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Trost 2
Kapitel 65-68
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 65
Der Samstag ertrank in aufgeregten Vorbereitungen für den Auftritt von Lolli und Carl. Benni hing dazwischen herum und schien zugleich nervös und deprimiert zu sein. Eine ätzende Mischung, die Kai dazu brachte, sich in seinem Zimmer zu verschanzen, obwohl er sich dort mit einem lernenden Jan konfrontiert sah. Jan, das musste Kai einmal wieder anerkennen, war deutlich intelligenter, als er immer zugab.
Nach außen hin war er ein schlichter Typ, der zwar über Fußball und Mädchen diskutieren konnte, sich zu fachlichen Diskussionen hingegen fast gänzlich bedeckt hielt. Wenn Kai seinen Freund jedoch abfragte und Jan wie in diesem Fall wirklich gelernt hatte, dann kamen nicht nur die knappen erwarteten Antworten, sondern auch trickreiche Rückfragen zu den Hintergründen.
Endlich verabschiedete Jan sich nach einem gemeinsamen Kaffeetrinken und einer Schmuserunde auf dem Bett inmitten der nach ihrer Sexaktion verbliebenen Klausurkopien, um im Wohnheim noch ein wenig zu lernen.
Kai hatte den Verdacht, dass er natürlich nicht mehr lernen würde, sondern gleich eine Telefonaktion beginnen wollte, um Leute zu sportlichen Aktionen zu überreden. Jan hatte für das Wochenende ohnehin einiges an Sport geplant, sodass Kai die Hoffnung hegte, mit dem Geständnis zu dem Thema Job bei Leon noch weiter warten zu können. Jedenfalls lange genug, um mit weniger erschütterbaren Argumenten aufwarten zu können.
Es war schon neun am Abend und Kai hatte gerade begonnen, einen Krimi zu schauen, als Lolli sich vollkommen verzweifelt in seinem Zimmer blicken ließ. Er blockierte das Bild mit seiner auftoupierten Frisur und redete wirr. Kurz zuvor hatte er lautstark am Telefon rumgekreischt, damit musste es zusammen hängen. "Kai! Du musst uns unbedingt helfen! Nein! Du musst uns retten!" Er untermalte dies mit flehenden Gesten.
Kai stand auf und schaltete seufzend den Fernseher aus. Er war schon im Schlafanzug und hatte sich so sehr auf die Ruhe nach all dem Gekicher und Gekreische und dem Gestank von süßem Parfüm und Haarspray in der Wohnung gefreut. Anerkennend musste Kai seinem Mitbewohner zugestehen, dass ein Teil des Wirbels sich gelohnt hatte. Lolli trug ein schwarzes, enges Kleid, das seine Beine in fast kompletter und nicht gerade verachtenswerter Länge zeigte. Dazu hatte er rote, hochhackige Schuhe an, auf denen er erstaunlich schnell auf und ab stöckelte und warf sich ungeduldig eine ebenso rote Federboa um den Hals. "Es ist ein Oberübernotfall, Mäuschen!"
"Ich weigere mich, euch...!" Kai hatte einen Schritt zurück getan und stieß an seinen Schreibtisch.
Carl quetschte sich ebenfalls durch die Tür und bekam die Federboa von Lolli ins Gesicht. Er nieste lautstark, dann schob er Lolli fort und schüttelte sich. Er trug das blaue Kleid vom Vortag und nestelte an einem Tuch, das er sich um den Kopf binden wollte. Eine schwarze, riesenhafte Sonnenbrille drehte sich nervös zwischen seinen dicken Fingern. "Lukas kann uns nicht fahren!" rief er und ließ sich pustend auf dem Bett nieder.
"Er ist krank oder so!" schrie Lolli schrill, einer Panik nahe, bei der Kai nicht in der ersten Reihe sitzen wollte. "Wir kommen zu spät!"
"Und was soll ich...?"
"Fahr du uns hin!" Das war im Chor gerufen.
Kai blinzelte. "Ich will da nicht mitfeiern, wenn lauter durchgeknallte Tucken mit Federboas rumwedeln!" keifte er zu erschrocken, um noch taktvoll sein zu können.
Lolli verdrehte die Augen und stürzte auf ihn zu. "Bitte, Kai. Ich tue alles was du willst, aber fahr uns hin!"
"Fahrt doch selber!"
Carl seufzte. "Geht nicht. Lolita, Benni und ich haben uns eben mit einigen Flaschen Prosecco und Kirschlikör Mut zugelegt und Hanno ist heute früh nach Haus, um seine Sachen bei den Eltern aus der Garage zu holen. Die haben doch angerufen."
"Welche Sachen? Wieso?"
"Er ist rausgeflogen dort. Sie haben angerufen, dass sie den Tag über auf einer Tiershow sind und er den Transporter von seinem Bruder für eine Woche leihen darf, wenn er seine Sachen fortgeschafft hat bis sie wieder da sind."
Kai fühlte eine kribbelnde Taubheit um seine Lippen. "Aber..." Ihm fiel keine intelligente Rückfrage ein, stattdessen sah er das Gesicht seines Vaters vor sich, verbissen schweigend, anklagend. Er nickte leicht.
"Sie wollen ihn nie wieder sehen." Carl senkte den Kopf. "Ich hab versucht mit ihnen zu reden, aber..."
"Aber darüber reden wir jetzt nicht! Mäuschen, bitte bitte bitte bitte bitte..." Wie ein Wecker wiederholte Lolli über die Schmerzgrenze hinaus nervend dieses eine Wort, bis Kai ihm wütend den Mund zuhielt und damit seinen Lipgloss verschmierte. "Okay! Ich fahre euch hin. Nur hin und ihr nehmt ein verdammtes Taxi zurück!"
Lolli zupfte den Rock weiter runter und wedelte an Kais Schlafanzug entlang. "Danke, aber... so? Hab ein Herz, Kaichen. Du musst dich auch nicht in einen Fummel werfen. Der schwarze Anzug, den ich dir gestern gezeigt hab, würde reichen."
Kai hatte das außerordentliche Glück, dass der Anzug ihm nicht passte. So trug er im Endeffekt seine beige Stoffhose und ein weißes Designerhemd von Lollis letztem Londonbesuch. Die Manschetten ließ er nicht zugeknöpft über die Hände fallen. Er prophezeite, dass er nach dem Auftritt von Lolli und Carl sofort wieder abfahren würde, damit er nicht vollkommen übernächtigt bei Leon auflaufen würde und sprach Jan rasch auf den AB, dass er mitgeschleift wurde.
Sie nahmen Carls Wagen und unter Lollis Bitten, dass er schneller fahren solle, die rote Ampel ignorieren, an dem Blumenladen mal kurz halten, damit sie den Preis roter Rosen in Erfahrung bringen konnten, den schlecht gekleideten, fetten Fahrradfahrer einfach umnieten und bei einem feschen jungen Polizisten bitte mal kurz eben nach dem Weg fragen, kämpfte Kai darum, nicht die Nerven zu verlieren.
Lolli war in Hochform, Benni hingegen auf einem neuen moralischen Tiefpunkt angekommen. Sein Blick erinnerte Kai spontan an stylische Horrorfilme und jagte ihm Schauer über. Benni hatte sich mit seinem Äußeren jedoch Mühe gegeben, wie Kai anerkennen musste, als er Lolli und ihn vor der Veranstaltungshalle aus dem Auto steigen ließ. Er war so dünn, dass die Schlaghosen zum weinroten engen Top, das seine natürlich gesunde Hautfarbe noch hervorhob, perfekt saßen. Seine Haare waren ins Gesicht gestrichen und mit wenig Gel betont. Er wirkte insgesamt wie ein Künstler, der gerade den großen Coup gelandet hatte.
Dieser Eindruck wies Lolli die Rolle des Groupies zu. Hätte es jedenfalls getan, wenn Lolli hinter Benni hergelaufen wäre, statt mit zu großen Schritten auf eine Gruppe Freunde, oder Freundinnen viel mehr, zuzustürzen, die ihm schon von weitem zuwinkten. Benni schlappte betont desinteressiert hinterher und aalte sich offensichtlich noch immer in seiner Depression, während er sich von Lolli vorstellen ließ.
Kai fuhr mit Carls moralischer Unterstützung zwei Runden über den mit Pfützen oder vielmehr Kratern übersäten Schotterplatz. Nach einigen Diskussionen und Versuchen parkte jemand auf der Straße gegenüber mit einem Kombi aus, sodass er mit dem Kleinwagen sofort den Platz blockierte. Auch hier musste er einige Male vor und zurück, damit nicht ein Ende schräg in die kleine Straße stach und wenigstens zwei Räder sicher auf dem Bordstein platziert waren.
Carl sprang aus dem Wagen, strich seinen Rock über dem Hintern glatt und reichte Kai galant in Verdrehung ihrer Rollen die Hand hinein, um ihn zu sich zu ziehen. "Kaichen, du fährst schlechter als meine Tante Hilda, und die ist 83 Jahre alt." Er nestelte an Kais Haaren, dann beugte er sich dichter und flüsterte "Sei ein Schatz und spiel ein wenig mit als meine Begleitung heute. Weil ich eigentlich immer ein schönes Boytoy mitbringe zu dieser Feier, gibt es eine gewisse Erwartungshaltung."
"Erwartungshaltung? Nur, wenn du mich nicht befummelst, klar?!" Giftig starrte Kai Carl an, dessen Finger in seinem Nacken zu liegen gekommen waren.
"In Ordnung." Carl strahlte ihn an und schmatzte ihn vor dem Eingang und somit den Augen der dort versammelten 'Harpyien vom Lästerverein sexuell enttäuschter Hausweiber', wie Carl sie nannte, auf die Wange.
Kai seufzte und ergab sich, als ihn gleich am Eingang die Schlager einzuhüllen begannen wie zäher Sirup. Der Eintritt war exorbitant teuer. Kai las: 'Ermäßigung nur für angefummelte Schwestern!' und seufzte, aber Carl lud Kai selbstverständlich ein. Die Musik, die Klamotten und das hemmungslose Gekicher der Leute um ihn her begann ihn einzulullen. Sein Ärger und Stress bei der Sache verschwand bald zu Gunsten einer fast gleichgültigen Amüsiertheit, wie bei einer flachen Komödie auf einem Sonntag Nachmittag genoss er die Show, ohne etwas davon zu erwarten. Und Show gab es reichlich.
Der Saal war richtig chic, mit Parkett und hohen Fenstern ringsum. Er war in T-Form aufgebaut, die kurzen Enden gleich neben dem Eingang beherbergten zur Rechten die Toiletten und die von einem noch immer schockierten kleinen, aber nicht unattraktiven Türken bewachte Garderobe, die schon vor Boas, Mänteln, Tüchern und süßem Parfümgeruch überquoll. Sein Schock schien aber vom reichlichen Trinkgeld zu stammen, jedenfalls stierte er den mit Münzen halb vollen Sektkühler mit leerem Blick an während er Carls Mantel und Lollis Boa zusammen auf einen Bügel schob. Lässig warf Carl ein Geldstück zu den anderen und flüsterte "Das gehört zum guten Ton, der Kleine in der Garderobe kriegt fast mehr als die Mädels am Tresen." Zur Linken befand sich die Bar, die ebenfalls überquoll, sodass Kai und Carl sich gleich dem Saal zuwandten.
Stilvolle Lichter mit Kristallschirmen hingen in einer geraden Reihe über der Tanzfläche und waren angenehm gedimmt. Quer dazu zogen sich Luftballonketten in Regenbogenfarben. Etliche Ballons hatten sich bereits gelöst, einige wurden über der Tanzfläche von dem einen oder anderen Schlag mit Handschuh oder Fächer lässig weiter befördert. Am Ende des Saals thronte die Bühne mit dem DJ und einer Diva, die sich auf die nächste Darbietung nach der Tanzeinlage vorbereitete.
Die Tanzfläche war voll. Überall wedelten behandschuhte Hände, mit reichlich Schmuck behängte Hälse wurden nach den Neuankömmlingen verdreht. Als er und Carl, Arm in Arm, wogegen Kai sich bei der Enge nicht hatte wehren können, an der Bühne ankamen, rauschte und raschelte das Flüstern der Meinungen hinter ihnen lauter als die See bei Windstärke sechs.
Carl war zufrieden. "Die Harpyien vom Lästerverein sexuell enttäuschter Hausweiber", zitierte er mit kleinem Daumenzeigen hinter sich, "haben es gefressen, mein Schatz. Du machst mich glücklich... jetzt gehe ich mal eben, dieses Glück weiter unter die Leute bringen." Er presste seine Lippen erneut neben Kais Ohr, um ihn taub zu schmatzen und grinste.
Kai wischte sich über die Wange und knurrte, als er dunkelroten Lippenstift mit Glitzereffekt an seinem Handballen sah. Wütend stakste er am niedlichen Türken vorbei zum Bad zurück, um sich eingehend davon zu befreien.
