulter klopfte, wurde Jan bewusst, dass es immer ein Kampf sein würde, den er nicht gewinnen konnte. Seine Hoffnung, dass er nur fest glauben und ehrlich sein müsste, um von allen verstanden zu werden, zerbröselte an dem Stolz seiner Großeltern und dem warnenden Blick seines Vaters, der seine Eltern vor Jans sturem Kopf schützen wollte.
Noch während er den unvermeidlichen Butterkuchen in sich hinein stopfte bis ihm übel wurde, schwor er sich zudem, dass er nie wieder lügen würde, was seine Situation anging. Nie wollte er es sich von diesem Tag an leicht machen, wenn es darum ging, zu Kai zu stehen, wenn es darum ging, ihn und ihre Gefühle zu verteidigen.
Es tat jetzt schon weh, wenn er an all die geschmacklosen Witze und Sprüche zurück dachte, die seine Freunde vom Fußball und aus der Uni doch immer wieder gern machten. Er hatte nicht darüber gelacht in der letzten Zeit, aber ihnen gesagt, dass sie die Schnauze halten sollten, hatte er auch nicht. Er hatte geschwiegen, einen Schluck Bier getrunken und kam sich nun damit vor, als hätte er gelogen, schlimmer noch... feige hintergangen. Nicht nur sich selber und Kai, nein, auch sie. Wie würden sie sich fühlen, wenn er sich outete und die Erinnerungen an all die Abende in ihren Köpfen zu geistern begannen, an denen sie nach Frauen gejagt hatten? An denen sie diese taktlosen, aber harmlosen Witze gemacht hatten.
Um halb Fünf am Abend nach der Beerdigung hielt er es nicht mehr aus. Längst waren die Feierlichkeiten in ihr Haus verlegt worden, wo nahe Anverwandte, die Geschwister seines Vaters vornehmlich und seine Großeltern, sowie noch zwei Freundinnen seiner Mutter miteinander redeten und Wein und Schnaps tranken.
Er musste einfach fliehen. Hastig ramschte er seine Toilettenartikel in die Sporttasche und ging so wie er war, in dem teuren schwarzen Anzug, mit weißem Hemd und den guten Schuhen, die er sonst nie trug, einfach von der Feier fort, von seinen Eltern. Er schrieb an der nächsten Kreuzung eine Nachricht auf das Handy seiner Mutter, dass er es nicht mehr ausgehalten hätte und tippte Kais Nummer ein, für den Fall, dass sie ihn erreichen wollten.
Nachwort
Ende Jans POV
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