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Trost 2

Kapitel 69-73

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 69

Der Samstag fing schon einmal an wie ein Freitag, ein dreizehnter, wenn man es genau nahm. Kai verschlief und musste sich mit dem Duschen und dem Weg zur Arbeit beeilen. Fast hätte er dabei noch den Vertrag vergessen, den er vorsorglich zwar in seinen Rucksack geschoben, aber dann am Morgen wieder raus gezogen hatte, um Platz für seine Brotdose zu schaffen.

Er kam daher genervt und abgehetzt im Altenheim an und erfuhr dort, dass er zwei Etagen würde machen müssen, weil eine Kollegin erkrankt war. Dementsprechend war er erst sehr spät mit der Arbeit fertig und verpasste die geplante Bahn, obwohl er die Übergabe an die Spätschicht so knapp wie möglich gestaltet hatte. Erst in der Bahn fiel ihm auf, dass er sein Handy vergessen hatte mitzunehmen. Gereizt dachte er während der Fahrt in den anderen Stadtteil darüber nach, dass Jan vermutlich genau jetzt zum dritten Mal anrief, um zu fragen, ob er etwas leckeres zu Essen mitbringen sollte. Kai wollte nach dem schrecklichen Morgen aber auf jeden Fall Pizza essen, am besten aber eine von dem neuen Bringdienst, von dem Lolli sich neulich eine mitgebracht hatte. Die waren riesig groß und viel zu lecker, um ignoriert zu werden.

Er musste von der Bahnstation noch eine Ecke weit laufen und versaute sich die weiße Jeans, die er im Winter immer zur Arbeit anzog, weil er beim Suchen nach der Hausnummer rückwärts in eine schlammige Pfütze trat. Endlich fand er das Haus und hob die Brauen. Hinter einem kleinen, professionell gehegten Vorgärtchen erhob sich recht robust und mächtig ein weißes Wohnhaus mit drei Stockwerken. Die beiden Hausseiten wurden durch die Einfahrt in eine Tiefgarage getrennt, neben der auch die Haustür lag.

Die Straße war ohnehin mit eine der besten Wohngegenden der Stadt, weil man mit Blick auf den Stadtpark wohnte, in einer verkehrsberuhigten Straße. Aber das Haus machte einen zusätzlich teuren Eindruck. Wie er es bei Leon auch erwartet hatte. Zögerlich ging Kai auf die Haustür zu und klingelte hastig bei Pranitz, bevor er es sich anders überlegen konnte.

Über die Gegensprechanlage rief Leon "Dritter Stock, komm rauf!" Es gab wider Erwarten keinen Fahrstuhl im Hausflur, nur ein Treppenhaus, auch wenn es mit aufwändigen Marmorfliesen und einer neuen Treppe sehr schön gestaltet war. Durch ein schlankes Fenster konnte man in den rückwärtigen Garten sehen. Auch hier schien ein Gärtner die Pflege der Bäume und Büsche übernommen zu haben, die Rosen waren fachmännisch zurechtgeschnitten. Eine Kletterwand mit nun kahlen Ranken verdeckte zur Seite hin einen Fahrradschuppen.

Kai kam im dritten Stock an und erfreute sich kurz an dem runden Giebelfenster im Hausflur. Alles war so besonders und besonders schön in diesem Haus. Unsicher blickte er auf die beiderseits nur angelehnten Wohnungstüren, aber entdeckte dann ein Namensschild. Bevor er jedoch bei Pranitz anklopfen konnte, trat aus der Wohnung gegenüber jemand in den Flur. Es war Jans Vater, der erstaunt in der Bewegung stockte, doch dann mit einem freundlichen Lächeln auf Kai zu trat.

"Grüß dich, Kai. Bist du mit Jan hier verabredet?"

"Eh? Nein, eigentlich..."

Leon steckte den Kopf aus der Tür und blinzelte einmal, dann sagte er forsch und sicher wie immer. "Ah. Kai. Herr Bawenhop, wollten Sie auch noch zu mir?"

"Nein, nein. Wir sind mit der anderen Wohnung beschäftigt. Aber so ein Zufall, dass Sie Kai schon kennen."

"Einer meiner Angestellten im Café. Die Welt ist klein. Willst du mir den Vertrag eben geben, dann kann ich zu unserem Mittagessen zurück."

"Ja. Entschuldige, dass ich so spät dran bin." Hastig kam Kai der Aufforderung nach. Leon nickte ihm und Jans Vater noch einmal zu, dann klappte die Tür und Kai blieb allein mit dem Mann, den er als einen der beeindruckendsten Menschen in seinem Bekanntenkreis bezeichnen würde.

Lasse Bawenhop lächelte noch einmal, ein wenig unsicher, dann machte er eine einladende Geste. "Ich wollte noch auf Jan warten. Komm doch mit herein und schau dir die Wohnung schon mal an."

Kai nickte drämelig und folgte Jans Vater in den geräumigen Flur. Trotz seiner Verwirrung wurde ihm eines schon nach den ersten Schritten über dunkles Dielenparkett klar, es handelte sich nicht nur um ein Traumhaus in Traumlage, sondern auch um eine Traumwohnung darin. Die Diele allein war größer als ihr Wohnraum in der WG und bot sogar noch einen Einbauschrank an der einen Wand. Von ihr gelangte man in ein Wohnzimmer, in dem die Decke zum Dach hin durchbrochen war. In die schweren Balken eingelassen waren überall Punktstrahler. Durch eine Balkontür gelangte man auf eine geräumig wirkende Dachterrasse. Alle Räume waren mit dem nicht gerade billig wirkenden dunklen Dielenboden ausgelegt und dem Geruch nach frisch gestrichen. Vom Wohnraum durch einen Frühstückstresen abgetrennt lag eine kleine Küche, die anscheinend nagelneu eingebaut worden war, auch hier roch es nach Plastik und Farbe. Der Herd und der Ofen waren noch mit Schutzfolien bespannt.

Lasse lehnte sich an die Balkontür und blickte über die Straße hinweg zum Wald. "Gefällt sie dir?"

Kai nickte und linste durch den Flur in das hellgrün geflieste Badezimmer, das erstaunlich spartanisch und klein wirkte. "Wem gefällt so eine tolle Wohnung nicht?", fragte er rhetorisch zurück.

Lasse schockierte ihn gleich darauf ein wenig mehr, indem er durch die Diele zu den Schlafzimmern zurückging und die Türen öffnete. "Das soll, glaube ich, deins werden."

Kai hatte ein Gefühl, als würde er auf zu weichem und unstetem Untergrund laufen. Benommen tappte er hinter Jans Vater her zu dem Zimmer, das von der Größe etwa seinem jetzigen Zimmer entsprach. "Meins?"

"Oh. Ich hatte angenommen, dass Jan..."

Jan unterbrach sie. Er kam mit schnellen Schritten durch die Diele in die Wohnung hinein. "Pa? Ich habe den Verwalter schon wieder nicht... Kai! Was machst du denn hier?!"

Jans Vater blickte von einem zum anderen und nahm seine Brille ab. "Oh." Mehr sagte er nicht, aber es beschrieb die Szene zu genüge.

'Oh' war auch, was Kai in dem Augenblick dachte. Sein Kopf fühlte sich zugleich leer und viel zu schwer an. Unsicher deutete er an Jan vorbei und meinte "Ich habe meinen Arbeitsvertrag bei Leon vorbeigebracht. Der scheint gegenüber der Wohnung zu wohnen, die irgendwie dir gehört."

Lasse ließ sich auf einem der Hocker vor dem Küchentresen nieder. "Ik decht, du hest..."

Jan ging in die Küche hinein und starrte in den etwas offen stehenden Kühlschrank. "Nee, ik hebb decht..." Er senkte den Kopf und ließ sich neben seinem Vater nieder. "Ick bün bang, er weer gegenan, wenn ick ihn dibbern deit."

"Hm. Ik glöve, du hest den Ogenblick utschuttern deit. He hett nix gegen. Wenn ji dat affkönnt. He kunn tofödderst in een Kammer inmeden."

"Hm. De lütte Kammer. Wi veel glöbst?"

Die beiden wanderten ihren Kauderwelsch murmelnd weiter durch die Diele in das Zimmer, das laut Lasse Kai gehören sollte.

Kai folgte ihnen ein wenig sauer und beobachtete, wie sie zum Fenster traten, Steckdosen beäugten und mit Schritten ein grobes Maß festlegten. Er wollte sie hin und wieder unterbrechen und eine Erklärung einfordern, aber die fremde Art zu sprechen und auch die konzentrierte Unterhaltung, als sei er gar nicht da, hielten ihn immer wieder auf.

Endlich fuhr Lasse seinem Sohn einmal über die Haare und gab Kai die Hand. "Ich weiß, dass wir dich ein wenig überfallen haben. Tut mir leid. Überlege es dir, Kai. Wir würden uns freuen." Mit einem Nicken ging er zur Tür.

"Grüß deine Frau von mir!“, rief Jan ihm fast neckend hinterher. Er wirkte mit einem Mal aufgekratzt und kramte gleich sein Handy hervor, um noch einmal zu versuchen, mit einem Verwalter zu telefonieren.

Kai wandte sich betont beleidigt ab, weil er so lange ignoriert wurde und ging in das andere der beiden Zimmer. Es war größer als das für ihn bestimmte und verfügte zudem ebenso wie die Diele über einen Einbauschrank, den er probehalber öffnete und für geräumiger als ihre Küche in der WG befand.

Er war gerade an das Fenster getreten, von dem aus man in den kleinen Garten hinunter blicken konnte, als Jan ihn aus seiner Muffellaune aufschreckte. Jan war so leise gewesen, dass Kai ihn erst bemerkte, als er direkt hinter ihm stand.

Jan legte seine Hände vorsichtig auf Kais Schultern und trat noch einen Schritt dichter. "Ich wollte, dass es fertig ist und schön, bevor ich es dir zeige. Ich bin ein wenig stolz drauf. Naja, ich war natürlich auch nervös. Wir sind noch nicht einmal ein Jahr zusammen, Kai. Und es war ein ziemliches Auf und Ab. Aber..."

Kai spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. "Aber?“, fragte er fast heiser zurück.

"Aber ich spüre, dass es richtig ist mit dir. Ich weiß, dass du mir vorwerfen kannst, ich bin zu zögerlich gewesen, zu unsicher, zu sprunghaft. Ich könnte dir vorwerfen, dass du darauf mit Untreue reagiert hast, aber trotzdem... ich weiß, dass es richtig ist. Deswegen möchte ich gern, dass wir hier zusammenleben."

"Das hier ist deine Wohnung? Du hast sie von deiner Oma geerbt, nicht?"

"Nicht ganz. Ich hab schon geerbt von meiner Oma, aber das gesamte Haus." Jan trat neben Kai und lehnte sich an die Fensterbank, er zupfte an einem Faden, der aus einer fadenscheinig gewordenen Stelle seiner Lieblingsjeans hing. "Ich bin sozusagen... reich." Unsicher lachte er einmal auf.

"Oh." Die 'Oh-Momente' nahmen zu an diesem Tag.

"Ich weiß. Ich hätte gleich etwas sagen sollen, aber es war ein wenig kniffelig am Anfang. Ich musste dem Mieter hier, einen Pharmareferenten, kündigen. Leon hätte ich lieber geschasst. Die Wohnung nebenan ist etwas kleiner und passender. Aber da er jetzt dein Arbeitgeber ist, wollte ich mich nicht unbeliebt machen und hab stattdessen den anderen Kerl rausgeschmissen. Der war irgendwie sowieso auf dem Weg, mit seiner Verlobten zusammenzuziehen oder so."

Jan legte den Kopf schief und betrachtete Kais Gesicht. "Eigentlich hatte ich vor, dich heute hierher zu entführen. Ich hab vorgehabt, dich heute sozusagen um deine Hand in der Miete zu bitten." Er senkte den Blick wieder. "Jedenfalls denke ich nicht, dass du darauf verzichten willst, Miete zu zahlen, oder? Leisten könnte ich es mir ja, aber vermutlich hättest du dann ewiglich Angst, dass ich aufrechnen könnte eines Tages."

