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Trost 2
Kapitel 121-123
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Inhaltsverzeichnis
121
Genervt lehnte Kai in der Wohnungstür und giftete statt eines 'Hallo' gleich los: "Felix, mein Tag war scheiße! Ich musste mit meinen Eltern einkaufen gehen, hatte eine doofe Unterhaltung mit einem Schulfreund und bin komplett erledigt."
"Perfekt. Komm mit." Felix grinste ihn mitleidslos an. Er trug eine dunkle Jeans und ein schwarzes T-Shirt, was ihm beides sehr gut stand.
Kai fühlte sich in seinen verschwitzten Jeans und T-Shirt mit einem Mal nicht mehr wohl. "Wohin?"
"Hm. Wäre gut, wenn du eine Jacke mitnimmst. Vergiss nicht wieder den Wohnungsschlüssel!"
"Fragst du mich auch noch, ob ich überhaupt Zeit habe?"
"Ich weiß, dass du nicht arbeiten musst. Den Plan von Leon hab ich gelesen. Was kann anderes noch wichtiger sein als deine seelische Unversehrtheit, mein süßer Psycho?"
Eine spitze Stimme krakelte: "Kommt ihr mal endlich, ihr Lahmärsche?!" Henri hopste eine Etage tiefer auf den Treppenstufen rückwärts rauf und wieder runter.
Kai starrte runter. "Was macht der denn hier?"
"Helfen. Dein Freund ist nicht da, um dich zu halten und so. Henri ist dafür aber sowieso besser geeignet."
Henri winkte ihm zu. "Huhu, Engelchen!"
"Nein!" Kai trat einen Schritt in die Wohnung zurück. "Besser geeignet?", fragte er dann misstrauisch.
"Hm. Er fasst andere Menschen gern an, fühlt sich wohl mit der Nähe. Er kann zugleich sehr gut spüren, wie es ihnen geht, wo sie angespannt sind, weswegen sie sich anspannen."
"Nein! Ich will nicht von deinem Bruder angefummelt werden, verdammt!"
"Engelchen, nu sei nich so." Henri machte Gummeraugen und hopste die Stufen nun rückwärts weiter zu ihnen hoch. Energiegeladen und sehr nervig. Kai verschränkte die Arme.
Felix starrte seinen Bruder an und befahl: "Nimm deine verdammten Tabletten, sonst gehst du mir auf den Geist mit dem Gezappel!"
"Nö"! Henri streckte ihm die Zunge raus und blieb auf der obersten Treppenstufe stehen. "Ich halte freiwillig still wie eine Statue, siehste?" Er hielt still, aber derart auf der Kante der Stufe, dass es sicherlich nichts mit wirklicher Ruhe zu tun hatte.
Felix blickte Kai kurz in die Augen. "Ich nehme mir Zeit für deine Macke, um Leon und Jan einen Gefallen zu tun und dir auch. Mach besser mal mit, sonst musst du dir irgendwann einen echten Therapeuten suchen."
Kai ließ den Kopf hängen und nickte. Er zog die Jacke an, nahm Handy, Schlüssel und Portemonnaie mit und zog die Wohnungstür mit einem Gefühl der nahenden Panik ins Schloss. Zuerst fuhren sie Motorrad. Felix auf der großen Maschine, Henri kichernd auf der kleinen. Kai bei Henri, was tatsächlich deutlich angenehmer war als bei Felix. Der drahtige, schmale Körper fühlte sich auf angenehme Art warm an, nicht störend. Kai fand es nicht unangenehm, ihn auf der Fahrt zu umarmen, sich an seinen Rücken anzulehnen. Und kaum berührten sie sich, kam Henri auf eigenartige Weise selbst ebenfalls zur Ruhe. Er zappelte auf der ganzen Fahrt nicht. Die war nur kurz, rasch bog Felix hinter dem Wald auf den Parkplatz. Wieder war ihr Ziel bei den Badeseen.
An den Teichen war ordentlich was los, jedoch eher im Sinne von einpackenden und nach Haus gehenden Menschen. Felix stellte die große Maschine ab und fuhr das kleinere Motorrad davon. Henri winkte Kai, mit ihm weiter zu gehen. Die Sonne senkte sich langsam hinter den Bäumen, die Schatten verschmolzen. Auf der Wiese am Parkplatz wurden noch ein paar Grillabende abgehalten. Das Gelächter und der Geruch von Gegrilltem wurde mit dem leichten Wind zu ihnen hinüber getragen. Hinten, in der Nähe vom FKK-Badestrand und einem kleinen Kiefernwald, war die Wiese schon leer, als sie zwischen den Bäumen hervor traten. Mücken tanzten über der stillen Wasseroberfläche.
Henri streckte sich, war mit einem Mal deutlich gelassener. Er blieb stehen und sah Kai forschend an. "Na, wie geht es dir? Du hattest einen stressigen Tag. Was war? Geldsorgen? Streit?" Seine Finger glitten einmal tastend über Kais Stirn, dann berührte Henri seinen Hals.
Verwirrt blinzelte Kai, dann ergab er sich in die natürliche Intimität, die Henri mit einem Blick aufbauen konnte. Er konnte dieses Gefühl offensichtlich anknipsen. Der Blick seiner hellgrauen Augen tastete sich nicht nur über Kais Gesicht, sondern irgendwie direkt in seine Gefühle hinein.
"Meine Eltern waren da, um mit mir Klamotten für eine Hochzeit einzukaufen."
"Ah. Die Leier." Henri verstand tatsächlich, verstand ihn sofort. "Felix hat damals auch total gelitten, als unsere Schwester Mariam geheiratet hat. Diese Blicke von ihm zu Lukas und zurück sind es gewesen. Ich bin mir fast sicher, dass diese Hochzeit die beiden die Beziehung gekostet hat. Lukas war total romantisch mit einem Mal und hat Felix versprochen, dass sie auch sowas wie heiraten könnten. Tja, das war natürlich Blödsinn, die wollten doch beide gern auch rummachen dürfen, frei sein." Henris Blick glitt über den Badesee, auf dem sich Dunst in feinen Schleiern bewegte. "Wer ist schon frei?"
Kai schwieg dazu. In Gedanken war er bei Jan und wollte nicht frei sein, wollte im Gegenteil bei ihm sein. Das Vermissen machte ihn schwach. Henri sah das vermutlich auch sofort, aber sagte nichts weiter als "Felix will so Atemübungen mit dir machen, biste bereit? Da kommt er nämlich."
Das kleine Motorrad hoppelte über den Waldweg von der anderen Seite zum Grillplatz hin. Kai schob die Hände in seine Hosentaschen und hob die Schultern. "Nein, aber hab ich eine Wahl?"
Therapie wider Willen war tatsächlich das Motto des Tages. Erst die alte Übung. Atmen, in Dunkelheit durch verbundene Augen, das Motorrad kam näher. Mit Henri zusammen schaffte Kai das fast so gut wie mit Jan. Das lag auch daran, dass Henri irgendwie schon vor Kai spürte, wenn seine Atmung sich beschleunigen wollte. Henri griff dann eine Idee fester zu und raunte ihm ans Ohr: "Easy, Engelchen."
Die nächste Übung fand im Liegen statt und versaute Kai endgültig die Jeans, weil sie es auf einer allmählich feucht werdenden Wiese machten. Im Liegen ging das Atmen auch in Ordnung, die Bilder, die Felix ihm zuvor als Konzentrationshilfe beschrieb, halfen ihm wirklich. Henri kniete hinter seinem Kopf, eben gerade nah genug, dass Kai ihn spüren konnte und das half ihm zusätzlich.
Es war zudem angenehm dort zu liegen und Henris Finger an den Schläfen zu spüren. Der verdammte Kerl hatte tatsächlich die totale Ahnung, was Kai gut tat. Als Felix rief: "Schluss für heute!", sagte er deswegen leise: "Du kannst das echt gut, hätte ich nicht gedacht."
Henris Blick richtete sich konzentriert auf sein Gesicht, dann lächelte er: "Ich mach das gern mit dir. Du bist herrlich ruhig. Aber du bist ein schwerer Fall, Engelchen. Ich hab dich doch gar nicht erreicht."
"Erreicht?" "Wo du wirklich nur fühlst, wo du keine Kontrolle hast. Wenn du das mal machen willst, ruf mich an." Er grinste leicht: "Kostet aber."
"Danke. Nein, danke." Kai klopfte seine Jacke ab und den Hosenboden und schreckte zusammen, als Felix die kleine Maschine anließ und rief: "Wir fahren vor, du gehst! Bis gleich am Parkplatz!" Und in dem Augenblick wurde Kai klar, dass seine heutige Therapiesitzung gerade erst anfing. Er folgte dem Motorrad mit Blicken, während sich die Lichter durch den dunklen Wald entfernten.
Unsicher tat Kai zwei Schritte in Richtung der düsterer werdenden Schatten zwischen den Bäumen. Der Weg war breit, der Wald eigentlich licht und überhaupt nicht bedrohlich. Am Rand standen noch zwischen den Bäumen überall Holzbänke, auf denen am Tage die Leute ihre Sachen ablegten, wenn sie eine Runde schwimmen gingen. Doch nun war er allein und der Weg wurde zu einem finsteren Rachen, drohend. Kais Atmung beschleunigte sich, sein Herzschlag ebenfalls. Seine Hände wurden feucht.
Er brauchte eine halbe Ewigkeit, um überhaupt den ersten Schritt in den Wald hinein zu wagen. Dann ging er mit hastigen, kleinen Schritten weiter, fühlte sich wie ein Idiot, wie ein Roboter, aber die Angst ging mit, wurde immer größer. Seine Fingernägel gruben sich in die Handflächen. Kai hyperventilierte schon, als er das Motorrad wieder hörte. Froh darüber, dachte er im ersten Moment, dass es Felix sein musste, der ihn abholen kam. Das Geräusch machte ihm keine Angst mehr, sondern erleichterte ihn. Nur kurz fragte Kai sich, ob Felix ihn nun so leicht schon geheilt hatte, aber die Maschine heulte an ihm vorbei und verschwand in der Dunkelheit. Verwirrt starrte Kai zurück, dann wieder auf den Weg, fühlte sich mit einem Mal so richtig schutzlos und alleingelassen. Es war ihm jetzt wirklich unmöglich, weiter zu gehen. Ihm wurde schwindelig, und er versuchte sich an das Atmen zu erinnern, schaffte es eben gerade, nicht wieder in Panik zu verfallen, als das Motorrad zurückkam.
Verzweifelt war sich Kai bewusst, dass er mit dem Atmen jetzt nicht mehr zurande kam. Gar nicht. Mit geschlossenen Augen presste er sich an einen Baum zurück und japste nach Luft, umarmte sich fest selber und sah und hörte nichts mehr. Erst als das Motorengeräusch erstarb, kam er allmählich zu sich. Im nächsten Moment wurde der Motor dicht neben ihm wieder angelassen, aber es ging, denn er war nicht mehr allein.
Henri hatte ihn umarmt, seine kräftigen kleinen Hände strichen Kai über den Rücken und bis in die Haare. Er sagte kein Wort, wartete nur ab, bis er spürte, dass Kai wieder normal Luft bekam. Endlich ließ Henri Kai los und umfasste stattdessen seine Hand. "Komm, wir machen das zusammen."
Ziemlich peinlich Händchen haltend gingen sie weiter durch den Wald, beide schweigend, mit gesenktem Kopf. Nach einer kurzen Weile hatte Kai sich beruhigt und nahm seine Umwelt wieder deutlicher wahr. Henri streichelte ihn. Mit dem Daumen über die Seite seiner Hand. Immer wieder, ganz leicht nur und vielleicht unbewusst. Es war aber die stete Erinnerung, dass er nicht allein war und beruhigte Kai. Das Motorrad kam schon wieder aus der Dunkelheit, als sie einige Schritte weit durch den Wald gelaufen waren.
Mit Henri bei sich konnte Kai atmen, konnte er seine Füße zu gerichteten Bewegungen motivieren. Nur die Augen kniff er noch zu, als die Maschine an ihm vorbei zischte. Henri war einfach nur da. Er zog nicht an seiner Hand, er sagte kein Wort, wie ein Anker in der Wirklichkeit. Endlich kamen sie beim anderen Waldrand an, wo Felix die beiden Motorräder nebeneinander stehen hatte. Anerkennend blickte Felix seinem Bruder ins Gesicht: "Du wirst immer besser, Kleiner."
Henri zeigte ihm die Zunge, dann ließ er Kais Hand gehen, um in seiner Gesäßtasche nach dem Handy zu fischen. "Okay. Kai, ich massier dir noch die Schultern und die Arme, sonst kriegst du es bald mit der Halswirbelsäule."
Spröde nahm Kai den gereichten Helm und stülpte ihn über seine verschwitzten Haare. "Nicht nötig. Danke." "Doch nötig, Engelchen. Keine Sorge, das nennen wir auch Therapie. Felix wird nicht dabei bleiben und es wird alles brav über der Gürtellinie stattfinden, wenn du willst."
Felix lachte über Kais Gesicht und schlug in dieselbe Kerbe: "Keine Widerrede. Das gehört zur Therapie dazu. Außerdem bist du nach der Nummer im Wald bestimmt total verspannt. Sei froh, dass Henri das mit dir macht, Psycholinchen, mit seiner Zeit ist er sonst nicht so großzügig."
Henri trat zu der Maschine hin. "Und, willst du selber mal zurück fahren?" Kai schüttelte den Kopf. "Ich hab keinen Motorradführerschein." "Na und? Ich hab überhaupt keinen Führerschein." Henri lachte fröhlich und unbesorgt. "Bei meinen Medikamenten darf ich den gar nicht machen."
Die Rückfahrt wurde für Kai sehr stressig weil er mit Felix fuhr, nachdem er schockiert abgelehnt hatte, noch einmal bei Henri mit drauf zu sitzen. Felix war ihm immer noch körperlich derart unangenehm, dass er froh war, am Haus vom Motorrad zu springen. Leider war der Therapieabend damit noch immer nicht gelaufen. Henri fiel ihn noch im Flur an und drängte sich zu ihm in die Wohnung.
Und Kai war noch immer viel zu müde, erschöpft und von diesem merkwürdigen nachtragend wütenden Gefühl gegen Pascal geschwächt. Er schaffte es nicht, die blonde Sexplage von sich fern zu halten. Stattdessen fand er sich auf der wieder einmal in das Wohnzimmer geworfenen Matratze nur in Shorts und ohne T-Shirt wieder. Er hatte sich geduscht und umgezogen, um das verschwitzte Gefühl und die nassen, dreckigen Sachen und dazu noch Henri los zu werden.
Henri hatte leider in der Zwischenzeit seinen Kram geholt und hibbelig in der Wohnung rumräumend auf ihn gewartet. Er baute seine Sachen um die Matratze auf, hatte Musik angestellt, irgendwelche weichen Klänge, und eine große Flasche Lotion ausgepackt. Er nahm sich etwas und erwärmte es in den Händen, bevor er tüchtig davon auf Kais Rücken verstrich. Es fühlte sich wie eincremen an und nicht wie eine Massage, als wollte Henri Kai möglichst gründlich mit Sonnenmilch einreiben.
Verwirrt wartete Kai auf die Attacke, darauf, dass Henri ihn irgendwie falsch berührte. Es passierte nicht. Sie schwiegen eine ganze Weile. Bis auf ein kleines Licht in der Küche herrschte in der Wohnung Dunkelheit, die leise Musik kam gerade zu Kai durch, eine Frauenstimme, aber in einer Sprache singend, die er nicht verstand. Endlich sagte Henri leise: "Du bist hier allein, Kai. Niemand sieht und hört dich, und ich halte mich an eine Art Schweigepflicht, was auch immer wir tun oder bereden, es wird zwischen uns bleiben." Henri lehnte sich über seine Schultern nach vorn: "Lass mich zu, okay?"
"Was tue ich denn hier?!" Gereizt wandte Kai den Kopf und sah Henri kurz an.
Henri lachte. "Bislang hast du nur still gehalten. Zulassen, Kai, das ist noch etwas anderes. Ich fang jetzt an."
Kai schloss die Augen und versuchte, sich nicht zu entspannen, die Berührungen nicht zu genießen. Er hatte beim Fototermin beschlossen, dass er Henri nicht mögen würde. Dass er es nicht verstehen konnte, wie man mit diesem Mann einfach so, ohne ihn wirklich zu kennen, ins Bett gehen konnte. Er war sehr intensiv damit befasst, Henri tatsächlich abzulehnen, aber es wurde immer mühsamer, sich nicht zu entspannen.
Die warmen Finger gruben sich gleich neben seiner Wirbelsäule in die Muskulatur und hinterließen eine heiße Spur den ganzen Rücken hinunter. Es entspannte ihn, es gefiel ihm und machte ihn ganz allmählich unerwünscht geil. Wenn er ehrlich zu sich war, konnte er schon nach dem Therapieabend im Wald ausgezeichnet verstehen, wie man mit Henri ins Bett gehen konnte, nachdem man ihn nur für fünf Minuten kannte. Intimität schien Henris zweiter Vorname zu sein. Genervt versuchte er weder der Abteilung Abartigkeiten, noch dem jubilierenden Sexgen zuzuhören, während die Vernunft Henri eindeutig total anhasste.
Henri sah es ihm an und lachte leise. "Ich kann meinen Job, Engelchen. Du reagierst wie du musst, brauchst keinen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Mach die Augen zu, erzähl mir von... dem Wauwau."
Kai zuckte zusammen und Henri lachte erneut leise. Er nahm sich mehr von der Lotion. "Ah. Das ist das Thema, was?" "Er fehlt mir, das ist alles." "Er ist weg?". "Trainerlehrgang, eine Woche nur. Ich bin albern, ich weiß."
Henris Finger schoben sich unter seine Shorts und zogen sie weiter runter. "So? Glaube ich nicht. Seinen Partner zu vermissen, ist ein vollkommen natürliches Gefühl. Wenn man einander hat, zweisam sein will, dann ist das Alleinsein unerwünscht, macht einen kalt und lässt einen Unvollständigkeit fühlen und unvollständig handeln."
Henris Daumen gruben sich in genau die Stelle, an der die Pofalte begann. Ein Kribbeln zog sich von diesem Punkt über Kais gesamtes Becken und nach vorn über Hüften. Er versteifte seinen Rücken, musste sich aber rasch in die wohltuende Schwere ergeben, die von seinem unteren Rücken aus in seinen Körper eindrang und ihn dazu brachte, die Augen zu schließen und tatsächlich von Jan zu erzählen, dann von Pascal und dem Ärger, den er spürte, weil sein Schulfreund, sein ehemals bester Freund, sich so oberflächlich verhielt.
"Er ist also verliebt, sagt er. In wen?" Henris Finger strichen über Kais Po an der Seite entlang und verweilten dort auf einem verspannten Muskel, den Kai zuvor noch nie bemerkt hatte. Nachdenklich blinzelte Kai die rote Bettwäsche an. "Er hat es nicht gesagt, hat gar nichts dazu gesagt. Es muss wer sein, den ich gar nicht kenne. Vielleicht was aus dem Internet oder vom letzten Urlaub."
"Oder es ist jemand, den du sehr gut kennst."
"Ich kenn kaum wen in der Szene hier. Leon ist es wohl kaum, Lolli definitiv nicht, Benni auch nicht, Carl ist weit weg und mit seinem Ex Hanno beschäftigt."
"Ach, das Carlchen", Henri lachte leise auf. "Opfert er sich immer noch für diese süßen Typen auf?"
"Ihr kennt euch?"
"Hm, natürlich. Ich kenne alle von Lukas' Freunden von damals. Sie konnten Felix alle nicht ab, weil der sich total arrogant verhalten hat, als Schluss war mit den beiden."
"Findest du Lukas wirklich geil?"
Henri kicherte: "Natürlich. Wer würde das nicht tun? Ich weiß noch, wie ich ihn zum ersten Mal gesehen hab. Er und Felix waren bei unseren Eltern zu Besuch, Weihnachten war das. Da haben sie spät am Abend noch auf dem Sofa gekuschelt, als ich mich aus dem Haus schleichen wollte." Henris Finger strichen auf die andere Seite von Kais Po. "Es war nett, wie Lukas mit meinem Bruder umgegangen ist, obwohl er mir vorher wie der totale Macho vorgekommen war. Ich hab das gern gesehen. Und am Morgen danach hab ich ihn nackt in der Dusche erwischt... ach, Jahre ist das schon her, ich denke gern daran zurück. Was für ein geiler Mann."
"Und seitdem willst du es mit ihm tun?"
"Wir necken uns damit. Er hat Probleme, das hab ich gleich gesehen bei der Fotosache, aber ich bin der letzte Mensch, der ihn berühren dürfte... ich meine innen, wo er fühlt. Da kommt keiner hin. Wie bei dir, hm?"
"Und selber?"
"Mich hat noch niemand wirklich interessiert. Vielleicht kann ich nur Sex, nicht Liebe. Ich hab immer nur so kurze Geschichten, mal hier, mal da. Meine Erkrankung nervt die meisten. Mein Job ist für meine Beziehungen ein Problem. Ich hab an vier Tagen in der Woche im weitesten Sinne eine intime Beziehung, oft sogar Sex. Mit Frauen und Männern. Nicht selten mehrmals am Tag."
"Das ist in der Tat so eine Art... hm... Problem." Ungemütlich ruckelte Kai etwas. Er hatte selber auch eine Art Problem entwickelt. Nämlich eine echt störende Erektion und zudem das Gefühl, dass Henri noch lange nicht mit ihm durch war.
Henris Finger kraulten sich zu seinem Nacken hinauf. "Nein. Das eigentliche Problem ist, dass die meisten daher denken, dass ich so viel Erfahrung habe und sie mir im Bett nicht gefallen könnten. Sie verspannen sich und werden so zu meinen Patienten. Das macht mich nicht sonderlich an. Und dann bin ich wegen meiner Erkrankung sehr zappelig und schwierig, das können die meisten kaum ertragen." "Welche Erkrankung? Dieses Aufmerksamkeitsdings?"
"Ich hab vom Schicksal gleich zwei Sachen aufgedrückt bekommen, einmal hab ich ADHS, seit ich ein Baby war. War schon ein sogenanntes Schreikind. Ich hab das Glück gehabt, dass meine Mutter die Ruhe selbst ist und sich viel hat helfen lassen. Später war ich unaufmerksam, zappelig, unkonzentriert. Nach einer Therapie mit Tabletten wurde ich mit einem Mal dumm. Erst hinterher haben meine Eltern erfahren, dass das eine normale Nebenwirkung ist. Und als ich so vierzehn war, kam die Epilepsie dazu. Kann auch von den Tabletten kommen. Da wissen die Ärzte nicht so gut drüber Bescheid. Die Medikamente, die ich jetzt nehme, sind aber okay. Ich bin frei von den Anfällen und fühl mich wohl."
"Das klingt echt nicht sonderlich leicht."
"Nein, war okay. Von der ganzen Therapie genervt hab ich, als ich sechszehn war, meinen Eltern Geld geklaut und bin nach Thailand ausgerückt, da hab ich diese Massagetechnik gelernt. Es tut mir gut, wenn ich andere beruhigen, berühren kann. Die Haut eines Menschen zu spüren, ihn entspannen zu fühlen, das ist besser als jede blöde Pille für mich." Henri lachte leise. "Mit dir, Engelchen, ist es besonders schön, weil du einen so ruhigen Körper hast. Kaum Regung. Meine Zappeligkeit hat die meisten meiner Beziehungen gekillt. Ich brauche jemanden, der sowohl ruhig ist, als auch nicht eifersüchtig, als auch selbstbewusst."
"Mann oder Frau?"