Im Hintergrund begann jemand ein Lied von Celine Dion nachzuwimmern. Erleichtert schloss Kai die Tür zum Waschraum hinter sich. Der Raum war schlicht und altmodisch. Grün gekachelte Wände, alte, abgeschabte Waschbecken. Davor lagen einige Schminkutensilien und eine leere Kondomschachtel auf dem Sims. Es war sich schon reichlich nachgeschminkt worden, auch wenn Kai aus dem nebenan gelegenen Damenklo eine Vielzahl kichernder Stimmen vernahm, die nahe legte, dass dort mehr Betrieb vor den Spiegeln herrschte.
Er zupfte sich ein wenig Klopapier von einer Rolle und wischte gerade seine Wange sauber, als ein dicker Mann mit Halbglatze in einem grünen, ausgestellten Ballkleid hereingetappt kam. Er trug eine blonde Perücke unter dem Arm und grinste Kai zu, bevor er einige Schminkutensilien am Spiegel verteilte. "Waren dir die Mädels nebenan auch zu wild?"
Kai nickte nur und warf das Papier weg. Er wollte gerade gehen, als der Mann ihn um Mithilfe mit dem Haarmonster bat. Dies ging über in eine Diskussion über Schlagermusik, was zu einem Monolog über diese Feier und die Kleider und die Stimmung führte, während sie ein gelöstes Netz im Inneren des Haarteils festzustecken versuchten. Kai musste anschließend helfen, die Perücke auf der Glatze wieder gerade zu rücken und war insgesamt fast froh, als draußen eine Stimme nach der Henriette rief. Der Typ verabschiedete sich unter reichlich Dank hastig, um seine Schicht an der Sekttheke zu übernehmen.
Ein wenig verstört überwand Kai den vollgestopften Saal, um zu Carl und Lolli zurückzukehren. Benni war nirgends zu sehen. Carl begrüßte ihn mit einer kleinen Flasche Cola und versprach "Ich gebe dir alles aus, was du willst. Und morgen massiere ich dir höchstpersönlich die Schultern und die Füße, okay?"
Kai war gerade dabei, seine Arme zu verschränken, um ihm die Meinung über dieses Verhalten und über Massagen an seinem Körper zu sagen, als eine der 'sexuell frustrierten Harpyien' sich näherte. Carl stieß Kai derart heftig in die Seite, dass er sich fast an der Cola verschluckt hätte. Dann lehnte sich Lollis dicker Freund förmlich in ihn hinein und flüsterte ihm ins Ohr. "Bitte bitte, ich tu alles, was du willst. Bitte sei nur für die nächste halbe Minute mein liebreizender Begleiter und Augenstern."
Kai drehte sich zu Carl und lächelte. "Aber mein Bärchen, du brauchst dir keine Sorgen zu machen", flötete er saccharinsüß. Erleichterung ließ Carl wieder aussehen wie den Mond aus Peterchens Mondfahrt, wenn auch deutlich betrunkener.
Die Harpyie hatte eine rote Perücke auf, stellte sich mit peinlichen Luftküssen als Andrea vor und fragte - bereits offensichtlich über eine leichtsinnige Fröhlichkeit hinaus betrunken - intime Details über das Sexualleben von Kai und Carl.
Spröde und leicht angeekelt gab Kai anscheinend die richtigen Antworten betreffend seiner Ansprüche im Bett, während Carl von sich aus nur grinsend genoss. Seine hellblauen Augen leuchteten, als die Harpyie ein 'Muss mal weiter Mädels' schnarrte und sich mit unstetem Schritt entfernte.
"Ich liebe dich, Maus!" Kai konnte sich des nächsten Lippenstiftabdrucks auf seinem Gesicht gerade noch erwehren. "Du bist so herrlich, so hübsch, so abweisend! Die sexuell frustrierten Harpyien werden noch Wochen lang was zu knabbern haben! Ja!" Er drückte Kai einmal an sich, dann rief er "Lass uns tanzen!" Er umfing Kais Hand mit solidem, unnachgiebigem Griff und schritt ohne weitere Nachfrage zur Tat und zugleich in Richtung Mitte der vollen Tanzfläche.
"Was? Spinnst du?!"
Carl flötete mit spitzem Mund. "Was soll es sein, Kai, tanzen oder hier auf die anderen Harpyien warten? Ich bin mir sicher, dass es zu der Dildodiskussion von eben noch ein paar Nachfragen geben könnte."
Hastig stellte Kai seine Colaflasche auf einem Stehtisch ab und folgte Carl, der alle naslang "Huhu, Saaabiiine.", "Meine Kirschkuchenliebste, hallöchen!", "Oh, du auch hier? Ist das Niveau etwa schon wieder so tief gesunken?" rief und Leuten winkte.
Kais Tanzschultage waren mit einem Mal erschreckend lange her und die unschönen Erinnerungen schon als solche vergangen. Zu seinem Glück tanzte Carl jedoch ausgezeichnet und übernahm nach einigen Anlaufschwierigkeiten die Führung. Kai war froh, dass er sich selber nicht sehen konnte. Hilflos im Arm einer blau gekleideten Tante zu Schlagern der schlimmsten Sorte gefangen, umzingelt von Angetrunkenen in einer Auswahl Kleider, die seine wildesten Fantasien, oder Albträume vielmehr, mühelos überstiegen.
Die Runde wurde nach zwei Liedern bereits unterbrochen, weil die nächste Showeinlage anstand. Die Moderatorin in opulentem Flamencokleid kündigte an, dass ein ganz mutiger junger Mann etwas zu sagen hätte.
Die Bühnenbeleuchtung umfing gleich darauf die schlanke Gestalt von Benni. Kai hob eine Hand an den Mund und Carl zischte aufgeregt. "Lolli... wo ist meine kleine Dicke?"
Suchend sahen sie sich um, aber konnten die aufgebauschten blonden Haare nirgends sehen. Die Menge schloss dichter auf, einige waren genervt, weil sie noch tanzen wollten, die anderen spornten Benni mit leisen Zurufen an.
Benni nahm das Mikrofon und starrte suchend durch die Menge. "Ich wollte das nur einer bestimmten Person sagen, aber jetzt kann ich ihn nirgends sehen. Was soll ich tun?"
"Süßer, wen suchst du denn?!"
"Bringt sie herbei, die glückliche Schwester!"
Gelächter erschallte, aber Benni schüttelte den Kopf und senkte den Blick auf seine Füße. "Ich... eigentlich hatte ich es mir immer ganz leicht vorgestellt." Er sprach leise, das Flüstern und Kichern erstarb. Kai drängelte sich durch die Menge weiter nach vorn durch und hörte, dass Carl ihm folgte.
"Ganz leicht hatte ich mir alles vorgestellt, wenn ich erst einmal von Liebe gesprochen habe. Ich hab immer gedacht, dass das der harte Teil ist, aber das war falsch... so falsch gedacht." Benni sog Luft ein und seufzte.
Die zustimmenden Reaktionen gingen über in verhaltenes Seufzen. "Ich wollte ihm eigentlich nur sagen, dass ich es verstehe und von nun an versuchen werde, nicht mehr in ihn verliebt zu sein." Er hob den Kopf und blickte mit leicht zusammengezogenen Augenbrauen und schmalen Augen über die Menge hinweg. Es ließ ihn wie einen sitzen gelassenen jungen Hund aussehen, der sich sorgte. Das Seufzen nahm weiter zu. "Aber... das ist so verdammt schwer!" Benni legte das Mikrofon auf das DJ-Pult und wischte sich über die Augen "Tut mir leid, ich geh mal besser."
Das kollektive "Awwww..." war fast schon zu spüren. Benni, da war Kai sich sicher, würde in diesem Zustand sicherlich nicht einmal einen halben Schritt weit kommen, ohne von einer kampfbereiten und gut ausgerüsteten Trösttunte angefallen zu werden.
Die Musik setzte wieder ein und auch Kai und Carl fielen Benni an. "Alles in Ordnung?"
Benni hob die Schultern. "Du hast ja gesagt, dass ich mal was aus den Sprüchen machen soll. Aber..." Er führte eine hilflose Geste in Richtung des Saals aus. "Er ist nicht mal hier, es ist ihm egal." Er ließ den Kopf hängen und wurde von einigen Gästen unter besänftigendem Murmeln in Richtung der Sektbar abgeführt.
Kai und Carl blickten ihm hinterher und Carl hob die Schultern. "Liebeskummer."
Kai nickte. "Nicht heilbare Sorte."
"Sagst du als zukünftiger Arzt, hm?"
"Sag ich als erfahrener Liebeskummerhaber."
"Du? Wegen Jan, hm? Ich erinnere mich. Ihr zwei seid wirklich wie Zündholz und 'ne Kiste Dynamit. Jeder Funken zwischen euch bringt auch immer gleich 'nen ordentlichen Knall. Das ist nix für mich, mein Mäuschen. Ich mag meinen Sex und mein Ver- und Entlieben wie meine Mahlzeiten. Schön geregelt und in Portionen, die ich verdauen kann." Nach dieser Weisheit nickte Carl einmal und hakte Kai unternehmungslustig unter. "Komm, mein Liebchen, wir finden Lolita. Die muss eh bald mit mir auf die Bühne und singen."
Lolli war an der Garderobe und half dem kleinen Türken dabei, sein Trinkgeld zu zählen. Sie sahen einander in die Augen und flüsterten, während sie sich einige Geldstücke zuschoben. Kai verdrehte die Augen und Carl betupfte sich die Stirn, denn an dieser Stelle war Lolli bestens für Benni und seine Fangemeinde zu sehen.
"Das bedeutet, dass Lolli sich sehr bald in vorwurfsvollen Telefongesprächen nur so baden können wird. 'Wie kannst du nur?' 'Unsensibler geht's nicht mehr!' und so weiter."
Kai verschränkte die Arme und protestierte auch im eigenen Sinne. "Wenn man angeschmachtet wird, aber kein Interesse hat, dann ist es nun mal so. Wer auch immer da schmachtet, muss mal 'nen Punkt machen und sich wen anderes suchen."
Carl lehnte sich dichter zu Kai. "Benni und Lolli, die zwei gehen schon weit zurück. Benni war Lollis erstes Mal und umgekehrt, die beiden haben schon einiges erlebt miteinander."
"Echt? Ich dachte immer, dass sie nur Freunde..."
"Sind sie ja auch. Sie haben sich immer geschworen, dass der Sex nicht mit Liebe vermischt wird und sie Freunde bleiben."
Lolli bemerkte sie und grinste schuldbewusst. Rasch trat er einen Schritt vom Garderobenwächter zurück und winkte ihnen zu. "Huhu, Carla! Sind wir schon drahaan?"
Carl nickte leicht. "Sind wir, komm schon. Lass uns nochmal nach dem Make-up sehen, meine Süße." Untergehakt verschwanden sie in den Toiletten, Kai blieb allein stehen und blickte den Garderobenmann unsicher an. Dieser hob mit einem kleinen Lächeln die Schultern.
Kai beschloss, dass er den Auftritt von Lolita und Tante Carla noch miterleben musste, bevor er sich dann verabschieden konnte. Die beiden gingen zunächst zusammen zu Benni hin, was Kai nicht erwartet hatte. Doch es stellte sich heraus, dass ihr Auftritt zu dritt geplant gewesen war und nach einigen Umarmungen und Sekt war es ihnen offensichtlich auch möglich, ihren Plan noch zu verwirklichen.
Lolli wirkte aufgedreht, Carl besorgt und Benni schien erneut im finsteren Modus zu sein, ein wenig wie auf Autopilot in die Düsternis unterwegs. Kai folgte den Dreien mit dem unangenehmen Gefühl, dass es peinlich werden konnte, sehr sehr peinlich.
Er sollte absolut kein Recht behalten mit seinen Vorahnungen. Die Flamencodiva kündigte sie an. Der DJ nahm eine CD entgegen und die drei sangen eine kleine Zusammenstellung an Liedern, in der für jeden ein Stückchen Solo enthalten war. Die Lieder waren sehr geschickt auf die Phasen der Liebe abgestimmt. Benni hatte eine recht angenehme Stimme, dunkel und weich. Sein Solo war passenderweise düster und melancholisch auf Französisch. Lolli konnte natürlich nicht wirklich singen, dies tat er aber umso überzeugender mit seinem 'Ich weiß nicht zu wem ich gehöre'. Carl riss das ganze mit einem vollen und voller Begeisterung geschmetterten 'Hätt ich dich heut erwartet' wieder heraus.
Alles in allem war Kai sogar froh, dass er diese Show gesehen hatte und klatschte sich die Hände taub wie alle anderen, als die drei Künstler mit Knicksen und Verbeugungen von der Bühne wieder abtraten. Zudem musste er im Nachhinein zugeben, dass er alle Lieder und auch die Proben schon mitbekommen hatte. Offensichtlich war also nicht aller Lärm aus Lollis Zimmer umsonst gewesen.
Kapitel 66
Kai war zwar knapp vor Mitternacht im Bett gewesen, aber natürlich gegen fünf noch einmal von Gekicher, Geraschel und einigen anderen sicherlich unnötigen Geräuschen geweckt worden, sodass der Wecker ihn doch ein wenig störte, obwohl er auf elf Uhr stand.
Nach dem Auftritt seiner drei Freunde war er nicht mehr lange geblieben. Die Stimmung zwischen Lolli und Benni war ihm zu anstrengend geworden. Benni, mit einem Gesicht Marke 'Zweimal-getretener-Hund an Sojasoße' verdarb einfach jede Freude. Vor allen Dingen beim nüchternen Kai. Lollis an Hysterie grenzende Lustigkeit hingegen hatte ihn genervt und auch nicht mitreißen können.
Im Bad stolperte er am Morgen dann über Perücken und ein glitzerndes Kleid. Das Waschbecken war noch immer ein Schlachtfeld in hellem Lila mit schwarzen Tupfen. In der Küche standen Kaffeebecher herum und der ungeleerte Aschenbecher aus Lollis Zimmer. Angeekelt verzichtete Kai auf das Frühstück und nahm sich nur eine Tasse mit in der Mikrowelle aufgewärmtem Milchkaffee. Er versuchte Jan zu erreichen, aber konnte nicht einmal eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen, der offensichtlich übergelaufen war.
'Naja. Nachdem er mich geküsst hat, haben sicherlich einige Leute bei ihm angerufen, um sicher zu gehen, dass er nicht nur auf Show gemacht hat.' Kai blinzelte und stellte den Becher ein wenig zu hart auf dem Tisch ab. Langsam ließ er sich auf den Stuhl sinken. 'Jan hat mich vor allen Leuten geküsst. Oh. Mein. Gott.' Verspätet wurde Kai klar, was das für das nächste Semester heißen würde. Alle wussten es. Wussten es wirklich. Jan hatte nicht nur sich selber, sondern auch ihn geoutet. 'Der rücksichtslose Hund!'
Zu seinem Glück musste er bald zur Arbeit. Die Nervosität und Unsicherheit deswegen verdrängte seine Nervosität im Hinblick auf das nächste Semester sehr gut. Er sollte die ruhige Nachmittagsschicht mit Henrike zur Einarbeitung nutzen, wenn nicht mehr gefrühstückt wurde, aber die Cocktailzeit auch noch nicht angebrochen war. Angespannt kletterte er aus dem Bus, der um die Ecke hielt und war noch eine Viertelstunde zu früh dran.
Es nieselte und seine Haare lockten sich im Nacken schon wieder. Grummelig ging Kai deswegen zügig in das LPP hinein. Die Tische waren kaum belegt, im Loungebereich saß eine Gruppe Mädchen bei Latte Macchiato. Sie kicherten und knipsten sich und alles mit Wegwerfkameras und ihren Handys. Am Tresen stand die kleine Kellnerin mit dem Nasenring und winkte Kai zu. "Hey! Leon hat schon gesagt, dass du hier anfangen willst, finde ich ja toll!"
Kai kam das reichlich enthusiastisch vor, aber Henrike stellte sich als quirlige Dauerbegeisterung heraus. Sie überreichte Kai ein schwarzes T-Shirt mit halblangem Arm und dem schimmernden Aufdruck LPP. "Zieh das mal im Bad drüben über. Dann passt du gleich ins Team. Wir wechseln die Farben so, dass wir alle gleich aussehen. Lass die Shirts also lieber hier im Spind, wenn du dann einen hast."
Nachdem Kai das T-Shirt übergezogen und festgestellt hatte, dass es ziemlich eng saß, aber auch nicht übel an ihm aussah, ließ er einige Jubelrufe von Henrike über sich ergehen, die danach zum Glück recht fachmännisch und nüchtern begann, ihm die Kaffeemaschinen zu erklären.
An sich war die Arbeit nicht schwierig. Der Ablauf wurde Kai schnell klar. Nur die Cocktails würde er lernen müssen. Die Musik im Laden gefiel ihm, die Kunden waren interessant zu beobachten und Henrikes Begeisterung steckte auch wider Willen schnell an. Er durfte sich von den Getränken jederzeit nehmen, aber erhielt von Henrike den eher indezenten Hinweis, dass Leon allergisch reagierte, wenn seine Angestellten Freunde freihielten oder Alkohol tranken.
Leon kam gerade durch die Hintertür, als Kai den Koch in der Spätschicht kennenlernte, der sich um die überteuerten Snacks und Sandwiches kümmern sollte. Die Präsenz seines neuen Chefs überbrückte mühelos den mittlerweile gut gefüllten Raum voller kichernder Mädchen, müder Besucher des nahen Museumsviertels und schüchterner Studenten, die sich seit Stunden an ihrem einen Kaffee festklammerten.
Leon trug ein weißes Hemd und sah im nieselgrauen Tageslicht noch gesünder und energiegeladener aus, als bei ihrer letzten Begegnung. Er nickte Henrike und dem Koch zu und winkte Kai mit einer knappen Handbewegung, ihm in das Büro zu folgen.
Unsicher erklomm Kai die wenigen Stufen in den hinteren Loungebereich und schloss die beiden gepolsterten Türen hinter sich, was die Musik schlagartig aussperrte. Leon hatte zwei PCs auf dem geschwungenen Schreibtisch stehen und schaltete einen im Vorbeigehen an. "Hinten in der Küche sind Schließfächer, hier hast du schon mal einen Schlüssel für den freien Spind. Schließ alle deine Sachen ein, hier ist leider schon was weg gekommen." Leon zog zwei Schubladen auf und schob Kai einen Vertrag und den kleinen Schlüssel rüber. "Den Vertrag musst du nicht gleich unterschreiben, aber ich hab ihn dir gestern schon mal fertig gemacht. Dein Stundenlohn steht drin und ein paar Feinheiten, die uns davor bewahren, Krankenkasse und so weiter für dich zu zahlen." Er ließ sich in seinem Ledersessel nieder und seufzte. "Und? Gefällt es dir soweit?"
Kai nickte und hockte sich auf die Kante des Stuhls, der ihm gewiesen worden war. Mit Blick auf den Vertrag meinte er unsicher "Es hat mir schon als Gast gut gefallen."
"Du solltest dir eine Karte mitnehmen und diese Cocktailschule. Es ist zwar erst später geplant, dass du auch abends arbeitest, aber es könnte nicht schaden, wenn du für die paar Bestellungen am Nachmittag auch gerüstet bist." Ein rascher Blick, ein wenig taxierend. "Dein Freund..."
Kai hob den Kopf und fragte nach einer zu langen Pause "Was ist mit ihm?"
"Wie heißt er noch gleich?" Leon tippte schnell und konzentriert, dann streifte er Kai mit kurzem Blick.
"Jan."
"Und weiter?"
Es begann sich wie ein Verhör anzufühlen. Kai zog den Vertrag und den Spindschlüssel dichter zur Tischkante heran. "Bawenhop."
"Hm." Leon nickte einmal, dann seufzte er. "Es wäre mir lieber, wenn er dich nicht zu oft besucht, okay? Ich... sage es dir mal ganz direkt. Ich stell dich natürlich nicht nur ein, weil ich Lukas ärgern möchte, oder weil ich Samariter bin und du einen Job brauchst." Leon hob eine Hand elegant umschreibend, die andere legte er auf die Maus, um etwas anzuklicken. "Ich stell dich ein, weil du mit deinem Engelsgesicht sicherlich den einen oder anderen verführen wirst, Stammkunde zu werden. Gerade die Künstler vom Museumseck und die reichlichen Designstudenten kommen hier oft vorbei, und die lieben schöne Dinge. Wäre nicht so gut für das Geschäft, wenn du verheiratet erscheinst."
'Schöne Dinge?!' Kai war sich nicht sicher, ob er vor Ärger oder vor Scham rot werden sollte. Er kam sich mit einem Mal vor wie ein etwas zu teuer geratener Gegenstand. "Ich..."
Leon hob erneut seine Hand, dieses Mal abwehrend. "Sieh das nicht falsch. Du sollst nicht mit den Kunden flirten oder so. Gott bewahre! Ich erwarte von dir, dass du genau so bleibst wie du bist. Abweisend und kühl, unpersönlich. Gerade das macht den Reiz aus an deinem schönen Gesicht. Etwas, das man nicht wird haben können..." Er lächelte knapp und wissend, seine Augen schweiften rasch zum Bildschirm, dann zurück zu ihm.
Es war schlimmer, dass Leon den Satz offen ließ. Doch er gab Kai keine weitere Gelegenheit, sich zu Wort zu melden, sondern meinte im Aufstehen "Wenn du willst, kannst du noch bleiben. Hilf den beiden von der späten Schicht ein wenig und lass dir die Cocktails zeigen. Das Shirt passt dir, ich bringe dir noch einen Stapel in der Größe mit."
Kai blieb tatsächlich noch. Die beiden Mädchen von der späteren Schicht stellten sich als sehr gut aussehend heraus. Offensichtlich stellte Leon bewusst für den Geschmack der Kunden nicht nur die Getränke parat. Die Cocktails gefielen Kai. Die fantasievollen Namen, die verschiedenen Alkoholika und die Art, in der Leon das ganze angerichtet haben wollte. Die Gläser waren festgelegt, die Dekoration war fest vorgeschrieben. Schließlich verabschiedete er sich am Abend, weil er noch mit Jan reden musste.
Mit schweren, schmerzenden Füßen und vom Spülwasser aufgeweichten Händen kletterte Kai müde, aber zugleich aufgedreht aus dem Bus. Leon hatte ihm vorgeschlagen, dass er die Woche über täglich zur Mittagszeit für den Nachmittag kommen sollte, um möglichst schnell eingearbeitet zu sein, sodass er die Abende mit deutlich mehr Kunden auch schaffen konnte.
An Kais Zimmertür klebten schon drei Post-it-Zettelchen in Herzform. Lollis geschwungene Sauklaue teilte ihm auf einem mit, dass Jan angerufen habe und Rückruf auf dem Handy erbitten würde. Der zweite Anrufzettel war von Carl ausgefüllt, die ordentliche Druckschrift teilte Kai mit, dass er dringend bei Pascal zurückrufen sollte und der dritte Zettel sagte ihm, dass Tini angerufen habe, aber es einfach noch einmal später versuchen wollte.
Seufzend streifte Kai seine Turnschuhe ab und nahm sich das Telefon, um sich Jans Meinung zu seinem neuen Job zu stellen. Im Wohnheimzimmer erreichte er ihn nicht, ans Handy ging Jan nicht ran. Ein weiterer Aufschub. Seufzend machte Kai sich gerade daran, Pascal zurückzurufen, als Carl fröhlich grinsend durch die Tür sah. "Na? Wie ist der Job?"
"Du bist noch hier? Musst du morgen nicht arbeiten?" Kai warf das Telefon neben sich und ließ sich auf das Bett fallen.
"Meine Kollegin und ich haben so einen Deal, jeder hat abwechselnd ein langes Wochenende, der jeweils andere macht Samstag und Montag. Das ist sehr entspannend, finde ich." Carl schmuggelte sich zu Kai und blickte auf die Herzchenzettel. "Das war sehr nett von dir gestern, Kai." Seine Stimme strahlte eine Wärme aus, die es Kai mit einem Mal mehr als verständlich machte, dass ein so attraktiver Typ wie Hanno auf ihn stehen konnte.
Anstelle zu antworten gähnte er und gestand "Der Job ist ziemlich anstrengend. Leon ist echt krass."
"Hm. Er ist der neue von Lukas' Ex."
Gereizt hob Kai den Kopf. "Und? Außerdem. So 'neu' ist die Sache ja nun auch nicht mehr."
"Er hat Lukas – wir reden von Lukas – einen Mann ausgespannt, nimm dich also in Acht vor ihm. Ich hab so ein Gefühl, dass er gefährlich sein könnte."
"Er ist mein Arbeitgeber und fertig!" Kai warf sich wieder zurück auf das Bett und murmelte leise "Aber er hat mir einfach so gesagt, dass er mich wegen meines 'schönen Gesichts' eingestellt hat. Weil ich ein 'schönes Ding' bin."
Lolli kicherte von der Tür aus. "Aha? Soll ich dir gleich noch die Wimpern färben, Maus? Bist aber auch wirklich ein verdammt schönes Dingelchen."
Kai rollte sich herum und knurrte leise. "Ich will erst mal wissen, was mit Jan los ist. Wo steckt der denn schon wieder?" Genervt tippte er mit dem Daumen die altbekannten Zahlen. Noch nölig wie er war sprach er eine sehr knappe Vermisstenmeldung auf Jans Handymailbox auf und warf Lolli das Telefon dann zu. "Was hat Lukas denn für eine Ausrede gehabt, dass er euch nicht fahren konnte gestern? Ist ihm klar, dass das kostet?"
Kai wollte eigentlich genervt sein, aber fuhr erschrocken herum, als Lolli unpassend fröhlich rief "Das ist ja, was ich dir grad erzählen wollte! Lukas konnte nicht, weil er im Krankenhaus war. "
"Ist was passiert? Ein Unfall?"
Lolli lachte. "Nee. Aber das Alter! Ich könnt mich schlapp lachen, wenn es nicht so blöde wäre. Er hat sich den Rücken verhoben mit der Waschmaschine vom Umzug neulich!"
Kai grinste. "Und da geht er gleich ins Krankenhaus?"
"Die Hexe hat ihn wohl tüchtig geschossen. Er hat am Telefon nur gesagt, dass er das nicht mal Leon oder Jan wünschen würde, und das sagt schon was. Willste morgen mitkommen, ihn besuchen?"
Kai seufzte. "Ich kann nicht. Ich arbeite ab Mittag. Sagt ihm doch, dass ich danach vorbei komme. Wo liegt er denn?" Im Geiste ging er die Blumen durch, die man einem Mann unbeschadet mitbringen konnte.
Lolli unterbrach ihn. "Er ist schon wieder Zuhaus. Er war nur heute noch dort, weil sie röntgen wollten, oder ihn in die Röhre schieben oder so."
"Ah. Na gut, dann besuche ich ihn morgen nach der Arbeit. Auch gut." Sein Handy düdelte und Kai hechtete hin, aber es war nur Tini, die schnell mal vorbeikommen wollte.
Nölig verschob Kai das Gespräch mit ihr auf den nächsten Tag und schlug ihr vor, doch bei der Arbeit vorbei zu kommen. "Ich kann sicherlich mal ein paar Minuten Pause machen."
Tini druckste ein kleines Weilchen herum, dann rückte sie mit der ohnehin schon alten Information, dass sie nun mit Holger zusammen wäre heraus.
Kai blinzelte uninteressiert. "Und? Das war doch klar, oder?"
"Naja. So klar war mir das nicht. Ich... hab da mal ne Frage, ist ein wenig... persönlich." Ihre Stimme klang gedämpft.
"Dann komm halt zum Schichtende vorbei. Ich arbeite von zwölf bis sechs etwa." Genervt angelte Kai mit der freien Hand nach seiner Fernsehfernbedienung. Er wollte sich dringend ein wenig verblöden, um Leons Sprüche vergessen zu können.
Tini zischte leise, dann meinte sie in einem betont alltäglichen Tonfall. "In Ordnung, dann komm ich dich morgen besuchen!" Im Hintergrund vernahm Kai Holgers Brummeln und grinste während er auflegte. Offensichtlich wollte Tini was hinter Holgers Rücken in Erfahrung bringen.
Das Telefon weckte Kai aus einer ohnehin eigentlich nicht mit dem Leben zu vereinenden Position, halb im Schneidersitz auf eine Hand aufgestützt eingeschlafen. Nicht nur sein Bewusstsein hatte geschlafen, seine Beine stachen bei der kleinsten Bewegung fürchterlich und sein Handgelenk schmerzte. Außerdem, wie er angeekelt feststellen musste, hatte er gesabbert.
Am Apparat war Jan und es war gerade einmal zehn Uhr. "Hallo, Baby! Endlich erreiche ich dich mal."
Kai unterdrückte ein Stöhnen und wischte seine Hand am Hosenbein ab. "Wieso endlich du mich? Ich hab nonstop hinter dir hertelefoniert!" Er blinzelte und veranstaltete ein ausgiebiges down-tuning seiner Zickigkeit, als ihm einfiel, dass er Jan noch die Sache mit dem Job zu beichten hatte.
Doch Jan kam ihm zuvor. "Du hast also doch mit dem Kellnerjob angefangen? Wolltest du deswegen mit mir reden?"
Kai wunderte sich, dass keinerlei Spannung in Jans Stimme lag. "Ja. Schlimm?"
Jan lachte leise und erzählte, welcher seiner vielen Freunde und Bekannten Kai in der LPP gesehen hatte. "Werden wir ja sehen. Ich bin nicht so begeistert, aber vielleicht ist es wirklich ein besserer Job als das Altenheim." Es war verwunderlich, dass Jan es so locker sah. Andererseits fühlte Kai sich gleich im Nachhinein bespitzelt, weil Jan offenbar von einigen Leuten gehört hatte, was Kai so mit wem im LPP gemacht hatte.
Sie unterhielten sich noch kurz über die Möglichkeiten, zwei Jobs, das Studium und eine Beziehung nebeneinander her zu fahren, dann wechselte Jan abrupt das Thema. "Hör mal. Meine Eltern fahren für 'ne Woche ins Ferienhaus und ich passe solange hier auf. Ich fahre gleich morgen früh los, wenn ich die Nachklausuren hinter mich gebracht hab. Nur dass du dich nicht wunderst, okay?"
'Ah.Ha!' Zufrieden dachte Kai bei sich, dass Jans schlechtes Gewissen sicherlich zu seinem Nutzen ausbaufähig sein würde. Rasch schmollte er ein wenig und schlug eine Einladung zum Ferienhaus für sich heraus.
Das Ganze half ihm jedoch nicht bei den Fußschmerzen am nächsten Abend. Er mochte den Job trotzdem und hatte schon festgestellt, wie überaus befriedigend das Trinkgeld war. Eine direkte, objektiv messbare Mitteilung über den Wert, den jemand einem zuordnete. In Kais Fall, wie seine Kollegen nicht ohne Neid zugestanden, ein nicht gerade geringer Wert.
Kai mochte es auch, wie er in dem engen T-Shirt aussah und dass er sich im Spiegel hinter den Glasvitrinen hier und dort ein wenig sehen konnte und in dem orangeroten Licht deutlich weniger bleich und übermüdet wirkte. Ein wenig verärgert erinnerte er sich erst dann daran, dass Tini vorbeikommen wollte, als sie dies nicht tat, sondern ihm eine Nachricht auf das Handy schickte, dass sie das Gespräch verschieben mussten.
Leider hatte Kais Müdigkeit, die just genau in dem Augenblick einsetzte, als er zur Bushaltestelle schlappte, zur Folge, dass er nicht im Mindesten Lust hatte, durch den grau-in-grauen Abend zu Lukas raus zu fahren, auch wenn er wiederum versprochen hatte, den Bus gleich durch zu nehmen, um seinen Exfreund zu besuchen.
Jan hatte diesen Plan mit einem aggressiven Schweigen kommentiert und das hatte Kai erst Recht gereizt. Noch vor der Arbeit hatte er Lukas auf den Anrufbeantworter gesprochen, dass er ihn auf jeden Fall am Abend kurz besuchen wollte.
Er zauderte noch ein wenig vor sich hin, aber stieg brav gähnend in den Bus, der zum Wohngebiet rausfuhr. Lukas hatte ihm die Bushaltestelle gezeigt und es waren nur zwanzig Minuten Fahrt dorthin. Das Schaukeln und die übersteuerte Heizung bescherte Kai eine leichte Übelkeit, die ihn daran erinnerte, dass er zu viel Kaffee getrunken und noch nichts gegessen hatte.
Der leichte Regen war in eine schwere und durchfeuchtende Art von Nebel übergegangen. Kai war wirklich froh über die dicke, gefütterte Jacke, die seine Mutter ihm genialerweise zu Weihnachten geschenkt hatte. Er schob sein Kinn tiefer hinter den Reißverschluss und stapfte mit gesenktem Kopf an der Fußgängerampel vorbei in Richtung von Lukas' Wohnhaus.
Mit zusammengekniffenen Augen suchte er gerade nach der Hausnummer, weil die dreigeschossigen Reihenhäuser in der Gegend alle so schrecklich gleich aussahen, als sein schweifender Blick über einen bekannten Wagen glitt.
Kai stutzte und ging dichter an den dunkelgrauen Sportwagen heran, um hinein zu linsen. Tatsächlich. Zwei CDs auf dem Beifahrersitz und dort stand eine Sporttasche hinter den Fahrersitz gequetscht. 'Pascal?! Was macht denn er hier?' Ein wenig gereizt und verunsichert dachte Kai darüber nach, dass der nächste Bus erst in fünfundfünfzig Minuten fahren würde. Es war fünf Minuten Fußweg gewesen, das würde eine recht lange Wartezeit machen. Die Nässe und Kälte eingerechnet eine verdammt lange.
Knurrig wandte er sich dem Haus wieder zu. Gerade rechtzeitig noch, um sehen zu können, dass Pascal im Hauseingang auftauchte und in der Jacke nach seinen Schlüsseln kramte. Hin und hergerissen wich Kai einige Schritte vom Wagen zurück und sah sich um. Es gab keinerlei nennenswerte Deckung in der Nähe und bevor er den Fluchtgedanken noch hatte beenden können, rief Pascal auch schon seinen Namen.
"Kai? Ja, das bist du ja wirklich!" Mit ein wenig federnden, fast hopsenden Schritten lief Pascal auf ihn zu und umarmte ihn, drückte seine erhitzte Wange rasch einmal gegen Kais ausgekühlte. Sofort regte sich gegen diesen Sonnenschein von einem Freund wieder das schlechte Gewissen in Kai.
"Was machst du hier, Pascal? Hast du Lukas besucht?" Gereizt senkte er den Kopf. 'Dah? Hast du Lukas besucht? Bin ich schon gehirnamputiert, oder was?!'
Pascal hatte den Anstand zu erröten, dann nickte er mit einem kleinen Lächeln, offenbar zu mächtig, um gänzlich versteckt zu werden.
Er erinnerte Kai sofort an ihn selbst, wenn er eine eins geschrieben hatte und dies möglichst effektiv lang hinausgezögert erst mitteilen wollte. Spontan verzweifelte er daran, wie süß Pascal war. "Sag mal, Passi, seid ihr etwa...?"
Pascal lachte leise. "Nein. Leider nicht. Er hatte nur einen Hexenschuss als ich dabei war. Im Fitnessstudio. Ich hab ihn in die Klinik gebracht und hinterher nach Haus gefahren. Vorhin bin ich dann ein wenig hin und her, um ihm seinen Wagen zu bringen, damit er mit dem schmerzenden Rücken nicht noch durch diese Kälte fahren muss." Er lehnte sich an sein Auto an. "Kommst du von der Arbeit bei Leon?"
Kai nickte nur und hob den Blick in Richtung Lukas' Wohnung. "Oh. Entdeckt." Lukas stand auf dem Balkon, in einen dicken Pullover gehüllt, einen Becher zwischen beiden Händen und sah schon auf Entfernung leidend aus. Kai winkte rasch. "Du, ich hab nur wenig Zeit, weil ich nur noch zwei Busse nehmen kann. Wollen wir mal Telefonieren?"
Pascal nickte, ein wenig erleichtert vielleicht, und umarmte Kai, bevor er einmal in Richtung des Balkons winkte und in seinen Wagen stieg. Fast ärgerte Kai sich, dass er ihm nicht anbot, ihn zu fahren. Andererseits war Kai froh, dass er Pascal und Lukas nicht zusammen sehen musste. Die Erinnerung an die beiden beim Vögeln im Bad war noch zu frisch und viel zu peinlich.
Er wartete noch den Moment ab, bis Pascal seinen Wagen gewendet hatte und die Rücklichter jenseits der Fußgängerampel verschwanden, dann lief er zum Haus, fand die Haustür noch unverschlossen vor und tastete sich die Stufen hoch, ohne im Treppenhaus Licht zu machen.
Lukas stand in seiner Wohnungstür, trug eine schwarze Trainingshose und einen beigefarbenen Norwegerpullover und sah unverschämt gut aus. Seine Haare waren verwuschelt, gemeinsam mit dem Rollkragen hatte es den Effekt, den Werbeleute so gern für Zigaretten erwecken wollten. Gesunde Naturburschen sehen na klar nach einer Schachtel Zichten am Tag maximal fit aus.
"Du siehst unglaublich geil aus für einen Kranken", begrüßte Kai ihn mutig und ließ sich unter der Jacke umfangen und widerstandslos küssen.
"Und du bist mal wieder verboten schön anzusehen. Regen steht dir, mein Engel." Lukas zog ihn an der Hand in die Wohnung. Im Wohnzimmer waren Windlichter aufgestellt und der Duft von Ingwertee durchzog den Raum. "Meine Schwester meinte, dass ich Ingwer zu mir nehmen soll, weil das vielleicht hilft", begann Lukas kryptisch und stellte leise Musik an. "Setz dich. Es passt sich gut, dass du vorbei kommst. Ich hätte eine Bitte."
Kai hängte seine Jacke über die Heizung und ließ sich auf dem Sofa nieder. "Ah. Ich kann aber nicht so lange bleiben, der übernächste Bus ist der letzte für heute. Ich muss zwar morgen nicht arbeiten, aber ich habe..."
Lukas unterbrach ihn, indem er sich dicht neben ihn setzte und ihm zwei Finger auf den Mund legte. "Eine Bitte, die sich ein wenig ungewöhnlich anhören wird. Aber es ist wichtig. Eine Art Test."
"So?" Kai verschränkte die Arme.
"Keine Angst, du kannst gar nicht durchfallen. Höchstens ich."
"Okay. Meinetwegen. Worum geht es?"
"Zieh die Hose aus, ich möchte dir einen blasen."
Kai klappte den Mund auf und wieder zu, dann stand er abrupt auf. "Was?!"
Lukas trat auf ihn zu. "Bitte. Ich kann es erst hinterher erklären. Bitte mach mit."
"Mach den Scheiß mit Pascal!" Kai wendete sich ab und trat unsicher auf seine Jacke zu. Der Moment zum Gehen erschien irgendwie früher als gedacht gekommen.
"Das geht nicht. Auf Pascal bin ich lange nicht so scharf wie auf dich. Ich muss es mit dir machen, du bist perfekt."
Lukas trat hinter Kai und umarmte ihn von hinten, zog ihn zu sich heran und flehte leise an sein Ohr. "Bitte. Du musst nur rumsitzen und wirst auf angenehme Art den Stress los. Es gibt keinen Haken, ich schwöre."
Erschaudernd senkte Kai den Kopf. Einen Moment lang starrte er seine Jacke an, dann nahm er sie von der Heizung und fischte sein Handy heraus. Er seufzte einmal, dann schaltete er sein Handy aus und schob es in die Jackentasche zurück. "Ich bin überhaupt nicht in Stimmung, Lukas", nölte er leise, bevor er sich langsam umdrehte.
Kapitel 67
Lukas legte den Kopf ein wenig schief und lächelte. "Machst du mit?"
"Also, erstens hab ich Hunger. Mach mir was zu Essen", verlangte Kai. "Zweitens kannst du mir beim Essen mal erzählen, was verdammt noch mal das soll, okay? Scheiße, wieso passiert immer mir so bizarres Zeug?!"
Lukas umfing Kais Kopf mit zwei großen, warmen Händen und küsste ihn auf den Scheitel. "Um dir das zu erklären, brauch ich ein Weilchen. Also gut, ich mach dir Spaghetti, komm mit in die Küche."
"Ich muss erstmal zum Bad, komme gleich nach." Kai wieselte so rasch er konnte in die Sicherheit des abschließbaren Raums fort und ließ sich auf den Badewannenrand fallen. Ihm wurde verspätet klar, dass die Toilette extra war und er sich nicht mit Pinkeln rausreden konnte. Langsam zog er sich am Waschbecken hoch und starrte sich in das blasse Gesicht. Das Haar war noch feucht und ringelte sich fröhlich um seine Ohren.
"Spinnt der denn total?" Nur geflüstert, aber begleitet von einem verständnislosen Kopfschütteln brachte es Kai wieder zum Grinsen. "Vermutlich. Alle werden verrückt um mich her. Erst Benni, dann Tini und Holger und jetzt sogar Lukas." Er wusch sich mit angenehm heißem Wasser die Finger und starrte noch ein Weilchen in den Spiegel. Die Frage, ob er mitmachen sollte oder nicht, geisterte durch seinen Kopf und es ärgerte ihn ein wenig, dass er sich überhaupt fragte, dass er überhaupt nachdachte, statt Lukas empört abzuweisen.
Endlich riss er sich zusammen und schlappte ein wenig die Lustlosigkeit betonend in die Küche zurück. Auf dem Herd kochte das Spaghettiwasser bereits, Lukas warf gerade eine Ladung extra lange, bunte Spaghetti aus einem Aufbewahrungsglas hinein. Er hatte eine Tomatensoße vorbereitet und es roch wunderbar nach Knoblauch, Kräutern und ein wenig Rotwein.
Kai erhielt auch gleich ein kleines Glas. "Hier. Setz dich, es dauert noch etwa zehn Minuten."
Kai setzte sich nicht, sondern trat langsam zum Herd. Er stellte das Rotweinglas ab und rührte umständlich einmal in der Soße. "Was ist denn los, Lukas?" Nachdenklich folgte er dem Blick seines Freundes, der verbissen in das sprudelnde Wasser starrte.
"Es ist schwierig. Mir ist sowas noch nie passiert und ich hoffe..." Abrupt drehte Lukas sich fort und nippte von Kais Rotwein, stellte das Glas eine Spur zu heftig wieder auf die Ablage und fischte eine noch viel zu bissfeste Spaghetti aus dem Wasser. "Ich fühl mich so." Er wedelte mit dem Löffel. "Ich hab das gleiche Problem, wie die Nudel." Hilflos sah er Kai an.
"Du bist nicht ganz gar? Das wusste ich schon." Kai musste ein Grinsen unterdrücken.
"Nein, verdammt!"
'Kein Sinn für Humor, oha.' Kai wich einen Schritt zum Esstisch zurück. Als Lukas wieder sprach, ließ er sich vor Überraschung auf den Stuhl fallen, der dankbarerweise direkt hinter ihm stand.
"Ich... kann nicht... Seit der Sache mit dem Rücken kann ich nicht... krieg ich keinen mehr hoch. Gar nicht." Die Spaghetti wippte mit einem Mal bedeutungsvoll über dem Holzlöffel. Wütend warf Lukas den Löffel samt Spaghetti durch den Raum gegen den Kühlschrank. "Es geht nicht!"
Wenn nicht die Verzweiflung so echt in Lukas' Gesicht gestanden hätte, Kai hätte genau in diesem Moment laut gelacht. So glotzte er nur dämlich und trank dann einen großen Schluck Rotwein. "Aber... das ist doch erst seit drei Tagen so, oder?" bot er schließlich wenig hilfreich an.
"Und? Weißt du vielleicht, wie lange das noch so sein wird?! Ich hab seit ich zwölf war noch nie Probleme gehabt, meinen Schwanz dazu zu bringen, zu kooperieren. Und jetzt kann ich tun, was ich will. Und du kannst mir glauben, der Schmerz vom Hexenschuss war gleich nach der Spritze weg, ich wollte Dinge tun, das ist normal bei mir. Es ging nicht! Es geht seit drei Tagen nicht und ich bin echt nervös deswegen."
"Und du willst mich jetzt als Anmachmittel nehmen?"
"Mein Lieblingsporno hat es nicht gerissen, der Kleine von der letzten Party nicht, sämtliche meiner Tricks versagen." Die Eieruhr rasselte und Lukas zuckte zusammen, aber goss dann mechanisch die Nudeln ab, um sie auf zwei Tellern mit der Soße und frisch geriebenem Parmesan anzurichten. Mit leisem Knall setzte er Kai einen Teller vor und schob Löffel und Gabel dazu. "Essen wir erstmal."
Schweigend fügte Kai sich in seinen Schrecken und das vorzügliche Essen. Erst als er die Hälfte seiner Portion gegessen hatte, wagte er ein leises Lob. "Das ist superlecker. Ich wusste nicht, dass du so gut kochen kannst."
"Nudeln, das ist doch echt nichts Besonderes." Lukas hatte mehr gerührt denn gegessen. "Machst du mit, Engelchen? Mir zuliebe?" Der dunkle Ton in der Stimme verriet Kai, dass es, egal was sie machen würden, keine wirklich gute Idee werden würde.
"Was willst du denn tun, wenn es schief geht?"
"Keine Ahnung. Ich will es nur mit jemandem versuchen, auf den ich scharf bin, wirklich scharf bin, ohne mehr zu wollen. Da gibt es nicht viele."
"Hast du es mit Passi versucht?" Kai schob sich noch einen Löffel Spaghetti in den Mund, aber vergaß gleich darauf das Kauen, weil Lukas doch tatsächlich ein wenig rot wurde.
"Nein, er weiß das nicht, weil er... Er kennt mich von der Show bei euch im Bad. Meine Güte, da hab ich ihn in die Wand gevögelt und jetzt? Das ist mir superpeinlich."
"Aber mir schaagscht du esch?" schaffte Kai zwischen seinen Spaghetti hervorzumümmeln. Mit einem Mal fiel ihm der Zusatz 'Ohne mehr zu wollen' ein und er hob den Kopf.
Lukas langte über den Tisch und kniff Kai sachte in die Wange, dann nickte er. "Wir sind Freunde, Kai. Mit dir verbindet mich vieles anderes. Bei Pascal ist es zurzeit wirklich eher der Umstand, dass er und ich gut ins Bett passen zusammen."
"Na, das könnt ihr ja mal ändern bei Gelegenheit. Passi ist da bestimmt nicht so abgeneigt."
"Da wäre ich mir nicht so sicher, Kai. Er definiert seine Beziehungen über Sex, wie es mir scheint. Wenn er davon abkommt, kann man mit ihm vielleicht was anfangen, aber so wie er jetzt ist, kann er irgendwie keinem genug vertrauen, um mehr als Gevögel zu erreichen."
Mit einem Mal dachte Kai, dass die Welt um ihn doch nicht verrückt wurde. Lukas zum Beispiel klang komischerweise vernünftig, wenn er so von Beziehungen redete. Er klang merkwürdig unsicher, wenn er von seiner Ehre als guter Liebhaber für Pascal sprach. Wenn er Bedauern im Ton hatte, wenn er über Vertrauen redete und dabei auch noch rot wurde, machte er noch viel mehr Sinn. Das machte, dass Kai mit einem kleinen Grinsen die Weingläser wegschob. "Na gut. Dann wollen wir das Problem mal logisch angehen. Keinen Wein mehr, sonst geht das schief. Wo war der Ingwertee von deiner Schwester? Ich hab mal gelesen, das Zeug soll wirklich helfen."
Lukas lachte auf. "Lena sagte, dass es rattengeil macht. Ich hol uns mal zwei Becher. Der Tee müsste noch heiß sein."
Die Teller blieben unbeachtet, weil Kai Lukas ins Wohnzimmer folgte und sich stur auf dem Sofa niederließ, während Lukas schweigsam Becher und die Isokanne auf seinen flachen Couchtisch stellte. Nachdenklich starrte Kai das Flugzeug an, das noch immer die Wand einnahm und die Welt ein wenig auf den Kopf stellte, wenn man zu lange hinsah.
"Ich rufe wohl besser mal in der WG an, dass ich später komme", unterbrach er endlich das Schweigen und kramte nach seinem Handy, um es wieder anzuschalten.
Nach einem Blick auf die Uhr schlug Lukas pragmatisch vor "Warte noch ein wenig, dann hast du den letzten Bus in die Stadt verpasst." Mit nur halb unterdrücktem Seufzen ließ er sich auf dem Sofa neben Kai nieder und nippte von dem scharf nach Ingwer riechenden Tee, den Kai nach einem Probieren sofort wieder auf den Tisch zurückgestellt hatte.
Sie fuhren beide zusammen, als Kais Handy klingelte. Es war eine Nachricht von Tini, in der sie sich für das misslungene Treffen entschuldigte und einen Anruf für den nächsten Tag versprach. Kai rief sie zurück, um zu vermeiden, dass sie am Morgen in der WG die Neuigkeit, dass er bei Lukas war, aufgetischt bekam.
"Ach, du bist noch auf, super! Ich konnte nicht kommen, war krank. Blasenentzündung, superätzend. Ich muss Antibiotika schlucken, ein Glück, dass mein Vater mir eine Packung vorbeibringen konnte. So ein Mist. Und das, wo ich doch neu mit Holger zusammen bin."
Kai hatte nicht gewusst, dass Tinis Eltern in derselben Stadt lebten. Er erinnerte sich nur dunkel daran, dass sie ausgezogen war, um auf eigenen Beinen zu stehen und nicht, weil sie es musste. "Oh. Dann erhol dich lieber mal", schlug Kai schwach vor.
"Unsinn! Wann hast du denn mal Zeit, ich muss dich was persönliches fragen. Geht am Handy so schlecht."
"Morgen Abend." Kai grübelte noch, ob das auch stimmte, während Tini ihm begeistert zurief, dass sie was zu Essen mitbringen würde. Hastig verabschiedete er sich und rief Lolli an, erreichte den Anrufbeantworter und sprach auf, dass er den letzten Bus von Lukas verpasst hätte und sie ihn nicht vermisst melden sollten.
Von der Tiniattacke genervt schaltete er sein Handy schnell wieder aus und verschränkte die Arme. "So. Fertig."
"Und satt und du magst keinen Ingwer. Dann könnten wir theoretisch mit unserem Versuch anfangen, oder?"
"Hier?" Unsicher sah Kai sich im Wohnzimmer um. "Ist es nicht zu kalt hier?"
"Hast Recht. Im Schlafzimmer ist es besser. Komm mit."
Nervös tappte Kai hinter Lukas her und versuchte seine Fluchtinstinkte zu unterdrücken. Das Schlafzimmer war aufgeräumt und gemütlich mit gedimmtem Licht wie immer, mit der Ausnahme, dass auf dem Bett zwei Pornos und die Fernbedienung lagen. Kai blinzelte auf die Hüllen mit den nackten Typen drauf und fragte sich, ob das Lukas' Lieblingspornos waren.
Ihm selber war das Konzept ein wenig fremd. Sie erregten ihn zwar, aber ödeten ihn zugleich auf eine leere Art an. Er hätte einen solchen Film nie gekauft, um ihn mehr als einmal sehen zu können. "Welcher ist denn dein Lieblingsfilm?"
Lukas lachte auf, schon dabei, sich die Jogginghose auszuziehen. "Der mit den Bullen natürlich, was denkst denn du. Ich kann aber vor allem auf diesen kleinen Blonden stehen, den sie die ganze Zeit durchnehmen. Der kann vielleicht was ab. Schade, dass er nur ein Sidekick war und irgendwie nie richtig ins Filmgeschäft eingestiegen ist." Er trat auf Kai zu, der sich die beiden Hüllen nun in die Hand genommen hatte, um sich von Lukas ablenken zu können, auch wenn er so tat, als würde er die Beschreibungen auf der Rückseite erforschen.
Sachte zog Lukas Kai von hinten das Shirt mit der LPP-Aufschrift über den Kopf. Gezwungenermaßen warf Kai die Filme auf das Bett zurück. "Aber ich möchte nicht, dass du dir was einbildest, okay? Ich bin nicht hier, damit du mit mir schläfst, nachdem wir beide herausgefunden haben, dass deine Depression hier nichts weiter war als Schwanzhysterie, klar?!" Er verstärkte dies mit einem oberkiebingen Blick.
Lukas grinste ein wenig. "Du bist süß. Danke, dass du mir so Mut machst, Kai. Ich verspreche, dass ich nicht mit dir schlafen werde. Das lasse ich für deinen Wauwau über, okay? Aber jetzt zieh dich aus."
"Ich bin immer noch nicht in der Stimmung für sowas, Lukas. Das kann man nicht einfach anschalten."
"Dann schaun wir uns meinen Lieblingsporno an, ist immerhin offensichtlich eine Bildungslücke bei dir. Aber erst musst du nackt sein. Es ist warm genug hier."
"Ist es nicht. Ich sehe nicht ein, wieso ich nackt rumliegen soll, wenn du mir dann ..." Kai verschränkte die Arme, aber schaffte es nicht schnell genug den Händen auszuweichen, die an seinem Oberkörper hinunter zur Knopfleiste seiner Hose strichen.
"... wenn ich dir dann auf den Hintern starre und wohlmöglich endlich geheilt bin?"
"Mein Hinter ist kein Heilmittel, Lukas! Wenn du ihn nicht hoch kriegst, kann es durchaus auch einfach mal an den Medikamenten oder vielleicht an dem eingeklemmten Nerv liegen, den du dir geholt hast!" Kais Hose wurde samt Unterhose runtergezerrt, typisch ungeduldig, ein wenig zu harsch, zugleich erregend, verlangend. Lukas kommentierte seinen Ausbruch nicht, sondern fuhr mit einer großen, warmen Hand herum und legte sie selbstsicher zwischen Kais Beine auf einen bereits nicht wirklich uninteressierten Penis. 'Verräterkörper! Kann nicht mein Schwanz auch sauer sein, wenn ich es schon bin?! Kann ich mich immer noch nicht gegen Lukas durchsetzen? Scheiße!' Kai erschauderte leicht, aber kletterte innerlich weiter fluchend aus seinen Hosen heraus. Erst dann entließ Lukas ihn und erlaubte, dass er sich unter die Bettdecke flüchtete.
"Ich lasse meine Shorts an, okay? Versprochen. Ich will nur schaun und ein wenig Fummeln, mehr nicht. Gib mir den Film, du schaust den an und ich schau dich an, das ist fair." In der folgenden Stunden hielt Lukas sich daran, während sie auf den Bildschirm starrten, während er Kai tatsächlich zu befummeln begann, während Kai trotz seiner Müdigkeit sogar mehr als einmal kam. Er konnte jedenfalls hinterher sagen, dass er noch nie Pornos gesehen und mit derart vielen intimen Geständnissen garniert bekommen hätte, oder mit derart vielen Orgasmen, die sich nicht nur auf der Bildfläche abgespielt hatten.
Er erfuhr welche Szenen Lukas wieso mochte, welches kleine Kino sich hin und wieder unweigerlich in seinem Kopf abspielte, wieso er Kais unterkühlte Art so verdammt anturnend fand. Wieso er noch immer sauer auf sich selber war, weil er im Bulli damals Kais erstes Mal so heftig eingefordert hatte. Wieso er es Pascal so sehr hatte zeigen wollen, warum er es ihm nun nicht mehr nur zeigen wollte.
Zwischen all den Geständnissen zeigte Lukas, dass er wenn auch ohne eigene Erektion doch noch immer wusste, was man wie im Bett zu tun hatte, um einen Mann in den Wahnsinn zu treiben. Wenn es zu Oralsex kam, dann war Lukas zwar nicht mit Jan zu vergleichen, aber seine etwas harschere, forderndere Art machte Kai gerade in Verbindung mit den auch nicht gerade vor Romantik triefenden Pornos deutlich mehr an, als er selber zuerst gedacht hätte.
Gegen Ende lagen sie nur noch nebeneinander und redeten leise, das Standbild auf dem Fernseher zeigte den schlanken blonden Typen, der es soeben mit zwei kräftigen dunkelhaarigen Männern trieb. Es war der Abspann und sie zeigten herausgeschnittene Teile und schiefgelaufene Dialoge. Ziemlich komische Versprecher waren dabei gewesen, Kai hatte es zudem gefallen, wie nett die Typen miteinander umgegangen waren, obgleich sie mitten in einer eher als Vergewaltigung zu bezeichnenden Szene gesteckt hatten.
Wenn es eine Story hinter den Szenen gegeben hatte, dann war Kai zu müde, um sie zu begreifen. Er hatte gerade noch so verstanden, dass der Blonde einen Stricher spielen sollte, der von einer Gang bedroht wurde, der es hin und wieder auch mit einem Polizisten trieb, dieser errettet den armen Kleinen dann auch aus den Armen der Gang, um ihn selber zu vernaschen. Diese Szenen waren offenbar Lukas' Lieblingsszenen.
Ganz privat für sich konnte Kai den Szenen zwischen dem Stricher und seinem wohl Zuhälter mehr abgewinnen, die waren weitgehend frei von den schrecklich missglückten Dialogen und gingen dafür eher einher mit reichlich Nahaufnahmen. Ansonsten konnte Kai aber nach seinem dritten Orgasmus auf Lukas' Kosten der Fußmassage weitaus mehr abgewinnen, die er als Preis für seine Geduld eingefordert hatte.
Lukas hatte Recht behalten. Sein sonst nicht gerade kleiner Freund war und blieb sein kleiner schlaffer Feind. Die Enttäuschung wurde nur von Müdigkeit übertroffen, als sie es gegen drei am Morgen aufgaben. Der Rotweinflasche war noch eine weitere gefolgt und fast ausschließlich durch Kais Kehle geronnen, während Lukas irgendwelche Medikamente geschluckt hatte, um dann wie ein Stein einzuschlafen.
Kai erwachte am anderen Morgen vor Lukas, und zwar von einem Gefühl, mit dem er wirklich nicht gerechnet hatte. Eine Morgenlatte presste sich aufbegehrend gegen seinen nackten Hintern. 'Lukas du verdammter, notgeiler... Moment mal! Das kann doch wohl nicht wahr sein?!' Vorsichtig, um seinen Patienten nicht zu wecken, drehte Kai sich um und schob seine Hand unter die Bettdecke zwischen ihre Körper. Tatsächlich. Zwischen sorgfältig getrimmtem, dunklem Schamhaar erhob sich fest und selbstbewusst ein Schwanz, der gar nicht daran dachte, schlaff sein zu wollen.
"Aha. Soso. Lukas, ich glaube, du bist geheilt." Kai wollte ihn schon an der Schulter rütteln, aber besann sich im nächsten Moment. Stattdessen begann er sachte, Lukas zu streicheln. Den Bauch hinunter, über seinen Schoß, zaghafter etwas weiter hinunter, an den Hoden vorbei und zurück. Lukas grummelte leise, aber schien einen eingebauten Sexsensor zu haben, der vor dem Erwachen bereits einsetzte. Ein Arm umfing Kai fest, ein Bein presste sich zwischen seine, die Bewegungen, die Lukas instinktiv aufnahm waren nicht gemacht, um Kai die Ruhe bewahren zu lassen.
Er reagierte trotz seiner Gereiztheit und trotz seines Rotweinkaters und fügte sich zudem drein, um Lukas nun bloß nicht noch die heiß ersehnte Erektion zu versauen. 'Verdammter Idiot! Jan! Wie soll ich das noch mit einem 'ich hab Lukas freundschaftlich ausgeholfen' erklären?' Ohnehin plante Kai, seitdem Lukas von 'Blasen' gesprochen hatte, an der Entschuldigungsrede für seinen Freund. Wieso geriet nur immer er in solch blöde Situationen.
Er stöhnte, statt zu einer Lösung zu kommen, leise auf und drängte seine Hand sicherheitshalber noch zwischen seinen Oberschenkel und Lukas' Schoß, um besser fühlen zu können, was sich da zwischen ihnen abspielte. Seine fast schon groben, ungeduldigen Zuwendungen weckten Lukas endlich auf. Groggy hielt er in den Bewegungen inne, zuckte leicht zurück, aber ließ sich von Kai tatsächlich wieder in das Spiel zwischen ihnen ziehen. "Kai... ich..."
Wortlos rollte Kai sich auf Lukas und biss ihn unsanft in die Halsseite, ihm war danach diesen Idioten von einem Exfreund zu bestrafen, dass er mit einem Schädel, einem Sexmuskelkater am Hintern und vor allen Dingen einem schlechten Gewissen von der Größe Alabamas aufwachen musste.
Lukas schloss die Augen, stöhnte leise auf und begann seinen Schoß gegen Kai zu drängen. Mit rollenden Bewegungen, die sich gegen Kais ungeduldiges Reiben nicht durchsetzen konnten, brachte Lukas sich jedoch rascher als Kai erwartet hatte zum Höhepunkt.
Kai war zwar hart, aber nicht wirklich scharf auf noch einen Höhepunkt innerhalb von zwanzig Stunden. Ungeduldig zerrte er Lukas' Finger von sich. Nachdem Lukas mit einem dumpfen Aufstöhnen in die Kissen gefallen war, schob er sich hastig von ihm fort. "Nächstes Mal machst du bitte nicht so eine Hysterie, du blöde Gans! Mann, mir tut verdammt nochmal alles weh, vor allem der Hintern... ich will nie wieder mit dir Pornos schauen, das schwöre ich!" Er hielt inne und hob eine Hand an seine Stirn. "Ich hab einen Kater, schrecklich", jammerte er dann und fügte, bereits die Beine aus dem Bett schiebend, hinzu "Schlimmer noch, ich hab keine Ahnung, wie ich 'das' Jan erklären soll! Scheiße nochmal! Ich gehe duschen." Ohne Lukas' Antwort abzuwarten stapfte er nackt wie er war zum Klo.
Lukas erwartete ihn im Bad, die Dusche lief bereits, um auf erträgliche Temperatur zu kommen. Verwirrt starrte Kai Lukas entgegen, der ein wenig niedergeschlagen in den Spiegel blickte. "Du hast mich gebissen, Kai. Ich hätte nicht gedacht, dass du so eine wilde Maus bist."
Kai dachte daran, dass er das hin und wieder im Rausch auch bei Jan gemacht hatte und errötete. "Du hast es verdient", knatschte er noch immer unleidlich und hielt zwei Finger unter die noch immer zu kühle Dusche.
Lukas trat zu ihm und küsste seinen Nacken. "Es tut mir leid und ich danke dir so sehr. Ich weiß, dass du mich jetzt albern findest, aber ich... ich konnte den Gedanken, dass ich vielleicht nie wieder..."
"Schon gut. So viele Orgasmen hatte ich glaube ich noch nie in so kurzer Zeit."
"Was? Wieso das denn nicht? Du solltest es mal mehr mit Jan treiben, dann wärst du auch nicht so anfällig für Überfälle wie diesen. Wenn du willst, rufe ich Jan an und entschuldige mich. Ich erkläre ihm alles, medizinisch sogar. Okay? Ich würde..."
"Lass man gut sein." Kai kletterte unter die Dusche und war froh, dass Lukas nur kurz mit drunter kam, um sich zu waschen.
Als sie kurz darauf bei Kaffee, Aspirin und Toast mit Vanille-Erdbeermarmelade saßen, gestand Lukas leise "Ich habe gestern wirklich kurz überlegt, ob ich Passi bitte. Es war nur wie ich schon sagte. Es war mir peinlich, weil er mich auf diese Art kennt und nicht anders. Du hast schon so viele Seiten von mir gesehen und bei dir fühle ich mich sogar mit so einer peinlichen Situation wohl."
Er langte über den Tisch, um Kai einen Toastkrümel von der Wange zu schubsen. Eine merkwürdig sanfte, intime Geste. Genau die Art Sache, die Kai immer und immer wieder an Lukas verzweifeln ließ. Und Lukas hatte Recht. Er würde sich mit einer peinlichen Situation auch bei ihm wohl fühlen. "Wir sind eben doch Freunde mittlerweile", schlug er schwach vor, aber starrte weiter in sein Wasserglas mit dem Aspirinrest.
"Ich fühle mich sogar wohl, dir hiermit zu gestehen, dass ich es nicht mit Pascal machen wollte, weil ich ihn gern anders haben würde, gern wollte, dass er mich anders als nur per Fick am Wochenende kennenlernt. Meinst du, ich hätte eine Chance, dass er mehr als nur Sex wagen würde?"
Kai legte den Toast beiseite und versuchte, keine Eifersucht zu fühlen. 'Ich bin so was von einem Idioten. Ich hätte ihn ja haben können, aber ich will doch nur Jan. Oder? Eifersucht ist wirklich nicht angebracht, verdammt.' Statt seine Gefühle zuzugeben, grinste er "Wenn du was mit Passi anfängst, lässt du mich dann in Frieden?"
"Hm. Ich hab nicht gesagt, dass ich Pascal treu sein will. Mit treuer Beziehung bin ich schon einmal mächtig auf die Schnauze gefallen."
'Felix, der Macker, der jetzt mit Leon zusammen ist.' Kai nahm sein Toast wieder auf. "Hängst du noch an deinem Ex? Willst du ihn wieder mal treffen? Das ist doch der Typ, der mit meinem Chef zusammen ist, oder?" Er erinnerte sich daran, dass Leon auf der Arbeit Gewese gemacht hatte, weil Felix an dem Wochenende aus München ebenfalls übersiedeln würde.
Lukas hob die Schultern. "Ich würde gern nochmal mit ihm reden. Das war damals alles nicht so einfach. Ich hab es bis heute nicht verstanden, wenn ich ehrlich bin. Aus heiterem Himmel, ohne Vorwarnung, haut er ab und wirft mir vor, dass er nie wirklich mit mir hat zusammenleben wollen. Ich hätte ihn eingeengt. Das ist also ein Fehler, den ich nicht nochmal mache... ehrlich gesagt hab ich schon auch profitiert. All der Sex, all diese Partys, du, ich hätte viel zu viel verpasst, wenn Felix mich nicht so komisch verlassen hätte. Lena hatte mir damals auch mit verständnislosem Blick gesagt, dass ich doch nun wirklich zu jung für eine Ehe dieser Art sei und erstmal Spaß haben sollte. Im Nachhinein stimme ich ja zu, aber damals wollte ich eben eine Ehe mit genau dem Mann."
"Vielleicht. Ich finde, dass du ihn besuchen solltest. Er lebt ja mit Leon zusammen hier, die Adresse von dem können wir leicht herausfinden. Ich rufe einfach im LPP an und frag danach, um meinen Vertrag dort einzuwerfen. Die Ausrede ist immerhin keine wirkliche, den Vertrag hab ich vergessen abzugeben."
Nach einem kleinen Hin und Her stimmte Lukas zu, aber wollte sich für die Unterhaltung noch ein wenig Zeit lassen. Kai hingegen hatte eine ganz andere Unterhaltung vor sich und verabschiedete sich daher schon bald, während Lukas Lena anrufen ging, um ihr von der Wunderheilung zu berichten.
Kapitel 68
Kai versuchte es wirklich. Er versuchte das Handy, den Anrufbeantworter im Wohnheim, den Jan auch aus der Ferne abhörte, und am späten Nachmittag, als sein Kater sich endlich nach einem Mittagsschlaf gegeben hatte, probierte Kai sogar die Nummer von Jans Eltern. Doch er erreichte seinen Freund nicht. Und das obwohl er sich die Worte sorgfältig zurechtgelegt hatte für das Geständnis und die Entschuldigungsrede.
Stattdessen überfiel Tini ihn. Energisch wie immer, eingepackt in ihren dicken roten Wollschal, weil es mal wieder zu schneien begonnen hatte, und mit einem vorbereiteten Auflauf bewaffnet, den sie nach kurzer Begrüßung unkompliziert zum Aufwärmen in den Ofen schob.
Sie hatte auch Wein dabei, was Kai argwöhnisch machte. Er lehnte in Angedenken an seinen Kater dankend ab und deckte stattdessen den Tisch im Wohnraum. Lolli war laut einer Mitteilung am Kühlschrank sehr kurzfristig fort, um sich für das Vorstellungsgespräch bei einer Firma vorzubereiten, bei der er seine Diplomarbeit schreiben wollte, also waren sie dankbarerweise ungestört.
Der Auflauf, Spinat und Schafskäse, war sehr lecker und tat Kai gut, auch wenn er reichlich Knoblauch herausschmecken konnte. Was ihn zur gleichen Zeit verwunderte und auch etwas ängstigte, war der Umstand, dass Tini genau wie Lukas nervös war, ihn mit leckeren Sachen fütterte und nicht mit der Sprache rausrücken wollte.
'Alle sind sie gleich. Erst stopfen sie mich voll und dann, wenn ich träge und wehrlos bin, wollen sie was von mir, Sex wohlmöglich.' Misstrauisch warf er einen Blick auf Tinis Gesicht, nachdem er die Teller in die Spüle geräumt hatte. Sie hatte eine von Lollis Valentinstagskerzen angezündet, leichter Rosenduft umströmte den Tisch.
"Also, jetzt mal zur Sache, was willst du wissen?"
Tini seufzte. "Es geht um Sex, daher wollte ich nicht so am Telefon..."
Kai rückte entsetzt vom Tisch ab. "Was?!"
"Nun schieb nicht gleich so eine Panik. Sex zwischen Holger und mir, du Blödi. Ich will dir ausnahmsweise mal nicht an die Wäsche." Allerdings blickte sie ihm beim Wort Wäsche beängstigend direkt ins Gesicht.
"Worum geht es dann?"
"Naja. Holger. Hast du ihn vor Augen? Wie er aussieht und so?"
Kai blinzelte irritiert, dann nickte er leicht. "Klar, ist ja groß genug."
"Eben!"
Erschrocken fuhr Kai zusammen. "Eben was?"
"Er ist wirklich, wirklich groß. Ich wollte mal fragen... naja... ist alles an ihm so groß? Verstehst du was ich meine?"
Kai verstand leider nur zu gut, er spürte wie er rot wurde und senkte den Kopf. 'Um Gottes Willen, ist die peinlich!' "Tut mir leid, da kann ich mit keinerlei Info dienen, Tini. Ich hab nie mit ihm Sport gemacht oder so. Frag doch Jan, der ist immer zum Basketball und Hallenfußball mit ihm."
Tini starrte ihn entrüstet an. "Jan?! Bist du verrückt?"
Das Telefon erlöste ihn genau im richtigen Augenblick. Es war Jan. Kai rüstete sich für eine schwere Unterhaltung und ging in sein Zimmer, schloss die Tür. Jan hingegen wollte ihm lediglich mitteilen, dass er nur wenig Zeit habe. Er fragte an, ob Kai am nächsten Wochenende frei sei.
Kai versprach, sich im LPP mal zu erkundigen, und den Sonntag für Jan freizumachen. "Am Samstag hab ich Frühdienst im Altenheim. Ich bin ja noch einmal im Monat für einen Tag da. Ehrlich, ich überlege wirklich, ob ich den Job dann ganz aufgeben soll. Auf der Basis ist das nur noch Stress, kein Geldgewinn mehr." Hinterlistig hielt er Jan dann jedoch auf, bevor der auflegen konnte. "Du, sag mal, hast du Holger schon mal nackt gesehen?"
Die Stille am anderen Ende war zu komisch, dann fragte Jan ein wenig schnarrend "Wieso? Willst du wissen, wie groß sein Schwanz ist, oder was?"
Kai lachte auf. "Genau das. Ich hab hier jemanden, der sich für diese Detailinfo interessiert."
"Aha." Jan lachte ebenfalls und meinte dann gutmütig. "Da kann ich Tini leider keine Entwarnung geben, alles an ihm ist wohl proportioniert, um es mal so zu sagen. Wir haben aber nicht nachgemessen, tut mir leid."
Kai holte tief Luft, dann erzählte er hastig "Wo wir bei Schwänzen sind. Lukas hatte da ein paar Probleme mit seinem... wegen des Bandscheibenvorfalls. Deswegen war ich bei ihm, psychologische Unterstützung und naja..."
Jan seufzte abgrundtief. "Und er hat dich gevögelt?"
"Nee. Er konnte nicht. Das ist ja das ganze Problem gewesen, der Schwanz war seit seinem Bandscheibenvorfall irgendwie nicht einsatzbereit. Aber wir haben Pornos geschaut und gefummelt. Tut mir leid. In dem Moment kam es mir vor, als müsste ich ihm beistehen. Freundschaftlich, verstehst du?"
Jan reagierte komplett anders, als Kai gedacht hatte. Er lachte sich kaputt. "Der Mallorcaschreck hat Ladehemmung? Ist ja zum Piepen, aber da bin ich erleichtert, dass er damit zu dir ist. Ehrlich. Dann ist es jetzt ja offiziell, dass ihr Freunde seid und nicht mehr Beziehungsmaterial, oder?"
Verwundert, unendlich erleichtert und mit einem Mal durch und durch glücklich nickte Kai und sagte verspätet "Ich liebe dich. Wirklich."
Jan lachte. "Weiß ich doch, mein Baby. Ich vermisse dich, vielleicht komm ich früher hier weg, dann ruf ich auf deinem Handy an, also schalt es nicht so viel aus, okay? Ich muss los, bis bald."
Rasch legte Kai auf und presste das Telefon kurz an seine Brust, musste lächeln, konnte nicht damit aufhören. Er genoss das Glückgefühl einen Augenblick lang für sich, bevor er zu Tini zurückging.
"Du, ich hab Jan gefragt, der meinte, dass Holger tatsächlich wohl proportioniert ist. Das bedeutet, dass alles an ihm in der Tat so groß ist. Tut mir leid."
Tini blinzelte. "Und wieso grinst du so?"
"Weil das Leben schön ist."
"Ah. Jan ist zu beneiden."
"Warum?" Kai überlegte, wie er Tini raus komplimentieren konnte und erlitt einen kleinen Schock, weil sie frei heraus erwiderte "Weil er der einzige ist, der dich so zum Lächeln bringt und... weil er es mit dir tun darf. Ich glaube, dass..." Sie senkte den Kopf. "Nein. Ich bin wirklich in Holger verschossen, jedenfalls kann er gut küssen, das hätte ich nicht gedacht. Nicht so gut wie du, aber das wird schon." Sie stand auf und ging in die Küche rüber. "Ich hätte nicht gedacht, dass er mich wirklich schon vom ersten Tag an toll fand. Komisch, wie blind man sein kann." Mit energischen Bewegungen begann sie, die Auflaufschale auszuwaschen.
Sie blieb noch eine ganze Weile, redete mit Kai aber kein Wort mehr über ihre Sorgen um die Privatausstattung ihres neuen Freundes. Erst als Lolli in die WG zurückkehrte und sie eine Nachricht von Holger mit einer Anfrage auf ein Date erhielt, verabschiedete sie sich, aber versprach, gelegentlich im LPP auf Visite vorbeizuschauen.
Kai selber musste schon am nächsten Tag wieder in das Café und war zu gleichen Teilen froh wie ein wenig genervt, dass die Arbeit ihn von seiner Freude um die Beziehung mit Jan ablenkte. Er war an diesem Tag zum ersten Mal allein in der Kaffeebar eingeteilt, aber schaffte die Arbeit mit nur wenigen Fragen. Er hatte das Glück, mit der quirligen Henrike zusammenarbeiten zu können, die ihm selbstverständlich sehr vieles abnahm und nebenbei ungefragt zeigte. Sie half ihm, als er sich an dem Milchaufschäumer das Handgelenk verbrühte, für fast eine halbe Stunde mit den Bestellungen. Kai beschloss, ihr auf jeden Fall Teile von seinem Trinkgeld abzugeben.
Als er gegen sieben Uhr fast Feierabend hatte, kam Pascal. Er ließ sich jedoch an einem Ecktischchen nieder, bestellte sich einen Espresso und warf mit Hundeblicken um sich, bis Kai aus Mitleid das Trinkgeldzählen auf die WG verschob, um sich zu seinem Freund zu setzen.
Kai schob sein Glas mit frisch gepresstem Orangensaft neben Pascals Tässchen. "Okay, was ist los?"
"Los?"
"Du schaust wie ein nasser, alleingelassener Hund drein. Irgendetwas ist los, ich bin mir sicher. Aber ich warne dich. Wenn es etwas mit Sex zu tun hat, dann will ich das nicht hören, gestern war anstrengend genug."
"Gestern? Lukas?!" Alarmiert und offenbar eifersüchtig starrte Pascal Kai an.
"Idiot. Nicht alles dreht sich um deinen Gott. Ich musste mit Tini über Sex reden, Frauen sind so was von anstrengend!" Kai übertrieb, um Pascal von der Fährte wieder weg zu locken, auf die er ihn unbewusst gebracht hatte. "Also, was ist los? Ich hab mein Handgelenk vorhin verbrüht und bin nicht so gut drauf, spuck es einfach aus."
Pascal seufzte leicht, dann murmelte er "Es geht um Lukas und es geht um Sex, also sollte ich vielleicht lieber mit jemandem anderes darüber reden."
"Auf jeden Fall solltest du das, du Idiot! Mit Lukas nämlich!" Ungehalten schüttete Kai den teuren Saft in sich hinein. "Wieso fragen alle mich und nicht den, um den es geht?" beklagte er sich dann betont gereizt.
"Ich frage dich, weil Lukas offenbar nicht nur Sex von dir wollte, aber ich bin mir fast sicher, dass er von mir nix anderes wollen kann. Als ich vorgestern bei ihm war, hat er kaum mit mir geredet, hat die ganze Zeit nur aus dem Fenster gestarrt und deprimiert geseufzt."
Kai hätte fast laut gelacht. Rasch kippte er noch einen großen Schluck von dem Saft in sich hinein, um Zeit zu gewinnen und sich wieder fangen zu können. Endlich sagte er bestimmter als ihm zumute war: "Ich bin mir sicher, dass Lukas einfach nur matschig von den Tabletten war und außerdem ein wenig depri wegen der Schmerzen. Und... naja... du weißt ja sicherlich, wie eitel der Kerl ist. Stell dir mal vor wie er sich fühlt, wenn du daher kommst, jung, niedlich, fit. Er hat einen Bandscheibenvorfall, das passiert zwar immer mehr jungen Leuten, aber dennoch ist es so ein wenig wie ein Schritt zum Älterwerden, oder?"
Es schien Pascal ein wenig aufzumuntern. "Also sollte ich ihm vielleicht klar machen, dass er für mich perfekt ist und ich das Alter gar nicht sehe? Hm."
Genau als Kai hinterlistig ein Date zwischen Pascal und Lukas einfädeln wollte, betrat Leon den Laden durch die Hintertür. Gefolgt von einem schlanken, blonden Mann. Und anstelle 'Wie wäre es, wenn du ihn mal zum Schwimmen einladen würdest? Das ist gut für den Rücken' sagte Kai tonlos "Lukas' Ex."
Pascals Kopf fuhr herum, bevor er sich offenbar auf seine Kinderstube hatte besinnen können. Er rettete sich, indem er Leon mit einem Lächeln zuwinkte. Leon nickte jedoch nur und lenkte den anderen Mann mit einer kleinen Berührung am Ellenbogen in Richtung seines Büros.
Lukas' Exflamme hatte Kai sich immer göttlich vorgestellt. Sehr gut aussehend, super charismatisch vielleicht auch oder einfach zum Sterben süß. Der Typ war jedoch alles andere als süß oder charismatisch. Er sah dünn aus, zickig und zugleich auf eine Art anstrengend, die sonst nur Lolli ausstrahlen konnte, wenn er schlechte Laune hatte. "Felix heißt er und Lukas ist immer noch am hinter ihm her weinen. Ehrlich... wo ich den Typen jetzt so vor mir sehe, kann ich das nicht mehr nachvollziehen."
"Ich schon. Er schaut empfindlich aus und wie eine Paradezicke. Darauf fährt Lukas voll ab, schau dich an."
"Wie bitte?! Ich bin eine Paradezicke?" Empört stemmte Kai die Ellenbogen auf den Tisch und starrte den beiden hinterher.
"Nein, aber du bist empfindlich und kannst sehr kompliziert sein." Pascal milderte seinen Fauxpas mit keinem weiteren Wort ab, sondern seufzte leise und meinte: "Ich sollte wirklich empfindlicher und irgendwie... kostbarer werden. Wie du. Schau dir allein an, wie die Typen von dem Tisch dahinten versuchen, deine Aufmerksamkeit zu erhaschen. Ein Blick von dir würde ihren Tag erheitern. Wenn ich rüber schau, fühlen sie sich bestimmt nur angemacht."
"Blödmann. Du bist genauso empfindlich, wenn du willst. Und ich bin nicht kostbar oder so was, ich bin nur ignorant. Die Typen sind mir zum Beispiel noch gar nicht aufgefallen."
Leon unterbrach ihre Diskussion um Kostbarkeit, indem er seinen Kopf durch die Tür streckte und Kai zu sich winkte. Kai wappnete sich für die Begegnung mit diesem Superexfreund und nahm Pascal das Versprechen ab, dass er ihn nach Hause fahren würde.
Wie erwartet fragte Leon knapp nach dem Vertrag und wie geplant fragte Kai zurück, ob er den Vertrag am Samstagmittag nach der Arbeit im Altenheim schnell bei Leon Zuhause vorbeibringen dürfte. "Ich hab ihn natürlich Zuhause liegen lassen und nächste Woche bin ich ja erst wieder am Freitag eingeplant."
Merkwürdigerweise überlegte Leon einen Augenblick lang und fragte nach "Samstag mittags? Wie viel Uhr denn ungefähr?"
Kai blinzelte verwirrt, aber berechnete, dass er es mit der U-Bahn in zwanzig Minuten von der Arbeit schaffen würde. "So gegen ein Uhr. Ich kann den Vertrag auch nur schnell einwerfen."
"Nein, nein. Die Zeit passt gut, sehr gut sogar. Ach, ich wollte dir noch Felix vorstellen. Ihr beiden habt ja einen gemeinsamen Bekannten, nicht wahr?"
Ungemütlich ging Kai mit einem Mal auf, dass er mit dem eher unbegeisterten Felix einem Mann die Hand gab, der mit Lukas im Bett gewesen war. Dass er damit auch einem Mann die Hand gab, der wusste, dass er mit Lukas im Bett gewesen war. Er spürte, dass er rot anlief und hasste den Moment, und Leons überlegenes Lächeln erst recht.
"Felix, das ist Kai. Er soll ein wenig ein Kundenmagnet hier werden." Leon sagte das bestimmt nur, um alles schlimmer zu machen, aber Felix warf seinem Lebensgefährten einen missbilligenden Blick zu, dann lächelte er Kai an und fragte mit einer bei seiner zierlichen Statur und geringen Größe schon unglaublich dunklen und klaren Stimme "Wie geht es Lukas? Ich würde mich ja gern einmal bei ihm melden, aber bin immer wieder unsicher, ob er das so gut aufnehmen würde."
Und genau in diesem Moment sah Kai, wo Felix so kostbar war. Sein Lächeln, das die Augen umspielte, auch nachdem er bereits wieder ein ernstes Gesicht machte, war ehrlich und besorgt und voller Gefühle, die sich auch in seiner Stimme widerspiegelten. Fasziniert und dadurch unvorsichtig meinte Kai "Lukas würde es dir bestimmt nicht übel nehmen. Er ist ohnehin zurzeit krank geschrieben und Zuhause."
"Oh. Hast du zufällig seine Telefonnummer?" Felix hatte es irgendwie geschafft, Leons kraftvolle Ausstrahlung zu einer verschwindenden Macht zu degradieren, während er sich leger auf die Schreibtischplatte setzte und einen Zettel aus dem teuren Halter pflückte.
Pflichtschuldig kramte Kai sein Handy hervor und nannte Lukas' Nummern, die er eingespeichert hatte. Dann verabschiedete er sich jedoch lieber schnell und begann noch im Gehen eine Vorwarn-Nachricht für Lukas zu tippen, die er abschickte bevor er zu Pascal trat, um mit ihm gemeinsam den Laden zu verlassen. Auf der Heimfahrt in Pascals mal wieder wundervoll geputztem Sportwagen fasste Kai seinen überarbeiteten Eindruck von Felix zusammen und schlug Pascal ermutigend vor, Lukas zum Schwimmen einzuladen.
"Das ist prima, Passi. Man kann sich nackt anschauen, man kann sich gemeinsam erholen... in der Sauna zum Beispiel... und außerdem kann man hinterher zusammen was essen gehen, und da ergibt sich bestimmt die Gelegenheit zum Reden." Er nahm dem skeptischen Pascal das Versprechen ab, sich zumindest mal zu überlegen, ob es nicht für das Wochenende eine gute Sache wäre. "Lukas hat eh nichts vor wegen seiner Rückendepression."
Als Kai an diesem Abend in seinem Bett lag und mit leerem Blick auf den Fernseher starrte, fühlte er sich zufrieden und mit einem Mal sicher. Er hatte den gar nicht mal schlechten Job, auch wenn sein verbrühtes Handgelenk noch immer prickelte. Er hatte Jan und er hatte Jan die Sache mit Lukas gestanden. Er hatte endlich den legendären Felix getroffen, und der war auch noch in Wirklichkeit so legendär wie Lukas ihn hatte werden lassen. Er hatte eine Möglichkeit für Lukas, Felix zu treffen ergattert, indem er sowohl die Nummer rausgegeben hatte, als auch die Adresse ausfindig gemacht und er hatte Pascal auf Lukas angesetzt.
Das Telefon riss ihn aus seiner Trance, als er gerade bemerkte, dass er aus Versehen einen Nachrichtensender eingeschaltet hatte. Lolli ging ran und quatschte ein wenig mit dem Anrufer, bevor er bei Kai anklopfte und weiterreichte, ohne zu sagen, um wen es sich drehte. Es war Lukas.
"Du hast Felix meine Nummer gegeben?!"
"Ja. Aber ich hab dir gleich eine Warnung geschrieben. Hast du die nicht bekommen?" Verspätet erinnerte Kai sich daran, dass er gar keine Antwort erhalten hatte.
"Nö. Ich hab mein Handy aus gehabt bis eben, wollte nicht mit jedem über den Rücken quatschen. Ich hab einen Herzinfarkt erlitten. Ich bin tropfnass aus der Dusche gekommen, weil mein Telefon klingelt und dann ist auch noch Felix dran. Da stand ich wie ein Depp nass und nackt und wusste nicht, was ich sagen soll."
"Hm. Tut mir leid... irgendwie..."
"Ich versteh schon. Felix kann man nichts abschlagen."
Kai drehte sich auf den Bauch und schaltete den Fernseher komplett aus. "Und? Habt ihr euch unterhalten? Biste jetzt geheilt?"
"Wir treffen uns morgen und nein, ich bin nicht geheilt."
Und das konnte Kai nun, nachdem er Felix gesehen und erlebt hatte, auch nachvollziehen. Der Typ war sicherlich schwer abzugewöhnen, und es brauchte offenbar jemanden von Leons Format, um ihn zu halten. Genervt, dass alles doch nicht so toll lief, wie er es geplant und sich eben gerade noch erträumt hatte, fragte Kai eine Spur zu taktlos "Was macht das andere Problem, biste da wenigstens geheilt?"
Lukas schwieg einen Moment lang. "Jein. So lala. Es hat mal geklappt und dann auch wieder nicht, ich glaube fast, dass du mir zwar die Panik genommen hast irgendwie, aber das wirkliche Problem doch im Rücken liegt. Ich hab es jetzt gewagt, meinen Orthopäden mal zu fragen und der meinte, dass es nicht selten ist und ich einfach ein paar Tage noch Geduld haben muss. Haha. Viel Ruhe und Wärme und so. Mal sehen. Vielleicht fahre ich am Wochenende zu meinem Bruder auf den Hof und lasse mich von meiner Mutter und meiner Schwägerin mit Kuchen voll stopfen."
"Ah. Ich hoffe, dass du dich bald erholst. Ich hab übrigens die Adresse von Leon und Felix, werde da am Samstag meinen Vertrag vorbeibringen."
"Hm. Jetzt wo ich mich mit Felix morgen schon treffe, ist das eigentlich nicht mehr nötig, oder willst du einfach neugierig sein?"
"Keine Ahnung." Kai rollte wieder auf seinem Rücken rum. "Ich glaube, ich will einfach sehen, wie Leon so privat ist. Er ist im LPP immer so... abgehoben. Jedenfalls, wenn es nicht klappt mit dem Date, dann kannste mich ja dort vorbeifahren oder so. Ich nehme mein Handy zur Arbeit mit, Jan wollte auch anrufen, der kommt wohl Samstagabend vorbei."
"Aha. Gut. Ich will mich dann mal mit meinen Medikamenten zudröhnen und ein wenig schlafen. Ich ruf dich vielleicht morgen nochmal an und sag dir, ob ich Entwarnung wegen Felix geben kann, dann kannst du deinen Vertrag noch immer einfach zum LPP bringen und musst Leon nicht auch noch Zuhause ertragen."
Nachdem er das Telefon wieder in den Wohnraum gebracht hatte, überlegte Kai, ob nun all seine anderen Pläne auch in die Hose gehen würden. Irgendwie schienen Lukas' Rücken, das Wiedersehen mit Felix, seine Neugierde Leons Wohnung betreffend und Pascals Chancen bei Lukas zu eng zusammenzuhängen.
Aber erst am Samstag sollte Kai in Erfahrung bringen, wie schief alles gehen konnte, wenn man es zu sehr planen wollte und wie eng die Dinge in Wirklichkeit miteinander verknüpft waren.
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