"Ich..." Kai blinzelte einige Male. "Ich bin schrecklich hungrig, so kann ich nicht denken", sagte er endlich lauter und einen Hauch hysterischer als geplant. Es war wirklich das erste, das ihm in den Kopf kam.

Jan lachte auf und holte sein Telefon erneut hervor. "Das ist ein Argument. Ich bestelle Pizza und eine Flasche Cola. Was willst du haben? Wieder Thunfisch ohne Zwiebeln wie immer?"

Kai nickte abwesend und sah wieder aus dem Fenster, während Jan den eingespeicherten Bringdienstmann heraussuchte und kurz mit ihm sprach. "Ich war in den letzten Tagen sehr viel hier in der Wohnung, hab den Handwerkern auf die Flossen geschaut und mich mit dem Verwalter gestritten. Die kennen mich also schon."

"Du warst gar nicht bei deinen Eltern."

"Nein. Und es war schrecklich schwierig, nicht einfach am Abend zu dir zu fahren, Baby." Jans Hände fanden ihren Weg erneut auf Kais Schultern. Ein wenig kühler als Kais Haut am Hals folgten die Finger dem Kragen, mit einer merkwürdig mütterlichen Geste schob Jan das herausschauende Waschschildchen zurück. "Es war schwer für mich. Vor allem als du von Lukas angefangen hast. Ich war fast erleichtert, auch wenn ich ein wenig sauer war, weil du dich ihm schon wieder an den Hals geworfen hast."

"Du hättest ihn mal sehen sollen. Er war wirklich fertig."

"Schon okay, ich glaube, dass ich auch fertig wäre an seiner Stelle. Der Mallorcaschreck stellt seine körperliche Einsatzfähigkeit sicherlich immer voran, gell?"

"Irgendwie war er wesentlich unsicherer, weil er an Pascal ran wollte. Es war schlechtes Timing. Er wollte an jemanden ran, der ihn nur vom Sex her kennt."

"Aha? Haben er und Pascal es also schon mächtig getrieben, ja?"

Verspätet fiel Kai ein, dass Jan von der Nacht nichts wusste. Er nickte daher nur, erzählte irgendeinen Unsinn, um seine eigene Rolle bei der Sache zu vertuschen und war erleichtert, dass der Pizzamann ihn wenig darauf vor weiteren Nachfragen rettete.

Sie aßen am Küchentresen aus den Pappschachteln und tranken die Cola abwechselnd aus der Flasche, weil Jan keinerlei Teller, Gläser oder Besteck in der Wohnung hatte. Jan schwieg, nur hin und wieder sah er Kai zwischen zwei Bissen an. Als Kai etwas weniger als die halbe Pizza, die er über behalten hatte, in Jans bereits leere Schachtel legte, trafen sich ihre Blicke.

Die goldenen Funken wurden lebendig in Jans Augen, sogar in der blassen Wintersonne. Er legte den Kopf ein wenig schief und hob eine Hand, um Kai mit dem Daumen ein wenig Mehl vom Mundwinkel zu wischen. "Bitte", sagte er nach einer Atempause leise und Kai konnte nur nicken, bevor sie sich umarmten.

Kapitel 70

Als Kai noch immer ein wenig benommen in seine bald alte Wohnung zurückkehrte, erwartete ihn dort schon wieder ein ungewöhnlicher Anblick. Gewohnt ungewohnt eigentlich, der Wahnsinn in Form von Lolli war immerhin sein Mitbewohner. Der Wohnraum war freigeräumt, die Einrichtung stapelte sich in einer Ecke und in der Mitte bauten Lolli und Pascal fluchend an einem unförmigen Möbel. Sie lagen beide auf dem Boden und schraubten zugleich an einem Winkel, Einzelteile aus Holz und Metall lagen überall verstreut und in der Mitte saß Lukas auf dem einzigen nicht gestapelten Stuhl und gab ihnen verdrossen Hinweise.

"Was ist denn hier los?"

Lolli schob das geblümte Haarband noch höher auf den Kopf und seufzte. "Ich hab mich da vielleicht in etwas hinein geritten, sag ich dir. Jan, mein Ritter, meine Rettung! Kannst du so etwas vielleicht? Ikea ist ja kein Thema für mich, aber dieses Spielhaus ist wirklich die Meisterprüfung. Gru-se-lig."

Doch Jan winkte ab. "Ich muss los, tut mir leid." Er küsste Kai noch einmal rasch auf die Wange und ergriff gekonnt die Flucht.

Pascal erhob sich auf die Knie, nachdem er die Schraube auf Bodenhöhe zu Ende angezogen hatte. "Lollis Diplomarbeit wird in einer Firma sein, die Spielzeug herstellt."

"Holzspielelemente für Spielplätze, Kindertagesstätten und dergleichen", fiel Lolli ihm stöhnend aufstehend ins Wort. "Sie wünschen ein neues Design für ihr Spielhaus. Ich hab das Grundhaus mitbekommen und baue es jetzt mal auf, um zu sehen, wie die Ausgangslage ist."

Kai blinzelte einige Male, dann schnauzte er "Aha. Und wo sollen wir bitte wohnen? Erde an Idioten, ich helfe nicht das Teil wegzuschaffen, ist das klar?!" Er stapfte in sein Zimmer und zog sich die weißen Sachen aus, um sie in die Wäsche zu werfen. Mit einer bequemen, weil zu weiten Jeans und dem dunkelgrünen Pulli von Jan bekleidet fühlte er sich dann schon wieder gnädiger und stapfte zurück, um zu verkünden. "Eigentlich ist es mir eh egal, ich bin bald weg. Du musst dir einen neuen Mitbewohner suchen, Lolli."

Merkwürdig unbeeindruckt wedelte Lolli mit seinen dünnen Armen umher. "Das Spielhaus kommt weg, sobald ich es mir einmal in der Gänze angesehen habe. Es ist schon so gut wie an die Nachbarn im Erdgeschoss verkauft. Die freuen sich schon darauf... die müssen diesen Mist ja auch nicht zusammenschrauben!" Lolli warf während seiner Rede das Haarband von sich und holte einen Schreibblock. Er kritzelte diesen mit Notizen und Zeichnungen voll, während Pascal sich seufzend wieder über die Bedienungsanleitung beugte. "Ich habe irgendwie noch vier Schrauben, aber nur drei Muttern über. Lukas, hab ich eine verloren?" Er nutzte die Gelegenheit, um Lukas in die Augen zu sehen, aber dieser beachtete ihn nicht sonderlich.

Keiner kommentierte Kais Umzugspläne und das beleidigte ihn schon ein wenig. Seine Abteilung für kindische Eifersucht war zudem damit geplagt, dass Pascal ihn seit einer knappen Begrüßung noch gar nicht angesehen hatte, während er Lukas die ganze Zeit über angummerte wie ein Dackel.

Lolli schob das Band wieder zurück in die ohnehin schon wirren Haare und seufzte theatralisch. "Ich sehe schon, dass mein Job in dieser Firma nicht nur aus Design bestehen wird. Wie will man ein Spielhaus für Kinder verkaufen, wenn man es nicht einmal zu viert zusammenbauen kann, ohne zwei Leute ins Krankenhaus zu bringen? Das ist gruseliger als gruselig. Wer hat sich das nur ausgedacht? Wie schreibe ich meine Meinung, ohne beleidigend zu sein?"

"Wieso zu viert?" Kai hatte sich ein Glas Wasser geholt und nippte daran.

"Weil du mal bitte mithelfen musst. Halt mal diese Ecke hier hoch und dann... hast du sicherlich so schmale Hände, um hier mal eben..." Lolli nahm ihm das Glas weg und in der nächsten Stunde konnte Kai ihm nicht wieder entkommen. Erst als Lukas, und in Folge auch sehr rasch Pascal ihren Abschied nahmen und müde davon zogen, zog Kai sich ebenfalls zurück.

Das Spielhaus sah passabel aus, nachdem es endlich aufgebaut worden war, aber nahm weite Teile ihres Wohn- und Esszimmers ein, sodass Kai verdrossen vom Desinteresse an seinem Auszug an seinem Schreibtisch Joghurt in sich hinein löffelte, während er die Kündigung für das Altenheim schrieb. Das Arbeiten dort würde mit dem langen Anfahrtsweg von der neuen Wohnung nicht mehr sinnvoll sein und zugleich würde er so genügend Zeit am Wochenende haben, um seine Zeit mit Jan zu verbringen.

Grinsend überlegte Kai sich, dass er und Jan von nun an einfach zusammen sein konnten, jeden Tag. Einfach mal Sex haben, wenn ihnen danach war. Ohne sich Lollis taktlosen Kommentaren aussetzen zu müssen, ohne unter den Blicken und dem Getuschel der Kommilitonen und Nachbarn im Wohnheim bei Jan zu leiden. Eigentlich ein Traum. Zugleich kamen Kai aber immer mehr Bedenken. Er würde von Jan abhängig sein. Er hatte als Untermieter dann sein Zimmer dort und die Benutzung von Küche und Bad, aber Jan war sein Vermieter. Sein Freund und sein Vermieter. 'Ich bin sozusagen reich. Scheiße. Jan muss immer alles haben, alles. Tolle Eltern, viel Geld und dann auch noch einen tollen Körper. Wird das denn immer schlimmer?'

Nachdenklich stützte Kai sein Kinn in die Hände und starrte aus dem Fenster auf die gegenüberliegenden Fenster. Jan war seit kurzem also der absolute und perfekte Traummann, nicht nur für ihn, das war sicher. Und Leon war sein Nachbar und Arbeitgeber. Auch eine ungute Kombination. Er konnte sich also nicht mal eben krankmelden und dann am Abend eine spontane Feier geben. Überhaupt, spontan sein würde weniger einfach werden. Jan war spontan, aber auf eine deutlich weniger spaßige Art als Lolli.

Genau als Kai diesen Gedanken dachte, kam Lolli in sein Zimmer. Mit reichlich Holzstaub im Gesicht und einer Skizze in der Hand. Ohne zu fragen ließ er sich auf das Bett fallen. "Ach, ich bin so voller Ideen, ich platze gleich. Maus! Du musst mir helfen! Ist es sehr schwul, wenn man herzchenförmige Fenster machen würde mit Blümchen in den... was ist? Warum starrst du so?"

"Ich zieh bald aus. Hattest du das vorhin auch gehört?"

Lolli blinzelte und schob den Zettel in seine Hosentasche. "Ach so. Willst du, dass ich ein Drama mache deswegen?"

"Nein, natürlich nicht!" Kai seufzte und gab zu. "Naja, ein wenig. Vielleicht wenigstens einen Kommentar?"

"Ach so. Mein Kommentar lautet, wenn du mich nicht zu eurer Einweihungsfeier einlädst, dann komme ich in superknappen, heißen Shorts mit roten Stiefeln, aus Lack am besten, und mit... ach, wäre das nicht sowieso ein schöner Look, wenn ich dazu noch so eine Felljacke mit kleinen Bommelchen statt der Knöpfe hätte? Ich muss Lena mal fragen, wo die ihren Kram her hatte, von neulich, als sie... was ist?"

Kai warf sich neben Lolli und griff sich als Schutz ein Kissen. "Du wirst mir irgendwie fehlen."

Lolli blinzelte, dann schlang er seine Arme um Kai und das Kissen und seufzte. "Du mir auch, Maus."

"So?"

"Ja. Ich hab noch nie mit einem so schönen und interessanten Mann zusammengewohnt."

"Ich bin nicht schön! Und interessant..."

Lolli lachte auf und knutschte ihn auf die Wange. "Nicht du, Maus. Ich meinte Jan. Du bist zickig und high maintenance, das kann ich Jan ja nochmal verraten. Wann wollt ihr den Bund denn schließen?"