"Ich mag beides, Männer wie Frauen. Ich mag beides anfassen... das ist zwar intim, aber damit fühl ich mich wohl, es ist für mich trotzdem zugleich beruflich. Privat brauche ich mehr Sicherheit. Sicherer fühle ich mich aber mit Männern. Leichter zu lesen, irgendwie... einfacher glücklich zu machen."
"Aha."
"Ich liebe Frauen, Sex mit ihnen besonders. Diese weichen Körper, diese Offenheit. Sie können nehmen und zugleich etwas geben, einfach so, merken das nicht mal. Bei einer Frau brauche ich ungefähr fünf Minuten, um zu ihr durch zu reichen. Männer sind eine größere Herausforderung. Umdrehen bitte."
"Nein! Jetzt reicht's aber!"
"Na los. Ich will weitermachen. Ich weiß schon lange, dass meine Berührungen dich erregt haben. Das ist vollkommen normal." Henri schob Kai mit dem Ellenbogen weiter und fügte hinzu. "Soll ich dir jetzt etwa noch erzählen, wie viele Steife ich schon gesehen habe? Das stört mich gar nicht. Ich empfinde es im Gegenteil als Kompliment. Zieh endlich die Hose aus, Kai. Ich tu dir gut, das weißt du. Auch den Kleinen da unten werde ich nicht falsch behandeln. Und ich bin mir sicher, dass Jan nichts dagegen hat, wenn ich dir auf meine Art gut tue, er bezahlt mich immerhin." Henri wischte sich seine Finger an dem Handtuch sauber. "Was?!" Von dieser Neuigkeit überrascht blickte Kai über seine Schulter zurück und starrte Henri in das spitze Gesicht.
Henri lachte leise, zwinkerte frech und half Kai dabei, sich umzudrehen. Noch aus der Bewegung zog er ihm die Hose runter und über die Beine weiter. "Wusstest du das nicht? Felix hat einen Vertrag mit deinem Wauwau wegen der Psychotherapie. Natürlich macht er das nicht für umsonst. Ich bin Teil der Therapie, das macht Felix hin und wieder mit mir. Es passte gut, dass Jan gerade mal ein wenig weg ist. Sonst hättest du mich nicht gelassen. Aber du hast mich nötig, Engelchen."
Kai hatte die Hände vor seinem Schoß und war kein Stück mehr entspannt. "Nein! Hab ich nicht! Nicht so! Ich war nicht der Meinung, dass du mir... mich..." unsicher verstummte er.
"Dass ich dir einen runterholen soll? Komm, ich deck dich zu." Gelassen legte Henri ein Handtuch über Kais Körpermitte. "Das werde ich auch nicht tun. Total unter meiner Würde. So gehe ich nicht vor. Schließ die Augen und lass mich meinen Job machen." Henri nahm eine Hand von Kai von seinem Schritt weg und begann streichelnd die Lotion den Arm hinauf zu verteilen.
Ermattet und sich schämend schloss Kai die Augen und versuchte einen entspannten Eindruck zu machen. Leise summend verteilte Henri mehr Lotion auf seinen Schultern und nahm sich die Arme vor. Er begann an den Oberarmen und arbeitete sich mit kreisenden Bewegungen bis zu den Händen runter. Für die Hände, die Finger nahm er sich viel Zeit.
Müßig beobachtete Kai seinen Gesichtsausdruck aus halbgeschlossenen Augen. Henri war ein totales Mysterium. Auf den ersten Blick zappelig, hektisch, unkonzentriert, oberflächlich und kaum auszuhalten. Bei der Arbeit jedoch komplett ruhig und irgendwie nur noch tiefsinnig. Henri hatte sein T-Shirt ausgezogen, aber trug noch seine locker sitzende, abgewetzte Jeanshose. Diese saß viel zu tief auf den Hüften und das wiederum zeigte Kai, dass er keine Unterwäsche trug. Aber man konnte noch etwas anderes deutlich sehen. Henri war nicht geil, ganz und gar nicht. Ganz offensichtlich sah er in Kai einen Gegenstand zum Arbeiten, keinen anderen Mann, den er begehren könnte.
Diese Erkenntnis machte, dass auch Kais Geilheit sich legte, irgendwie nebensächlich wurde. Es wurde immer entspannender, so dazuliegen, die Berührungen über sich regnen zu lassen, die leise Stimme, mit der Henri ihm sagte, dass er schöne Hände habe. Kai lächelte ein wenig und fühlte sich wieder wohl, obgleich er das wirklich nicht gewollt hatte.
"Du bist wirklich ein Engelchen, Kai. Es macht Spaß, dich zu verwöhnen. Kein Wunder, dass Jan so glücklich ist, dass du ihn lässt."
"Was lässt?"
"An dich heran lässt. In dich."
"In mich?!" Misstrauisch klappte Kai die Augen wieder auf, genau in dem Moment, in dem Henri sich über ihn beugte und mit den Daumen an seinem Hals entlang ging. Sie sahen sich kurz in die Augen. Erneut verzweifelte Kai daran, wie dieser Typ Intimität aufbauen konnte, mit nur einem kurzen Blick.
Henri lachte leise. "In deine Seele. Nicht in deinen Körper. Aber ich glaube, dass du auch das tust, nicht? Ihn auf die Art in dich lassen. Wenn beides zusammen kommt, dann ist es perfekt. Der Einklang der Seelen, der Energien. Tantra, das sagt dir doch was." Die Hände glitten streichelnd über Kais Brust, Bauch und an den Hüften bis auf die Oberschenkel, von dort wieder zurück, wieder und wieder. Henris Atem strich über Kais Haut und er fühlte eine Gänsehaut prickelnd über seine Brust und die Arme laufen.
Henri drängte sich zwischen Kais Beine, nahm ihm das Handtuch weg und kniete sich hin. Seine Hände fuhren weiter Kais Seiten entlang. Nach kurzer Zeit fühlte Kai sich wie ein einziges Nervenbündel, angespannt, obgleich er total entspannt war. Wie eine vorgespannte Bogensehne, in ihm summte eine nervöse und immer störender werdende Energie. Er hatte keine beengende Hose mehr an, aber wusste, dass Henri sein Kompliment in diesem Moment in Form einer tüchtigen Latte von ihm bekam.
Trotzdem schrak er zusammen und schüttelte instinktiv sofort den Kopf, als Henri sich nach ein paar Minuten vorbeugte und ihn flüsternd fragte "Und, willst du kommen?"
Henri lachte leise, streichelte über seine Oberschenkel, zwischen denen er noch kniete und blickte Kai an. "Wir sind komplett allein, ich schwöre, dass ich niemandem erzähle, was wir erlebt haben."
Nachdenklich blickte Kai ihn an. "Aber ich bin nur ein Gegenstand für dich, Henri. Es bedeutet dir nichts."
Henri legte den Kopf schief, dann nahm er Kais linke Hand auf und legte sie sich gegen die Brust. "Fühlst du meinen Herzschlag?"
Kai nickte. Der Puls war im Gegensatz zu seinem eigenen ruhig, gleichmäßig. Henris Augen leuchteten, als er sich dichter beugte. Er hielt Kais Hand flach gegen seine Brust gepresst und redete leise. "Und jetzt denke ich darüber nach, wie es wird, wenn ich dich so berühre, wie du es schon seit einer halben Stunde erwartest und befürchtest. Ich denke darüber nach, wie ich dich umfasse und es schaffe, in dich zu reichen. In deine Gedanken, in deine Gefühle und in deine Seele. Ich stelle mir vor, wie schön du bist, wenn du dich mir auslieferst, dich in meine Hände gibst und dich von mir hinauftragen lässt."
Kai spürte wie ihm heiß wurde, zugleich spürte er, wie sich Henris Puls beschleunigte. Es machte ihn an, das so zu fühlen. Er war erstaunt darüber, aber es machte ihn an, diese verworrene esoterische Rede zu hören. Gepeinigt schüttelte er dennoch den Kopf. "Ich will nicht... Ich hätte gleich ein superschlechtes Gewissen und würde mich scheiße fühlen."
Henri legte den Kopf schief, dann lachte er und nickte. "Da hast du allerdings Recht. Dann packe ich mal zusammen und du legst allein los hier unten, nicht?" Seine Finger strichen rasch einmal über Kais Körpermitte, zogen eine Flammenspur hinunter, all die vorgespannte Energie schien sich mit dieser einen Berührung in seinem Schoß zu sammeln. Es ließ Kai somit kaum eine andere Wahl, als Henris Rat zu befolgen und sich im Bad hastig um dieses Problem zu kümmern. Er kam so heftig, dass ihm schwindelig wurde und er sich einen Augenblick lang an die Wand neben der Dusche lehnen musste, bis sich keine Sterne mehr vor seinen Augen drehten. Er notierte sich mental, dass er nie wieder eine Massage von Henri wollte. Allerdings waren das Kuschelgen, das Sexgen, die Abteilung Abartigkeiten und die Libido unglaublich heftig an einem weiteren Date interessiert.
Als er aus dem Bad kam, half ihm Henri, der überall nun Licht angeknipst hatte, aufgedreht und wieder total wuselig dabei, die Matratze wieder in den Flur zu stellen. Dann wünschte er fröhlich winkend eine gute Nacht und schwirrte bereits auf seinem Handy herumtippend davon. Seufzend warf Kai sich auf sein Bett und machte sich daran, Jan anzurufen, um ihn zum einen wegen der Therapiegeschichte zusammen zu scheißen, und zum anderen von Henri zu erzählen und wie ihn das mitgenommen hatte.
Ärgerlicherweise sagte Jan recht locker, dass er die Therapie mit Felix gegen eine Hospitation bei einem Wochenendkurs für Manager für sich selber verrechnete, sozusagen in Naturalien. Er fand die Massagesache total logisch, verpasste Kai schlechte Laune mit dem Hinweis auf seine Verspannungen und dadurch bedingten Haltungsschäden und dann sagte er noch, dass er sich darauf freute, in der nächsten Woche, bei Henris nächster Massage dabei sein zu dürfen, wenn Kai davon so notgeil wurde. "Dann können wir uns hinterher zusammen darum kümmern, Baby. Aber ich freue mich auch total, dass du nicht wolltest. Das hatte mir schon Sorgen gemacht, als Felix so sagte, dass er seinem Bruder mal besser verbieten sollte, dich zu intim zu berühren."
Nachdenklich stellte Kai seine Füße an die Wand hinter seinem Bett auf und blickte seine Zehen an. "Ich wollte das echt nicht. Es wäre nur doofes Runterholen gewesen für ihn und für mich. Wenn du nicht dabei bist, will ich das nicht. Ich hab gesagt, dass ich jetzt treu bleibe und dabei bleibe ich jetzt auch und Basta!"
Jan lachte fröhlich vor sich hin: "Dann ist es ja gut, dass ich das auch bin. Treu, und der Meinung, dass ich dabei bleiben will. Die Mädels hier sind sowieso alle nicht so die Wucht und andere Jungs... ne, ehrlich immer noch nicht mein Ding."
"Na danke! Du sollst nicht aus Mangel an Gelegenheit treu sein, sondern weil du an mich denkst!"
"Ich denke immer an dich. Wir gehen jetzt noch zum Kegeln, bis morgen, ja? Hebb di leev."
"Was heißt das, verdammt?!"
"Ich liebe dich, Kai." Jans Stimme klang von einem Augenblick auf den anderen ernst.
"Oh. Du... fehlst mir. Total."
"Bis bald, mein Baby."
Mit dem Handy an die Brust gepresst wühlte Kai sich unter seine Bettdecke und schlief erschöpft ein. Was für ein schrecklich schöner Tag das gewesen war.
122
Der Wecker am anderen Morgen machte Kai klar, dass seine selbstauferlegte Zeit der vielen Arbeit begann. Eine Extrarunde Frühdienst. Müde schleppte er sich in die Dusche und ins LPP. Ohne Bastian an seiner Seite war er den schnippischen Kommentaren und Launen der beiden Kellnerinnen am Morgen ausgeliefert. Da er selber gern zickig wurde und ihnen übellaunig Kontra bot, zankten sie sich durch zwei Stunden am Morgen. Vor allen Dingen, weil die Mädchen sich weigerten, die Tische vorn neben der Bar abzuräumen und Kai das auch verweigerte. Zu seinem Glück kam Leon kurz vor Mittag und stellte erneut klar, dass Kai in der Bar zu stehen hatte und nicht als Kellner eingestellt war. Mit einem passenen Overlord-Spruch sorgte er für Geschäftigkeit bei den Mädchen. Den restlichen Tag döste Kai hinter dem Tresen mehr oder weniger im Autopilot weg.
Der Abend gehörte allerdings nicht mehr ihm allein. Lolli hatte ihn schon am Morgen auf dem Handy attackiert und sich für die nächste Runde Chemiesession am Monsterbett angekündigt. "Aber, meine Maus, es geht nur noch um die Effekte. Die Lasur ist fertig wie sie jetzt ist, und ich glaube, dass sie ganz gut geworden ist. Ich schau dann bei dir auf der Arbeit vorbei und hole mir deinen Schlüssel raus."
Ermattet nickte Kai das ab und war in Folge dann seinen Schlüssel los und musste Lolli einen teuren Kaffee ausgeben. Als er am Abend an der eigenen Haustür klingelte, um von Lolli reingelassen zu werden, stand auch der rote Bulli gegenüber in einer Parkbucht.
In der Wohnung war dementsprechend so einiges los. Lukas war gemeinsam mit Benni beschäftigt, das Bett wieder zusammen zu setzen, als Kai verwundert hinter Lolli her durch den Flur ging. Das Monster sah noch immer monströs aus, aber lange nicht mehr so hässlich. Eher wie eine leicht unterkühlte und zugleich barocke Lustwiese. Den Ausdruck hatte Lolli dafür gefunden.
Um nicht doof daneben zu stehen, bezog Kai die Matratze und die Kissen und Decken neu. Es roch noch nach Farbe, weswegen das Gestell noch eine Nacht so bleiben sollte. Die Matratze ließ Kai im Wohnzimmer auf den Boden, damit sie den Farbgeruch nicht annahm.
Als sie mit dem Aufbau fertig waren, verabschiedete Benni sich. Er deutete auf eine CD, die er Kai auf den Schreibtisch gelegt hatte. "Das sind meine fertigen Projekte. Magst du mir bei Gelegenheit mal sagen, was du davon hältst?"
Unsicher blickte Kai zu Jans Computer rüber. "Soll ich das jetzt gleich schnell machen?"
Irgendwie hektisch schüttelte Benni den Kopf. "Nein, ich bin mit Renate zum Rollenspiel verabredet. Bitte schau es dir irgendwann in Ruhe an." Er stand schon in der Wohnungstür, als er sich noch einmal zurück drehte. "Und... ehm, nicht ausrasten, ja?"
Kai starrte ihm hinterher, die Tür fiel ins Schloss. "Nicht ausrasten? Moment mal!" Mit schnellen Schritten lief Kai nun doch gleich zum Computer, während Lukas und Lolli hinter ihm kichernd in Jans Alkoholschrank wühlten. Dort waren fast ausschließlich die merkwürdigen teuren Obstbrände und Whiskeys von Hannah zu finden. Ein paar Flaschen Prosecco für Lolli-Notfälle, und natürlich Kais Gin, der jedoch recht selten gebraucht wurde.
Kai schnappte die CD von seinem Schreibtisch und startete Jans Computer. "Lolli, wir haben Prosecco im Kühlschrank, oder was sucht ihr?"
Lolli kicherte noch viel mehr und hielt eine Flasche ans Licht. "Du musst gleich mal was Alkoholisches haben, Maus. Zur Beruhigung."
Kai kämpfte gegen den Computer und fragte eher abgelenkt. "So? Warum? Was ist passiert? Hast du was kaputt gemacht?" Er fand die CD und öffnete die Bilder. Im nächsten Moment legte sich Lukas' Hand auf seine Schulter. "Du musst jetzt sehr stark sein, Engelchen. Hier, du magst doch Gin-Tonic, nicht?"
"Hm. Viel Eis, bitte." Kai betrachtete sich und Lena in eine Autowerbung eingebettet. Interessant. Lena trug das lange weiße Kleid, das irgendwie in den Kühler des Wagens überzugehen schien. Er klickte weiter. Sein Gesicht war für eine Art Buchcover verwendet worden, auf dem nächsten Bild war er mit Henri zusammen zu sehen, die Umgebung vollkommen verändert, das war die Sache von der Homepage. Kai erinnerte sich an das Gefühl von Henris Händen auf seinem Rücken und klickte hastig weiter. Er auf der Flucht vor der wilden Horde. Jetzt nachbearbeitet rannten sie über einen Strand und Benni hatte ein FKK-Schild hinein gebastelt, schönen Sand, Dünen und ein Meer. Es war noch lustiger als zuvor und Kai grinste und nippte an dem Getränk, das Lukas ihm nahezu imperativ hingehalten hatte. "Hey, ist der nicht etwas stark geworden?" Er klickte weiter und ließ fast das Glas fallen.
Lukas grinste ihn an. "Geil, oder?"
Kai starrte, ballte eine Hand zur Faust, starrte wieder. "Ich bringe Benni um! Scheiße!" Er sah sich selber nackt auf dem L vom LPP liegen. Dieser verdammte Benni hatte sich nicht um seine Wünsche gekümmert und ihn einfach für die Idee verwendet.
"Aber, Kai. Sieh es mal so. Das Foto ist hammermäßig geworden, Bennis Idee auch. Schaut extrem sexy aus, ohne dass man zu viel sehen kann. Ich meine von deinem Körper sieht man nur die Seite und das Gesicht."
Kai stöhnte auf und starrte das Bild an. Die Buchstaben waren sprudelnd gefüllt. Er wurde von einem feinen Dampf verklärt, sein Gesicht war aber gut zu erkennen und auch, dass er nackt war. Lena im P daneben sah sehr schön aus, durchgestylt mit ihren weißen Haaren und der dunklen Haut. Kai nahm sich vor, ihr noch einmal zu sagen, dass sie sich den schönen Rücken nicht mit so einem Tattoo kaputt machen lassen sollte.
Grummelig klickte er weiter und sagte gerade "Ist dann ja man gut, dass er das nur so ausprobiert hat und nicht etwa Leon ge... geben." Er starrte das im Prinzip gleiche Bild an. Dieses Mal waren die Buchstaben rosa, genau wie Lenas Haare. Stylisch, witzig... eine absolute Unverschämtheit! Kai blinzelte, klickte weiter und trank von seinem Glas, ohne es zu merken. Es folgten die Farben gelbgold, hellgrün, hellblau, violett und silber. Und immer ansonsten er, nackt, auf dem scheiß L, dazu Lena mit passender Haarfarbe. Das war nicht zu fassen. Was noch schlimmer war, war Kais Verdacht, dass das bedeuten musste, dass Benni ihre Abmachung missachtet hatte.
Er ballte eine Hand zur Faust. "Ich töte Benni!" Verdammte Scheiße, das war noch untertrieben, er würden Benni zu Tode massakrieren.
Lukas lachte sich kaputt, Lolli umarmte Kai einmal und rief ihm zu laut ins Ohr "Maus, das ist nur sein Versuch, dich doch noch zu überreden. Er hat all diese Bilder auch noch mal mit Henri gemacht und dann hat er sogar Lena noch auf das L gelegt bekommen. Geh mal weiter. Da! Siehste?"
Lolli hatte recht. Es waren auch noch Bilder von Lena, womit sie dann zweimal im Bild war, was irgendwie auch eine total geile Idee darstellte. Und dann gab es die komplette Serie natürlich samt Henri auf dem L, aber irgendwie bekam Kai das üble Gefühl nicht los, dass Benni ihn erpressen wollte. Mal wieder. Auf Mitleidstour.
Lolli bestätigte dies indirekt, indem er, eher schon wieder an sein Handy gewandt, sagte: "Benni hat sich mit dem LPP-Projekt wahnsinnig angestrengt. Ich glaube, dass er an deinen Bildern allein einige Nächte gebastelt hat. Er war jedenfalls total manisch, der Süße."
Kai fuhr den Computer ermattet wieder runter und sah zu Lolli zurück. "Wie stehen die Dinge in der WG mit ihm? Er scheint ja total cool zu sein mit der London-Neuigkeit."
Lolli seufzte abgrundtief. "Ja. Er ist auf der Oberfläche total cool damit, meint auch immer mal wieder so Sachen wie 'ich bin doch schon drüber weg' und 'war halt eine Phase. Tut mir leid, Lolli'. Aber vorgestern Abend hat er mir die Hölle heiß gemacht, weil ich mich derzeit wieder gelegentlich mit Frank treffe und er mitbekommen hat, dass wir uns gut verstanden haben auf dem letzten Date. Und es kommen immer wieder so ätzende Sprüche zu Geoffrey. Dass der unzuverlässig ist und wir nicht zusammen passen und so."
Lukas ließ sich auf dem Fußboden neben dem Monsterbett nieder "Du bist wieder mit Frank ins Bett? Als Abschied, oder was sollte das werden?"
"Ach, Lukel, weiß ich doch nicht. Jetzt hat Frank schon gemeint, dass er sich in die Beratungsfiliale nach London versetzen lassen kann. Er meinte, dass wir dann dort zusammen ziehen sollten, uns wieder... zusammen finden."
"Und was willst du? Willst du echt wieder mit ihm was anfangen? Und was wird aus Jiffi?" Neugierig betrachtete Lukas ihn.
Kai drehte sich auf dem Bürostuhl zu den beiden zurück und sagte unter Gähnen. "Nichts gegen euch, aber die Frage wird Lolli doch eh nicht klären, bis er in London ist. Könntet ihr jetzt gehen? Ich muss morgen arbeiten und außerdem kommt morgen Jan zurück. Dafür will ich hier noch vorbereiten." Unsicher sah er sich um. Vorbereiten war eine nette Umschreibung für Panikputzen, damit Jan ihm nicht gleich zur Begrüßung eine Ansage verpasste.
Lolli verabschiedete sich auf diese Bitte hin in Warpgeschwindigkeit, indem er sich von Frank auf dessen Rückweg von der Arbeit abholen ließ, um Benni auszuweichen. Lukas blieb leider. Er ging ins Wohnzimmer rüber und nahm sich auch ein Glas, füllte es mit Eiswürfeln und goss, Kai in die Augen blickend, Gin darüber.
"Was wird das, wenn es fertig ist?!"
"Gin und Tonic, in der Reihenfolge." Er gab einen kleinen Schwups Tonic auf die Geschichte drauf und nippte einmal.
"Warum?" Kai holte den Staubsauger aus ihrem Dielenschrank und frimelte den Stecker hervor. "Willst du mir beim Putzen helfen?"
"Weswegen machst du mit Felix und Henri Therapie?" Lukas lehnte sich gegen Kai und hielt ihn mit einem Arm vom Staubsauger fern, mit dem anderen reichte er Kai sein Getränk an.
"Wegen der Motorradgeschichte."
"Henri macht deswegen Therapie mit dir?"
"Jein. Er hilft mit."
"Henri macht doch aber nicht... sein Ding mit dir, oder? Du weißt schon, Intimmassage?" Lukas' Blick wurde lauernd und dunkel. Es legte nahe, dass er sich das gerade bildlich vorstellte, und Kai wandte sich hastig dem Dielenschrank zu, um nach ihren Putzutensilien zu kramen.
"Nein! Natürlich nicht! Einer muss halt dabei bleiben, sonst hyperventiliere ich und fall um. Sonst macht Jan das immer, der ist diese Woche nicht da." Und Kai hatte keinen Bock, von Henris weiterem Anteil an der Therapie zu berichten.
"So schlimm?"
Kai stellte seufzend den Putzeimer und Kloreiniger ab, schnappte sich sein Glas und wich Lukas auf die Terrasse aus. Müde ließ er sich auf die Gartenliege fallen. Die Polster waren von der Nachmittagssonne noch aufgeheizt und angenehm. Mit einem Mal fühlte Kai sich komplett ausgelaugt. Er wollte sich zusammenrollen, die Augen schließen und nichts mehr sehen und hören und nicht an die Motorräder denken.
Lukas ließ ihn nicht. "Hat dich der Überfall echt so mitgenommen? Ich mein, ich könnte es verstehen. Ich erinnere mich noch, wie Lolli damals war. Voller Angst, depressiv ohne Grenzen, gar nicht sein lustiges Selbst von vorher... wenn man seinen Freunden glauben darf. Ich habe ihn leider nie so kennen gelernt. Carl meinte mal, dass seine Lolita aus den Berliner Zeiten in der Nacht totgeschlagen worden ist."
Erschaudernd blickte Kai ihn kurz an. Lolita, ja. Es war tragisch und schade, dass er Lolli zu seinen Bestzeiten vor der ekeligen Prügelaktion nicht hatte kennen lernen dürfen. Hastig umging er das traurige Thema. "So fühle ich mich nicht. Es ist nur... eine komische Sache, so dumpf und irgendwie... versteckt macht es mir unheimlich Angst, wenn ich im Dunkeln Motorräder höre."
"Warum? Hat der Überfall der Autoknacker etwas in dir geweckt? Ich frage es mich. Du bist so kühl, unpersönlich, Frauen machen dir Angst, Dunkelheit, Intimität... alles macht dir Angst, nur der Wauwau ist die Ausnahme, nicht wahr?"
Blinzelnd starrte Kai Lukas an und trank seinen Gin-Tonic. Das Glas war kühl in seiner Hand, Feuchtigkeit lief vom beschlagenen Glas außen in seiner Hand zum Handgelenk. Erschaudernd stellte Kai das Glas ab und starrte Lukas an.
Der stellte ebenfalls sein Glas ab und zog Kai mit einem Arm an seinen Körper. "Ich meine, dass ich irgendwie nicht glaube, dass du von dem einen Überfall so extrem reagierst und zugleich erinnere ich mich an all die Dinge, die Tini an dir beobachtet hat."
"Hört auf, immer über mich zu quatschen! Das nervt!" Aber Kai machte sich nicht frei, sondern bettete sein Gesicht auf Lukas' Brust. Die kräftigen Finger gruben sich in seine Locken. Die Fingerspitzen fühlten sich kühl an und Kai erschauderte.
Lukas' Stimme unterbrach seine trägen Gedanken dumpf. "Ich frage mich nur, ob da etwas in deiner Vorgeschichte passiert sein mag, das dich traumatisiert hat, das du verdrängt hast. Etwas, das dich jetzt so belastet. Etwas, das raus will und dich krank macht."
Erschaudernd schob Kai sich an Lukas und suchte in seinen Erinnerungen nach einer Antwort. Er wusste es nicht, vielleicht war da etwas, ein böses Tier, das seine Krallen in seine Gedanken geschlagen hatte, das ihn kontrollierte, das sich versteckte und wie Gift wirkte. "Ich..." verzweifelt brach Kai ab. "Es... fällt mir nichts ein."
Lukas schwieg und Kai schloss die Augen. Dunkelheit. Die hatte ihm sonst keine Angst gemacht, in den Schrebergärten nicht, auf dem Schulweg nicht, in der Stadt auf dem Weg zur Arbeit auch nicht. Wieso tat sie es nun? "Dunkelheit war früher kein Problem für mich. Während ich im Altenheim gearbeitet hab auch nicht, da musste ich den Weg zur Arbeit oder nach Hause dauernd im Dunkeln hinter mich bringen."
"Hm. Erst seit diesem Überfall?"
"Ja. Seit dem, aber es war erst nicht so deutlich. Es ist über den Winter mehr und mehr geworden. Am Schluss hatte ich sogar hier in der Garage und im Gartenhaus Angst."
"Und wirklich erst seit dem Überfall?"
"Lukas. Ich weiß es nicht! Worauf willst du hinaus?" Kai schaffte es nicht, so aufgebracht zu klingen, wie er sich fühlte, daran war zu weiten Teilen das Kuschelgen schuld und zu kleinem Teil der Alkohol.
Lukas' Finger stoppten kurz, dann flüsterte er rau: "Ich hab so Angst, dass ich schuld bin, Kai."
"Eh?" "Die Sache im Bulli damals. Du hattest deinen Spaß, klar, aber als ich mit dir geschlafen hab, das war rücksichtslos. Ich hab dir wehgetan, ich hab..."
"Ach, hör doch auf!" Kai stützte sich auf und sah Lukas in das Gesicht. "Du hast mich zu derb angefasst und es war für mich kein sonderlich guter Sex, aber damit hatte es sich. Ganz ehrlich, so sehr kann das einen auch wieder nicht traumatisieren. Das Schlimmste daran war für mich wohl eher, dass ich so liebeskummerkrank war wegen Jan." Die Türklingel unterbrach Kai. Er zuckte zusammen, sprang dann eine Spur zu hastig auf und blickte über die Balkonbrüstung runter. "Lolli?"
Auf sein Rufen hin trat jedoch leider Tini einige Schritte auf den Weg zurück und blickte hoch. Abgrundtief seufzend ließ Kai sie rein. Aber Tini, die sich eher schon die Treppen hinauf geschleppt hatte, blickte kurz Lukas in das Gesicht und stockte. "Ich wusste nicht, dass du Besuch hast, Kai."
Kai sah zwischen den beiden hin und her. "Ich auch nicht. Ich hab Putztag, macht was ihr wollt!"
Lukas und Tini sahen sich an und Kai ignorierte die beiden und begann tatsächlich megamäßig unhöflich mit dem Staubsaugen und räumte danach seine Klamotten in den Schrank. Seinen Besuch sah er auf der Dachterrasse sitzen und reden. Vermutlich ging es um seine Macken oder vielleicht auch nur Flugzeugabstürze, Tini machte ein eher besorgtes Gesicht und ließ sich von Lukas umarmen. Die beiden waren leider noch da, als Kai nach nahezu zwei Stunden mit dem Putzen fertig war. Sie nippte von einem Tee und Lukas war bereits betrunken und schielte auf sein leeres Glas.
Kai stützte die Hände auf die Hüften. "So! Und jetzt?!"
"Ich wollte eigentlich mit dir reden, Kai." Tini stellte ihre leere Tasse in die Spülmaschine und blickte in der Wohnung umher.
"Ich nicht mit dir. Ich bin müde, hab morgen Frühschicht im LPP und ich..."
"Ist schon gut, ich weiß. Ich ruf dich an, okay?"
Lukas streckte sich. "Ich bleibe hier."
"Nein! Verdammt noch mal. Ich will meine Ruhe, ich will mit Jan telefonieren und ich..."
"… und du bietest mir netterweise mal Asyl an, weil ich betrunken bin. Ciao Bella", wandte Lukas sich von Kai an Tini und knutschte sie auf die Wange.
Sie lächelte ihn merkwürdig empfindlich an und ließ sich von Kai zur Tür bringen.
Er sah ihr knurrig in das Gesicht. "Sag bitte nicht, dass du schon wieder mit Holger Schluss gemacht hast, Tini. Heute will ich so etwas nicht hören!"
Sie schnüffelte ein wenig und zog die Schultern an. Dann schob sie sich an ihm vorbei durch die Tür, mit dünner Stimme sagte sie leise "Bis bald."
Hastig schloss Kai die Tür und wurde von Lukas aufgeschreckt. "Vielleicht solltest du doch noch mal mit ihr reden?" "Nein. Die soll mit ihrem Freund reden, wenn sie mal wieder wegen Bockmist gleich Schluss gemacht hat. Ich bin kein Puffer für Beziehungschaoten. Und was hast du jetzt für einen Auftrag?! Musst du mir unbedingt auf den Sack gehen oder was?"
"Ich bin mit Noppi zerstritten und will etwas Liebeskummer haben. Dabei wollte ich gern dich ansehen, du bist so niedlich und hübsch und..."
"Scheiße! Okay. Du kannst auf der Matratze schlafen, ich geh Zähne putzen." Noch ein Beziehungschaot, war ja klar.
Als Kai aus dem Bad kam, lag Lukas natürlich im für ihn naturgemäßen, halbnackten Zustand auf seinem Bett und sah geil aus mit der knappen Shorts. Einen Satz Kissen und Decke hatte er sich einfach von dem frisch bezogenen Zeug geholt. Nachdenklich knautschte Lukas das Kopfkissen und blickte Kai entgegen.
Nach einem abgrundtiefen Seufzen ergab Kai sich in den Blick und zog sich um, bevor er sich zu seinem Exfreund legt und harsch fragte: "Okay, was willst du?"
"Nichts. Nur nicht allein sein."
"Fahr zu deinem verdammten Noppi hin und vertrag dich mit ihm. Der ist total süß, total lieb und to..."
"Total langweilig. Ich steh auf süß und lieb, aber nach ein paar Wochen hab ich keinen Bock mehr. Ist wie nur noch Schokolade essen dürfen. Irgendwann hat man den Mist komplett über."
"Dann sollte Noppi dir wohl mal eine Szene machen, was?"
"Hm."
"Nein, echt jetzt. Dann könntet ihr Versöhnungssex haben. Ich selber hab Jan eine komplette Szene versprochen, als er gefahren ist, weil Tini und Holger total auf diesen Versöhnungssex schwören. Muss hammergeil sein." Sie sahen sich an und kicherten los.
"Versöhnungssex?"
"Hm. Klappt für Heten, geht sicher auch für uns." Kai lachte.
"Heten-hammergeiler Sex?" Lukas schüttelte den Kopf.
"Holgi-Baby und Tini-Mausi beim Versöhnungssex!" Kai prustete wieder los. Er fing sich. "Nein, nein. Im Ernst jetzt. Sie macht einmal pro Woche Schluss, was soll das sonst für einen Grund haben?"
Nachdenklich sah Lukas ihm ins Gesicht. "Sie braucht echt mehr Abstand von dir, Kai. Das denke ich."
"Da wär ich für, klappt aber nicht. Hat sie selber ja auch gesagt und ist nach einem Tag wieder bei mir aufgelaufen. Ich wundere mich, dass Holgi-Baby das mitmacht."
"Nö, wenn man die zwei zusammen sieht, sieht man doch haargenau, dass das was
Richtiges ist. Er hat sie nicht so gut im Griff, aber sie ist total scharf auf ihn."
"Bardo meinte, dass sie und ich auch harmonisch aussehen. Kann ich mir gar nicht vorstellen."
Lukas drehte sich auf den Rücken herum und betrachtete die Zimmerdecke. "Das Bambi. Ist voll in dich verknallt, hm?" Kai grummelte leise, dann nickte er. Der Ernst in Lukas' Stimme überraschte ihn im nächsten Moment. "Du bist bitte vorsichtig mit ihm. Er ist ja immerhin schon vierzehn, aber es ist rein rechtlich nicht so richtig okay, wenn du an einem unter achtzehnjährigen sexuelle Handlungen durchführst. Das Problem daran ist, dass Teenager laut Gesetzgeber nicht wissen was sie wollen und daher von über einundzwanzigjährigen jederzeit verführt werden können. Das wird als Ausnutzen eines Mangels an Selbstbestimmung bezeichnet. Ist strafbar."
"Eh? Wo kam das jetzt her? Ich habe mit Bardo nicht mal geknutscht und das werde ich auch nicht!" Gereizt starrte Kai Lukas an.
"Ich sag ja nur. Er steht voll auf dich und ich bin mir nicht sicher, was du tun würdest, sollte er dich mal in aller Freundschaft bitten, ihm... bei den Grundlagen auf die Sprünge zu helfen."
"Ich helf dir gleich! Und zwar auf den Flur raus! Ich glaube, es geht los, Lukas. Bist du total bescheuert? Bardo ist voll das Teenager-Pestkind!"
"Und du stehst auf ihn." Es klang kindisch und eifersüchtig, fast hätte Kai wieder gelacht. Doch zugleich war es ein Stück weit die Wahrheit. Es war wirklich so, dass Kai Bardo absolut klasse fand. Teenager oder nicht, Bardo war eine Persönlichkeit, die Kai seit einigen Wochen bewunderte und ein Mensch, den er sehr gern hatte. Er nickte leicht und seufzte dann. "Aber ich steh auf ihn als Person, aus dem Sexwinkel hab ich ihn noch nie betrachtet und das passiert mir sicherlich auch nicht so schnell."
Lukas grinste ihn an und nickte einmal: "Glaub ich."
"Hä? Was soll das nun wieder heißen?!"
Lukas hob die Hände und grinste noch immer. "Nur, dass du eben momentan niemanden als Wauwau ansabbern, abknutschen, anfummeln..."
"Ja, und? Ist doch normal, wenn man verknallt ist, oder?"
"Nein." Lukas schüttelte den Kopf. "Bei mir nicht. Ich war mit Felix zusammen, mit ihm war ich mir sicher. So sicher, dass ich meinem Bruder und Lena und meinen Eltern von dem Schwulsein erzählt habe... in der Reihenfolge. Aber wenn ich ins Subzero bin, in die Sauna, ins Internet oder sogar ins blöde Stroboskop, da war ich am Anfang schon nur körperlich treu, mit dem Kopf, mit meinen Gedanken nicht. Da war ich immer auch bei Felix auf der Jagd."
Nachdenklich betrachtete Kai sein Gesicht. "Das ist mir zu anstrengend, Lukas. Das Subzero allein neulich Abend. Neunundzwanzig flache Anmachen, ich hab mich... unwohl gefühlt dort, fast bedroht, eben gejagt. Ich bin vermutlich kein Jäger wie du, sondern ein blödes Reh, wenn ich ausgehe."
Lukas zupfte ihm mit zwei Fingern eine Haarsträhne hinter das Ohr. "Mein Bambilein, siehste, deswegen magst du den Bardo so gern. Ihr seid von derselben Art und Rasse." Kai lachte auf, doch dann fragte Lukas nachdenklich: "Und von welcher Art ist Jan?"
Vom Thema leicht genervt warf Kai sich in sein Kissen zurück. "Von der merkwürdigen. Er ist schwul, ich bin mir irgendwie sicher. Aber er liebt Fußball und er schaut noch immer gern den Mädchen auf den Busen. Das ist echt gewöhnungsbedürftig."
"Nö. Wo ist er jetzt merkwürdig?"
"Na, komm schon. Er steht auf Sex mit mir, ich seh keinen Busen, wenn ich in den Spiegel schau! Außerdem..." unsicher blickte Kai an seiner Zimmerdecke entlang. "… außerdem mag er laut seiner Aussage außer mir keine anderen Jungs."
"Wie du. Hast du das nicht eben gesagt?"
"Nein. Ich hab eben gesagt, dass ich kein Interesse an Sex mit anderen habe, dass ich treu bin, ohne darunter zu leiden, Lukas. Das heißt nicht, dass ich mich nicht gern mal an der Uni umsehe, wenn einer dieser niedlichen Typen mit Scaterhosen halbnackt auf dem Rasen liegt, oder..."
"Das stimmt. Jetzt wo du es sagst. Frag ihn doch mal, auf welchen Typ er so steht."
Verzweifelt raufte Kai sich die Haare. "Das ist es ja! Dann zeigt er mir so eine Assel mit tüchtig Bug, wie er immer sagt. Scheiße, das ist bizarr, oder?"
"Dann frag ihn, auf welchen Typ Mann er steht."
"Dann sagt er, dass er auf mich steht und wechselt das Thema."
"Und du lässt ihn einfach davon?"
Kai nickte und gähnte. "Natürlich lasse ich ihn. Ich glaube fast, dass es seine Schutzschicht ist und nix weiter."
"Schutzschicht? Hat Felix dich jetzt mit dem Psychomist angesteckt oder was?"
"Hör mal zu. Jan spielt an vier Tagen in der Woche Fußball, in einem Verein, der ihn dafür bezahlt, wenn es auch nicht viel Geld ist. Ich hab das mal im Internet nachgesehen. Schwule Fußballer gibt es nicht in normalen Profiteams. Sie existieren offiziell nicht. Schwulenfeindliche Sprüche, die findet man in dem Bereich aber total oft, die gehören dazu. Wenn ein Verein verliert, sind das die Schwuchteln. Wenn ich da allein an die rosafarbenen Trainingstrikots in Jans Verein denke. Jan hat Wochen darunter gelitten, dass die bei ihm im Verein Schwuchtelhemdchen hießen."
"Aber das sind dumme Sprüche, wie Blondinenwitze, wie... keine Ahnung... so kleine Schutzbehauptungen. Es muss nicht immer etwas dahinter stecken, Kai. Ich hab mir in der Abteilung auch den einen oder anderen echt miesen Spruch abgeholt, als ich mich geoutet hab, aber seit dem sind alle doch sehr entspannt damit umgegangen. Meine beiden Partner kommen gut mit mir klar, unsere Sekretärin auch."
"Fußball ist nicht die Polizei. Da sind mehr Emotionen im Weg, da geht es ganz anders zur Sache. Jan hat nichts gesagt, aber ich hab das mitbekommen, wie er oft unter den Witzen leidet, die er selber letztes Jahr noch gemacht hat." Kai zuckte mit den Schultern. "Fußball ist ein total körperbetonter Sport und dann sind da nur Männer, eine große Zahl, die sich gern mal in den Arm nehmen, wenn sie ein Tor feiern. Haste mal die Spiele gesehen? Wie die sich übereinander wälzen, schaut das doch aus wie ein Vorspann in einem Softporno, fehlt nur noch Fahrstuhlmusik."
Lukas lachte glucksend und schien sich das vorzustellen.
Hitzig schloss Kai. "Wenn diese Jungs dann mit einem Mal hören, dass einer von ihnen das nicht brüderlich-freundschaftlich sieht, dann werden die unangenehm. Mein Vater ist deswegen doch auch voll ausgetickt, als er das mit mir gesehen hat. Es hat ihn irgendwie bedroht. Ist es nicht total verständlich, dass Jan das nicht sonderlich ansprechend findet?"
"Psychoscheiße. Ich sag es ja. Felix hat dich angesteckt." Lukas streckte sich, sehr zu seinem Vorteil und fuhr sich mit den Fingern in die Haare. "Klär das mit Wauwau, der steht doch auf solche Unterhaltungen. Ich bin jetzt so langsam echt müde."
Kai blinzelte auf seinen Wecker. Die Weckzeit war schon auf sieben Uhr eingestellt, Frühschicht im LPP. Leider zeigte der Wecker schon nach elf Uhr an. Aber er konnte noch nicht schlafen gehen. Er hatte noch einen Plan, der ausgeführt werden musste. "Lukas, gib mir mal dein Handy."
"Willst du jetzt Noppi anrufen, oder was? Ich kann Verkuppeln nicht ab, Kai!"
"Nein, wenn du zu dämlich bist, den zu behalten, ist das dein Ding... vielleicht solltest 'du' ihm eine Szene machen, damit es wieder interessanter ist."
Ungemütlich ruckelnd gab Lukas zu "Hab ich doch. Hab die totale Diva gegeben vorhin."
Kai prustete los. "Echt jetzt?"
"Hm. Einmal mit alles, Kai. Scheiße, war das peinlich. Er hat sich noch bei mir entschuldigt."
"So ein Idiot! Her mit dem Handy!" Und im selben Moment, in dem Kai die Nummer wählte, klingelte es an der Tür. Lukas ging im Hintergrund grummelnd durch den Flur, um den Störenfried, hinter dem er ganz stark einen heulenden Lolli vermutete, herein zu lassen.
Kai lauschte auf das Freizeichen, nach drei Mal ging Benni ran. "Bei Lorenz und... "
"Hör mal zu, Benni! Wenn du diese Bilder auch nur ansatzweise weiter rumreichst oder sogar Leon zeigst, werde ich dich töten, vorher vierteilen, hinterher reanimieren, damit ich dich noch kastrieren und massakrieren kann, klar?! Dagegen wirst du dich zu deiner verdammten Pancreatitis zurück sehnen!"
Nach kurzer Stille fragte Benni vorsichtig "Kai?"
"Wer sonst, du Arsch! Wir hatten eine Abmachung, verdammt noch mal!"
"Kai, das ist so passiert mit den Bildern. Ich bin total depri, weil Lolli hier alle fünf Minuten singend irgendwelche Sachen packt, von Jiffy schwärmt und von dessen süßer Wohnung und von dessen süßen Freunden und den Clubs in London, von seinen Plänen, vom geilen Shopping... und nie, aber auch nie komme ich einmal darin vor."
"Dann klär das mit ihm!"
"Ich brauchte etwas Schönes, um mich damit aufzubauen, etwas, das mir das Gefühl gibt, dass ich nicht so ein wertloser Fußabtreter bin, auf dem man Stepptanzen übt. Die Fotos von dir sind so wahnsinnig gut geworden, so genau was ich mir gedacht und vorgestellt hatte... es ist so über mich gekommen."
"Dann hör damit jetzt endlich auf, Benni..." Das Selbstmitleid nervte, aber zugleich konnte Kai irgendwie auch nachvollziehen, dass es nicht leicht war mit Lolli in seiner rücksichtslos freudigen Art. Er selber erinnerte sich nur zu gut an die ersten Monate des gemeinsamen Lebens. Wenn Kai vollkommen erledigt von der Arbeit gekommen war, müde, ausgekühlt, mit schmerzendem Rücken und nichts, auf das er sich freuen konnte. Dann war er über einen singenden Lolli gestolpert, der ihm über eine Stunde mit Details erzählte, wie romantisch sein Frank gerade wieder mal gewesen war. Lolli hatte nun einmal das Feingefühl einer trächtigen Nashornkuh.
Benni redete noch immer, Kai hatte ihn mittlerweile ausgeblendet, weil das Thema irgendwie zu technischen und langweiligen Aspekten der Fotos gewechselt war. Die Wohnungstür schwang auf und darin stand Noppi. Und der war augenscheinlich hochgradig bereit, Lukas die ersehnte Szene zu bieten. Zumindest heulte er.
Kai blinzelte, dann unterbrach er Benni. "Ich muss auflegen, Benni, wehe du machst was mit den Bildern. Ich will mich nie wieder mit dir darüber unterhalten müssen. Ist das klar?!"
"Hm..."
"Ist das klar, hab ich gefragt?!" Nachdem Benni grummelig etwas von 'Klar und okay und ist ja gut' gemurmelt hatte, legte Kai auf und starrte zwischen Noppi und Lukas hin und her. Noppi trug Jeans und T-Shirt und Lukas nur seine Unterhose. Das war ja schon mal ein nicht so guter Start. Im nächsten Moment begann Noppi tatsächlich damit, Lukas zusammen zu scheißen und, leider sehr verheult, anzuschreien.
Kais Hirn sprang sofort in den Miepmodus, während er an den krakelenden Typen vorbei hechtete und die Wohnungstür schloss. Lukas war zum Glück ein absoluter Experte im Zickenbändigen. Kein Wunder, dass er auf dergleichen stand. Er mochte augenscheinlich das Erfolgsgefühl der Ruhe nach dem Sturm. Mit glühend begeistertem Blick wurde Noppi nach allen Regeln der Kunst erst angestachelt, bis er komplett hysterisch wurde, dann von jetzt auf gleich in einer Umkehr der Argumente und Sprüche von zuvor in großzügigen Schritten wieder runter geholt und endlich versöhnt.
Kai saß im Schneidersitz auf dem Hocker im Wohnzimmer und beobachtete den Meister bei der Arbeit. Nach etwa einer Stunde und zehn Päckchen von Kais Taschentüchern sowie zwei weiteren Gin und Tonic saßen Noppi und Lukas auf Kais Bett und kuschelten und knutschten. Jedenfalls dachte Kai sich das so. Er hatte sie aus dem Wohnzimmer geworfen und in sein Zimmer gestopft, hatte die Tür zugeknallt und sich samt seinem Wecker ins Wohnzimmer auf die Matratze gelegt und schlafend gestellt, bis er tatsächlich eingeschlafen war.
In der Nacht wurde Kai davon wach, dass er mal musste und verfluchte den blöden Alkohol zum Abend. Als er durch den Flur an seinem Zimmer vorbei tappte, sah er die Tür offen stehen. Es war warm in der Wohnung, vermutlich hatte Lukas sie deswegen geöffnet. Kai blickte rasch in sein Zimmer und konnte Lukas und Noppi liegen sehen, zusammengekuschelt und friedlich schlafend. Lukas' kräftiger Arm hatte sich um Noppis Schulter gelegt. Wie um ihn nicht mehr zu verlieren, hatte er seine Finger fest um die Hand seines Freundes geschlossen. Sie waren beide nackt, soweit es zu sehen war, was Kai in seiner Vermutung bestätigte, dass Lukas sich nun auch mit hammergeilem Versöhnungssex auskannte.
Grinsend verkroch Kai sich auf seine Matratze zurück und vermisste Jan wie irre. Es war wie Bauchweh mittlerweile und das T-Shirt, das er sonst hatte nehmen können, roch schon lange nur noch nach seinem eigenen Shampoo. Das nagende Gefühl des Vermissens, schlimmer noch als Heimweh, hielt ihn erneut eine ganze Weile wach.
Er musste irgendwie doch eingeschlafen sein, denn das nächste, das ihn weckte, war Noppi, der durch das Wohnzimmer an ihm vorbei schlich, um auf der Dachterrasse telefonieren zu gehen. Kai streckte sich, stellte den Wecker aus und setzte Kaffee auf. Als er dabei war, den Milchvorrat zu beäugen, stand Noppi mit einem Mal hinter ihm.
"Hey. Das tut mir alles so leid."
"Was?"
"Dass ich hier so dramamäßig eingefallen bin gestern."
Kai verschränkte die Arme, dann schüttelte er den Kopf. "Das war gut so. Lukas braucht Zickenterror, hat er mir selber so gesagt. Sonst wird ihm das zu langweilig." Kai reichte seinem Namensvetter einen Becher mit Kaffee und stellte Milch und Zucker auf den Küchentresen. "Ich muss bald zur Arbeit."
Noppi warf einen Blick auf sein Handy. "Ich muss um neun dort sein. Kann ich dich mitnehmen?"
"Schon okay. Weck mal lieber Lukas auf. Kann sein, dass der auch arbeiten muss."
"Nö. Er hat Bürotag, da hat er immer Gleitzeit oder nimmt freitags oft auch Überstundenfrei, wenn er keinen Bock hat."
"Der hat es vielleicht gut, so hätte ich das auch gern mal." Unsicher streifte Kai den noch reichlich zerknittert wirkenden Noppi mit einem Blick. "Habt ihr euch vertragen?"
Noppi nickte leicht. "Wir... fahren das Wochenende zu seinen Eltern. Ich hab voll Angst bekommen deswegen, und so ist der ganze Streit entstanden."
"Lukas hat eine Art, zu schnell zu sein, die nicht nur dich nervös macht. Aber ich kann dich beruhigen. Ich war bei seinen Eltern Zuhause, und es war total nett. Das Essen war gut und die Stimmung auch. Die sind komplett damit einverstanden, dass Lukas Schwiegersöhne anschleppt und nicht Schwiegertöchter."
"Es hörte sich alles so altmodisch an und irgendwie konservativ."
"Was hat Toleranz mit konservativ zu tun? Ich kenn total viele Leute, die modern sein wollen und null tolerant sind, sobald mal wer nicht genau so leben und sein mag wie sie. Ich geh denn mal duschen."
Und in der Dusche stolperte Kai über Lukas und verschränkte die Arme. "Zieh Leine, Lukas! Ich muss mich für die Arbeit fertig machen!"
"Ich dusche nur schnell, dann hol ich Brötchen für uns. Es ist doch noch früh. Ich fahr dich zur Arbeit rum." Und pragmatisch und notgeil wie Lukas nun einmal war, duschte er gemeinsam mit Kai und seifte ihn einen Hauch mehr ein als nötig. Locker wie Noppi immer noch war, ließ er die Chance auf eine Szene deswegen verstreichen. Genervt wie Kai war, zickte er dafür umso mehr. Damit hatte Lukas sein Zickenterrorkonto sicherlich wieder gut gefüllt und zog nach Brötchen, Kaffee und einigem Geschmuse mit seinem Freund fröhlich von dannen zur Arbeit. Noppi und Kai packten gemeinsam noch die große Matratze in das neue Bett. Noppi war sehr begeistert von der Stylewunder-Liegewiese und Kai war sehr genervt von dem vielen unerwünschten Besuch.
Kai ließ sich zum LPP kutschen, gab Noppi noch einen teuren Kaffee mit auf den Weg, weil er extra früher losgefahren war und arbeitete sich sehr fröhlich durch seine Schicht. Leon war nicht da, Bastian war wieder da und Henrike kellnerte fleißig umher, die Arbeit lief ruhig und harmonisch vor sich hin. Der Duft von frisch gemahlenem Kaffee und dem neuen Toast mit Käse und Rosmarin machte Kai gute Laune.
Auf dem Rückweg fand er in einem Einrichtungsladen silbergraue viereckige Kerzen in einer silbernen Schale, die komplett zu ihren Möbeln passten und total heruntergesetzt waren. Er kaufte sie sofort von seinem Trinkgeld und kam gerade in der Wohnung an, als Jan ihn anrief und sagte, dass er bald losfahren würde. Kai drückte sein Handy einmal kurz an sich, bevor er sich in die Dusche stürzte. Jan würde endlich zurück kommen. Er freute sich so sehr! Es war wie Schluckauf, er konnte nicht mehr damit aufhören. Nichts konnte ihn noch an diesem Tag noch umhauen... dachte er zumindest.
123
Kai hatte sich geduscht, seine Haare hinbekommen und perfekt aufgeräumt. Jan hatte ihn vor einer guten Stunde kurz angerufen, dass er losfahren würde, aber vermutlich durch den Wochenendstau ein Weilchen brauchen konnte. Es war also noch Zeit. Weil es bereits etwas dämmrig wurde, zündete Kai gerade die vier dicken silbergrauen Kerzen auf ihrem Couchtisch an, als es doch schon klingelte. Er drückte den Summer, hechtete in sein enges schwarzes T-Shirt und sah im Bad noch einmal in den Spiegel. Er freute sich so auf Jan, dass es kribbelte. Kai gab es zu, er hatte sich für seinen Freund hübsch gemacht, und die Sache war ziemlich gut gelungen. Er hatte sogar die grüne enge Hose angezogen und die Kette mit der Blumenschnecke umgelegt.
Es klingelte gleich darauf noch einmal, offenbar hatte Jan den Schlüssel verkramt. Hastig rannte Kai nach vorn durch, um sich Jan an den Hals werfen zu können. Doch Kai blickte aus Reflex durch den Spion und öffnete die Tür erst einmal nicht. Es war nicht Jan. Es war Holger, in einer schreibunten Kombination aus orange und grün gekleidet. Zudem, Holger in latent aufgewühltem, vielleicht gar angetrunkenen Zustand. Die scheiß Tini hatte es ganz offensichtlich nicht hinbekommen, sich mit ihrem Freund zu vertragen. Nicht gut. Jan war nicht da, um seinen großen Freund zu beruhigen. Hysterisch überlegte Kai, ob er die Tür zulassen sollte, da rief Holger von der andere Seite. "Ich weiß, dass du da bist, Kai!"
Seufzend schloss Kai auf und wurde von dem großen Mann fast umgerannt. Holger stiefelte gleich mit ausgreifenden Schritten an ihm vorbei. "Hey! Holger, Jan ist nicht..." Kai blinzelte Holger hinterher und folgte ihm dann in die Küche. "… nicht da."
"Wir müssen reden, Kai!"
Kais Hirn miepte und ging in den Leerlauf. Holger war immer lustig und fröhlich gewesen, mit Tini zusammen sogar zärtlich, besorgt, lieb. Wenn sie mal wieder Schluss gemacht hatte, eher so ein trotteliges deprimiertes Etwas. In diesem Moment sah er düster aus und gefährlich. Unsicher tastete Kai sich voran in die Küche und rang um Worte. "Tini?", fragte er dann instinktiv.
"Aber hallo, Mann!" Holger kramte in ihren Küchenschränken rum.
Kai stöhnte auf. Tussis! Heteroprobleme. Na klar hatte diese dumme Else schon wieder Schluss gemacht und bekam es mal wieder nicht allein hin. Er konnte an diesem Abend sowas von nicht darauf! "Suchst du was?"
"Wo habt ihr den Alkohol, Mann? Die richtigen Sachen?"
"Im Kühlschrank ist noch Bier und ich habe..."
"Wir brauchen gleich was Stärkeres. Bin extra mit dem Taxi hergekommen."
Kai starrte Holger verwirrt an. "Aber was ist denn los?"
"Tini hat Schluss gemacht."
"Ach, Scheiße!" Also wirklich. Diese Versöhnungsgespräche zwischen Tini und Holger begannen Kai auf den Geist zu gehen. Allmählich wollte er nicht mehr einspringen.
Holger winkte ab. "Vorgestern schon. Will nicht sagen, wie oft wir die Routine schon durch haben, Mann. Sie macht irgendwie immer sofort Schluss, wenn was ist. Ich muss mich dann mühsamst mit ihr vertragen, sie aufbauen, oder auch mal ausschimpfen. Und ein paar Mal hab ich ja schon dich gebraucht, um sie wieder runter zu holen, das ist ein Mist! Der Versöhnungssex war große Klasse jedes Mal, aber so langsam ging es mir auf den Zeiger mit dem Hin und Her."
Holger ging auf Kai zu und lehnte sich an die Terrassentür an. Er seufzte und ließ sich daran herab rutschen, bis er am Boden angekommen die Beine ausstrecken konnte. "Vorgestern hat sie mir dann einen Grund genannt für diese Heiß-Kalt-Dusche der letzten Wochen."
"Okay." Es war eigentlich nicht okay. Kai wollte sich zu Ende vorbereiten, weil Jan gleich wieder da war.
Holger war seiner Meinung. "Nein! Nichts ist okay!"
Kai starrte ihn abwartend an. Endlich hob Holger den Kopf und murrte. "Sie ist schwanger."
"Ach du Scheiße! Ausgerechnet!"
"Das Physikum schreibt sie natürlich mit. Ist jetzt im dritten Monat, oder auch... zwölfte Woche." Abwartend blickte Holger ihn an und Kai blinzelte davon verwirrt zurück. Endlich sagte Holger wie für Blöde. "Es macht mir nichts. In den letzten zwei Tagen ist mir das klar geworden. Oder sagen wir mal so, es würde mir nichts machen. Herrgott, ich bin bald dreißig, und es würde mich, verdammt noch mal, sogar freuen! Aber 'zwölfte Woche', Kai!"
"Ja?"
"Bist du müde, oder auch schon betrunken?"
"Wie?"
"Rechnen ist doch sonst kein Problem für dich. Mann, ich bin mir sicher, dass sie dir mit allen Details alles erzählt hat, als wir das erste Mal miteinander geschlafen haben. Die erzählt dir doch sonst immer alles." Er fuhr sich mit den Fingern beider Hände in einer verzweifelten Geste durch die kurzgeraspelten Haare und seufzte. "Es ist nicht von mir, verdammt!"
Kai blinzelte Holger dumm an. Er rechnete als nächstes mit Blick auf Jans Fußballkalender rasch im Kopf das Datum nach und erlitt eine Herzattacke. "Ach. Du. Scheiße!"
Holger lachte kurz auf, dann nickte er. "Genau das hab ich auch gesagt, nur irgendwie hab ich jetzt ein Problem. Sie will nicht mehr mit mir reden. Hat mich sofort rausgefeuert, geht nicht ans Handy, oder ans Telefon, antwortet nicht auf meine Mails. Außerdem hängt Renate in der WG rum wie ein Geier. Die ist sowas von Anti-Männer, kaum zu ertragen. Verdammt noch mal! Ich fühle mich so hilflos. Ich kann ihr in dieser Situation tatsächlich nichts mehr vorschreiben, nichts von ihr verlangen. Sie hat... das waren ihre Worte... extra genau so lang gewartet, es zu sagen, dass es zu spät ist für eine Abtreibung. Sie hatte wohl Angst, dass ihre Eltern oder sogar ich das von ihr verlangen würden. Oder wer auch immer daran schuld ist."
Kai kaute auf seiner Unterlippe und war nicht fähig zu reden.
Holger erkannte den Zustand als Schock an und schob sich an der Fensterscheibe wieder hoch. "Du brauchst was Starkes, denn jetzt will ich sehen, Alter! Du weißt es, du weißt hundert Prozent alles. Von wem, wann, wie, wieso!"
Kais Hirn miepte nicht einmal mehr, so sehr in Panik war er. Er wich an die Fensterscheibe zurück und beobachtete erstarrt wie Holger in ihrem Alkoholschrank wühlte. Endlich löste er sich und kniff die Augen einmal fest zusammen. Heiser verlangte er "Whiskey-Cola." und wankte mit unsicheren Schritten auf unangenehm weichen Beinen zum Kühlschrank.
Holger hob den Kopf, betrachtete ihn mit kritischem Blick, dann nickte er und holte einen der teuren Whiskeys von Hannah aus dem Schrank. Die Cola war zwar warm, aber Kai drückte mechanisch Eiswürfel aus dem Eiswürfelbeutel und füllte einige in zwei Whiskeygläser. Endlich schleppte Kai sich mit seinem Glas zur Fensterfront und ließ sich daran herunter rutschen. Er trank einen Schluck und empfahl Holger "Hol die Flaschen lieber her. Kann sein, dass wir nicht mit einem Glas auskommen."
Und so war es. Kai brauchte allein ein halbes Glas, um sich so weit zu beruhigen, dass er Holger berichten konnte, wie Tini ihm von ihren Gefühlen erzählt hatte, damals nach der Silvesterfeier. Bis zum Ende der Geschichte war das erste Glas leer. Hastig schob Kai noch nach, dass Tini keine schönen Erfahrungen mit dem Sex gemacht hatte, was sie ihm, gegen seinen Willen, auch hatte aufdrängen müssen.
Noch schaltete Holger nicht, sondern schenkte nach und meinte locker "Sie hat erwähnt, dass etwas schief gegangen war, weswegen Sex schwierig ist für sie. Hatte was mit dem dämlichen Ex zu tun, auf den ihre Eltern so stehen. War auch echt nicht so leicht, sie zum Jubeln zu bekommen, Mann, das kann ich dir sagen. War es aber voll wert. Wenn sie erstmal in Gang ist, dann..."
"Danke, too much information, Holger!"
Hastig nippte Holger von seinem Glas und fragte ablenkend "Und dann?"
"Hm. Hat sie nie erzählt, was und wie es schief gelaufen ist?"
"Nein. Wollte sie mir später mal erzählen, dann hat sie immer abgeblockt."
"Okay." Kai leerte die zweite Mischung zur Hälfte und schüttelte sich von der Kohlensäure. Die Miep-Abteilung in seinem Hirn war ausreichend betrunken, um den Bolero zu miepen. "Ich erzähl dir das besser mal von Anfang an."
Holger nickte mit schwerem Kopf und schenkte nach. Kai erzählte das, was Tini ihm über ihr erstes Mal erzählt hatte. Danach waren sie beim dritten Glas angekommen und Kai nippte nur noch, war schon blau genug.
"Das war ja wirklich der totale Horror. Jetzt wird mir einiges klar. Und dann?"
Kai berichtete zuerst wie er Tini nach dem Silvesterfest über seine Vorliebe für Männer und seine Abneigung gegen Frauen aufgeklärt hatte. Er fuhr dann fort, unangemessen ausführlich über das Wochenende bei der Meierschen zu erzählen, als sie gemeinsam geduscht hatten. "Dabei ist ihr aufgefallen, dass ihr mit meinem Körper nicht kalt wird, wie sonst mit den Jungs. Deswegen ist sie im Februar zu mir, weil sie auf dich abgefahren war, aber Angst vor Sex mit dir hatte."
Er ging dazu über, Holger von Benni zu erzählen, von der Chance auf ein zweites Leben, von dem Eindruck, dass Benni zumindest diese Chance nicht genutzt hatte in seinem Leben. Nicht richtig. "Allerdings muss man jetzt sagen, dass Benni für meine Begriffe der einzige ist, der wirklich jede Chance in seinem Leben ergreift, wenn auch auf falsche Art. Ist schon nervig mit dem, wie rücksichtslos der sein kann." Die Bilderintrige hatte Kai Benni noch nicht verziehen. Sie hatten jeder die dritte Mischung durch.
"Und wann wird das jetzt mal interessant?" Holger beäugte die Flaschen, aber schüttelte sich und spielte stattdessen mit den Eiswürfeln und seinem Rest Mischung.
"Wir haben Whiskey-Cola getrunken und zwar nicht wenig."
"Ja. Ach. Das werden wir bereuen, Mann."
"Nein! Nicht wir... Tini und ich, im Februar. Sie hat mir von ihrem ersten Mal das erzählt, was ich dir erzählt habe. Und dann hat sie mir gesagt, dass ihr mit allen anderen Jungs immer kalt geworden war. Dass sie Sex nicht mit einem Mann, nicht einmal mit einer Frau hatte haben können. Sogar das hatte sie schon probiert. Sie hatte nun Angst, dass sie nie Sex haben kann und hatte sich eine spezielle Schocktherapie überlegt."
"Moment... spul noch einmal zu der Sache mit der Frau zurück."
"Sie ist doch mit Lena total befreundet. Lena Kramer."
"Ja. Kenn ich, ist ziemlich ausgeflippt."
"Mit der war sie im Bett. Um auszuprobieren, ob das Problem mit der Panik nur bei Jungs ist, oder auch bei Mädchen."
Holger starrte Kai an. "Oho..." Er lachte betrunken und nicht unzufrieden. "Die haben... haben die zwei...?"
Kai verzog gereizt den Mund. Scheiß Heteros! Immer gegen Schwule lästern, aber kaum taten mal zwei Frauen was miteinander, waren alle Heteromänner voll am Sabbern. "Idiot! Es muss was gewesen sein, sie klang sehr unglücklich darüber. Sonst wäre sie jetzt auch nicht schwanger sondern lesbisch!"
Holger hob seine beiden Hände beschwichtigend. "Sorry."
"Sie hat sich nach etwas über vier Whiskey-Cola getraut, mir von der ganzen Sache zu erzählen. Ich hatte am anderen Morgen einen kompletten Schädel. Schlimmer als je zuvor, um es ehrlich zu sagen und die Megagrippe aus der Hölle."
"Whiskey-Cola ist keine gute Idee. Gleich morgen stimmst du mir zu... und ich mir selber auch."
"Ich stimme jetzt schon zu." Kai überlegte, ob sie noch Aspirin rumliegen hatten. Da Holger ihn gespannt angummerte, stöhnte er leise auf und endete irgendwie hektisch "Und dann hat sie mir gesagt, dass ich es deswegen mit ihr tun soll, weil sie so auf mich steht, ihr bei mir nicht kalt wird und so weiter, und so weiter." Kai kippte den letzten Schluck runter, knallte sein Glas hin und verschränkte die Arme. 'Scheiße!'
"Hmhm." Holger leerte sein Glas auch. Sie schwiegen eine ganze Weile. Endlich schenkte Holger ein. Cola pur. "Und dann?"
"Wie und dann? Das wars!"
"Moment! Mal! Das war es? Und woher ist sie jetzt schwanger?!"
"Hallo?! Sie hat mich gebeten, mit ihr zu schlafen! Sagte ich doch!"
"Und?"
"Und ich hab das gemacht... nee, eigentlich hat sie alles gemacht. Ich hab betrunken rumgesessen."
Holger schüttelte den Kopf. "Nach fünf von diesen Dingern? Im Leben nicht, Mann!"
Kai sah das Glas an, dann raffte er, was Holger meinte. "Das hat Tini auch gesagt. Aber ich war noch nie zu betrunken dafür. Ich kann immer."
"Bitte? Ach du heilige Scheiße! Ich kann jetzt nach drei nicht mehr. Das ist sicher."
"Und ich wäre jetzt froh, wenn es mir auch so ginge!"
Und irgendwie raffte Holger erst in diesem Moment, was Kai schon seit einer Stunde wusste. "Ach. Du. Scheiße!"
"Sag ich doch!"
Holger schüttelte den Kopf und schenkte ihnen nach. Whiskey pur.
Zutiefst besoffen lehnten sie eine Weile später vor der Terrassentür aneinander. Kai hatte Holger mit nachlassenden Sprechfähigkeiten alles noch einmal von vorn erklären müssen. Zur Sicherheit hatte er eingeflochten, dass er dabei die Augen geschlossen und an einen Mann gedacht hatte, weil sonst bei ihm gar nichts passiert wäre.
Holger hatte ihn zwischendrin besorgt, dann belustigt, dann wieder irgendwie besorgt angesehen. Eine Lösung konnten sie jetzt nicht mehr finden. Dafür waren sie zu besoffen. Angeekelt starrte Kai auf die Whiskeyflasche und lechzte nach dem Wasser, das in der Kühlschranktür stand. Leider bekam er nicht mehr genügend Gleichgewichtsorgane zur Kooperation zusammen, um aufzustehen. Die Miepabteilung tanzte mit der kompletten Abteilung für Abartigkeiten Bolero in seinem Kopf und der erste Hauch des Katers zeigte sich hinter seinen Augen. Im nächsten Moment hatte er aber sowieso ein anderes Problem.
Es rappelte an der Tür und Holger und Kai blickten sich an. Sie dachten beide sehr ähnlich etwas in Richtung 'Scheiheise Jaaahan.'
Der kam in guter Stimmung durch die Tür, seine große Sporttasche am Griff in einer Hand über der Schulter haltend und schaut mit freudigem Grinsen in das Wohnzimmer. Als er Kai und Holger aneinander gelehnt erblickte, stockte er und seine Brauen zogen sich zusammen. Kai hätte fast gelacht. Jan war eifersüchtig? Auf Holger? Dann fiel ihm ein, dass er mit seiner Begeisterung für diesen Freund nicht hinter dem Berg gehalten hatte. Holger war aber auch genau das... auch für ihn, ein Freund.
Diesem Motto treu lehnte Holger sich noch etwas dichter und nuschelte "Ich verrate nischt. Muschduschelber...", was es eher schlimmer machte. Außerdem brannten die Kerzen auf dem Couchtisch noch immer vor sich hin und verbreiteten so eine Art Romantik, und er hatte die verdammte grüne Hose an! Scheiße, Jan war frisch rasiert und sah so lecker aus.
Jan hatte ausgezeichnete Ohren. Er trat einen Schritt dichter, es sah latent aggressiv aus. "Holger?"
Kai schaffte es mit Mühe, sich an der Scheibe hochzuschieben. "Tiniischhschwanner."
"Hä?"
Kai sammelte sich, konzentrierte sich und meisterte den senkrechten Stand. "Tini. Isst...isstschwanger."
"Was die Tante isst, ist mir egal! Was?!"
Holger stand ebenfalls auf und ließ sich gleich wieder auf der Bank am Esstisch fallen. "Schwanger."
Jan stellte eine Wasserflasche auf den Tisch. Die Sporttasche noch in einer Hand haltend, machte er ein latent mitleidiges Gesicht. "Das mit der Verhütung besprechen wir dann noch mal, wenn du nüchtern bist, Holger!"
Holger und Kai hechteten gleichzeitig nach dem Wasser, Holger gewann. "Nich von mir." