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Trost 2

Kapitel 108-110

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Inhaltsverzeichnis

108

Erst als sie nach Verlöschen des Feuers recht spät auf dem Nachhauseweg waren, fehlte Jan Kai wieder. Nun aber schon auf eine unangenehme Art, die sich schmerzhaft in seinem Bauch niedergelassen hatte. Sehnsüchtig freute er sich auf das T-Shirt und hoffte, dass Jan ihm vielleicht wenigstens eine SMS geschickt hatte. Sein erster Weg führte ihn dann auch gleich zum Nachttisch. Jan hatte ihn versucht anzurufen. Vier Mal. Verwirrt starrte Kai das Handy an, dann seufzte er und versuchte Jans Nummer. Er erreichte ihn sofort. "Kai! Gott, ich hab mir Sorgen gemacht!"

"Scheiße, Jan! Ich bin erwachsen, verdammt noch mal! Ich war mit Holger, Tini und dem Bambi zum Osterfeuer, wie ein normaler Mensch."

Jan lachte leise, dann sagte er "Es war nur, weil Leon mir eine SMS geschrieben hat, dass du vielleicht nicht mehr bei ihm arbeiten wirst. Ist was passiert? Ist es wegen der Nachtschicht?"

Eine subtile Rache von Leon. Aha. Kai zog seinen Hut. Intrigantes Biest, dieser Mann. "Nein, wir hatten Krach, aber das erklär‘ ich, wenn du wieder da bist, okay?" Und er würde sich erst einmal mit Leon darüber unterhalten müssen, außerdem brauchte er einen Racheplan.

Jan verließ das Thema sofort, er hatte aber auch andere Sorgen. "Ich bin vermutlich erst nächste Woche irgendwann zurück, Mittwoch oder so. War ein doofes Wochenende, der Golf hat 'nen Totalschaden."

"Was?! Ist dir was passiert?" Der Schreck schwächte Kai derart, dass er sich auf das Bett setzen musste.

"Gar nichts. Ich saß nicht drin. Ich hab bei Hannahs Haus in der Auffahrt geparkt, weil ich mit den neuen Mietern verabredet war. Die Mieter sind mir mit ihrem Geländewagen d’raufgesemmelt. Diese Idioten parken wohl immer rückwärts rein und schauen nicht so richtig. Da geht es so um ein paar Büsche um die Kurve. Jedenfalls bekomme ich von der Versicherung nix für die alte Karre, war auch schon ziemlich durch. Jetzt muss ich einen anderen Wagen umversichern, bevor ich fahren kann."

"Oh mein Gott! Bitte sag jetzt nicht, dass du Hannahs altes Auto auch noch anschleppen willst!"

Jan lachte wieder. "Nee, der ist so unpraktisch gewesen. Ein Zweisitzer, Alfa. Den verkaufen meine Eltern gerade. Ich nehme vermutlich den alten Wagen von meiner Mutter für den Sommer. Mal sehen, vielleicht auch ganz."

Kai senkte den Kopf und unterdrückte einen Kommentar. Hätte er mal nichts gesagt. Hannahs Auto klang mit einem Mal attraktiver als das von Jans Mutter. Sicherlich ein vollkommen praktischer und megahässlicher Wagen. Er zögerte, dann gab er leise zu. "Ich vermisse dich." Der Schreck war es gewesen, sonst hätte Kai vermutlich nichts heraus gebracht.

Es war einen Augenblick lang still, dann hörte er Jan am anderen Ende der Leitung leise seufzen. "Das ist... fies, Kai. Ich... ich vermisse dich doch auch."

Das zu hören machte es irgendwie zwar nicht leichter, dass da im Bett nur ein T-Shirt lag, aber Kai lachte leise. "Dann ist es wenigstens fair."

Kai erzählte kurz vom Osterfeuer, von Bardos Stress mit dem Chor und fragte nach, ob sie sich einmischen, oder die Sachen laufen lassen sollten. "Ich bin mir nicht sicher, ob es jetzt okay ist, Bardo sich in dieser Sache selber zu überlassen."

"Es ist ja leider Gottes vollkommen normal, dass seine Freunde reagieren. Unbequem reagieren. Schau Matze an. Der hat noch immer Würgereiz, wenn er dich ansehen muss. Und das, obwohl er vorher ein ziemlicher Fan von dir war, weil du so schlau und ordentlich bist und trotzdem immer abschreiben lässt."

"Aber ist das nicht was anderes? Der Chor war ja schon irgendwie wichtig für das Bambi."

"Klären wir in Ruhe mit ihm. Ich sprech‘ das an, wenn ich wieder da bin, und er sicherlich auch vorbei kommt."

"Danke."

Jan schwieg, wollte irgendwie nicht mehr reden, aber Kai war ohnehin müde und wollte aus den Klamotten raus, die nun nach kaltem ekeligen Rauch stanken. Sie verabschiedeten sich gleich danach. Kai zog sich in seinen gemütlichen Schlafanzug um und beschloss, den Kram noch rasch in den Keller zum Waschen zu bringen, bevor er seinem neuen Buch eine Chance geben wollte, ihn in den Schlaf zu langweilen.

Und nur weil er Bardo fragen wollte, ob er seine Sachen mit reinwerfen sollte, blickte Kai zu ihm ins Zimmer. Er hatte angeklopft, keine Antwort erhalten und daher nur sachte die Tür geöffnet. "Bardo? Schläfst du schon?"

Ein Schnüffeln war die Antwort. Die Lampe auf dem Nachttisch brannte auch noch. Kai blickte um die Ecke und sah neben wild verstreuter Klamotten, dass das Bambi sich tatsächlich nur bis zum Haus hatte zusammenreißen können. Der Junge lag auf dem Bett und heulte. Unsicher blieb Kai erst in der Tür stehen, dann stellte er den Wäschekorb auf dem Flur ab und trat ins Zimmer. Er ließ sich auf der Bettkante nieder und legte eine Hand auf Bardos Nacken. "So schlimm?"

Bardo nickte schweigend und ließ sich willenlos umarmen. Kai schloss kurz die Augen. Es tat ihm weh, dass Bardo so leiden musste. Er umarmte ihn ein wenig zu fest und streichelte seine Schultern, bis er sich beruhigt hatte. Im Geiste ging er die vielen Abende durch, an denen er sich selbst gefragt hatte, wie er das aushalten sollte, wann er sich endlich einmal wohl fühlen würde. Kais Schulzeit war durchsetzt gewesen von einer Sehnsucht auf etwas. Leider etwas Diffuses, das er sich nicht einmal vorstellen konnte.

Direkt Sex mit einem anderen Jungen war es eigentlich nie gewesen. Erst Lolli und Frank hatten ihm den Gedanken an eine sexuelle Beziehung tatsächlich näher gebracht. Es war vielmehr genau das gewesen, das er nun Bardo geben konnte. Nähe und Akzeptanz. Einfach nur Zusammensein. Sein Körper hatte sich verändert, seine Gedanken und sein Leben. Nach dem vierzehnten Geburtstag, im Oktober als Norbert so ausgerastet war, hatte Kai sich komplett geändert. Von jetzt auf hier verstand er seinen eigenen Körper nicht mehr. Das Leben war mit einem Mal kompliziert. Und nie hatte er jemanden gehabt, dem er mit all den neuen Fragen vertrauen konnte, dem er sich nah fühlte.

Endlich putzte sich Bardo die Nase und kauerte sich am Bettende zusammen. Missmutig pulte er an seinem lila Lieblingsschlafanzug. "Tut mir leid. Ich bin voll die Heulsuse geworden."

Kai blickte ihm forschend in das auch verheult noch süße Gesicht, dann meinte er leise "Weißt du, wenn es dich so sehr mitnimmt, dann solltest du kämpfen, Bardo. Darum kämpfen."

"Hättest... du das?"

"Nein. Ich bin nicht so mutig und stark. Jan hat das aber. Schau ihn dir an. Er spielt Fußball. Er muss täglich gegen die Sprüche an und gegen das Misstrauen und gegen... seine Freunde." Thilo fiel Kai wieder ein. Seine Kühle und Distanziertheit, die sich nur noch selten, in ganz unbedarften Momenten verlor. Jan war mit Thilo mal sehr eng befreundet gewesen. Sie hatten zusammen das Abitur gemacht, waren im selben Fußballverein gewesen. "Jan hat auch so einen Freund verloren."

"Und du?"

"Ich hab früher nie Freunde gehabt. Ich kenn das Gefühl nicht."

"Aber allein sein, war das nicht schwer?"

Kai zog die Beine an und umarmte seine Knie. Endlich nickte er. "Ja. Das war schwer." Er sah Bardo von der Seite her an und lächelte. "Aber ich bin es nicht mehr und du bist das nie gewesen. Du hast deine Familie. Die haben dich alle sehr lieb. Sogar Halvar. Nantwin sowieso, nicht?"

"Winni? Ja. Wir mögen uns. Winni kennt auch so viele schwule Balletttänzer, dass es ihn gar nicht aufgeregt hat, als ich... Er findet das voll okay. Er meinte schon, dass er mir gern wen vorstellen kann, wenn ich Bock auf einen Freund hab."

"Oho... aha? Das klingt spannend, Bardo!" Kai war in diesem Moment wirklich sehr dankbar, der Unterhaltung eine leichtere Wendung geben zu können. Erleichtert sah er das kleine Lächeln, das Bardos Mundwinkel umspielte.

Doch Bardo schüttelte dann seinen Kopf und meinte fatalistisch "Bestimmt nicht mein Fall. Die sind doch alle so durchtrainiert und zappelig und das... macht mich bei Winni schon immer nervös."

"Was ist denn dein Fall? Anna ja wohl hoffentlich nicht." Kai erinnerte sich an Anna mit ihren lila Haarsträhnen, der energischen, ein wenig aufdringlichen Art und ihren sicherlich teuren ausgeflippten Klamotten. Er schloss die Augen und öffnete sie dann rasch erneut, um das auftauchende Bild von ihr und Bardo im Strandkorb zu vertreiben. "Habt ihr eigentlich?"

Bardo lachte los. "Das würde dich jetzt echt fertig machen, wenn ich 'ja' sage, oder?"

Kai verzog das Gesicht und schüttelte sich ein wenig.

Bardo musste noch einmal lachen. "Nein. Wir haben darüber geredet. Ich wollte nicht. Das hätte mit ihr nichts bedeutet. Nur, um es zu tun, wollte ich es nicht tun. Ganz ehrlich? Schon mit ihr zu knutschen war nicht richtig."

"Das fand ich aber auch!"

Bardo grinste schief. "Sie meinte, dass ich Recht habe und will sich auch erst mal einen neuen Freund besorgen."

"Hm." Kai erinnerte sich an sein erstes Mal und nickte. Es war bescheuert gewesen, es zu tun, um es zu tun. Sogar mit Lukas hätte er das nicht machen sollen. Erst mal kennen lernen und dann... doch dann hätte er es nicht getan, oder? Mit Jan hätte er... Moment! Mit Jan hatte er! Er hob den Kopf, als ihm das klar wurde. Ihr erstes Mal Sex, richtiger Sex im Ferienhaus war so gewesen.

Er hatte mit Jan zum ersten Mal mit einem Mann geschlafen und der Gedanke machte ihn mit einem Mal froh. Er erinnerte sich zudem gerade daran, wie er es bei Jan zum ersten Mal gewagt hatte, Oralsex auszuprobieren. Hinterher hatte Jan doch auch gesagt, dass er sehr gern Dinge zum ersten Mal mit Kai erlebte. Dass sie ihm dann mehr bedeuteten. Damals war Kai irgendwie beleidigt gewesen, hatte sich wie ein unerfahrenes Dorfei gefühlt. Jetzt fühlte er sich mit einem Mal total gut bei dem Gedanken. Der Mist mit Lukas zuvor konnte als Jugendsünde verbucht werden. Bardo blickte ihn so komisch von der Seite her an und unterbrach ihn in seinen Erinnerungen. "Was ist?"

"Du denkst an Jan, richtig?" Bardo grinste süß und wurde etwas rot. "Dann schaust du immer wie Nantwin, wenn er neue Ballettsachen kaufen gehen darf."

Kai blickte Bardo misstrauisch an. Nantwin schien eine Vollmeise zu haben, echt tragisch bei dem geilen Gesicht. Doch dann nickte er leicht und gab es zu. "Mir ist gerade klar geworden, dass ich es zwar beim allerersten Mal gemacht hab, um es quasi zu machen. Ja, um es hinter mich zu bringen, aber nicht alles. Es gibt ja... hm... nicht nur eine Sorte Sex."

Bardo errötete, dann flüsterte er fast "Aber eine, die zählt, oder? Oder nicht?"

Kai wusste, was er meinte und nickte. Nachdenklich blickte er auf den Fußboden und gab zu "Man erinnert sich schon daran, wer zum ersten Mal mit einem geschlafen hat."

"Und das war nicht Jan?"

"Nein." Kai schob sich weiter auf das Bett. "Lukas. War ein Fehler."

"Ehrlich?"

"Ja. Im Endeffekt habe ich es vermutlich nur getan, um es getan zu haben. Genau das, was du nicht willst. War auch total... doof." Es war das erste Mal, dass er das laut so sagte und sich nicht komplett dabei schämte oder jemanden mit dieser Information wegbeißen wollte. Es war rein informativ, für Bardo vielleicht auch der versteckte Hinweis, dass er aufpassen sollte, wem er sich für diese Aktion anvertraute.

Bardo blickte ihn aufmerksam an. "Du klingst, als ob es echt nicht so toll war."

Kai zuckte mit den Achseln und gab zu "Ich hab nichts erwartet, daher war es passend dazu. Immerhin hab ich herausgefunden, dass ich nicht besonders darauf stehe."

"Vielleicht war das dann kein falscher Weg. Immerhin muss man irgendwann, irgendwie einmal damit anfangen. Sonst findet man es nie heraus."

Kai verschränkte die Arme und gab zu "Ich hab mich hinterher total geärgert, dass ich nicht auf Jan gewartet habe."

"Hättest du ja nicht wissen können, dass er doch... Ich meine, er war ja noch mit dieser krassen Bianca zusammen, oder nicht?"

"Stimmt." Kai seufzte und streckte sich aus. Er drehte sich auf die Seite, zum Bambi hin und schob sein Kopfkissen zurecht.

Bardo neben ihm streckte sich auch aus, blickte jedoch an die schräge Decke hoch und seufzte ein wenig vor sich hin.

Misstrauisch studierte Kai seinen Gesichtsausdruck. Das Erziehungsgen mischte sich ein und machte ihn neugierig. "Warum ist Stefan so angepisst gewesen? War wirklich, ganz ehrlich nichts?"

Bardo wurde ein wenig rot, dann wandte er sich weiter ab. "Nein. Seine Eltern sind aber komplett spießig. Vielleicht hatte ich nur die Hoffnung, dass er nicht so ist. Aber im Grunde wusste ich, wie bei denen am Esstisch geredet wird. Ihre Werte sind sehr eng begrenzt, hat meine Mutter mal gesagt. Stefan hat sich bei uns daheim auch nie so wohl gefühlt. Aber... einmal war was... wir haben mal zusammen... du weißt schon. Aber jeder für sich, ich hab ihn nicht mal angesehen dabei. Hätte bei mir auch nichts gebracht. Hätte mich vermutlich eher gestört. Ich stehe wirklich nicht auf ihn, kein Stück. Schwarzhaarig, so kräftig, total nicht mein Ding."

"Eh? Lukas ist kräftig und hat auch so dunkle Haare." Erstaunlich wie sicher Bardo wusste, was nicht sein Ding war. "Stehst du etwa gar nicht auf den?" Irritiert fragte Kai sich, ob er da irgendwie fälschlicherweise zu Schlussfolgerungen gekommen war, die sich nun als ziemlich bescheuert rausstellen sollten. Andererseits hatte Pascal Bardo nicht mächtig angezickt wegen Lukas?

Bardo blickte zu ihm zurück und blinzelte verwirrt. "Nein, wie kommst du denn da drauf? Er ist ja wohl auch etwas zu alt für mich, oder nicht? Ist der nicht fast dreißig oder so?" Er stützte sich auf. "Das hat Lena jedenfalls gesagt, als sie mich auf der Party überall vorgestellt hat. Sie meinte gleich, dass ihr Bruder nichts für mich ist, weil der zu alt ist und... nicht für Anfänger geeignet. So hat sie das gesagt. Irgendwie komisch."

"Da hat sie Recht. Lukas ist eher was für Männer, die wissen, was sie wollen." Neugierig blickte er Bardo ins Gesicht. "Was hat sie denn so über uns gesagt? Sie hat dich rumgeführt, nicht?"

Bardo lachte. "Stimmt. Die hatte zu jedem was zu sagen."

"Wie kam das eigentlich? Kanntet ihr euch schon?"

"Nein, nicht richtig. Ich bin in Ansgars Zimmer durch, um meine Tasche dort zu lassen und da ist Lena gleich aufgetaucht, weil sie verhindern wollte, dass jemand an Ansgars Musikanlage geht. Er ist da empfindlich. Sein Zimmer war auch nur auf, weil Lena dort Sachen in Sicherheit bringen wollte, an die keiner ran sollte. Sie hat mich gestellt und dann gleich wiedererkannt. Wir waren ja schon ein paar Mal in der WG von Ansgar, haben zusammen Musik aufgenommen und so."

"Ah. Und dann hat sie dir alle vorgestellt?"

"Sie hatte sofort gerafft, dass Ansgar mich im Leben nicht eingeladen hat und hat mich total krass ausgefragt. Irgendwie standen wir zusammen bei der Küche, da hat sie erraten, warum ich zur Party gekommen bin. Sie war voll fies. Hat mich ausgelacht. Aber dann war sie total nett und sagte mir sofort, dass sie mir jetzt alle schwulen Jungs im Raum mal vorstellt. Das hat sie dann gemacht."

"Und?"

"Na, zu einigen hat sie noch ihre Meinung gesagt. War lustig."

"So? Auch zu mir?"

"Hm. Also erst die Dragqueens. Lolli, süß, superguter Geschmack, kann total gut schminken, aber quasselt einem die Ohren taub. Carl. Die Meier‘sche kann massieren, dass man niederknien will, so kriegt er seine Boytoys rum."

Kai runzelte die Stirn, dann lächelte er. "Die Meier‘sche ist einfach total lieb. Dem kann man nichts abschlagen."

"Hm. Meinte Lena auch. Vor Benni hat sie mich gewarnt. Nimm dich in Acht, der kriegt immer was er will und ist auch noch langweilig dabei. Jan, Fußballerhete mit Traumkörper und Alptraumcharakter."

"So schlimm ist er auch wieder nicht."

"Bei dir vielleicht nicht, Kai, stimmt."

"Bei dir etwa?"

"Hm. Jan ist echt nett gewesen zu mir, aber seit er mich einmal über alles aufgeklärt hat und das war echt krass, seit er mir erlaubt hat, hier zu schlafen... immerhin in deinem Zimmer, ohne dich zu fragen, ob das okay ist, hat er sich nie wieder um mich gekümmert. Das machst jetzt immer du." Er lächelte.

"Stimmt. Was hat Lena über mich gesagt?"

"Giftengel. Traumhaft und alptraumhaft in einem Abwasch."

"Giftengel?"

"Hm. Hab ich auch gefragt. Das war komisch, sie meinte, dass du ausschaust wie ein Engel, aber zuschlägst wie eine Kobra, wenn man dich falsch anmacht oder etwas gegen Jan sagt."

Kai blinzelte verwirrt. "Echt? Tu ich das?" Dann fiel ihm ein, wie er Lukas ein paar verpasst hatte. Es hatte funktioniert, und er hatte ihn so angegiftet, weil Lukas seinen Jan angemacht hatte auf der Party. Kai verzog den Mund und gab es zu. Er war schon irgendwie zur Kobra geworden in dem Moment, er hatte wirklich tödlich zugeschlagen und Lukas sehr verletzt. "Sie hat vermutlich Recht. Ich hab Lukas mal echt fies weggebissen."

Bardo seufzte und enthielt sich der Meinung und Kai erschien es sicherer, das Thema endlich sein zu lassen. Er gähnte und meinte leise "Ich bin jedenfalls froh, dass du dich nicht auf Anna gestürzt hast. Gut, dass du deine Prinzipien hast."

"Echt? Meinst du nicht, dass es bescheuert war?" Bardo verschränkte die Arme. "Hinterher dachte ich noch mal, dass das jetzt vermutlich meine einzige Chance auf so eine verrückte Aktion war."

"Sicherlich nicht. Du musst Anna nur eine schnelle SMS schicken, wenn du Bock auf sie hast. Die war so scharf darauf, es mit dir zu tun, die kommt schon Pfingsten Leon besuchen und dann könnt ihr perversen Kram machen, soviel ihr wollt..." Frustriert starrte Kai Bardo an. "Du weißt ja, wo die Kondome sind und wie man die benutzt, nehme ich an."

Bardo grinste fröhlich. "Klar. Haben wir in der sechsten Klasse gelernt. Wir mussten da alle voll peinlich Kondome auf Gurken rollen. Waren Biogurken aus dem Garten von unserer Lehrerin. Es gab wochenlang blöde Witze über diese Gurkengeschichte."

"Gott, das ist ja peinlich! Wir mussten nur diesen bescheuerten Film schauen, wo diese total abturnenden Leute das tun. Ich weiß noch, dass ich sofort beschlossen hab, dass ich noch eine Weile damit warte... meine Mutter hatte mich eh mit HIV in der Mangel damals und mit den ganzen anderen Seuchen, die man vom Sex mit einem Mann sofort zu bekommen scheint."

"Dann wolltest du echt Jungfrau bleiben?"

"Warum?" Das sehr verkümmerte Amt für Anstand, Moral und Sitten erinnerte sich an seine goldenen Zeiten, als Kai noch Jungfrau war und das auch gut fand. "Ist es so grausam, wenn man noch ein wenig Jungfrau ist?"

"Ja." Bardo knibbelte wieder an seinem Schlafanzug. "Ich werde doch nie für voll genommen."

"Die nächsten sechs Jahre oder so wirst du das nicht, Bambi. Gewöhn dich dran und komm klar damit oder such‘ dir Freunde in deinem Alter."

"Nee. Die sind mir alle zu langweilig. Die Jungs sind vollkommen blöde... bis auf Stefan mochte ich mich nicht mit denen treffen. Es ging immer nur um so dämliche Sachen wie Filme, wer welchen Film ab achtzehn schon sehen durfte oder wer schon heimlich Bier getrunken hat. Die Mädchen im Chor sind auch voll nervig. Immer müssen die mit einem über Schauspieler labern, oder Filme oder Serien oder sie wollen mit einem ins Kino oder auf einem Sit-in knutschen. Einfach so knutschen wollte ich noch nie. Hat mit Anna auch keinen Spaß gemacht. "

"Ihr schon. Aber sind wir dir nicht zu langweilig?"

"Bitte?"

Kai setzte sich mühsam auf. "Hier ist es auch vollkommen öde, oder nicht? Ich meine, ich lerne hier dauernd und..." Bardo lachte laut auf. Irritiert blickte Kai ihn an. "Was?"

"Du bist so ziemlich das unlangweiligste Lebewesen, das ich kenne, Kai. Seit ich dich kenne, war ich auf einer echt wilden Party mit Dragqueens, hab Ansgar mitten im schönsten hysterischen Anfall gesehen, hab meine Mutter im tiefsten Schock aller Zeiten erlebt und meinen Vater sprachlos... das war er noch nie, glaube ich."

Kai lachte und blickte auf Bardo runter. "Oh Gott. Wenn du es so erzählst, hast du schon irgendwie Recht."

Bardo sah zurück, ihm in die Augen. "Hier ist immer was Krasses los. Allein das mit Leon gerade jetzt, die Sache mit Bianca oder das Ding mit Lolli. Der ist total lustig. Und ihr seid... lieb. Du nennst mich Bambi, Jan doch auch, nicht? Als ob ihr mich gern habt."

"Das tun wir auch, Bambilein." Kai lächelte und die Abteilung schwuler Kitsch erwachte mit hoffnungsvollen Fragen nach weiterem Futter.

"Und ihr vertraut mir. Ich hab sogar einen Schlüssel von der Wohnung. Du hast mir von Pascal erzählt, das fand ich total schön. Danke."

Kai wurde rot, weil Bardos neue Stimme, weich und deutlich dunkler, wenn auch noch immer ein wenig heiser, sich irgendwie intim anhörte, wie er so 'Danke' sagte. "Ich bin im Gegenteil dankbar, dass du mich hast labern lassen, Bardo. Immerhin war das mein Stress und vermutlich auch hausgemachter Ärger mit Pascal und Lukas. Die Sache mit Bianca war vermutlich Jans hausgemachter Ärger... was musste der auch so gut im Bett sein!"

"Echt? Ist er?" Bardo wurde rot.

Kai seufzte und sagte schlicht. "Abartig gut. Das war der Grund, denke ich, warum Bianca so hinter ihm her war."

"Er ist jedenfalls krass... anstrengend. Er hat meine Eltern aufgeklärt. Er sie! Meine Mutter ist Therapeutin, eigentlich macht sie das immer. Ich hab selber eine voll krasse Aufklärung von ihm bekommen... ganz ehrlich, seitdem bin ich total..."

"Total gehemmt?"

"Hm. Vor allem, wenn du jetzt sagst, dass er nicht nur so etwas sagt, sondern echt gut ist."

Kai nickte unglücklich und vermisste Jan.

Bardo blickte ihn erneut an. "Außerdem hab mitbekommen, wie ihr hier so zusammen lebt, dass es normal ist... gut." Er lächelte "Auch wenn man sich neben euch beiden echt komisch fühlt."

"Komisch?" Kai drehte sich von Bardo etwas weg und nahm das Foto von ihm und Jan auf, das auf seinem Nachttisch stand. Jan fehlte ihm nun, da er zur Sprache gekommen war, mit einer Macht, die schon unheimlich war. Es war ein Unwohlsein im Bauch, im Brustkorb. Es machte, dass er sich kaum noch davon ablenken konnte. Und sie waren erst zwei Tage getrennt.

Bardos Hand fasste an ihm vorbei und entwand ihm das Bild. "Ja. Deswegen hab ich es vielleicht so eilig mit dem Freund. Dem eigenen Freund. Neben euch fühlt man sich echt... allein."

"Das tut mir leid. Waren wir irgendwie rücksichtslos oder so?" Kai sah ihn forschend an. Im Geiste ging er die Momente durch, in denen Jan und er sich vor Bardo in den Arm genommen oder auch mal geknutscht hatten. "Haben wir zu viel rumgemacht, mein ich? Das war nicht absichtlich, ehrlich."

Bardo schüttelte den Kopf. "Nö. Jan läuft dauernd nackt in der Wohnung rum, das ist gewöhnungsbedürftig. Aber er ist einfach so."

"Bei dem Körper wäre jeder so, glaube ich."

Bardo lachte. "Aber du bist... wenn er ins Zimmer kommt, bist du voll auf ihn fixiert. Du hörst hin und wieder sogar mitten im Satz auf zu sprechen, um ihn anzusehen. Hier in der Wohnung ist das jedenfalls so. Meine Mutter war deswegen ja total im Schock, als wir hier so krass peinlich samt Polizei zu Besuch waren."

"Deine Mutter? Hä? War das nicht wegen der Show, die Lolli abgezogen hat mit Ansgar?"

"Na. Lolli war schon nicht ohne, das fand sie auch. Aber sie kennt sich mit schwulen Männern und hysterischen Anfällen von der Oper her schon ausreichend aus und konnte das ab mit ihm. Bei der Sache war sie so geschockt, weil Ansgar mit einem Mal der totale Spießer war. Sogar noch einer, der missgünstig ist. Das fand sie unmöglich.

Sie und Papa haben total lange mit Ansgar über Toleranz und unsere Werte geredet danach. Ich weiß noch, wie sie ihm gesagt hat, dass sie ihn 'So nicht erzogen hat und total enttäuscht ist von seinem Charakter'. Papa meinte zu ihm, dass er sich vorsehen soll, wenn er mit dieser Engstirnigkeit weiter durch die Welt geht."

"Bitte?!" Der Alptraumabend bekam mit einem Mal einen gänzlich neuen Anstrich. Bardo hatte gar nicht auf Lukas gestanden und seine Mutter war nicht wegen Lolli im Schock gewesen, sondern wegen Ansgar?

"Sie meinte zu mir, als wir uns ausgesprochen haben, dass sie sich geschämt hat für Ansgar, für ihren eigenen Sohn und damit ihre eigene Erziehung. Er hatte ihr alles so schwarz und falsch dargestellt und nun wart ihr normale Studenten, sogar welche, die sehr gut erzogen waren. Lukas, der von Ansgar als der absolute Untergrund in Moral dargestellt worden war, war nicht nur der Bruder seiner Mitbewohnerin, sondern auch noch bei der Polizei."

"Aber, wieso hat sie mich denn dann so angemacht?"

"Na ja, wegen Tini. Erst denkt sie, dass du doch nicht schwul bist, sondern vielleicht nur per Zufall in der Wohnung, weil Tini und dich zusammen zu sehen macht echt Sinn."

"Bah!"

"Nein, wirklich. Ihr bewegt euch passend, wie ein Paar eben. Sie geht neben dir her, im gleichen Schritt wie du, wenn sie sich dichter beugt, machst du irgendwie mit, dass es passt... ist ja auch egal. Jedenfalls meinte meine Mutter das so. Und dann wurde ihr klar, dass du doch der Kai bist, der schwul sein muss und dann dachte sie, dass du mit beiden was hast. Und das war etwas viel für sie. Und dann kam Jan. Und das hat sie komplett umgehauen. Du hast ihn sofort angesehen, dass man wusste, ihr seid zusammen. Eure Blickwechsel, sagte meine Mutter... ich weiß das nicht mehr so von dem Tag... waren schon Rede und Antwort genug. Sie sagte intim dazu."

Kai spürte, dass er rot war. Merle Fröhlich war nicht krass gewesen, weil Kai schwul war, sondern weil sie dachte, dass er nicht treu war, mit mehreren zusammen? Und dann hatte sie ihn und Jan beobachtet? "Aber..." Ihm fehlten die Worte. "Aber..."

Bardo reichte ihm das Bild zurück. "Und dann war sie voll sauer auf dich, weil sie das total schlimm fand, dass du irgendwie mit beiden zusammen bist und offenbar nur spielst. Sie fand das unmoralisch, unehrlich. Da ist sie altmodisch. Ich finde, dass man auf jeden Fall auch mehr als einen Menschen... hm lieb haben kann, nicht?"

"Eh?" Kai starrte das Bambi an und dachte über diese Feststellung nach. Endlich nickte er. "Aber nicht auf die gleiche Art", schränkte er schließlich ein und nickte noch einmal. So wie er Jan liebte, das war ihm sehr klar, würde er niemanden sonst lieben können. Aber irgendwie hatte das Bambi auch wieder Recht. Er hatte Lukas noch immer sehr gern. Aber hatte er ihn lieb? Nein, das wäre übertrieben.

Bardo stimmte ihm da offensichtlich zu. "Nein, auf keinen Fall auf die gleiche Art. Das wäre echt zu anstrengend." Er kehrte nach kurzer Pause wieder zu dem Horrorabend zurück. "Aber weil meine Mutter dachte, dass du unmoralisch bist, hat sie sich über dich aufgeregt. Deswegen war sie so krass unfreundlich, als ihr eigentlich alles in Ruhe besprechen wolltet. Jan hat sie da wohl total gut wieder runter geholt." Er senkte den Kopf. "Und mich hat er ja rausgeworfen. Ein Glück war Tini da, ich war wirklich nicht besonders gut drauf. Später hab ich meiner Mutter erzählt, dass ihr nur Freunde seid, Tini und du, und du Jan sicherlich nie im Leben betrügen würdest." Sehr überzeugt nickte Bambi noch einmal.

Kai dachte darüber nach. Eigentlich würde er Jan nicht betrügen, er würde auch soweit gehen, dass er ihn nicht betrogen hätte, wenn sie früher schon zusammen gewohnt hätten. Die neue Sicherheit, in der gemeinsamen Wohnung, zeigte Kai aber auch, wie er zuvor auf die Unsicherheit zwischen Jan und ihm reagiert hatte. Seinerseits mit Ausflüchten. Lukas und auch die Sache mit Tini waren im Grunde nichts weiter als Schwäche gewesen. Schwäche aus Unsicherheit. "Sag das lieber nicht. Allein was Pascal mir neulich wieder alles vorgeworfen hat..." Kai senkte den Kopf. "Ich bin nicht so..."

"Er hat nicht Recht! Du merkst doch nie, wenn wer dich toll findet, Kai! Da kannste doch gar nicht fremd gehen!"

Kai senkte den Kopf. "Er hatte etwas Recht. Aber auch wieder nicht."

"Du schaust doch niemanden an außer Jan!" Aus irgendeinem Grund schien Bardo das nervig zu finden.

Verwirrt blickte Kai ihn an. "Und? Sollte das nicht auch so sein? In einer Beziehung?"

"Jan labert doch dauernd darüber, wie er irgendwelche Mädchen findet. Stört dich das nicht?"

"Das sind nur Sprüche, Bardo." Jan und seine blöden Sprüche. Das hatte ihm doch früher auch immer die Sicherheit und Ruhe geraubt. Jetzt fand er es nicht mehr schlimm, wenn Jan bemerkte, dass da ein Mädchen ziemlich scharfe neue Stiefel anhatte oder einen gerade noch so legalen Ausschnitt. Jan machte diese Sprüche vor allen Dingen nicht nur so mit seinen Freunden, sondern auch den betreffenden Mädchen gegenüber, so hatte er ja seinen Macho-Ruf wegbekommen.

"Und du?" Kritisch blickte Bardo Kai ins Gesicht. "Mach doch auch mal so etwas, vielleicht bekommt Jan dann ja mit, wie bescheuert seine Sprüche sind."

"Ich brauch das nicht. Ich bin mir sicher." Kai erschauderte innerlich. Jan konnte verdammt anstrengend werden, wenn er den Eindruck bekam, dass Kai irgendwie nicht treu sein mochte. Allein der Aufriss wegen der Hose neulich. Er gähnte und streckte sich müde. "Komm, lass uns wann anders weiter reden. Ich bin echt müde mittlerweile." Er musste einige Dinge durchdenken und überlegte sich gerade, ob er Jan noch einmal anrufen sollte, um ihm von dem Abend zu erzählen. "Ich wollte eigentlich fragen, ob ich deine eingeräucherten Klamotten schnell mit meinen in die Waschmaschine werfen soll, Bardo." Mühsam erhob Kai sich. "Aber jetzt bin ich irgendwie zu müde für die Treppen."

In dem Moment, in dem er von dem Bett aufstand und Bardo sich ebenfalls erhob und ihm in den Flur folgte, öffnete sich gerade die Wohnungstür. "Gute Nacht, Bambi, was machst du morgen eigentlich? Hast du..." Kai starrte auf die Tür und blinzelte verwirrt. Bardo und er sahen sich an, im nächsten Moment kam Jan in die Wohnung und stellte seine Sporttasche leise ab, bevor er aufsah und sie entdeckte.

"Jan?" Irgendwelche Urinstinkte schalteten Kais Denken im nächsten Augenblick aus. Er war zu Jan fast schon gerannt, hatte ihn fest umarmt und begann schon mit ihm zu knutschen, bevor er auch nur so etwas wie einen Gedanken hatte fassen können.

Jan umfing ihn schweigend und presste ihn an sich heran. Die kräftigen Hände schoben sich unter das Schlabberhemd auf seinen Rücken und er bekam eine Gänsehaut, während er den Mund öffnete und Jan einlud, ihn zu schmecken.

Erst nach einer kleinen Weile setzte bei ihm die Logik wieder ein und auch eine gewisse Rationale. Schwer atmend brachen sie den Zungenkuss ab und blickten sich an. "Bist du... ich meine, was...?" Kai blinzelte. "Warum?"

Jans Finger strichen Kais Rücken entlang. "Gott, Baby. Du kannst doch nicht glauben, dass du so etwas sagst wie 'Ich vermisse dich', mit so einer Stimme, und ich das dann noch bei meinen Eltern aushalte!" Er lächelte und die Funken in seinen Augen sprühten lustig. "Außerdem wollte ich Hannahs Auto mal ausprobieren. Ich bin sofort losgefahren."

Kai presste Jan noch einmal fest an sich heran. "Danke." Und es tat wirklich unglaublich gut, ihn zu spüren. Es waren nur die paar Tage gewesen, aber das Vermissen hatte Kai wirklich fast schon weh getan. "Danke", flüsterte er noch einmal und küsste Jan. Im nächsten Moment erinnerte er sich an Bardo und sah sich um. Doch das Bambi war verschwunden.

109

Die Osternacht wurde dank Jans Besuch herrlich. Das dumme T-Shirt konnte ausruhen, denn Kai konnte Jans Körper an sich raffen, konnte ihn schmecken und fühlen, sich an ihn schmusen und seinen Geruch genießen. Sie fielen nicht einmal zu sehr übereinander her. Es war irgendwie nicht der Sex, der ihnen gefehlt hatte, wenn auch Jan auf Ideen kam, als Kai sich für ihn vernünftigere Sachen anziehen wollte. Als er dazu die Shorts und das Hemd von sich warf, wurde er natürlich umgehend überfallen.

Jans Ideen waren nicht schlecht, begannen mit Fellatio und hörten mit einer ziemlich wilden Balgerei auf, auch weil Jan sich zwischendurch kichernd über Ostern und Eiersuchen ausließ und Kai damit nicht nur einen Orgasmus, sondern auch den einen oder anderen Lachkrampf bescherte.

Als Kai morgens wach wurde, grübelte er wieder über die Unterhaltungen mit Bardo nach. Ganz offensichtlich hatte er das Rehlein falsch beurteilt. Bardo war nicht so ein dummes Jungchen, das sabbernd hinter Lukas her gewesen war. Er hatte Prinzipien und ging an seine Erkenntnis, dass er Jungs mochte, sehr zielstrebig und durchdacht heran. Irgendwie schämte Kai sich ein wenig, wenn er sich da an seine eigene Panik und Hemmungen zurück erinnerte.

Da Jan sich ohnehin noch über seine Tasche hermachte, um in dieser nach irgendwelchen Süßigkeiten zu kramen, schlich Kai sich erst ins Bad und dann zu seinem Zimmer. Er klopfte an und Bardo war tatsächlich schon auf und rief ihn herein. Er saß auf dem Bett und hatte Musik gehört, legte seinen MP3-Spieler gerade auf den Nachttisch.

"Hey." Unsicher lehnte Kai sich in der Tür an. "Ich glaube, ich muss mich entschuldigen, Bardo. Irgendwie hab ich dich gestern... einfach..."

"Ach was. War eben genau wie ich sagte. Jan kommt durch die Tür und du hörst mitten im Satz auf zu reden. War schon fast wie im Film." Bardo stand auf und Kai sah, dass er bereits in seinen schwarzen Jeans und einem T-Shirt steckte. "Ich werde gleich abgeholt, Osterfrühstück ist bei uns immer eine große Sache."

"Ah. Dann wünsche ich dir viel Spaß."

Bardo zögerte. "Habt ihr Lust, mitzukommen?"

Jan tauchte gerade hinter Kai im Türrahmen auf und gab Bardo einen dicken Schokoladenhasen. "Morgen, Bardo. Alles in Ordnung bei dir?"

"Es geht schon wieder." Ganz selbstverständlich ging Bardo davon aus, dass Kai und Jan über ihn geredet hatten. "Ich muss noch mal über die Sache mit dem Chor nachdenken." Er hob den Kopf. "Ich hab grad schon Kai gefragt. Wollt ihr nicht zum Osterfrühstück zu uns nach Hause kommen? Da gibt es immer total viel zu essen."

"Einfach so?"

"Meine Mutter hat mir eben am Telefon aufgetragen, euch auf jeden Fall zu fragen."

"Ich bin noch nicht geduscht." Kai blickte an sich herunter. "Aber ich gehe jetzt. Sollte ich irgendwie so was wie fertig sein, wenn du abgeholt wirst, überlege ich mir das."

Jan meinte jedoch. "Ich würde gern mal bei euch vorbei schauen, Bardo. Außerdem haben wir sicherlich nichts Gutes zu Essen da."

Und der vorwurfsvolle Blick, der diese Feststellung begleitete, brachte Kai dazu, sich in der Dusche, mit seinen Haaren und bei der Kleiderwahl zu beeilen.

Als er mit den aktuellen Lieblingsklamotten, der schwarzen Cordhose und einem neuen blauen Hemd, um die Ecke in ihr Wohnzimmer bog, saßen neben Bardo und Jan dort noch der kleine Prinz und ein Mädchen mit dicken rotbraunen Locken am Tisch. Sie hatte reichlich Sommersprossen in einem fröhlichen, offenen Gesicht. Das musste dann wohl Bardos ältere Schwester sein, die mit dem absolut beknackten Namen Ortrud gestraft war. Ganz offensichtlich schlug ihr das nicht auf die Stimmung. Grinsend blickte sie Kai entgegen. Ein wenig, als ob sie den Osterhasen selber erwarten würde.

Kai stellte sich bei ihr vor, wurde vom kleinen Prinzen eine Nummer zu giftig angesehen, als notwendig war und wurde sofort gefragt, ob sie losfahren könnten. Ortrud erhob sich. "Wir sind mit Papas Auto gekommen."

Bardo sprang ebenfalls auf. "Trudi durfte allein fahren?"

Nantwin nickte merkwürdig tragisch. "Aber es ist noch alles dran am Wagen."

Ortrud lachte laut, fast so wie Holger, auf eine sehr offene, unbekümmerte Art. "Ich kann nicht gut fahren, aber so schlecht bin ich doch auch wieder nicht. Also ehrlich! Nichts gegen Mama, oder?"

Nantwin nickte erneut und Bardo stimmte zu. "Mama hinter dem Steuer ist wirklich nicht zu unterbieten."

Jan lachte und sprang auf. "Kai kann. Ich bin mir sicher, dass keiner so schlecht fährt wie er!" Kais Ellenbogen bekam sofort direkten Kontakt zu Jans Rippenbogen. Kichernd sprang Nantwin ebenfalls auf und Kai konnte sehen, wie er mit Jan warm wurde. Eindeutig. Der Kleine war nicht nur stockhetero, sondern auch auf dem besten Wege ein Macho zu werden. Tragisch.

Die Stimmung war gerade richtig entspannt und normal, als Jan auf Kai zutrat und ihn mit festem Griff gegen sich zog. "Der Balkon ist total nett geworden! Super, Baby." Er knutschte Kai auf die Wange, dann wandte er sich ab und ging in den Flur vorweg.

Nantwin starrte ihm nach und dann zu Kai rüber, dann zu Bardo. Ortrud stieß ihren kleinen Bruder mit dem Ellenbogen in die Seite. "Auf geht es Winni! Bardo, hast du deine Sachen?"

Kai flüchtete vor den Blicken und der gezwungenen Atmosphäre in den Flur und machte sich Sorgen über die Klamotten. Prüfend blickte er an Jan herab. Der trug sehr sorglos und zufrieden seine abgetragendste Jeans und ein Langarmhemd, das gebügelt unter Umständen auszuhalten war. Leider schien er das Hemd direkt zwischen seinen Sportsachen aus der mittelgroßen Tasche gezerrt zu haben. Kai sah dann an den Fröhlich-Kindern entlang. Ortrud trug ein kariertes Hemd und eine Cordhose, die irgendwie eine Nummer zu groß gekauft wirkte. Jedenfalls machte sie einen fetten Hintern an der ohnehin kräftig geratenen Ortrud. Bardo stakte mit seinen langen Beinen samt der von ihm ausschließlich bevorzugten schwarzen Jeans herum und trug obenrum eines seiner T-Shirts, die Kai zum Gruseln fand. Einzig der kleine Prinz machte seinem heimlichen Namen alle Ehre. Mit einer sehr netten roten Jeans war er fabelhaft und fast prinzlich angezogen.

Sie stapelten sich um den Dielenschrank und zogen gemeinsam ihre Schuhe an. Drei Paar Ökotreter, das musste in der Familie Pflicht oder aber genetisch sein. Jan warf seine alten Turnschuhe auf die Fußmatte und ging ins Badezimmer davon. Kai seufzte leise und holte seine neuen Schuhe aus dem Dielenschrank, während Bardo noch seine Tasche aus dem Zimmer in den Flur brachte und sich von Ortrud das Cello abnehmen ließ.

Jan blickte einmal aus dem Fenster, dann nahm er seine Jeansjacke aus dem Schrank. Die Sonne kämpfte so leidlich mit einer recht sturen Wolkendecke, es sah nach Regen für den Nachmittag aus. Kai schloss sich ihm an und kramte nach seiner Übergangsjacke. Die Weste von seinen Eltern geriet ihm in die Finger und er entschied sich spontan dafür. Wenn sie nur im Auto hin und her kutschen würden, dann reichte die Weste auf jeden Fall aus. Kritisch beäugte er den Zustand seiner Schuhe und entdeckte einen kleinen Fleck, aber Bardo und Ortrud trampelten fröhlich redend an ihm vorbei zum Hausflur durch. Nantwin folgte ihnen und kabbelte sich mit Bardo darum, wer vorn sitzen durfte oder musste.

Jan warf Kai einen Blick zu, der eindeutig sagte, dass sie keine Zeit mehr vertun würden. "Wir fahren selber", entschied er dann. "Wir treffen uns dort."

Als sie in die Tiefgarage gingen, erfuhr Kai den Grund für die unnötige Ausfahrt. Jan war tatsächlich mit Hannahs Auto gekommen. Ein silberner Sportwagen. Schon in die Jahre gekommen, aber schnittig und unglaublich unpraktisch. Ehrfürchtig ließ Kai eine Hand über die Motorhaube streichen. "Hannah war schon eine sehr merkwürdige Oma, Jan."

"Ja. Das war sie." Jan schloss ihm die Tür auf, stopfte eine Sporttasche hinter den Beifahrersitz und beobachtete wie Kai einstieg, bevor er zu seiner Seite herum ging und sich selbst auf den Fahrersitz rutschen ließ. "Der Wagen ist total unpraktisch. Im Kofferraum ist kein Platz. Meine große Sporttasche passt schon mal nicht rein. Er fährt sich höllisch ungemütlich trotz Automatik. Und dann ein Sportwagen mit Automatik! Da kann man mal sehen, wozu das führt, wenn eine Oma schnell fahren will! Bin froh, wenn mein Vater mir das andere Auto am Mittwoch bringt."

Kai schnallte sich an und schob sich im Sitz zu recht. Rotes Leder, irgendwie kühl am Po und nicht sonderlich gemütlich. Schweigend stimmte er Jan zu, während der sie aus der Garage katapultierte und durch die Einbahnstraßen in Richtung Innenstadt fuhr. Man saß nicht sonderlich gut in dem Wagen. Er roch auch komisch. Nach kaltem Rauch.

Jan fand das auch. "Das Auto zu verticken wird nicht so leicht, weil Hannah immer darin geraucht hat. Echt bescheuert. Jetzt stinkt die Karre wie eine Kneipe am Morgen." Er fuhr am Goetheplatz vor, als Ortrud sich gerade mit dem für die Familie Fröhlich markierten Parkplatz vor dem Haus abmühte. "Gott, die kann wirklich gar nicht fahren." Gemütlich belegte er auf der anderen Straßenseite eine Lücke. Er sprang aus dem Wagen und schaffte es, zu Kai herum zu gehen, um ihm die Tür aufzuhalten, bevor er sich vom Gurt befreit hatte. "Darf ich bitten?" Neckend hielt er Kai die Hand herein.

Grummelig verschränkte Kai die Arme "Du mich auch!"

Jan lachte und ging in Richtung des Passats davon. Er rief über die Schulter zurück "Knöpfchen runter, Kai. Der hat keine Zentralverriegelung!" Dann trat er zu dem schief verkeilten Wagen und öffnete die Fahrertür. "Na, Ortrud, soll ich dir die dicke Karre parken helfen?"

Witzigerweise sprang Ortrud, rot im Gesicht, aber nicht unfröhlich, sofort aus dem Auto. "Danke! Das ist total lieb!"

Sie trat zu Bardo und Kai, während Jan den Wagen knapp einmal in die Straße zurück und dann in elegantem Bogen rückwärts in die enge Parkbucht setzte. Als er zu ihnen kam, brachte er den kleinen Prinzen mit.

Nantwin war von Jan immer noch total beeindruckt. Er stellte mit ernstem Gesichtsausdruck fest "Trudi, du musst mit Jan Fahrstunden machen. Vielleicht wird das dann noch was."

Jan lachte und wedelte mit den Händen "Auf keinen Fall! Das halte ich nicht aus. Mir reicht Kai hinterm Steuer schon immer. Das kann ich auch nur betrunken ertragen!"

Kais Ellenbogen kriegte schon wieder Kontakt zu Jans Rippen. Wieso hatte er diesen Arsch noch mal vermisst? Und dann zwinkerte Jan ihm auch noch zu und hielt ihm die Haustür auf. Schon wieder so altmodisch, aber zugleich wie eine Verarschung. "Nach dir." Natürlich, um ihm an den Hintern zu fassen, als sie hintereinander die Treppe hoch gingen.

"Jan!" Kai blieb stehen, eine Treppenstufe über Jan und blickte sich um. Die Fröhlich-Kinder trampelten gerade über ihnen zur Wohnungstür hinein. "Bitte", flehte Kai und Jan lächelte ihn an.

"Bitte was?" Jans Blick wirkte neckisch. "Bitte nicht anfummeln oder bitte mehr anfummeln?"

Kai seufzte. Gegen so viel gute Laune war kein Kraut gewachsen. "Bitte nachher anfummeln, okay?"

Jan trat zu ihm auf die Stufe und drängte sich an ihn heran "Okay." Er tippte sich mit einem Finger auf die Wange. "Einmal hier."

Kai seufzte noch einmal. Er beugte sich vor, um ihn sachte auf die Wange zu küssen. Es war einfach schrecklich, kaum berührte er ihn, wollte er nicht mehr damit aufhören. Mit einem kleinen Lächeln lehnte er sein Gesicht kurz dichter und flüsterte "Du Idiot. Hör auf, bescheuert zu sein, ja?" Als er sich umdrehte, sah Nantwin sehr kritisch zu ihnen runter. Mit rotem Kopf beeilte Kai sich, zur Wohnung weiter hoch zu klettern.

Erstaunlicherweise wurde das Osterfrühstück in der Fröhlich-Residenz total entspannt und nett. Ansgar blickte ihnen zwar ziemlich giftig entgegen, aber sie waren nicht der einzige Besuch und konnten diesen einen unfröhlichen Fröhlich gut umgehen. Es waren noch etliche andere Freunde und Verwandte da, die alle zusammen sehr guter Laune waren.

Halvar hatte eine Horde Jungs eingeladen, die kreischend auf dem Balkon herum trampelten. Die Eltern hatten irgendwelche Kollegen zu Besuch, die sich in komplizierte Unterhaltungen vertieft auf die Alkoholika stürzten. Nantwin umarmte im Flur seine Freundin, die in der Zwischenzeit schon vorbei gekommen war.

Das Essen lief auch total entspannt und locker ab. Es gab kein steifes Sitzen, Anstarren und Rumdrucksen. Man aß im Wohnzimmer und im geräumigen Esszimmer verteilt. Die sehr reichlichen Speisen waren in der Küche aufgebaut und wurden locker zwischendurch eingenommen. Immer spielte irgendjemand auf dem Flügel, Bardo und Ansgar spielten gemeinsam auf ihren Celli Stücke vor. Nachher sang eine Gruppe Lieder, die Ortrud auf der Gitarre begleitete. Bardo sang dann sogar mit. Seine Stimme war deutlich dunkler als auf der CD, aber noch immer fand Kai, dass sie schön klang. Voll und zugleich nicht zu laut oder gar dröhnend, wie er das bei den Opernsängern nervig gefunden hatte.

Jan unterhielt sich total lange mit Bardos Eltern. Schon von weitem sah das Gespräch anstrengend aus. Sie schienen zwar einer Meinung zu sein, aber Kai war sich sicher, dass es sich um anderer Leute Angelegenheiten drehte. Vermutlich um Bardos Sexualleben. Der arme Junge. Kai blickte dem Bambi hinterher, der sich mit einem älteren Mann länger unterhielt. Durch eine Bemerkung von Leuten, die in seiner Nähe standen, erfuhr Kai, dass es sich bei dem Mann um den Leiter des Knabenchors in der Kirche handelte.

Dann hatte Bardo ja Gelegenheit, seine Probleme mit Stefan anzusprechen, oder? Kai konnte die Gesichtsausdrücke der beiden nicht wirklich erkennen. Er nahm sich vor, das Bambi bei ihrem nächsten Treffen im LPP oder in ihrer Wohnung nach der weiteren Entwicklung zu fragen.

Er wurde in Ruhe gelassen. Das war ebenso merkwürdig wie angenehm. Die vielen Leute redeten um ihn her miteinander, machten Musik, tauschten sich aus, standen beieinander, drifteten zwischen den Gruppen hier- und dorthin. Kai war, wie immer bei solchen Gelegenheiten, außen vor, redete mit niemandem und wollte auch nicht von einer zur nächsten Gruppe driften. Aber niemand zerrte an ihm, die Leute ließen ihn sein. Einmal winkte Ortrud ihm zu und fragte, ob er mitmachen wollte bei einem Spiel. Ein anderes Mal brachte Jan ihm ein Stück Kuchen vorbei, das ihm nicht schmeckte und fragte, ob Kai Mandeln mochte. Kai bestellte gleich noch einen Becher Kaffee mit Milch und ließ Jan Service machen, während er sich faul in einer Sofaecke versteckte. Zufrieden freute er sich darüber, dass der große Kaffeebecher und das Stück Mandelkuchen ihn lange beschäftigen würden.

Später träumte Kai vollgefressen vor sich hin und vertrieb sich die Zeit damit, Nantwin und seine Freundin, ein dünnes hellblondes Ding, anzustarren. Sie sah total nach Ballettmaus aus mit den geflochtenen und hochgesteckten Haaren und ihrem dünnen Körper. Sie war dazu einen Hauch größer als er. Niedlich irgendwie. Die beiden waren echt früh dran mit den Hormonen und dergleichen, aber zuckelten sehr selbstbewusst Hand in Hand durch das Wohnzimmer in Richtung der Schlafzimmer im Obergeschoss davon.

Merle Fröhlich erschreckte ihn im nächsten Augenblick. "Nantwin ist früh dran, aber was soll man machen? Er ist zu hübsch geraten."

Kai blinzelte den Schreck weg und nickte. Den Satz hatte er selber oft genug gehört, aber eher im umgekehrten Zusammenhang. 'Kai lässt sich Zeit mit der ersten Freundin, ja, ja, er ist eben zu hübsch geraten'. Es war schon komisch, wie die Eltern sich alles zu Recht drehten.

Merle zupfte ihren lila Rock über die Knie runter und ließ sich neben ihm nieder. "Bardo ist nicht so früh dran mit der ersten Liebe, aber hat mich schon gefragt, ob das in Ordnung ist, wenn er dann auch mal einen Freund mitbringt." Sie lächelte unsicher. "Ich hab gesagt, dass es in Ordnung ist. Natürlich. Aber ich muss gestehen, dass ich für Halvar nicht garantieren kann. Er sagt einfach, was ihm in den Kopf kommt. Leider oft, ohne vorher über die Konsequenzen für andere zu reflektieren."

Kai konnte es nicht fassen, wie in dieser Familie mit den ganzen Peinlichkeiten der Pubertät und der ersten Verliebtheit umgegangen wurde. Merle erklärte es ihm gleich darauf ungefragt. "Als Therapeutin bin ich immer bemüht gewesen, meinen Kindern die Wichtigkeit des Zusammenseins zu zeigen und ihnen auch klar zu machen, dass es etwas Schönes ist, wenn man jemanden hat. Dass es etwas ist, das man zeigt." Sie blickte Kai nachdenklich an. "Dir hat man immer das Gegenteil beigebracht, nicht wahr?"

Kai blinzelte von der aus dem Nichts aufgetauchten Therapie ein wenig erschreckt, dann nickte er jedoch und sagte leise "Mein Vater ist... ausgetickt. Meine Mutter nicht. Allerdings hatte sie auch sofort Angst vor..." Unsicher sah er sie an. "… HIV und so weiter."

Merle Fröhlich nickte und seufzte leise. "Ich muss gestehen, dass wir Bardo im ersten Moment auch ein wenig zu hysterisch überfallen haben. Vermutlich ist so eine Situation, so möglich sie einem als Mutter erscheint, doch immer eine Überraschung, wenn sie dann eintritt." Sie spähte durch den Raum. "Ich frage mich, wie die Eltern von Jan reagieren. Er ist ja nun wirklich nicht die Sorte Sohn, die man in Zukunftsvisionen mit einem Mann zusammen sieht."

Kai nickte unglücklich. Das war absolut wahr. Jan war für so ziemlich jedes Klischee das Antidot. Aber die Reaktion der Eltern hatte er noch gut in Erinnerung. Jans Vater war total toll. Seine Reaktion war warm und gelassen gewesen. Kai wurde immer noch anders bei dem Gedanken daran, wie toll Lasse war. Kein Vergleich zu Norbert, auch wenn Kai seinen Vater mittlerweile besser verstehen konnte.

Merle lächelte. "Und deine Eltern? Wie kommen die mit deinem Freund zurecht?" Sie ging irgendwie ganz normal davon aus, dass es ein Zurechtkommen überhaupt gab. Offenbar konnte Merle sich eine Beziehung, bei der die Eltern und Kinder kaum oder keinen Kontakt mehr hatten, gar nicht vorstellen.

Kai blickte in seinen leeren Kaffeebecher und fügte sich in die Vertrautheit, die Merle irgendwie sofort aufbauen konnte. "Mein Vater war nicht begeistert, aber er hat sich mit Jan abgefunden." Er sah kurz zu Merle rüber, die ihn unangenehm intensiv musterte. "Aber nur, weil Jan Fußball spielt."

"Hm. Ich bin froh, dass Hauke nicht so ein Vater ist. Er ist ziemlich streng mit den Kindern. Manchmal denke ich, dass er es mit der Erziehung übertreibt, aber sie sind alle ganz gut geraten... nun ja, Ansgar ist ein wenig zu spießig geworden, aber er war schon als Kind ruhig und ernsthaft."

Sie ruckelte sich auf dem Hocker zurecht, schob ihn noch eine Idee dichter zu Kai an das Sofa. "Ich wollte mich bei dir bedanken, Kai. Dafür, dass du Bardo so freundlich aufgenommen hast. Er hat mir schon so viel von dir erzählt, von deiner Geduld und wie du immer für ihn da warst. Danke, dass du mit ihm zur Oper gegangen bist. Er war total stolz, dass dir der Abend gefallen hat."

Es stresste Kai nicht wenig, dass Bardo seiner Mutter so frei heraus alles erzählen musste. Lakonisch meinte er deswegen nur "Wie hätte mir der Abend nicht gefallen können?"

"Er ist knapp fünfzehn und du bist Mitte zwanzig irgendwo. Ihr seid doch gar nicht auf einer Ebene. Er war sich sicher, dass du dich langweilen wirst."

Das fand Kai erstaunlich und sagte sofort "Mit Bardo kann man sich gar nicht langweilen, glaube ich."

Sie lachte auf, zeigte mit der lauten freien Fröhlichkeit ihre Verwandtschaft zur Tochter Ortrud. "Genau das hat er mir auch über dich gesagt."

Kai zögerte, dann sah er sie einmal kurz von der Seite an. "Stefan hat gestern beim Osterfeuer von ihm verlangt, dass er aus dem Chor geht. Das hat ihn sehr mitgenommen." Mehr sagte er nicht. Merle und er blickten beide zugleich zu Bardo rüber. Das Erziehungsgen rieb sich die Hände und breitete sich in Kais Gehirn aus. Radikale Anteile der Erziehungsgene fanden Merle Fröhlich toll und wollten länger mit ihr reden. Kai verschränkte instinktiv die Arme und wollte das ganz und gar nicht. Bardos Mutter war anstrengend und nervend gut informiert. Aber er hatte Glück. Sie war nicht nur gut informiert, auch gut erzogen und eine gute Gastgeberin.

Sie nickte einmal, dann tätschelte sie Kais Arm und erhob sich. "Danke."

Im nächsten Moment ging sie zu anderen Gästen weiter und Kai verzog sich zum Erholen von dieser Unterhaltung auf die Toilette. Als er raus kam, stand er im Flur gleich Jan gegenüber. "Kai, bist du hier soweit fertig? Lass uns fahren, okay?" Offensichtlich war Jans Geduld in Sachen soziale Veranstaltungen verbraucht. Er kniete sich bereits bei dem Schuhschrank hin, um sich die alten Turnschuhe raus zu fischen.

"Ich geh noch 'Tschüss' sagen, Jan." Brav verabschiedete sich Kai von Merle Fröhlich, die ihm als erstes gleich über den Weg lief und suchte dann nach Bardo, um ihm auch zu sagen, dass sie sich sicherlich mal in der Wohnung sehen würden, wenn er gelegentlich ausrücken wollte. Bardo war nicht im Wohnzimmer und auch nicht in der Küche. Erst auf dem Balkon erblickte Kai ihn.

"Hey. Jan und ich fahren jetzt. Vielen Dank für die Einladung. Deiner Mutter hab ich das auch schon gesagt."

Bardo hatte ein wenig müde in den Garten gestarrt. "Nein. Ich bin froh, dass ihr hergekommen seid. Es war nett, euch auch einmal einladen zu können."

Kai zögerte, dann trat er auf Bardo zu. "Komm einfach wieder vorbei, Bardo. Wenn du mal in Ruhe spielen willst oder so."

"Danke, Kai." Bardo streifte die Balkontür mit einem Blick. "Das mache ich gern."

Die Stimmung zwischen ihnen war komisch. Misstrauisch blickte Kai ihm ins Gesicht, aber Bardo sah nur müde aus. "Okay. Wir fahren jetzt los." Kai trat einen Schritt dichter auf Bardo zu.

Wie eine Pop-up-Figur aus der Hölle stand Halvar im nächsten Moment hinter ihnen. "Knutschen! Knuhuuhuutschen!"

Bardo wurde rot. Kai verdrehte die Augen. Kampfbereit erwachte das Erziehungsgen und freute sich. Kai wandte sich um "Und? Traust du dich denn heute, du Kröte?"

Halvar verschränkte die Arme und starrte böse. "Bin doch nicht pervers!"

Im nächsten Moment hatte Jan ihn beim Ohr und zog einmal kräftig daran. "Erst anbaggern, dann abservieren? Das ist ganz schlechter Stil!"

Halvar miepte und düste mit rotem Ohr davon. Bardo grinste hilflos. "Tut mir leid. Er ist eben..."

Jan lachte "Schon okay. Bis bald mal." Locker umarmte er Bardo einmal, schon wandte er sich wieder ab und ging in Richtung Flur davon.

Kai zögerte, sah Jan nach, dann blickte er Bardo an. Lächelnd trat er schließlich einen Schritt auf ihn zu und drückte ihn einmal, hielt ihn dann aber am Unterarm noch fest. "Übrigens."

Bardo blinzelte, davon überrascht, dass Kai ihn nicht gleich wieder los ließ. "Hm?"

"Dein Lieblingsschlafanzug."

Bardos Gesicht verschloss sich. "Hör auf mich zu ärgern, Kai."

Kai grinste. "Nein. Ich wollte nur sagen. Die Sterne und Raumschiffe leuchten wirklich. Das ist total cool und romantisch. Behalt den auf jeden Fall. Du hattest Recht." Bardo machte große Augen und starrte ihn komplett niedlich grinsend an. Kai musste lachen und drückte ihn noch einmal. Und weil es sich richtig anfühlte, küsste Kai ihn rasch einmal auf die Wange. "Bis bald, Bambi."

110

Auf der Straße benahm Jan sich schon wieder so merkwürdig altmodisch und hielt Kai die Tür am Wagen auf. Bevor er los fuhr, küsste er ihn einmal auf die Wange. Nicht nur kurz, er lehnte sein Gesicht einen Moment lang an Kais Gesicht und schloss die Augen.

Misstrauisch blickte Kai ihn an. "Ist irgendwas nicht in Ordnung, Jan?"

"Hm?" Jan startete den Motor und setzte aus der Lücke raus.

Als Kai noch einmal hoch blickte, sah er Bardo am Fenster zur Straße stehen. Er winkte ihm kurz zu, dann sah er Jan forschend an. "Du bist so altmodisch und nett heute. Das ist unheimlich."

"Du hast gesagt, dass du das bei Holger gut fandest."

"Ja, aber ich bin nicht Tini!"

Jan blickte ihn grinsend an. "Zum Glück nicht! Sonst hätten wir jetzt sicherlich schon fünfzig Mal Schluss gehabt. Die hat mit Holger neulich erst Schluss gemacht, weil er über Ostern nach Hause fahren wollte."

"Eh? Aha? Und vorgestern hab ich sie versöhnt, weil sie sich um Tinis Kanada-Urlaub gestritten hatten. Die ticken doch beide nicht ganz sauber!"

Jan lachte auf. "Ah. Tini fährt nach Kanada? Weit weg?"

"Hm. Und, das dürfte dich jetzt ja freuen, Jan, sie bleibt für zwei Monate weg."

"Endlich allein, was, Baby? Davor sehen wir sie auch nicht mehr. Jedenfalls nicht in der Uni. Sie ist in der Nachmittagsgruppe."

"Wir werden ihr in der Mensa nicht entgehen, da bin ich mir sicher."

Jan seufzte und schien Kai da zuzustimmen. Schweigend fuhr er auf den Stadtring raus, dann erzählte er von der Tini-Geschichte ablenkend. "Ich hab Zuhause eine Art Klassentreffen gehabt. Beim Osterfeuer am Samstagabend. Es war..." Jan blinkte und fuhr in Richtung der Autobahnen raus. "… es war merkwürdig. Meine Schulfreunde, ein paar Exfreundinnen und ein paar aus dem Fußballverein waren da. Hat sich so ergeben. Wir haben uns unterhalten über die Studiengänge, über Wohnungen und dergleichen. Thilo war auch dabei. Meiner einen Exfreundin ist aufgefallen, dass wir uns nicht mehr so gut verstehen, Thilo und ich." Jan fuhr auf die Autobahn auf und entspannte sich ein wenig mehr, steigerte das Tempo.

Kai sah ihn etwas betreten an. Er hatte gar nicht darüber nachgedacht, wie es Jan Zuhause ergangen war. "Tut mir leid. Ist alles in Ordnung?"

"Wie man es nimmt. Sie hat Thilo gefragt, ob wir zwei, er und ich, uns um ein Mädchen gestritten haben. Sie war sich irgendwie sicher, dass das mal passieren muss zwischen uns. Thilo musste in diesem Zusammenhang zugeben, dass er auf Bianca schon scharf war, als die es noch mit mir getrieben hat. Mensch, hätte der nicht mal was sagen können? All die Monate vorher vielleicht schon? Dann hätte ich sie an ihn durch gewunken. Und dann... hat er mich geoutet. Ich bin nicht dazu gekommen, selber was zu sagen. Er hat es Maren einfach nebenbei gesagt. So was wie 'Wir bekommen uns aktuell nicht ins Gehege mit Frauen, Jan ist zur Zeit mit einem Jungen zusammen.' Das kam so locker, dass ich mich fast am Würstchen verschluckt hätte."

"Oh." Thilo war sehr konservativ, zugleich aber auch verdammt still und in sich gekehrt. Wusste man eigentlich, wie er sich wirklich fühlte?

Jan hatte seinen eigenen besten Freund offensichtlich auch nicht so gut gekannt. "Dabei kam raus, dass Thilo gar kein Problem mit dir hat. Mit mir auch nicht, nicht wegen dir jedenfalls. Komisch, das hab ich immer gedacht bei ihm. Er war so sauer gewesen, weil ich Bianca nicht gut genug behandelt hatte. In seinen Augen. Ehrlich gesagt hat die Wecker-Naht-Geschichte jetzt endlich eine Klärung gebracht. Sie und Thilo haben wohl danach endlich ehrlich miteinander geredet. Er hat ihr seine Eifersucht gestanden und sie hat ihm gestanden, dass sie versucht hatte, uns auseinander zu bekommen, und ich sie dem entsprechend nicht falsch behandelt hab, sondern nur zu Recht weggebissen. Ich bin so froh gewesen, dass Thilo gar nicht mehr auf mich sauer ist, dass ich ihm das Outing dann sofort verziehen hab. War ihm nachher dann doch peinlich. Na, Maren wird das schön rumtratschen, mal sehen, wer mich so die Tage anruft."

"Voll krass, würde das Bambi sagen."

Jan lachte auf. "Du und das Bambi. Ich würde sagen, Dreamteam." Er wurde ernst. "Was war denn los mit ihm? Er war total dröppelig."

Kai erzählte es Jan, während sie auf der Autobahn lang sausten. Sie unterhielten sich noch recht lange über Bardo und seine Familie. Kai berichtete über seine neuen Erkenntnisse den ersten Alptraumabend mit Bardo, Ansgar-Spaßverderber und den Eltern betreffend und natürlich über die schreckliche Geschichte mit seinem Freund Stefan.

Jan war sichtlich davon beeindruckt, dass Kai den Alptraumabend so gewertet hatte wie er dachte, dass es richtig war. Lukas, das hatte Jan ziemlich schnell gesehen, war nicht Bardos Ding. Die beiden hatten sich nach seiner Meinung viel zu rasch miteinander unterhalten und kabbeln können.

"Bardo hat doch schon beim Frühstück am Morgen ganz locker mit ihm umgehen können. Das hätte er nicht, wenn er auf Lukas stehen würde. Ganz sicher nicht. Pascal und du, ihr habt da beide eure eigenen Vorlieben auf das Bambi projiziert. Und ich wusste auch, dass Merle Fröhlich ihren Sohn Ansgar mit neuen Augen angesehen hat nach der Geschichte." Er blickte zu Kai rüber. "Aber jetzt ist mir endlich klar, wieso sie dich so böse angestarrt hatte. Und auch, warum sie sich bei dir entschuldigt hat."

"Tini ist voll schuld. Ein Glück, dass der Abend nicht komplett schief gelaufen ist wegen der ganzen Verwirrungen." Kai schloss einmal die Augen. "Ein Glück schiebt die bald ab für 'ne Weile."

Jan überholte eine Kolonne Langsamfahrer, dass es nur so zischte. Leichter Regen setzte ein. "Und was war mit Leon los? Und sag mir bitte nicht, dass nichts gewesen ist. Worum ist es in dem Krach gegangen bei euch? Es war etwas größeres, oder?"

"Warum?"

"Felix hat mich angerufen und mir gesagt, dass ich Leon nicht ernst nehmen soll, und dich bitte weiter im LPP arbeiten lassen soll, weil dir der Job so gut gefällt."

"Bitte?! Was soll das denn?" Dass Felix sich so dämlich einmischen musste, war ganz und gar nicht geplant. Gestresst verschränkte Kai die Arme und starrte auf die vorbeihuschende Schallschutzmauer. "Ich möchte, bevor ich dir davon erzähle, dass du mir etwas schwörst."

"Hm. Okay. Was?"

"Schwöre, dass du mich wirklich weiter dort arbeiten lässt. Der Job ist gut. Er macht mir Spaß, ist gut für meine Kasse und viel besser für meinen Rücken als das Altenheim. Ich bin nicht schlecht darin und fühle mich wohl."

"Du bist total beliebt und wirst dauernd angegraben." Missmutig zog Jan die Mundwinkel runter. Es war, als würde es ihn viel mehr nerven, seine Eifersucht auszusprechen, als dass Kai angegraben wurde.

Kai blinzelte seinen Freund an und legte den Kopf schief. Irgendwie war es ja auch niedlich, wie Jan ihn so grummelig und zugleich eifersüchtig anmaulte. Immerhin musste er doch wissen, dass Kai gar nicht flirten konnte. Etwas heftiger als notwendig setzte er dennoch gleich mal eine neue Grenze. "Und du weißt, dass mir so etwas egal ist. Hast du denn gar kein Vertrauen in mich? Das ist echt peinlich!"

Jan fuhr eine kleine Weile schweigend weiter, dann rieb er sich mit einer Hand rasch die Augen. Er legte den Arm hinter Kai auf der Lehne ab und streichelte ihm durch die Locken. "Ich weiß ja, dass du nicht flirtest, du kannst das gar nicht. Lukas darf dich anfassen und vielleicht noch Carl oder Lolli, aber selbst bei denen windest du dich schon nach Sekunden. In der Öffentlichkeit lässt du sogar mich immer abblitzen, obwohl du gern schmusig bist, wenn wir allein sind. Und ich weiß auch, dass du jedes Mädchen sofort mit Blicken erdolchst, wenn die deine Nummer oder auch nur deinen Namen haben will."

Amüsiert kicherte Kai eine Runde in sich rein. Seine unsoziale Ader kam also doch einmal praktisch an. Immerhin ein guter Selbstschutz. Doch dann wurde ihm klar, dass Jan seine Informationen nicht mit eigenen Augen gesammelt haben konnte. Das LPP war nun wirklich nicht sein Jagdrevier für das Wochenende. "Hast du mich schon wieder bespitzeln lassen?"

"Nein. Aber es wird mir von verschiedenen Leuten hin und wieder erzählt. Aus der Sportgruppe an der Uni kam erst neulich ein Mädchen zu mir, um mich zu fragen, wie man dich kennenlernen kann. Sie dachte, dass wir Mitbewohner sind und ich ihr vielleicht mal einen Tipp geben könnte."

Kai spannte sich an und sah Jan ins Gesicht. "Was hast du ihr gesagt?"

Jan grinste. "Ich hab gesagt, dass du fest vergeben bist und kein Interesse an anderen hast." Er sah kurz rüber. "Gar keins."

"Gott sei Dank! Ich hatte schon Angst, dass du sie verarschen willst und ihr irgendwie sagst wie 'Schreib ihm peinliche Gedichte und schick die per SMS, das findet der geil'. Das wäre so was von scheiße geworden!"

"Ist das schon passiert? Hat jemand so etwas gemacht?" Da Kai nur stumm den Kopf schüttelte, seufzte Jan und sagte zum eigentlichen Thema zurückkehrend. "Ich schwöre, dass du weiter bei Leon arbeiten darfst, gleich was du mir jetzt erzählst."

"Okay." Kai erzählte Jan also grummelig und nervös von der kuriosen Auseinandersetzung zwischen Leon und ihm. Er begann die Geschichte damit, dass er Jan daran erinnerte, dass ja wohl Bianca an der Sache die Hauptschuld trug. Jan noch einmal von dem Sex auf der Kühltruhe zu erzählen war irgendwie keine so gute Idee. Jan begann ihn schon wieder mit so komischen Raubtierblicken anzusehen. Hastig endete Kai daher mit einer abgehackt zusammen gestellten Erzählung zu dem Thema Nacktbilder und Erpressungen. Er gab sogar zu, dass er zunächst aus Angst vor Jans Reaktion fast mitgemacht hätte.

"Bardo hat mich irgendwie gerettet. Ich hab ihm das alles erzählt, und er hat mich darauf gebracht, Leon zurück zu erpressen. Mit Felix. Wenn Leon nicht bald Ruhe gibt, dann erzähl ich Anna, dass er Krebs hat. Das hat er dann davon!" Entschlossen verschränkte Kai die Arme.

Es war einen Augenblick lang still im Wagen, dann lachte Jan laut los. "Oh mein Gott, wie geil ist das denn?! Und du hattest Angst um Leon oder deinen Job, wenn ich das erfahre und hättest dich fast erpressen lassen?"

"Hm. Ich hab das noch. Warum lachst du?" Vielleicht, in tausend Jahren, würde Kai seinen Freund auch mal verstehen. Aber derzeit hatte er noch keine Chance. Jan überraschte ihn eigentlich noch täglich mit seinen Ideen oder Reaktionen.

"Ich finde es geil, wie ihr euch jetzt einen Zicken-Terror-Grabenkrieg liefert. Es geht also hauptsächlich darum, wer seinen Willen bekommt, nicht? Leon bekommt immer, was er will, oder? Und du bist gern stur. Du hast einmal 'nein' gesagt, da wirst du im Leben nicht abweichen. Hm, ich setz mein Geld auf dich. Mach ihn fertig, Baby!"

"Arsch! Ich will nicht meinen Willen durchsetzen, sondern meine Privatsphäre! Ich will absolut nicht nackt auf der Cocktailkarte zu sehen sein! Scheiße!"

Jan lachte immer noch. "Ich stelle mir das appetitlich vor. Aber mal was anderes. Mach Leon gern ein wenig fertig, aber lass ihn am Leben, Kai. Ohne ihn steige ich bei den scheiß Aktien gar nicht durch und das wäre wirklich Mist. Ich kann das nicht, Aktien verwalten, stundenlang am Rechner auf irgendwelche Kurse und Informationen geiern, dafür hab ich zu viel vor im Leben. Das macht Leon total gut. Ich vertraue ihm mit dem Kram und will nicht jemanden Neues dafür suchen müssen."

An diese Verbindung zwischen Jan und Leon hatte Kai gar nicht mehr gedacht. Erleichtert atmete er einmal durch. Also war der Level seiner Auseinandersetzung mit seinem kühlen Chef doch rein privat und er musste Jan nicht wirklich mit hineinziehen. "Stimmt! Das macht der vermutlich die ganze Zeit im LPP in seiner stillen Kammer. Aktien und so langweilige Sachen." Erleichtert legte er eine Hand auf Jans Bein und lehnte sich in den Sitz zurück. Es war doch immer wieder gut, wenn er mit seinem Stress einfach zu Jan ging. Der war zwar anstrengend, aber er hatte auch immer eine Lösung.

Jan sah Kai mit einem Mal ernsthaft an und sagte leise "Er ist total gut darin. Die Sachen von Hannah waren sehr verwirrend und typisch für sie komplett nach Laune verwaltet. Ihr alter Freund hat sie da auch nur mühsam ausbremsen können, glaube ich. Durch Leon ist jetzt Ruhe darin und Ordnung, und ich brauche darüber nicht mehr so viel nachdenken. Durch ihn kann ich ihr Erbe vernünftig nutzen. Es gibt mir ein gutes Gefühl. Also gib ihm ein paar Pluspunkte dafür."

"Mach ich ja. Pluspunkte sind aber nicht Nacktbilder. Ich dachte, dass du immer megamäßig eifersüchtig bist, Jan!"

Jan lachte. "Du bist ein Typ, den man mit Eifersucht bewacht. Aber Bilder von dir, das macht mir nichts, das bist nicht du, das reicht nicht an das heran, was wir haben. Sieh es mal so. So ein Aktientyp ist eben dauernd im Stress, da tut ihm was Nettes auf die Augen vielleicht ganz gut."

Kai fühlte sich nicht ernst genommen. "Du Arsch! Ich bin nichts Nettes auf die Augen! Ich bin..."

"Entschuldige, Baby. Etwas Wunderschönes auf die Augen." Jan lachte wieder los, aber musste sich dann um einen Schwerkraftlaster mit Teilen für eine Windkraftanlage herumwinden und konzentrieren.

Etwas anderes machte Kai im nächsten Moment auch noch nervös. "Sag mal, was anderes, Jan. Wo fahren wir hin?" Mühsam spähte er in die verregnete Umgebung hinaus. Graue Regenschleier umgaben die Wagen auf der Autobahn, er konnte kein Schild ausmachen. Für einfaches herum rasen, was Jan auch gern mal machte, war die Fahrt definitiv zu lang gewesen.

Jan grinste zufrieden vor sich hin. "Das hat echt gedauert, Kai. Ich entführe dich."

"Wie bitte?! Wohin?"

Jan sah ihn kurz an, dann schüttelte er den Kopf. "Überraschung."

"Jan!" Kai blickte nervös auf eines der vorbei zischenden Schilder, aber die Ortsnamen sagten ihm nichts. "Ich hasse solche Überraschungen! Wohin fahren wir?!"

Jan setzte im nächsten Moment den Blinker. "Wir sind ohnehin schon da. Entspann dich, Kai. Nichts Schlimmes." Seine Finger streichelten einmal sachte über Kais Nacken, dann lenkte er den Wagen von der Autobahn runter und durch einen kleinen Ort. Vor einem großen Schwimmbad endete die Fahrt.

Kai blinzelte die Rutschen und hohen Glasfronten an. Verwirrt blickte er das Gebäude an, während sein Hirn die Informationen noch verarbeiten musste. "Wir gehen schwimmen?"

Jan sprang aus dem Auto und kam zu Kai herum. "Na komm schon, steig aus." Er zerrte erst Kai aus dem Auto, dann seine Sporttasche. "So ist es. Wir gehen schwimmen. Das Wetter ist megascheiße, also müssen wir wohl was drinnen machen. Ich hab Bock, dich nackt und nass und appetitlich anzusehen. Mag eben auch mal wieder etwas Wunderschönes auf die Augen haben. Ist ein perfekter Plan. Ich hab vorhin die Tasche gepackt und alles mit, was du brauchst. Sogar den Mist für deine Haare. Na? Alles gut?" Er hielt seine freie Hand aus und Kai ließ sich ein paar Schritte mitschleifen, bevor er seine Finger aus dem Griff entzog.

"Mal sehen." Misstrauisch und noch von der Wunderschön-Attacke gereizt schlappte Kai hinter seinem Freund her. Die Weste war nass, als sie bei der Kasse angekommen waren. Jan hielt ihn dort noch einmal kurz auf. "Ostergeschenk, ich bezahle. Du kannst dann nachher die Pizza ausgeben, okay?"

Kai blickte auf der Preistafel entlang, dann nickte er "Das ist okay."

Und der Nachmittag wurde mehr als okay. Es wurde einfach nur schön, wunderschön sogar. Das Schwimmbad war relativ voll, aber schreiende Kinder und Jugendliche waren nicht zu viel vertreten. Sie zogen sich gemeinsam in einer geräumigen Sammelumkleide um. Jans nackten Körper ansehen zu können, egal in welcher Situation gefiel Kai auf jeden Fall. Ein wenig genervt war er natürlich von Jans Überlegungen zu seinem nackten Körper und den möglichen Bildern davon. Es kam ja wohl nicht in die Tüte, dass Jan jetzt auch noch so anfing. Der Arsch! Er und Leon unter einer Decke, das konnten die voll vergessen. Die Libido erwachte jedoch in diesem Moment und erinnerte Kai daran, dass so ein Nacktbild auch immer eine sehr schöne Inspirationsquelle darstellte. Nur für den Fall. Die Vernunft hielt dagegen an, dass solche Bilder immer und auf jeden Fall in die falschen Hände gerieten.

Unter diesen Überlegungen war Kai derart schweigsam, dass Jan ihn statt unter die Dusche in die Behindertentoilette zerrte, weil er sich Sorgen machte, dass Kai wegen der Entführung pissig war. Das brachte mit sich, dass Kai seinen Freund an die Tür gepresst eine gute Runde knutschen musste, um ihn davon zu überzeugen, dass er nicht sauer sondern nur nachdenklich, und, davon abgesehen, schon wieder scharf auf ihn war.

Das bedingte, dass Jan scharf auf ihn wurde und anfing ihn anzufummeln. Das führte dazu, dass Kai ihm entkommen musste, auf dem Flur vor dem Klo einer Oma in die Arme lief und mit rotem Kopf sehr dringend kalt duschen musste.

Jan kam nach kurzer Zeit recht entspannt zu ihm, stellte die Dusche warm und flüsterte "Nachher machen wir weiter, das ist ein Befehl!"

Kai musste lachen, aber entkam Jan noch einmal, bevor es endgültig peinlich werden konnte und lief vor in die Schwimmhalle. Es gab eine verwirrende Anzahl Whirlpools, Tunnel, Brücken, Wasserfälle und ineinander verzweigte Becken. Sie fanden eine recht ruhige Ecke für die Handtücher und trennten sich dann erst einmal.

Zunächst hechtete sich Jan mit einem für ihn normalem Übermaß an Energie in das große Sportschwimmbecken, um dort für eine gute halbe Stunde am Stück wild kraulend die Omas zu verschrecken, die eigentlich quatschend ein paar Runden drehen wollten.

Kai gesellte sich zu knutschenden Pärchen und kichernden Teenagern in ein geschwungenes Becken mit Wildwasseranlage, wo er sich einfach nur treiben lassen musste. Es war angenehm im warmen Wasser zu liegen, den Regen an den Scheiben beim Runterlaufen zu beobachten und ein paar nette Jungs abzuchecken, die natürlich mit ihren Freundinnen da waren. Aber er war mit seinem Freund da, daher störte ihn das überhaupt nicht.

'Was auf die Augen. Was Wunderschönes. Jan, du Arsch! Jetzt tut der so, als hätte Leon sich ein Recht auf ein Bild von mir verdient, oder was?' Kai verschränkte die Arme und verkroch sich in eine Whirlpoolecke. Genervt dachte er darüber nach, ob Leon und er jetzt wirklich nur noch darauf aus waren zu gewinnen. 'Nein! Auf keinen Fall! Ich will nicht einfach so... einfach so...' Ja, was eigentlich? Einfach so bewundert werden? Als Deko verwendet werden. Das auf keinen Fall. Irgendwie war das nervig.

Kai dachte an das Bambi und warum er sich mit ihm so wohl fühlte. Bardo mochte ihn, das wusste er. Bardo war aber zugleich ehrlich dabei. Er hörte sich den ganzen Mist in Kais Leben nicht nur an, sondern sagte ihm auch genau, was er selber darüber dachte. Genau, was Pascal nie gemacht hatte. Er allerdings auch nicht. Sie hatten einander nie ehrlich von ihren Vorlieben oder Problemen erzählt. Auch nach der schockierenden Nacht im Oktober nicht. Gerade danach nicht. Verblüfft stellte Kai fest, dass Lolli vollkommen Recht gehabt hatte. Pascal und er waren nie Freunde gewesen. Es war eine Zufallszusammenkunft zweier schwuler Jungs in einem spießigen Ort. Ihre Begeisterung über den Gleichgesinnten hatte ihr Zusammensein ebenso richtig werden lassen wie die gemeinsamen Interessen in der Zeit. Sie waren beide eher schüchtern, ruhig und sie waren beide fleißig, lernten gern für die Schule.

Das Gefühl, zusammen zu passen, hatte sie betrogen damals. Das Gefühl, bei dem anderen akzeptiert zu werden, wo andere, Jörg zum Beispiel, sehr unangenehm werden konnten. Das Wissen, dass es noch jemanden gab. Jemanden, der genau so war wie man selber, der aus einem isolierten, verwirrten Teenager einen Menschen machte, der zu jemandem, zu einer Gruppe gehörte, dieses Gefühl hatte sie betrogen.

'Ich muss ihm das mal erklären. Irgendwie hatte ich zu viel von ihm erwartet, ich war sicherlich selber auch nicht gerade ehrlich oder offen, aber bei ihm... ich hab das zwischen uns falsch gesehen. Offenheit, wie in einer richtigen Freundschaft... wie es in letzter Zeit mit Bambi war.' Schockiert stellte Kai fest, dass dieser verdammte Teenager sich ganz offensichtlich ziemlich fest in sein Leben eingenistet hatte. Frustriert überlegte die Abteilung Abartigkeiten, ob das okay war. Das Erziehungsgen war auch dagegen. Freunde erzogen sich doch nicht gegenseitig, oder doch? Die Libido wollte hingegen wissen, ob Bardo einen vernünftigen Hintern hatte... auf die Frage wusste Kai keine Antwort. Er hatte das Bambi noch nie unter diesem Aspekt betrachtet.

Jan schreckte Kai auf, bevor er von diesen Sorgen Kopfweh bekommen konnte. Er überfiel ihn, zog ihn unter Wasser und nutzte die Balgerei, bei der Kai haushoch unterlegen war, eindeutig aus, um ihn anzufummeln. Die Romantikabteilung war trotzdem wieder einmal sehr auf dem Vormarsch. Jan schien sich doch noch zu einem Favoriten zu entwickeln. Außerdem konnte er seinen Freund trotz Mistwetter fast nackt begaffen. Jan sah in der knappen Badehose super aus. Was Wunderschönes auf die Augen... aber, der Fairness halber, einmal für ihn selber. Die Gedanken um Jans nackten Körper erinnerten Kai wieder an die Fotos vom Fummelkurs, die er von Tini geschenkt bekommen hatte.

Während sie sich in einem Whirlpool ablegten und die kreischenden Kinder und murmelnden Omas um sie her ignorierten, erzählte Kai Jan von den Bildern auf seinem neuen USB-Stick. "Du hast einen Fan, Jan. Jedenfalls war es eine richtige Sammlung von Bildern von dir. Sogar halbnackt im Fummelkurs. Tini wollte mir nicht erzählen, wer das ist, der dich so sammelt. Ich hab auch, ehrlich gesagt, keinen Schimmer."

Jan war natürlich wieder mal überraschend informiert und schockierte Kai mit der lockeren Feststellung. "Ich schon. Ist nicht so schwer zu erraten."

"Wer?"

"Renate natürlich. Die macht dauernd überall Fotos, hat auch von dir ein paar Schöne geknipst, obwohl du immer flüchtest, wenn sie kommt. Und die steht auf mich."

"Renate steht auf dich?! Oh Gott!" Kai versuchte das Bild von der überkorrekten, ziemlich Spaß freien Tante mit den hässlichen Pullis aus seinem Hirn zu löschen. "Hätte ich nicht gedacht."

"Die ist selber schuld, dass sie nicht zum Stich kommt. Wenn sie etwas lockerer wäre, dann hätte sie keine Probleme, einen Freund zu finden. Die hat eine ziemlich gute Figur, echt einen klasse Busen und sieht total lieb aus, wenn sie lacht. Außerdem ist Renate super schlau. Was die alles weiß, das macht einen krank."

Es war natürlich klar, dass Jan Renates kurvenreiche Figur ansprechend fand. Irritiert bemerkte Kai, dass es mittlerweile wirklich zu seinem Freund dazu gehörte, dass er sich über Frauenkörper auslassen und sich auch daran erfreuen konnte. Die Abteilung Abartigkeiten fand das auch in Ordnung. Nur die Libido war abgeturnt und verzog sich. Kai fiel ein, dass Renate und Jan sich in der Uni viel häufiger sahen, weil sie in einigen Kursen zusammen waren. "Seid ihr irgendwo in einer Gruppe?"

Jan streckte sich aus und warf einen Blick auf die wilden Rutschen. "Jupp. Dauernd. So bin ich doch darauf gekommen, dass sie auf mich steht. Sagen tut die nämlich nix. Aber wir sind zusammen in Biochemie gewesen, sogar in einer Versuchsgruppe, in Anatomie haben wir zusammen mit Matze und Thilo präpariert, in Histo ist sie bei dir, meine ich, aber wir zwei haben dann das Vergnügen in Neuroanatomie mit ihr. Sie hat mich gefragt, ob das okay ist."

"Macht dir das nichts aus?"

"Nö. Von der kann man klasse abschreiben. Wenn sie wirklich an mich ran wollte, müsste sie sich mal mehr reinhängen. Dann hätte das sehr wohl klappen können. Schau dir Bianca an. Die war mir eigentlich immer viel zu bestimmt und zu... hm deutlich in dem, was sie will, aber sie ist ja dran geblieben und schau dich an. Du bist auch dran geblieben und das hat doch hingehauen ohne Ende mit uns. Stell dir mal vor, du hättest mich nicht mehr beachtet, dann wären wir jetzt vermutlich nicht zusammen. Mich kann man eben leicht rumkriegen."

Mit schmalen Augen starrte Kai ihn an. "Jan! Du Schlampe!" Dann musste er lachen. Er ballte eine Hand zur Faust. "Wenn Renate an dich ran will, dann kann die aber was erleben! Moment mal! Weiß sie nicht, dass wir zusammen sind?"

"Doch, denke schon. Durch Tini weiß Renate das sicherlich und sie ist deswegen sehr sicher auch von mir abgerückt. Mach dir keine Sorgen, die ist obermoralisch und würde nie wie Bianca Stress machen." Er stand auf und umfing Kais Finger. "Komm, wir rutschen mal eine Runde. Das sieht geil aus und die Kinder sind grade weg von dort."

Hastig entzog Kai ihm seine Hand, aber ließ sich hin bugsieren. Die Rutschen waren wilder als sie aus der Ferne ausgesehen hatten. Kai schluckte sicherlich einen guten Liter Wasser und war vollkommen erledigt, als sie sich geduscht, eingecremt und er auch geföhnt und gestylt, zum Wagen schleppten.

Es war später Nachmittag und der Regen hatte sich gelegt, aber stürmischer Wind zerrte an ihnen. Kai warf einen Blick zurück auf die hohen Fensterfronten, als sie vom Parkplatz rollten. "Das war total schön heute, Jan! Ich hatte gedacht, dass ich den Ostersonntag mit Rumhängen und am Telefon mit meiner Mutter und vor dem Fernseher verbringen würde. Danke!"

"Und ich hatte ursprünglich gedacht, dass ich mit meinen Eltern frühstücken und über dich diskutieren muss und danach mit Freunden zum Fußball gehe, und es dort nicht wage, etwas von dir zu erzählen. So war es mir lieber." Er fuhr zur Tankstelle. "Wollen wir die Pizza bestellen und auf dem Rückweg abholen? Dann ruf du doch mal an und sag, dass wir in einer Stunde dort sind, ja?" Er warf Kai sein Handy zu.

Gehorsam suchte Kai aus dem Adressbuch den Pizzamann bei ihnen um die Ecke und bestellte je eine Lieblingspizza für sich und Jan. Eine große Flasche Cola war in dem Angebot mit drin. Das passte alles hervorragend. Er wurde noch über den Osterdeal informiert und legte im Endeffekt erst auf, als Jan schon wieder zu ihm kam.

Jan rutschte in den Fahrersitz und warf ihm eine Tüte Gummibärchen zu. "Sonst kriegst du auf der Fahrt zu viel Hunger und wirst nölig."

Kai grinste. Tatsächlich hatte er jetzt schon mächtig Hunger, auch wenn er sehr fern von nölig war. Er war eigentlich glücklich. Rasch beugte er sich rüber und küsste Jan auf die Wange, während er ihm das Handy reichte. "In einer Stunde hab ich denen gesagt. Wo sind wir eigentlich?"

"Fast schon bei mir daheim. Ein Ort weiter nur, etwa eine halbe Stunde Fahrt. Aber wir fahren zu uns zurück. Ich will dich für mich haben. Ich hab auch keinen Bock auf meine Eltern."

Das war Kai zwar recht, aber zugleich fragte er sich, warum Jan so defensiv war mit einem Mal. "Haben die etwas gesagt oder so?"

"Warum?" Jan fuhr auf die Autobahn auf und hielt seine Hand aus.

Hastig öffnete Kai die Tüte und gab ihm Teddys rüber. War ja klar, dass Jan nicht primär an ihn gedacht hatte mit dem Süßkram. Bevor er ganz leer ausging, aß er auch ein paar von seiner Lieblingsfarbe. "Na ja. Als wir im Ferienhaus waren, da bist du gefahren, als sie gerade um die Ecke gekommen sind. Und heute fährst du auch lieber nach Hause zu uns, obwohl wir fast um die Ecke bei deinen Eltern sind. Wenn du allein gewesen wärst, hättest du doch sicherlich bei ihnen Pause gemacht und dich dort vollgefressen, oder?"

"Klar. Aber nicht mit dir. Irgendwie..." Jan warf einen kurzen Seitenblick, dann seufzte er. "Ich hab immer noch den Eindruck, dass ich dich vor ihnen irgendwie beschützen muss. Ich hab Angst, dass meine Mutter dir komisch kommt. Die ist immer so wissenschaftlich und anstrengend. Und... ich weiß nicht, wie das wird, wenn wir dort sind. Sie sind eigentlich immer locker mit meinen Freundinnen umgegangen, aber du bist doch was anderes."

"War was?" Kai rückte noch eine Handvoll Gummibärchen raus. Bei sich dachte er, dass Jan seine Eltern verdammt realistisch einschätzte. Seine Mutter war anstrengend direkt und er hatte wirklich Angst vor ihrem Urteil.

Jan seufzte. "Nein. Eigentlich war gar nichts Dolles. Sie fragen nach dir, wie sie nach meinen Freundinnen gefragt haben. So was wie 'Geht es Kai gut? Braucht ihr in der Wohnung noch was?' Eher so nebenbei. Nach großen Prüfungen fragen sie, ob du auch alles gut geschafft hast. Wie eben bei meinen Freundinnen auch. Die haben ja nie lange gehalten, daher haben meine Eltern sich vielleicht an einen eher unpersönlichen Stil mit ihnen gewöhnt." Jan schnappte Kai noch einige Gummibärchen weg, dann grinste er "Aber das Osterfest war trotzdem total gut. Thilo und ich, wir liegen wieder mehr auf einer Linie. Ich muss ihn gleich morgen mal anrufen und fragen, ob wir nicht wieder mal zusammen Fußball spielen wollen. Ein Glück ist das mit Bianca aus der Welt. Manno, ich konnte doch auch nicht für fünf Cent ahnen, dass der Kerl was von ihr will."

"Man kann Thilo nicht besonders gut kennen lernen, oder?"

"Er ist total schüchtern. Ich kenne ihn jetzt ja schon ewig und muss sagen, wirklich so richtig kennen wir uns trotzdem nicht. Er hat immer noch einen großen Teil von sich unter Verschluss. Vermutlich hat mich das bei dir damals nicht gestört, weil ich es von Thilo so gewohnt war."

Kai blinzelte die Straße an, dann sagte er leise "Wie bei Pascal und mir. Wir kennen uns schon seit der Schule, aber ich kenne ihn doch gar nicht. Kein Stück. Mein Vater meinte zu mir, dass seine Eltern wissen, dass er schwul ist. Dass sie es schon immer wussten. Meine Mutter ist sich auch sicher. Aber ich... ich bin immer fest davon ausgegangen, dass bei ihm daheim alles in fröhlicher Ignoranz lebt."

Und vielleicht war beides richtig. Vermutlich schafften die Feinwebers es tatsächlich, in fröhlicher Ignoranz zu leben und ihr Haus zu renovieren, wie schon seit Jahren. Sie schafften das, weil Passi daheim der Sohn war, nicht der Mann. Er war daheim immer das verzogene Kind und konnte sich ablegen, vollfressen, den Wagen tanken lassen und Klamotten bezahlt bekommen, obwohl er selber vermutlich mehr verdiente als seine Eltern. Das Thema Partner war keines, weil sie ihn einfach weiter als das Söhnchen vor Augen hatten und nicht darauf warteten.

Müde streckte Kai sich etwas mehr aus und verlor gegen Jans Tempo beim Gummiteddyvernichten total. Mehr als zwei, drei weitere kriegte er nicht ab, schon war die Tüte leer. Seufzend lehnte er sich etwas dichter und schob seine Hand auf Jans Bein, um sich von ihm streicheln zu lassen. Was für ein herrliches Osterfest! Er war mit Tini und Holger vernünftig ausgegangen, hatte das Bambi getröstet und Jan war von vorn bis hinten romantisch und toll gewesen. Es fehlte eigentlich nur noch die Pizza vom Lieblingsbringdienst, eine kalte Cola und eine Runde Schmusen vor dem Fernseher, um Kai komplett in den Himmel zu befördern für den Tag.

Und genau das bekam er auch. Die Pizza war pünktlich fertig und nicht schon kalt. Die Cola war dafür aus dem Kühlschrank und sie hatten noch genug Eiswürfel. Jan hängte ihre Badesachen auf und wollte dann die Zusammenfassung einiger Fußballspiele sehen, die er durch das Baden verpasst hatte. Somit verlegten sie ihr Essen in die Sofaecke vor den Fernseher.

Nach ein paar Stücken Pizza legte Kai seinen Kopf auf Jans Schoß und ließ sich streicheln und liebhaben und schlummerte zu grünem Bildschirm und aufgebrachten Kommentaren über Fußballrowdies zufrieden ein. Sie kamen gar nicht mehr dazu, das Thema Fummeln oder ähnliches aufzugreifen, dafür waren sie beide zu müde.

Als sie im Bett lagen, klingelte zudem Jans Handy. Es war Thilo, der sich tatsächlich mit ihm zum Fußballspielen verabreden wollte. Jans Laune hob sich damit um noch einmal zehn Punkte. Er erzählte Kai, bis dieser ins Koma fiel, von den Plänen für die nächsten Tage. Es schien reichlich los zu sein in der nächsten Woche. Jedenfalls war damit der Montag auf jeden Fall für sie gelaufen. Zwischen Fußball und Arbeit im LPP würden sie sich vermutlich kaum begegnen. Aber nach einem so herrlichen Sonntag war das Kai total egal.

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