"Den Bund? Hör bloß auf! Jan hat heute auch schon so was doofes gesagt." Kai wurde schon wieder ganz flau im Magen. Den Bund. Sie zogen zusammen. Nach so verdammt kurzer und auch verdammt unruhiger Zeit. Und dann mit ihm, der wirklich nicht treu sein konnte... gleich, wie sehr er sich anstrengte. Jans Mut war zu bewundern, aber Jan war auch zugleich der Vermieter. Er würde nicht viel zu verlieren haben, wenn sie sich zerstritten nach nur zwei Wochen.

Lolli lenkte ihn fröhlich lachend ab. "Den Mieterbund mein ich!"

Kai hob die Schultern. "Keine Ahnung. Die Wohnung ist fertig, ich muss nur umziehen und einen Nachmieter für das Zimmer hier finden."

"Nimm doch Benni. Er will es haben, glaub ich."

Kai warf einen Seitenblick auf Lolli. Wie immer, wenn er nicht sicher war, ob sein Mitbewohner Ernst oder Albernheit siegen lassen wollte, überraschte dieser ihn. Lolli seufzte leise und wirkte mit einem Mal verletzlich. "Er ist perfekt. Er hält es mit mir aus, sucht eine Wohnung und hat Geld genug, um dir die Rollos und den Anteil am neuen Kühlschrank abzukaufen."

Kai holte Luft, um zu widersprechen, um Lolli zu fragen, als dieser ihn ansah und fröhlich lächelnd meinte "Zudem. Ich werde bald weg sein, Schatz. Ich ziehe nach London, wenn meine Diplomarbeit fertig ist. Ich hab also noch ein halbes Jahr, in dem ich Benni klar machen kann, dass ich Schlampe nichts für ihn bin."

"Du bist keine Schlampe, Lolli. Wieso willst du, dass alle das von dir denken? Auf dem Tanz neulich schon... wieso hast du da zugelassen, dass Benni so auf Dramaqueen macht?"

Lolli nahm Kai das Kissen weg und zupfte an einer Ecke. "Stimmt. Warum eigentlich? Ich hatte das Gefühl, dass er es verdient. Er sollte auch mal im Mittelpunkt stehen. Außerdem..." nach einem Seitenblick auf Kais etwas skeptischen Gesichtsausdruck grinste Lolli wieder. "Außerdem hat er seitdem dauernd Dates mit Typen, die auf so eine Show stehen, oder die mir was beweisen wollen. So oder so hat er sich ja bei mir einquartiert. Dauernd schläft er hier auf dem Sofa. Da ist es mir lieber, er hat sein eigenes Zimmer."

"Auch wieder wahr. Du gehst nach London?"

"Ach, mal sehen. Das ist jedenfalls das, was ich allen erzähle. Willste mal meine Entwürfe für das Spielhaus sehen?"

"Natürlich nicht... zeig her!"

Irgendwie hatte die Unterhaltung Kais Perspektiven wieder gerade gerückt. Was passieren würde, würde irgendwann passieren. Es war im Jetzt und Hier vollkommen egal. Er war glücklich, die Wohnung war ein Traum, Jan war ein Traum und das war alles, was er zu wissen brauchte.

Sie diskutierten den Spielhausplan über einem oder zwei Gläschen Wein noch weit in die Nacht hinein, denn mit einem Mal machte es Spaß, an Lollis Zeichenprogramm rumzuspielen. Mit dem kleinen Stift hier was anzubauen an das Haus, oder es einfach in Lila erstrahlen zu lassen. Am Ende war Kai auf seinem Job zwar nicht wirklich verkatert aber mit schmerzenden Muskeln vom Aufbauen und mit kleinen Augen vom zu langen Spielen mit dem Computer.

Leon entging nichts. Er stand urplötzlich hinter Kai, als dieser das Bierglas zum vierten Mal polierte, anstelle die Neulieferung Zitronen, Physalis und Ananas in den Kühlschrank zu räumen und legte ihm eine Hand auf die Schulter, nahe am Nacken. Kai hätte fast das Glas fallen lassen und fühlte sich sofort wie eine kleine Katze, die man durch einen Griff ins Nackenfell immobilisiert hatte. "Leon!"

"Höchstpersönlich. Ich bin schon einige Minuten lang hier, wo bist du gewesen?"

Kai seufzte. "Mein Mitbewohner hat gestern meine Hilfe bei der Diplomarbeit gebraucht. Jetzt tun mir alle Muskeln weh."

Eine hochgezogene Augenbraue später gestand er Leon die gesamte Lage, inklusive seiner neuen Nachbarschaft zu ihm. Währenddessen hatte Leon das Obst eingeräumt, die Kaffeemaschine poliert, zerlegt und wieder zusammengesetzt. Offenbar konnte der Mann nicht still stehenbleiben.

Kai entsann sich seiner Position schließlich doch und nahm Leon das Poliertuch aus der Hand, um sich wieder über das Gläserrack herzumachen. "Tut mir leid, dass ich das alles bei dir abgeladen hab." Er blickte durch seine in die Stirn gefallenen, mal wieder viel zu langen Haare zu Leon hinüber und fragte sich zugleich, warum er seinem Chef mit einem Mal vertraut hatte.

Leon grinste schief und machte sich einen Espresso. "Das ist schon in Ordnung, Kai. Ich finde es auch vollkommen in Ordnung, dass wir Nachbarn sind." Sein Lächeln verschwand. "Wir werden niemals gemeinsam hier auftauchen und niemals gemeinsam von hier wegfahren. Das sage ich nur einmal, ich will, dass es auf immer klar ist." Der begleitende Blick war scharf und direkt in Kais Augen gerichtet, sodass Kai sich erröten fühlte.

"Auf die Idee wäre ich gar nicht gekommen!"

"Noch nicht. Aber fahr mal nachts um vier da raus."

Kai überlegte, ob er sein Fahrrad erwähnen sollte, und ließ es dann bleiben. "Ich bin kein Baby, das ist kein Problem."

Leon lachte leise. "Gut, glaube ich dir." Er nippte an seinem Tässchen. "Hm. Ich glaube außerdem, dass da gerade dein Problem für heute durch die Tür gekommen ist." Er nahm seinen Espresso und ging in Richtung seines Arbeitszimmers davon.

Kai hob den Kopf und blickte genau in Tinis blasses, genervtes Gesicht. 'Shit! Das schaut echt aus wie ein Problem!'

"Hallo, Tini. Alles klar?" Kai wartete nicht auf ihre Antwort, sondern drehte sich schon wieder der Kaffeemaschine zu, um den Kaffeesatzbehälter auszuleeren, obwohl da nur der Kaffee von Leons einem Espresso drin war. Sie wartete geduldig, dann bestellte sie mit belegter Stimme einen Tee und Kai machte ihr den erstbesten Tee fertig, der ihm in die Finger fiel, stellte ihn auf den Tresen vor ihre kühlen Finger und meinte leise "Geht auf mich." Er sah, dass es ein Assam war, und fügte an "Willst du Milch und Zucker?"

Sie schüttelte nur den Kopf. In der nächsten halben Stunde zerrupfte Tini ein Taschentuch in kleine Streifen und trank den Tee nicht, sondern starrte ihn an und rührte gelegentlich darin herum. Kai hatte durch eine größere Gruppe Studenten mit Sonderwünschen für eine Weile auch genug zu tun.

Endlich hob sie den Kopf, als er wieder in ihre Nähe diffundiert war. "Wann hast du Schluss?"

Er blickte zur stylischen Uhr im Spiegel hinter sich. "In einer Stunde. Wieso?" Misstrauisch beäugte er ihr Gesicht, aber sie sagte nichts weiter als "Gut, ich warte."

Und das tat sie auch. Sie rührte in ihrem Tee, starrte auf die Papierstreifen, die sich vor ihren Fingern auftürmten, als wüsste sie nicht, woher sie kamen. Es machte ihn traurig, ohne dass er wusste, warum. Kai hatte sich bei Tinis Anblick noch nie so gefühlt. Stets hatte er ein wenig Angst gehabt, meistens war er genervt gewesen. Heute schienen diese Gefühle falsch und unpassend gewesen zu sein. Bis sie ihren Blick in seine Augen hob, als er mit seinen zivilen Sachen und der dicken Jacke unter dem Arm auf sie zu kam. Ihr Blick machte ihm gleich wieder ein wenig Angst, der Blick und das, was sie an der Tür zu ihm sagte.

"Ich hoffe, dass du frei bist. Ich... brauche dich. Heute Nacht."

Kapitel 71

Kai starrte Tini an. 'Ich brauche dich heute Nacht?' Er folgte ihr unsicher in den nebeligen, kalten Abend hinaus. "Wie bitte?!"

Sie lächelte dünn. "Das ist eine längere Geschichte, fürchte ich."

"Das. Fürchte. Ich. Auch!" Und Furcht war noch eine Untertreibung. Tini schaffte es immer, dass Kai feuchte Handflächen bekam. Dennoch ließ er sich gehorsam abführen. Mit zu Tinis Auto, mit in eine nette, von Villen und alten Bäumen durchsetzte Wohngegend. Das Dichterviertel. Alle wussten, dass es rattenteuer war, hier zu leben.

Tini bog nach schweigsamer Fahrt durch ein elektrisch zurückrollendes Tor. Eine der Villen tauchte zwischen alten Bäumen vor ihnen auf. Buttergelb, mit weißem Stuck und hohen Fenstern. Eine weiße Eingangstür mit Löwenkopf als Türklopfer und mannshohen Scheiben, in denen geätzte Ornamente wie Eisblumen emporwuchsen. Tini stellte ihr Auto vor die Garagentore. Altmodische Laternen säumten den Weg zwischen Garage und Haus, an der Ecke tickerte eine Alarmanlage mit roten Lämpchen.

Tini kramte nach einem Schlüssel und murmelte unbestimmt. "Erschrick nicht so sehr, oder versuch dich ganz natürlich zu bewegen. Sie tun niemandem was."

"Wer? Ah! Oh mein Gott!" Kai hatte Mühe, nicht wieder aus der Tür zurückzuzucken.

Offenbar hatte, wer auch immer hier lebte, nicht nur mannshohe Laternen, auch Hunde von der Größe von Eisbären in ebensolcher Farbe lebten hier. Tini schob an einem der Hunde, als sei er ein Gegenstand. "Meine Mutter züchtet Barsois in ihrer Freizeit. Es gibt ihr Ausgleich. Früher sind sie zur Jagd auf Bären gezüchtet worden. Bären und Menschen. Ich mag sie nicht besonders, sie... beobachten einen so."

Und das stimmte. Die zwei Hunde mit den eleganten Gesichtern blickten Kai an, schnüffelten nicht, wedelten nicht mit dem Schwanz oder taten die sonst so typischen Hundedinge. Sie starrten ihn nur an und machten ihm klar, in wessen Revier er hier eindrang. 'Bären und Menschen.' Benommen drückte Kai sich an die Treppe zurück.

Gleich drauf klatschte Tini in die Hände und machte ein Handzeichen, die Hunde legten sich gähnend und scheinbar gelangweilt vor die Treppe und verstellten so den Fluchtweg für Kai.

"Müssen denn alle so riesenhafte Viecher haben?" Ungeduldig schob Kai seine Jacke von den Schultern und zog den Schal in einen Ärmel hoch.

"Wer denn noch?" Tini nahm ihren roten Wollhut vom Kopf und schüttelte ihn vor der Tür ein wenig aus. Es regnete noch immer Bindfadenregen, ein kühler Wind drängte sich zu ihnen in den Flur.

"Jans Eltern haben auch zwei so Monster."

Tini lachte kurz auf. "Wir haben mehr. Das sind nur die zwei, die gerade neugierig geworden sind. Aber wenn es dich beruhigt, sie werden von der Haushälterin versorgt und ich hab sie vorhin schon ausgeführt. Ich geh nur schnell einmal mit ihnen zum Pieseln vor die Tür und sperr sie für die Nacht in ihr Zimmer hinter der Küche, dann können wir reden." Während sie sprach öffnete sie einen begehbaren Schrank, in dem die Mäntel und Jacken untergebracht waren. "Macht es dir was aus, die Schuhe hier zu lassen?"

Gegen Reden mit Tini wirkten die Hunde wie Kuscheltiere. Unsicher blinzelte Kai sie an und sah dann an sich herab auf die nassen Turnschuhe. "Ich will jetzt reden und dann nach Hause. Ich bin müde Tini, hab einen langen Tag gehabt und ich muss duschen."

"Dusch doch jetzt, während ich weg bin, dann reden wir." Sie blickte ihn kurz an. "Wäre eh praktischer."

'Praktischer? Hä?' In seinem Kopf begannen sich dunkelrote Alarmlampen zu drehen. Gereizt starrte Kai Tinis Hinterkopf an. "Wozu, verdammt noch mal?!"

Tini wandte sich noch weiter ab, zog einen gelben Regenmantel aus dem Schrank und schob einen der Monsterhunde aus dem Weg. "Sex, Kai. Es geht um Sex." Fast hätte er ihre Stimme nicht gehört, so leise sprach sie.

Kai ließ sich auf die geschwungene Holztreppe fallen und schob eine Hundeschnauze aus dem Weg. Er war zu irritiert von ihr, um noch auf die Hunde achten zu können. "Entschuldige mal bitte, hab ich was verpasst?! Hattest du nicht einen Freund und ich zudem auch und wusstest du nicht bis vor einer halben Stunde noch, dass ich schwul bin?!"

Tini seufzte. "Deswegen müssen wir ja reden. Es ist mir wichtig, Kai. Es ist mir ernst." Sie starrte ihn aus dunklen Augen an und er wusste, dass sie nicht log. Es war kein Scherz. Es machte ihr nicht einmal Spaß. Sie sah müder aus, als er sich fühlte.

"Scheiße, Tini!" Sie nahm ihm als Antwort die Jacke weg und hängte sie mechanisch auf.

Resigniert zog Kai seine Turnschuhe aus. "Ich dusche, du führst diese Bären aus. Wo und wie und ... wo sind wir hier überhaupt?"

Tini streifte ihre Strickjacke ab und nahm seine Schuhe, um sie im Schuhregal unten hineinzustopfen. Nervös merkte er sich, wohin. "Bei meinen Eltern, bei mir Zuhause. Keine Panik. Sie sind im Urlaub und ich hüte ein."

Kai blickte sich um. Schachbrettfliesen, ein Tischchen aus Biedermeier oder der gleichen Epoche, die Zimmertüren aus dunklem Holz und ein Geruch von schwerem Reichtum lag in der Luft. "Müsst ihr alle eigentlich so verdammt reiche Eltern haben? Jan macht mir schon Komplexe, aber das hier..."

Tini hob die Schultern. "Mein Vater ist Arzt für Röntgendiagnostik, meine Mutter auch. Eigene Praxis in der Stadtmitte. Beide haben dazu noch geerbt. Da muss man reich werden, was bleibt einem übrig?" Es klang irgendwie resigniert. Ihm fiel ein, dass sie bis auf die Klamotten, von denen sie reichlich zu haben schien, nie mit Geld angegeben hatte, er hatte sie vielleicht nicht genug beachtet bis jetzt, um es zu merken.

Wenig später stand er in einem rosa gekachelten Duschbad, Tinis eigenem Bad gleich neben ihrem Schlafzimmer. Sie hatte auch noch ein Arbeitszimmer. Er sah sich kurz um, rückte instinktiv ein Schälchen mit Potpourri auf der Toilette gerade, zog sich aus und duschte sich mit viel zu viel heißem Wasser und Tinis Duschgel, aus unerfindlichen Gründen ein teures Herrenduschgel für trockene Haut.

'Warum immer ich? Scheiße, warum immer ich?'

Tini wollte reden, über Sex reden. Es schaute aus, als würde es spät werden, denn sie hatte ihn immerhin bis hierher geschleift. Sie hatte etwas von Essen und einer Flasche Wein geflüstert, während sie fünf oder sechs der Monsterhunde angeleint hatte, aber er wusste auch so, dass ihm der Appetit vergangen war.

Kai duschte sich hastig kühler über, damit er kein rotes Gesicht hatte, und verkroch sich sofort wieder in seine Klamotten. Sie brauchte nicht lang. Er war noch dabei, seine Haare mit einem Kamm zu traktieren, als sie mit einem Tablett die Treppe rauf kam. Chips, Käsewürfel und Gläser. Sie nickte in Richtung ihres Schlafzimmers und ließ sich dort ohne Umschweife auf dem Fußboden nieder. Typisch für sie folgte ein sehr direkter Blick in Kais Gesicht und der Befehl "Setzt dich hierher, dann muss ich nicht so laut reden. Ich bin eh so heiser." Das Licht war gedimmt und der Regen schuf eine monotone Untermalung.

Kai holte sein Handy aus der Hosentasche hervor und blickte unsicher darauf. Dann tippte er wortlos eine Nachricht an Jan 'bin bei tini, helfe ihr... hdl.' Er schaltete das Handy aus und warf es mit mulmigem Gefühl zu den Chips auf das Tablett. "Okay, Tini... was soll das hier alles?" Er ächzte leise, als er sich zu ihr auf den Fußboden fallen ließ, und rieb sich die Oberschenkel entlang. "Gestern war schon die Hölle mit Lollis beklopptem Spielhaus und jetzt du mit der Freakshow, das ist echt bald zu viel für mich!"

Sie lachte leise. "Danke, dass du so schön normal bist, Kai." Dann wurde sie jedoch ernst und schenkte Cola in zwei Gläser, schob ihm die Chipstüte rüber. "Es geht um etwas, das ich mit niemandem besprechen möchte, außer mit dir."

Kai hatte sich gerade mechanisch von den Chips genommen und kaute mühsam um die Worte herum. "Sagt dir der Name Holger was?"

Sie schüttelte den Kopf und ballte eine kleine Hand zur Faust. Heiser rief sie aus "Verdammt! Dem erst recht nicht! Dem zuletzt, verdammt noch einmal!"

Von ihrem Ausbruch erschrocken mümmelte Kai ein paar Chips zu Ende und fragte dann ergeben "Okay, worum geht es?"

Sie seufzte und hob eine Flasche Whisky an. "Mein Pa sammelt die. Scheint ein nicht so guter zu sein. Der ist irgendwie in seinem Arbeitszimmer vergessen worden." Sie schraubte die Flasche auf und goss ihnen beiden einen tüchtigen Schluck in die Cola. "Trink das."

"Was? Ich hasse Whisky! Und mit Cola ist das erst recht pervers, verdammt."

"Trink und ich erzähle." Sie schraubte die Flasche zu und schob ihm resolut das Glas hin.

Tapfer nippte Kai von der Brühe und musste feststellen, dass der Geschmack in Ordnung ging. Zu seiner Überraschung ergab sich eine recht leckere Kombination, die ihn an seinen Kinderhustensaft zurückdenken ließ. Den hatte er sogar gern mal heimlich getrunken.

Tini nahm sich ein Kissen von ihrem Bett, umarmte es fest und begann fast flüsternd "Es geht um Sex, genauer um meine Erfahrungen damit. Ich muss das irgendwie los werden, du bist perfekt."

"Warum immer ich, wird mir ein Rätsel bleiben."

Sie hob den Blick und starrte ihn aus dunklen Augen irritierend direkt an, dann seufzte sie leise und zählte auf "Ich denke, dass wir Freunde sind, Kai. Ich hab dich sehr gern, nein, ich liebe dich. Du bist mein Schwarm – wie altmodisch das klingt! Ich denke, wenn ich an Sex denke, sehr gern an dich. Aber du bist zugleich auch wie... ein Satellit, ein Mond, unerreichbar. Das macht es leichter. Es ist irgendwie zugleich persönlich und weit weg, wenn ich mit dir rede."

Er wurde rot und hob das Glas an den Mund. Er kam nicht zum Trinken, denn sie fuhr fort. "Außerdem hab ich mal mit Lukas gesprochen und von dem gehört, dass dein erstes Mal nicht so toll war. Du kannst mich also vermutlich verstehen."

Kai hustete erschrocken und starrte sie entgeistert an, aber Tini sprach schon weiter. "Mein erstes Mal war auf der Abifahrt. Wir sind mit dem Jahrgang nach Dänemark, in so niedliche Puppenhäuschen. Alle hatten reichlich Alkohol mit und Grillzeugs, das Wetter war sehr gut. Wir haben uns gründlich ausgetobt, haben uns irgendwie voneinander mit einer riesen Sause verabschieden wollen. Trinken, Tanzen, Singen, sich lieb haben, obwohl man in der Schulzeit noch nie miteinander gesprochen hatte. Das übliche halt. Natürlich wollte ich in dieser tollen Woche dann endlich mit meinem Freund schlafen. Das hatten wir uns aufgehoben. Romantischer Blödsinn, ich weiß, wir waren eben so peinlich. Wir sind am Abend, als alle anderen in eine Disco gefahren sind, zusammen in einer Hütte geblieben, dort in eines der viel zu schmalen Wackelbettchen und haben rumgeknutscht, rumgefummelt und dann so losgelegt, wie wir uns gedacht haben, dass es sich gehört."

Kai hatte vor Unbehagen seine Colamischung ausgeleert und Tini grinste ihn unpassend an. "Siehste, man kann sich rantrinken an den Kram."

"Was hab ich mit deinem ersten Mal zu tun?" giftete er statt einer Erwiderung und wurde ignoriert. Sie erzählte einfach weiter.

"Am Anfang war alles noch okay. Aber als wir miteinander geschlafen haben, ist es passiert. Ich... weiß nicht mehr genau..." Sie hob eine Hand vor die Augen. "Es war alles so verworren. Ich hab mit einem Mal schreckliche Schmerzen im Unterleib gehabt und einen Krampf bekommen oder so. Er konnte sich nicht mehr bewegen, hat Panik bekommen, weil ich so geschrien hab, und hat mit Gewalt rausgezogen und das war dann noch schlimmer... irgendwas... war kaputt. Ich hab noch nie zuvor soviel Blut gesehen. Es war die Hölle."

Kai blinzelte und starrte auf die Colaflasche. "Das klingt schlimmer als mein erstes Mal, das ist sicher", meinte er endlich trocken. "Ich hab trotzdem nichts damit zu tun, also..."

Sie hob eine Hand und erzählte zu Ende. "Ein Mädchen, das ich nicht mal besonders gut kannte, war auch da geblieben und hat mich schreien gehört und Da... meinen Freund auch. Sie war toll. Sie ist ruhig geblieben, hat ihn auch beruhigt, hat mich mit einem kalten Handtuch abgewaschen und ins nächste Krankenhaus gefahren. Es musste genäht werden, irgendwas war gerissen... Die Ärzte waren nett dort und hinterher hat meine Gynäkologin mir auch alles noch einmal nett erklärt und mir gesagt, dass es ein Unfall war, dass so was nie mehr passieren wird, wenn ich nur Vertrauen hab." Sie senkte den Kopf und seufzte leise auf. "Aber das hab ich nicht... nie mehr gehabt. Mit meinem Freund war recht rasch der Ofen aus damals. Ich kannte bis jetzt auch keinen Mann mehr, mit dem ich unbedingt schlafen wollte."

"Und jetzt soll ich Holger sagen, warum du noch etwas Pause machen willst, oder was? Ich kenn den echt nicht so gut." Er goss sich noch etwas Cola in sein Glas und blickte die Whiskyflasche abschätzend an.

Tini seufzte etwas genervt und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. "Nein, Kai. Du sollst mit mir schlafen." Es klang als sagte sie 'Blödi, ist doch logisch.'

"Was? Hast du sie noch alle?!" Fast hätte Kai den sicherlich teuren Teppichboden mit der Cola gegossen. Er rückte instinktiv von ihr ab und schraubte hektisch an der Flasche.

"Es ist so, dass ich immer Angst hatte, seit Dänemark. Ich war schon immer gern mit Jungs zusammen und das hat sich nicht geändert. Sport machen, sie im Fitnessstudio rumscheuchen, rumblödeln, aber mehr war nicht mehr drin. Ich wollte nie wieder so etwas durchmachen, wie mit... ich wollte nie wieder Sex. Ich fühlte mich komplett kalt, wenn ich nur daran gedacht hab. Ich traute mich nicht mal, mich selber... aber seit ich dich kenne, ist das vorbei. Seitdem will ich wieder Sex haben. Mir wird nicht kalt, wenn ich dich sehe und an dich auf diese Art denke, Kai. Mir wird heiß." Sie starrte ihn intensiv an und Kai wurde auch heiß.

"Du spinnst doch total", murmelte er schwach und senkte den Blick auf sein magischerweise schon wieder leeres Colaglas. "Was versprichst du dir denn von mir?"

"Wenn es mit dir klappt, bin ich frei. Das glaube ich fest. Dann kann ich mit Holger glücklich werden. Und weißt du, Kai. Seitdem ich mit Holger zusammen bin, weiß ich auch, dass das zwischen uns... na gut, das, was ich für dich fühle, Begehren ist. Ich liebe dich nicht, nicht auf die Art wie ich Holger liebe, so um und um warm. Ich will dich aber. Es ist heiß, aber nicht immer angenehm. Unfrei. Verstehst du?"

Kai dachte an Lukas und seufzte. Liebe und Begehren. Heiß und nicht immer angenehm. Damit kannte er sich in der Tat ein wenig aus. "Ich muss jetzt aber trotzdem ablehnen, Tini. Wenn ich dich ansehe, wird mir nämlich kalt und nicht heiß. Ich bin wirklich schwul und Frauen interessieren mich nicht, kein Stück. War immer so, wird immer so sein."

"Kann ich gar nichts tun, um dich umzustimmen?"

"Wenn ich das Jan erzähle, denkt er wirklich, dass ich verrückt geworden bin."

Ihre Augenbrauen fuhren zusammen. Missmutig raufte sie ihre dunklen Haare hinter die Ohren und umschlang ihre Knie mit einem Arm. "Jan bleibt natürlich außen vor." Ihr Gesicht hellte sich auf. "Allerdings weiß ich, dass du... oben liegen magst. Das stimmt, nicht? Dann wäre es doch bei mir ähnlich, oder?"

"Woher weißt du denn das alles, verdammt?!" Kai rieb sich über seine heißen Wangen.

"Lena und Lukas haben wenig Geheimnisse voreinander und du hast Lukas wohl mal über deine Präferenzen aufgeklärt. Sie und ich wiederum hatten eine Zeit lang wenig Geheimnisse voreinander."

Das stimmte und Kai war nicht stolz auf die Art, in der er Lukas damals abserviert hatte. Doch dann kam ihm die Lösung in den Sinn. "Hey! Machs doch mit ihr. Irgendwie... bekommt ihr das hin, oder?"

Tini umschlang ihre Knie fester, mit beiden Armen und senkte den Kopf. "Haben wir versucht. Ehrlich. Es ging nicht. Total schief gelaufen ist es sogar." Der Schmerz in ihrer Stimme erübrigte die Frage, was genau schief gelaufen sein mochte.

"Und was sagt dir, dass es mit mir klappt?"

Sie lächelte und hob eine Hand, zögerte, dann rückte sie dichter und strich ihm einmal über die Haare. "Es ist so, ich weiß es einfach. Ich bin dermaßen scharf auf dich, es muss einfach klappen. Kai. Bitte. Gib mir doch diese eine Chance."

Kapitel 72

"Ich fühl mich verarscht", murrte Kai leise. "Außerdem bin ich müde und irgendwie... nein. Das geht einfach nicht. Ich kann das nicht, Tini. Ich geh jetzt nach Hause."

"Schlaf hier. Gib mir wenigstens etwas mehr Zeit, um dich umzustimmen."

"Du willst mich bloß im Schlaf anfummeln."

Sie lachte über sein knurriges Gesicht und nickte dann so heftig, dass ihr die Haare ins Gesicht wippten. "Okay, ich geb alles zu. Das werde ich sicherlich versuchen. Morgen früh, das schwöre ich, bring ich dich nach Haus und sprech nie wieder davon." Beängstigend optimistisch prostete sie ihm mit der Cola zu.

Erst als Kai nach einem schnellen Zähneputzen mit einem zu großen T-Shirt von Tinis Bruder steif neben ihr im breiten Bett lag, sorgsam unter seiner Decke, die er an allen Seiten gut festgesteckt hatte, wurde ihm klar, dass er Cola getrunken hatte. "Tini..."

"Ja?"

"Das war Cola."

"Ja." Sie seufzte. "Scheiße, oder? Daran hab ich jetzt nicht gedacht. Ich kann auch nicht schlafen. Wollen wir fernsehen oder so?"

Kai schüttelte den Kopf und starrte in die dämmrige Dunkelheit umher. Es roch nach Frau, aber nicht süßlich unangenehm. "Nein. Wieso bist du zu mir gekommen? Ist dir das nicht peinlich oder so?" Tini war eh nichts peinlich, das wurde ihm jetzt irgendwie klar.

"Doch. Total", gab sie überraschend zu. "Vor allem, weil ich vorher mit Lena darüber geredet hab. Sie hat mich ermutigt, zu dir zu gehen. Sie sagte: Wenn er das nicht macht, den du immer auch bei mir vor Augen hattest, dann wird es ohne Therapie nichts. Und das glaube ich ehrlich gesagt auch. Ich muss eine Therapie machen, mich dem stellen. Meine Eltern wissen nur noch nichts von der Sache und ich... bei den beiden ist es mir echt zu peinlich. Die sollen davon nie etwas erfahren. Mein Freund damals war ihr Wunschmann für mich und alles war in ihren Augen perfekt. Wir kommen aus Dänemark zurück und ich kann nicht einmal mehr mit ihm sprechen, das haben sie bis heute nicht verstanden."

"Hm. Du hast mich vor Augen? Geht so was überhaupt?"

"Kopfkino, ist doch normal, oder? Ich muss nur die Augen schließen und es wollen, dann sehe ich dich vor mir, deine schlanken Hände, dein Mund, deine tollen blauen Augen. Irgendwie riechst du auch immer so lecker. Am Deo liegt es schon mal nicht, das hab ich mir gekauft. Es muss was anderes sein."

Kai schüttelte grinsend den Kopf. "Mein Waschmittel schon probiert? Ich nehm das billige von Aldi."

Tini lachte so laut auf, dass er zusammenzuckte. Ihre Arme kamen gleich drauf über ihn her und sie umarmte ihn fest. "Ich liebe dich noch einmal so sehr dafür, dass du hier liegst und nicht lachst und mir versuchst, auf deine Art halt, zu helfen."

"Auf meine Art halt?" Das klang irgendwie beleidigend.

"Naja, ein wenig leidend. Etwas abweisend und kühl. Du versuchst deinen Kopf aus der Schuldschlinge zu ziehen, das ist normal. Du bist nicht schuld, wenn ich nie wieder Sex haben kann. Ich bin selber schuld, weil ich nichts dagegen unternommen hab. Diese Panik, dieses kalte Gefühl, dass ich mich nicht mehr bewegen kann, dass ich nicht... ich kann es nicht beschreiben."

"Musst du nicht." Mit einem Mal wusste Kai, wie sie sich fühlte. Er setzte sich auf und umschlang seine Knie fest mit den Armen. Ganz genau wusste er es und erschauderte. "Ich weiß genau, wie du dich fühlst."

Sie rückte etwas ab. "Was meinst du?"

"Motorräder. Seit ich zusammengeschlagen worden bin... nach der Party im Sommer. Erinnerst du dich? Seitdem fühle ich mich so. Genau so. Kalt, unfähig zu jeder Bewegung, wie in einem Tunnel ohne genauen Ausgang, man will rennen und zugleich kann man nicht. Nicht mal atmen kann man. So fühle ich mich, wenn ich nachts nur ein Motorrad höre."

"Oh Gott, ja. Das hattest du mal erwähnt. Das tut mir leid. Daran wollte ich dich nicht erinnern."

Kai lehnte sich an die gepolsterte Rückwand zurück und starrte angestrengt ins Dunkel. Gleich drauf zuckte er zusammen, weil sie ein indirektes Licht angeschaltet hatte.

Tini fluchte leise und dimmte die Lampe herunter, dann drehte sie sich ihm zu. "Weißt du, dafür musst du vermutlich doch eine Therapie in Kauf nehmen, hm?"

"Du würdest es anders angehen und einen Motorradführerschein machen, oder?" Mit einem Mal fühlte er Hochachtung vor Tini und ihrer Energie. Vor dem Mut und der Kraft zu ausgerechnet ihrem größten Schwarm, der sie wirklich an allen Enden immer abblitzen ließ, zu gehen und sich von ihm Heilung zu erhoffen für etwas, das nur noch mit ultimativem Horror übertitelt werden konnte. "Du bist viel stärker als ich", murmelte er und schob sich wieder tiefer unter seine Decke. Er legte sich seitlich auf den ausgestreckten Arm, um sie weiter ansehen zu können. "Ich würde niemals im Leben so etwas machen. Zu einer Person hingehen, gleich wem, und so etwas machen." Forschend betrachtete er sie, ihr spitzes entschlossenes Gesicht, die dunklen Augen, die ihn immer viel zu intensiv anblickten. Jetzt wurde ihm klar, warum Tini ihm immer Angst gemacht hatte. Man konnte ihr die Gefühle ansehen und so etwas hatte Kai noch nie gut vertragen.

Sie erwiderte seinen Blick schelmisch. "Du bist wieder mit Lukas ins Bett, nicht?"

Er blinzelte von der Wendung überrascht und nickte unwillkürlich. Ärgerte sich darüber und meinte dann abweisend. "War ein Fehler." Sie grinste und das steckte dann doch wieder an, sodass er unter leisem Auflachen zugab "Ein netter Fehler, okay."

Aus dem Grinsen wurde Lachen und Tini schlug ein wenig nach ihm "Du bist aber auch ein süßes Ding, Kai. Dir kann niemand widerstehen, oder? Deinen Chef sogar haste um den kleinen Finger gewickelt."

"Leon? Nie!"

"Doch, ich weiß das natürlich auch von Lena. Du hast viel mehr Gehalt als alle anderen und darfst dir als einziger die Arbeitstage frei wählen. Du hast eben einen Joker im Leben, weil du so so so so süß bist." Sie sah ihn noch immer lachend an. "Und sexy. Wenn du nicht mit mir schlafen willst, okay. Aber du wirst nicht verhindern können, dass ich von dir träume... und wenn du wüsstest, was ich so alles träume, würdest du wirklich heiße Ohren bekommen."

Kai starrte sie an und ballte eine Hand zur Faust. "Ich bin nicht so... ein Ding! Verdammt nochmal, Tini! Mach mich doch nicht zu so einer... Figur!"

"Du kannst das ganz leicht ändern, Kaichen." Sie drehte sich fort und streckte die Arme aus. "Nimm mir ruhig die Illusionen. Ich nehme das in Kauf, wenn es klappt."

"Und wenn nicht? Wenn du schreist und dich verletzt und... und..." 'Blut im Bett... igittigittigitt... schlimme Dinge können passieren, wenn man mit einer Weibse ekelige Sachen macht, oder?' Unpassend dazu erinnerte Kai sich an einen schrecklichen Porno, den er mal mit Schulfreunden gesehen hatte. Erlitten war eher das passende Wort. Erschaudernd zog er seine Decke höher und linste rüber zu ihr.

Doch Tini war nicht so. Sie hatte nicht endlos lange rote Fingernägel, sie machte nicht an ihren Brüsten rum oder schob sie ihm ins Gesicht. Sie war eigentlich, wie immer. Sie saß so da, mit einem dunkelblauen Schlafanzug bekleidet, der teuer und weich aussah, und sah ihn an aus ihren dunklen Augen. Er fühlte sich belauert und seufzte.

"Danke für deine Sorge, Kai. Aber das glaube ich einfach nicht. Bei jedem anderen wär mir schon kalt, wenn nur eine Hand unter meinem Pulli ist. Holger eingeschlossen, leider. Bei dir glaube ich das nicht. Probier es aus. Fass mich doch mal an." Sie nahm seine Hand und zog daran.

"Hey! Ich will dich nicht... betatschen!"

"Nur ein wenig abfühlen. Los, das ist doch gar nichts. Denk an den Fummelkurs. Da hast du viel mehr gemacht als nur einmal gefühlt. Denk an das eine Mal in der Dusche. Bei Carlchen in der Wohnung. Ich glaube, dass der Abend insgesamt, trotz allem, der romantischste Abend meines Lebens war. Weißt du, die Sache in der Dusche hat mich erst drauf gebracht. Mir war nicht kalt."

Kai zuckte in Erinnerung an ihren nackten Körper unter der Dusche zusammen und gab unachtsam nach. Er fühlte, wie seine Wangen sich erhitzten, als er die warme Haut von ihrem Bauch unter den Fingerspitzen fühlte. Ein kleines Bauchnabelpiercing berührte seine Fingerspitzen und er zuckte zurück. Tini machte die Sache schlimmer, obgleich das fast nicht mehr möglich war, indem sie hingebungsvoll flüsterte "So fängt meine Lieblingsfantasie an."

Kai zog seine Hand zurück. "Verdammt noch mal! Ich will nach Hause, sofort!" Doch er ging nicht, sondern blieb im Bett sitzen und dachte an die Motorräder. Tini seufzte leise und er knurrte sie unglücklich an. Nach einem längeren Schweigen meinte er endlich hoffnungsvoll "Weißt du, das erste Mal, dass ich gemerkt habe, dass ich Angst vor dem Geräusch, vor der Situation habe, war gleich nach der Party bei dir. Holger hat mich gerettet und nach Hause gebracht. Meinst du nicht, dass er dich auch retten könnte?" Hilflos zuckte er mit den Achseln. "Er ist so sicher und..."

"Groß?" Tini schob sich enger an ihn heran. "Glaub mir. Ich hab Holger gleich nach meiner Blasenentzündung mit in die Unisauna geschleppt. In der Pädagogischen Uni war gemischter Abend. Es war sehr schön, wir waren hinterher auch noch sehr nett essen, aber Holger ist... verdammt nochmal, er ist einfach groß. Überall. Der Anblick allein hat gemacht, dass ich zu dir gerannt bin, Kai."

"Scheiße. Immer ich, Tini!" Unbeachtet ihrer Unterhaltung hatte Tini begonnen, an ihm rumzustreicheln. Sie lehnte sich noch dichter, ihr Atem hauchte über seine Wange, dann flüsterte sie. "Und ich kann es nicht ändern. Immer du, Kai. Aber sieh es mal so. Einmal und du hast mich geheilt. Du darfst so schlecht sein wie nur was, einfach daliegen musst du nur. Aber ein Körperteil, das muss eben mitmachen." Und dieses hatte sie ungeahnt schnell fest umfasst.

Kai zuckte in die Matratze zurück und zischte. "Scheiße, Tini! Bist du immer so... lass los, verdammt!"

Sie lachte leise. "Hab ich dich und du bist nicht vollkommen uninteressiert, oder?"

Sie hatte blöderweise ein wenig Recht. Das Streicheln auf dem Bauch wars gewesen. Kai entzog sich ein wenig und meinte leise. "Lass mal sein, bitte. Mir fällt gerade Benni ein. Damals, als wir bei Carl waren, hat er was gesagt..."

"Hm?" Tini schob sich über ihn, aber ließ seinen Schritt in Frieden.

Kai entzog sich noch ein wenig mehr unter seine Decke. "Benni hat gesagt, dass man nur ein Leben hat. Es tickt vorbei und kann in jeder Sekunde durch Unfälle und was auch immer zu Ende sein. Wenn man es nicht nutzt, hat man selber Schuld."

"Das hat er richtig gesagt. Er war schwer krank, nicht?" Sie stützte sich auf ihm auf und kaute auf einer Haarsträhne, vermutlich in Gedanken bei ihrer nächsten Attacke.

"Hmhm, Bauchspeicheldrüsen, eine Entzündung oder so. Ich hab nachgesehen, seine Chancen lagen tatsächlich nicht mal bei fifty-fifty."

"Ah. Und? Willst du jetzt sagen, dass meine Chancen bei dir genau so schlecht sind? Das weiß ich auch so."

Genervt sah er sie kurz an, dann blickte er hastig wieder an die Zimmerdecke hoch. "Nein, verdammt. Ich will sagen, dass ich es mache. Aber nur, weil unser Leben vorbeitickt und ich vermutlich nie wieder die Gelegenheit bekommen werde, jemandem zu helfen, den ich gern hab, auf so eine merkwürdige Art noch zudem."

Tini holte Luft, dann entließ sie den Atem wieder. Sie holte noch einmal Luft und blinzelte ihn an, dann lachte sie leise und flüsterte zwischen Küssen auf seine Wange. "Danke, danke danke, Kai! Ich liebe dich!"

"Heb dir das für nachher auf, wenn wir nicht dann im Krankenwagen sitzen!" giftete er ängstlich und schob sie ganz weg, um aufzustehen.

"Was hast du vor?"

"Noch einen Whisky-Cola trinken und mich ausziehen, was sonst, verdammt? Für diese Scheiße bin ich entschieden zu nüchtern, und nackt zu sein wäre auch von Vorteil."

Sie sprang ebenfalls auf und lief zur Zimmertür. "Ich stell die Heizung höher, bin gleich zurück." Praktisch veranlagt und energiegeladen wie immer.

Kopfschüttelnd zog Kai sich das Hemd wieder aus und nach kurzem Zögern vor der Whiskyflasche schenkte er sich eine gute Mischung ein und warf nach zwei Schlucken die Unterhose hinter sich. 'Das Leben tickt vorbei und vorbei, Benni hat recht, auch wenn er selber nie was daran ändert. Ich bete nur, dass ich dafür nicht in die Schwulenhölle komme.' Er sank vor dem Bett auf den Fußboden und zog eine Decke um sich. Furchtsam blickte er Tini entgegen, als sie zu ihm zurückkam und an der Tür verharrte, um zwei dicke, schwarzrote Kerzen anzuzünden. Dann grinste er und hielt ihr das andere Glas hin.

Zwei Stunden und eine ungezählte Summe an Kindheitserinnerungen später verlöschte eine der beiden Kerzen flackernd, sie lehnten zutiefst betrunken aneinander und Tini unterdrückte ein Aufstoßen, bevor sie ihn anklagend anstarrte. "Du miese Ratte, Kai. Das war Absicht!"

Kai blickte an seinem nackten Körper entlang, dann an ihrem. Verwirrt stellte er fest, dass er sich gut fühlte, tüddelig und irgendwie sorglos und leicht, leichtsinnig. "Was? Ich bin nackt, du auch." Kritisch beäugte er ihren kleinen Busen und sah dann doch rasch wieder fort, zu den leeren Gläsern. "Wir haben getrunken und..."

"Und? Eben! Du kriegst doch so niemals noch einen hoch, oder? Morgen haben wir den Riesenkater und keinen Bock mehr auf Sex und dann... ist meine Chance... vorbeigetickt." Sie machte eine schwimmende Bewegung mit der Hand. Betrunken schielte sie auf seinen Penis und umfing ihn unsicher zufassend mit einer Hand. Übellaunig murrte sie zugleich "Das wird doch nichts mehr. Du hast mich gelinkt."

Einen Moment später blinzelte sie und kam schwankend auf ihre Knie hoch. "Hoppla. Tschuldigung, Kleiner. Einer hier ist doch noch nüchtern."

Kai grinste ihr betrunken und nicht ohne Stolz zu. "Ich war noch nie zu betrunken dafür. Da staunste, was?"

In einer noch nicht vollkommen benebelten Ecke seines Gehirns stellte sich eine Alarmanlage ein. 'Hallo? Idiot? Und stolz drauf ist er auch noch! Gottohgottohgott!'

Und Kai musste nicht einmal an Lukas denken, um einigermaßen einsatzbereit zu sein. An Jan, das hatte er festgestellt, durfte er eh nicht denken. Das schlechte Gewissen vernichtete sofort jedwede Erektion. An Lukas zu denken hingegen, an den festen Hintern, die rücksichtslos forschenden Hände, an diese dunkle Stimme, die sich immer genau in der Magengrube niederließ, wenn der Mann 'Engelchen' in Kais Ohr schnurrte. An Lukas zu denken machte Kai heiß. Egal ob eine nackte Frau sich auf ihn setzte oder nicht. Und schon konnte Kai nicht mehr mit den Fantasievorstellungen aufhören. Er dachte an Lukas und alles wurde irgendwie heißer um ihn her. 'Kopfkino', dachte er träge und blickte Tini an, als sei er nicht Teil dessen, was sie gerade tat. 'Die kennt sich doch aus.'

Er schloss die Augen und überließ sich dem Alkoholnebel und seiner lückenhaften erotischen Fantasie, in der Lukas und Pascal ungleiche Rollen spielten. Rollen, die sie hoffentlich nie im Leben tatsächlich einnehmen würden.

Tinis Körper kam ihm erst wieder zur Erinnerung, als sie aufstöhnte und sich enger an ihn presste. Und in dem Augenblick wurde Kai klar, dass sie es miteinander machten. Und noch bevor ihn dieser Gedanke abturnen konnte, wurde ihm klar, dass sie es miteinander machten, und das ohne Blut und Geschrei, ohne Krankenwagen und ohne den Horrorfilm dabei.

Erleichtert blinzelte er Tini an und diese machte eine merkwürdige Bewegung aus der Hüfte heraus, lachte dabei fröhlich und betrunken und in dem Moment kam er... einfach so. Erschrocken hielt er die Luft kurz an, dann ergab er sich dem befreienden Gefühl und der folgenden zufriedenen Wärme und Schwere.

Gern wäre er eingeschlafen, aber sie mussten erst noch mit Taschentüchern aneinander rum putzen und Tini musste ihm wieder und wieder die Arme umschlingen und ihn küssen, worauf auch immer sie konnte. In der Regel seine Schulter, weil er versuchte, ihr zu entkommen. Endlich krabbelten sie unsicher ins Bett und wie ein Stein schlief Kai ein, ohne auch nur über Schlafklamotten nachzudenken.

Kapitel 73

Ein infernalisches Geräusch schellte Kai durch den Schädel. Er blinzelte und Lichtblitze bohrten Löcher durch sein Hirn, ihm wurde übel und die cremefarbene Zimmerdecke begann zu wogen wie die See. Einen Augenblick später rückte die Realität sich zurecht. Es war offensichtlich Morgen. Tinis Arm glitt an seinem Gesicht vorbei. Mürrisch schob sie ein paar Haare aus ihrem Gesicht, während ihr Daumen über die Tasten ihres Handys huschte.

"Hab vergessen, den Handywecker auszustellen. Sorry. Oh, Scheiße, mein Kopf! Oh... oh, mir ist schlecht, scheiße!" Tini rollte sich aus dem Bett und ging, nackt wie sie war, und ein wenig unsicher den Türrahmen und die Wände zum Abstützen berührend, davon. Kai blieb sich sammelnd liegen. Vorsichtig hob er die Decke an und blickte darunter. Der Anblick seines vollkommen nackten Körpers ernüchterte ihn. Die Erinnerungen verzerrten sich. Hatten sie nun oder nicht?

Tini kam zu ihm zurück und reichte ihm eine Sprudelflasche. "Hier, oder musst du auch brechen?" Sie raufte sich die Haare und fischte nach einem übergroßen T-Shirt, ein Fußballtrikot. "Ich muss gestehen, es tut gut. Mir geht es jetzt echt besser."

"Hm." Kai hustete, hielt sich den Kopf und nahm dann einen Schluck Wasser. Probehalber hob er noch einmal den Kopf an. Das Wogen und Schwanken ließ ein wenig nach. Sein Schädel wies jedoch einige Baustellen auf und die statistische Abteilung für schwule Abartigkeiten überreichte ihm einen Orden für Mitleidssex.

Tini dachte ähnlich. Sie sprach es aus, als sie nach Dusche, Marathonzähneputzen und Gurgeln mit allem, was im Bad war schweigend in der Küche saßen und in ihren Aspirin-Plus-C und Kaffeetassen rührten. Die Hunde blickten sie nachdenklich und ein wenig überheblich an und ließen Kai nur noch ein Gefühl der Scham über seine Charakterschwäche.

Tini streute gleich kräftig Salz in die frischen Seelenwunden. "Du hast es aus Faulheit und Mitgefühl getan, nicht? Ich hab dir leidgetan und du wolltest deine Ruhe haben." Es klang wie ein abschließendes Urteil und Kai bekam rote Ohren.

'Hm... stimmt genau.' Aber das sagte er nicht. Stattdessen blickte er griesgrämig in der Küche umher. "Ich weiß nicht mal, ob wir was getan haben. Filmriss... haben wir?", Kai wagte es nicht, sie anzusehen. Die Hunde rückten ein wenig auf und einer schob schließlich seine lange, elegante Schnauze auf Kais Schoß, um sich kraulen und mit trockenem Toast füttern zu lassen.

Tini seufzte ein wenig traurig. "So ganz und gar kann ich mich auch nicht mehr erinnern, aber ich hab mich ziemlich genau so gefühlt, als hätten wir... heute Morgen, mein ich, unten rum."

"Ich will das nicht hören, danke!" Angeekelt starrte Kai in seinen Kaffee. Die schwarze Brühe passte zu seiner Stimmung.

Tini ignorierte ihn. "Aber ich weiß noch, dass ich mich besser gefühlt hab, als in meinen Träumen." Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. "Ich schulde dir Kai, big time. Ich update dich auf jeden Fall, ob es mit Holger auch geklappt hat."

Kai versteifte sich und zickte dann "Das wird keine Therapie hier, verstanden? Das war ein Fehler und es war einmalig und wird nie nie nie nie wiederholt! Hab ich dein Wort darauf?!" 'Oh mein Gott, Jan bringt mich um! Warum immer ich?' Er hielt sich den Kopf und schloss die Augen. Die Männchen von der Abteilung für Abartigkeiten waren offenbar mit Hämmern und Sägen und Bohren beschäftigt. Hinter seinen Augen dehnte sein Hirn sich schmerzhaft aus und drückte pochend an die Schädeldecke. Hastig öffnete er die Augen wieder und starrte sich mit einem der Hunde an.

Tini seufzte ein wenig ernüchtert und nickte dann leicht. "Mein Ehrenwort. Ich werd dich nie wieder betrunken machen, anfummeln und zu Sex zwingen, Kai. Aber..."

Er hob eine Hand. "Danke! Kein 'Aber' nötig."

Sie lachte auf, hielt sich den Kopf und kicherte dann vorsichtig weiter. "Aber, wollte ich sagen. Versprich du mir dafür, dass Jan das nie erfährt."

Kai tat beleidigt. "Wofür hältst du mich? Ich bin nicht lebensmüde, verdammt. Und ich will ihn auch nicht umbringen. Er würde sich garantiert totlachen."

Tini nickte leicht und schien diese Tötungsart für Jan tatsächlich in Betracht zu ziehen. "Ja, der arme Mann."

Kai beschloss im selben Moment, dass er diesen armen Mann dringend anrufen sollte, um sich auf richtigen Sex mit ihm zu verabreden. In der neuen Wohnung am besten, und zwar ohne störende Elemente. Leider würde er selber reichlich störende Elemente mit sich führen. Einen mächtigen, aspirinresistenten Schädel und Muskelkater und ein schlechtes Gewissen von der Größe Usbekistans, und vor allem das störte ihn derart, dass er sein Handy nicht einmal anschaltete, als Tini ihn später in ihr Auto verlud, um ihn vor seiner Wohnung wieder rauszuwerfen. "Ich fahr zu Holger. Hab ihm versprochen, vorbeizukommen. Danke noch einmal, Kai. Jetzt lieb ich dich erst recht!" Ein Kuss auf seine Wange, ein Winken und schon war sie um die Ecke verschwunden.

Kai blieb im Nieselregen zurück und begann sich richtig unwohl zu fühlen. Tinis ekstatische Freude über die Heilung hatte alles richtig sein lassen. Den Abend, ihre Offenheit, ihr Verhalten und den Sex, soweit er vielleicht stattgefunden hatte. Es hatte ihm das Gefühl gegeben, etwas auf perverse Art Richtiges zu tun, obgleich es ihm schwerfiel, auch nur darüber nachzudenken. Doch nun, bei grauem Tageslicht betrachtet, war es idiotisch gewesen. Oberidiotisch, nichts weiter.

Tini hatte ihn vollgetextet, abgefüllt und verführt. Er hatte trottelblöde stillgehalten, wie ein Reh auf der Autobahn hatte er sich mit offenen Augen überfahren lassen. Anders war es nicht gewesen. Dass sie ihn emotional total auf ihre Seite hatte holen können, stand dabei nicht zur Debatte. Er hatte einfach so alles verraten, was ihm zuvor wichtig gewesen war. Jan zu allererst, und das war ja nun nicht das erste Mal gewesen. Kai senkte den Kopf. Nieselregen rottete sich sofort in seinen Haaren zusammen, um ihm in den Kragen zu laufen. "Scheiße."

"Was ist denn los?"

"Jan! Gott, hast du mich erschreckt!"

Jan sah Kai forschend an. "Scheiße trifft es aber auch, Kai, wenn man dich so anschaut. Hast du gesoffen mit Tini?"

Er schloss für Kai auf, der seine Schlüssel irgendwie verwirrt in den Händen gehalten hatte, und schob ihn in den Hausflur. "Was ist los? Was war los?"

"Tini wollte Sex mit mir. Ich..." brach es aus Kai hervor. Er spürte, wie seine Ohren und Wangen heiß wurden. Jan lachte los und Kai erinnerte sich panisch an die Totlachnummer. "Sie war... hatte nicht so tolle Erfahrungen und steht so auf mich und..."

"Und wir stehen auch, Kai, im Hausflur. Was ist nur passiert, dass du so von der Rolle bist?" Jans sicherer Griff lenkte Kai in die Wohnung hoch, um das Spielhaus in ihrem Wohnzimmer herum und in sein Zimmer. Dort pellte Kai sich aus den dreckigen Sachen von der Arbeit und zog sich einen extradicken Pullover und seine einzige Jogginghose über. Ihm war kalt, er zitterte sogar ein wenig.

Jan hatte eine andere Erklärung für sein merkwürdiges Verhalten. "Du hast vermutlich Fieber, soll ich nachmessen, oder schluckst du freiwillig ein paar Paracetamol?"

Kai kroch in sein Bett unter die Wolldecke und nickte nur. Als Jan mit heißem Tee und den Tabletten wieder zu ihm trat, begannen seine schmerzenden Muskeln ihn richtig zu nerven. "Scheiße, Jan. Mir tut echt alles weh. Das ist nicht nur Muskelkater, glaube ich. Ich hab 'ne Grippe oder so."

"Macht nix, Baby." Nebenbei küsste Jan ihn auf den Kopf. "Die ist bald vorüber und dann ziehen wir in aller Ruhe um. Ich hab vorhin mit Benni gesprochen. Er nimmt dein Zimmer und kauft dir den Schrank, die Rollos und noch irgendwas ab, was ich vergessen hab. Ah, der Kühlschrank war's!" Zufrieden rieb Jan sich die Hände und sah Kai dabei zu, wie er die Tabletten schluckte.

"Ich will dich nicht anstecken, Jan", jammerte Kai nun endgültig in Selbstmitleid verflossen. Dann fiel ihm Tini ein. 'Ach, die ist fit, ich ruf sie morgen an.' Er ließ sich von Jan tiefer unter die Wolldecke schieben und schlummerte zu den süßen Worten ein "Ich fahre zur Wohnung rum. Auf dem Rückweg bring ich Chinesisch mit. Willst du das übliche, Kai?"

"Hmhm, wie immer... Danke, Jan." Und er war sich sicher, dass er nichts würde essen können. Aber das war egal. Lolli mochte Hühnchen knusprig auch ganz gern. Jan küsste ihn lachend auf die Wange. "Gute Besserung, Baby." Und weg war er.

Und weg war auch Kai. Er wachte tatsächlich erst Stunden später wieder auf. Vom Lärm vor seiner Tür. In ihrem Wohnzimmer röhrte ein Bohrer, das Geräusch brachte sein Hirn wieder zum Pochen und eine leichte Übelkeit stieg in ihm auf. 'Nie wieder Whisky-Cola! Scheiße... scheißescheiße...' Ächzend rollte er sich aus dem Bett und schwankte auf wackeligen Beinen zum Bad.

Der Lärm stammte daher, dass Lukas mit seinem Akkuschrauber dabei war, das Spielhaus von Lolli in ein solches Format zu zerkleinern, dass es durch ihre Wohnungstür passte, damit die Nachbarn es übernehmen konnten. Lolli stand die Hände ringend daneben und im Weg und aus irgendeinem Grund war auch Tini da.

Als Kai wieder aus dem Bad in sein Zimmer wankte, war Tini dorthin gewechselt und hockte an ihren feuchten Haaren drehend auf seinem Bett. Sie starrte ihn erst böse, dann mitleidig an und meinte endlich. "Ich hätte dich erst ausnüchtern sollen. Du hast es ihm gesagt."

"Wem? Was?" In dem Moment machte es 'Klick' und Kai verfehlte beim Hinsetzen fast das Bett. Der Alptraum nahm kein Ende. 'Scheiße! Ich hab Jan gesagt, dass Tini...?'

Sie starrte ihn missmutig an und zupfte an ihrem Pulli. "Du hast Jan gleich nach dem 'Hallo' gesagt, was wir getan haben. Er hat es in Warpgeschwindigkeit zu Holger geschafft, war fast vor mir dort. Und dort hat er mich stasimäßig vernommen und dann hat er mir 'ne Packung verpasst. Mannomann. In meinem Auto noch hat er mir dann einen riesenlangen Vortrag darüber gehalten, was er mit mir macht, wenn ich dich noch einmal..."

"Moment mal! Er gibt dir die Schuld?!" Kai hustete trocken und krabbelte unter seine Decke. Verwirrt starrte er sie an. "Warum nicht mir?"

Tini zuckte mit den Schultern, dann grinste sie „Das war es wert, Kai. Es war mir so viel wert, du kannst dir das nicht vorstellen. Ich hab dich wirklich lieb." Sie lehnte sich zu ihm und küsste ihn auf die Wange.

Eine Stimme von der Tür unterbrach sie im nächsten Moment. Schnarrend verkündete Jan "Für drei hab ich nicht genug zu essen. Zieh Leine, Tini."

Tini rappelte sich hoch. "Ups. Ich musste ihn warnen kommen, Jan. Tut mir leid. Und... du hältst dich an dein Versprechen?"

Knurrig trat Jan zur Seite, um sie passieren zu lassen und nickte. "Natürlich. Du aber auch, verstanden?!"

Sie kicherte. "Keine Frage."

Sauer drehte Kai sich weg. Die ganze Geschichte ließ ihn sich fühlen wie ein verblödetes Kleinkind, das man beliebig beeinflussen und auch wieder umerziehen konnte. Außerdem hatte Kai nun doch wieder ein wenig die Befürchtung, dass auch er eine Packung verdient hatte und bekommen sollte. Im Geiste verabschiedete er sich schon einmal von dem schicken Zimmer in der Traumwohnung. So wollte Jan sicherlich nicht mit ihm zusammenwohnen.

Die Tür klappte, der Essensgeruch verschwand, aber gleich drauf ließ Jan sich auf der Bettkante nieder. Kai hielt den Atem an. Eine Weile lang passierte nichts, dann strich Jan Kai mit kühlen Fingern glättend über die Haare. Er umfasste Kais Nacken und berichtete leise. "Sie hat es mir erzählt. Die Vorgeschichte zu dieser Aktion mit den Details dazu. Das war ja mal eine interessante Schocktherapie mein Lieber. Ziemlich typisch für Tini, wenn man mich fragt. Außerdem... hast du sie offenbar ziemlich beeindruckt. Ich möchte Details. Jetzt."

"Jan... ich schäme mich so!" Kai ließ den Kopf hängen und gab dem Streicheln nach. "Wie konnte ich dich nur... mit einer Frau zudem, das war so..." 'Ekelhaft... schwachsinnig...deppentauglich'

"... so viel Whisky zu verdanken, dass du jetzt halb tot bist? Soviel zum Thema Grippe, was?" Wie nebenbei wurde aus dem Streichen ein Fühlen. Eine kühle Hand schob sich über Kais Stirn. "Hm. Oder auch nicht. Ich hol' mal das Fieberthermometer."

Kai sank tiefer unter die Decke. 'Ich bin vielleicht ein Idiot...' "Scheiße."

Jan schob ihm das Thermometer unter die Zunge. "Ja. Irgendwie hab ich die Befürchtung, dass mein Freund bald jedem eine Sextherapie verpasst, der heulend zu ihm kommt. Wir ziehen nächste Woche zusammen und das ist ein Befehl. Und? Was war jetzt mit Tini?"

Kai nickte ergeben und linste in Jans Gesicht hoch. "Filmriss... ich hab wirklich keine Erinnerung mehr nach dem vierten Whiskey mit Cola." Sie sahen sich in die Augen und zu seinem Erstaunen sah Kai, dass Jan grinste. Aus dem Grinsen wurde ein Feixen, dann begannen Jans Schultern zu beben.

"Was?"

"Du hast mit Tini... Ich komm nicht drüber weg!" Jan wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel.

Kai wurde rot. "Ich erinnere mich nicht daran, aber es war sicherlich nicht so lustig."

"Doch, doch... Das kleine Schäfchen schläft mit dem großen bösen Wolf."

"Ich bin kein Schaf!" Irritiert schob Kai sich im Bett höher und hielt sich gleich drauf stöhnend den Kopf. "Oh, mein Kopf! Scheiße!"

Jan hob eine Augenbraue und kicherte weiter. "Oh, mein süßer Baby-Freund ist so ein Tier... im Bett...." Er brach lachend auf Knien zusammen.

"Was hat Tini dir denn erzählt?!" Hysterisch rüttelte Kai an Jans Schultern, aber konnte seinen Freund nicht vom Lachen abbringen.

"Nichts... nur so... nein, nein... nichts." Jan rollte vom Bett auf den Boden und hielt sich den Bauch.

Kai, nun definitiv knallrot, wollte gerade einen Schreianfall bekommen, als Lolli ihn rettete. "He da! Zwei unschuldige, jungfräuliche Chinapackungen, in unserem Esszimmer allein auf weiter Flur!"

Gleich drauf war Jan auf den Beinen und schon einen Augenblick später war er nach kurzem Gekreische und Gelächter mit den zwei Plastikwannen und Gabeln wieder bei Kai. Er grinste und kicherte noch immer, aber begann am Schreibtisch unter die Deckel zu schauen. Endlich schaltete er den Fernseher an, streifte seine Schuhe von den Füßen und kletterte zu Kai ins Bett. Er stellte sich eine Flasche Bier auf den Nachttisch und reichte Kai einen Becher mit Pfefferminztee.

Hm. Chinesisch im Bett mit Jan. Das war vielleicht doch ein wenig wert, ausgelacht zu werden. Leider hatte er kaum Appetit, sodass Lolli in die glückliche Lage geriet, den Rest vertilgen zu dürfen. Eine Weile lang nippte Kai vom Tee und stellte den halbvollen Becher endlich fort. "Danke", murmelte er nach einer Weile leise an Jans Schulter gerichtet und bekam einen kleinen Kuss auf die Schläfe.

"Hm? Wofür?"

Kai seufzte. Er schob sich tiefer unter die Decke und schloss die Augen. Es lief eh nur Fußball. "Dafür, dass du gelacht hast. Dafür, dass du noch immer mit mir zusammen sein willst."

Jan hatte einen Schluck aus seiner Bierflasche genommen und grinste statt einer Antwort nur. Er begann fast wieder mit diesem schrecklichen Gelächter, aber beherrschte sich dann doch. "Natürlich hab ich gelacht. War ja wohl auch lächerlich, die ganze Geschichte. Du bist herrlich, Kai! Natürlich will ich noch immer mit dir zusammenwohnen. Jetzt erst recht. Du bist wirklich für jede Überraschung gut!" Jan lachte einen Augenblick lang noch gemein still in sich hinein, doch eine torgefährliche Situation auf dem Bildschirm fesselte für einen Moment seine Aufmerksamkeit und er hörte endlich auf zu kichern. Leiser fügte er schließlich hinzu: "Tini so zu helfen hat dich sicherlich Überwindung gekostet. Sie liebt dich, aber du hast sie nie auch nur im mindesten ermuntert, das halbe Semester hatte schon Mitleid mit ihr. Und dann so was? Ganz ehrlich war das so in etwa das Kurioseste, das ich je gehört hab. Und du hast es mir gleich gestanden, das fand ich gut. Nur insgesamt mit dem Sex musst du wirklich langsam mal monogamer werden, das nervt mich nämlich sonst irgendwann doch."

Das war mehr als Kai verdient hatte, aber er war zu müde und fühlte sich zu schlecht, um sich weiter kasteien zu können.

Aber die gerechte Strafe folgte gleich. Am anderen Morgen weckte Lolli ihn mit dem Telefon. Kai wollte erst ablehnen, aber die Worte 'Deine Mutter.' und ein resolutes Hinhalten des Hörers beendeten seine Ruhe.

"Mama, hallo."

"Ich hab gehört, dass ihr nächstes Wochenende umziehen werdet, Kai?!"

"Eh."

"Und das mir! Hast du es etwa nicht mehr nötig, deine Eltern von deiner neuen Adresse zu informieren?"

"Ich weiß es selber erst seit gestern."

"Papperlapapp, man zieht nicht einfach so seit gestern um. Außerdem ist es jetzt so knapp mit dem Organisieren, Kai!"

Leichte Panik begann in Kais Magengrube. "Wir machen den Umzug hier unter uns aus, Mama." Und er wollte sie auch nicht dabei haben.

"Aber, Kai! Darf ich etwa nicht sehen, wo du jetzt wohnst?!"

"Mama... so war das nicht gemeint, aber..."

"Wir kommen auf jeden Fall vorbei und helfen euch, keine Frage. Jan hat uns gestern Abend gesagt, dass ihr am Samstag die Möbel rüberbringen werdet. Dann kommen wir Sonntag und helfen euch mit dem Rücken und Aufbauen. Gemeinsam ist das ruck zuck erledigt."

"Eh." Unsicher blinzelte Kai und schob sich in seinem Bett höher. Seine Kopfweh war noch nicht überstanden, die Augen taten ihm weh. Genervt schloss er die Augen. "Wir... kommen?"

"Dein Vater bringt die Bohrmaschine mit, dann können wir auch gleich Regale dübeln und so weiter. Ich mach einen Auflauf, du musst nicht für uns kochen, Kaichen."

Einer Panik näherkommend rang Kai um Worte, die diese Planung irgendwie abwenden konnten, aber ihm fiel auf die Schnelle nichts ein. Seine Mutter überschauerte ihn noch mit Berichten zu seinem Cousin, der neuerdings mit Imke Jelenik zusammen zu sein schien. Von Tante Helga, die bei Weight Watchers mitmachte und irgendwie mit dem Walken begonnen hatte und natürlich von den zahlreichen Planungen für ihren Garten. Alles rauschte an ihm vorüber, das einzige, das er noch mitbekam, war das Versprechen seiner Mutter, dass Norbert guter Laune sein würde.

Lolli kam um die Ecke, als Kai das Telefon wieder auf die Station zurückbrachte. "Oh, Maus. Du siehst ja echt schlimm aus."

"Bevor ich ins Bad gehe und in den Spiegel sehe... wie schlimm..."

Lukas bog um die Zimmerecke und grinste ihn an. Kai quiekte und hechte in einen Pullover. Noch während er sich versteckte, hörte er, wie Lolli ihn recht unvorteilhaft mit Szenen aus dem Trashfilm 'Critters' verglich.

"Danke! Ich schau selber nach!" Hastig drängte Kai sich an Lukas' irgendwie zu großem Körper vorbei und flüchtete sich in das Badezimmer. Lolli hatte geduscht und der Spiegel war komplett beschlagen. Also duschte und rasierte Kai sich blind, auch wenn es ihm nicht sonderlich gut ging. Das Licht aus der gnadenlosen Neonröhre unter der Decke nadelte sich durch seine Augen. Sie zu schließen brachte nur wenig Vorteil, dann brannten sie nämlich, als ob er Seife hineinbekommen hatte. Sein Kopf schmerzte noch immer schrecklich.

Als Kai aus der Dusche kam, in Unterwäsche und ein Handtuch gekleidet, sah er zu seinem Entsetzen, dass sich ihr Wohnzimmer gefüllt hatte. In der Mitte lag das zerlegte Spielhaus. Lukas hockte neben Pascal und Jan auf der einen Seite. Lena kauerte auf der andere Seite neben Lolli und Benni. Keiner sprach ein Wort, als Kai an ihnen vorbeistürzte.

Als er jedoch samt der schützenden Wollschicht von Jans dickem Pullover und einer zu weiten Jeans wieder zu den anderen kam, starrten ihn alle gleichzeitig an. "Oh. Mein. Gott!" Lena blinzelte einmal.

Genervt nahm Kai sich einen Kaffee. Seine Augen brannten und tränten. "Was?!"

"Nichts... nur, hast du Critters gesehen in letzter Zeit?"

Lolli kicherte los und nickte. "Hab ich's nicht gesagt?! Dali findet auch, dass Kai..."

Jan drehte sich um und hob den Kopf. "Oh. Mein. Gott! Kai!"

Kai sprang auf und rannte zum Spiegel neben der Garderobe. "Scheiße! Was ist das denn?!" Sein Anblick war nicht nur entsetzlich, sondern auch noch irgendwie künstlich, als hätte er sich selbst verunstaltet. Und auch wenn es Kai nervte, musste er zugeben. Die Critters kamen auch ihm in den Sinn. Zumal seine Locken sich wild in seine Stirn ringelten wie Würmer und um die Ohren knautschig nass kringelten, als bekämen sie die Marter bezahlt, in der sie ihn damit leiden ließen. Unsicher kämmte Kai mit den Fingern durch seine Folterfrisur, aber seine Augen waren das Hauptproblem.

Lena meinte tröstlich und zugleich entsetzlich schlecht getimed "Tini hat auch so etwas in der Art. Ihre Augen sind jedenfalls auch dick gewesen. Sie hat mich vorhin angerufen und gebeten, ihr von der Apotheke Augentropfen mitzubringen. Die meinten dort aber, dass sie erst mal zum Arzt muss, weil eine Augenpest umgeht und man mit Antibiotikum ran muss."

Unbeeindruckt zuckte Jan mit den Schultern. "Sollen ihre Eltern ihr den Kram einfach mitbringen, die sind doch auch Ärzte."

Kai starrte sich verzweifelt im Spiegel an. "Scheiße verdammte. Und ich?!" Seine Augen waren feuerrot mit interessanten Adern überall. Zudem waren die Lider geschwollen.

Jans Hand an seinem Kragen brachte Kai zum Zusammenzucken. "Komm mit. Wir schauen mal bei meinen Eltern vorbei, die sind eh in der Wohnung. Dann kann mein Pa dir gleich Augentropfen aufschreiben." Der trockene Befehlston täuschte Kai nicht darüber weg, dass Jan von irgendetwas genervt war, das nichts mit ihm zu tun hatte. Aber um seine Chancen nicht übertrieben auszuweiden, nickte er lediglich gehorsam und holte sich Jacke, Schuhe und eine Sonnenbrille. Mit Brille konnte er das trübe Licht draußen gerade so ertragen. Die Nadeltherapie in den Augen nahm aber zu, als sie im Auto fuhren.

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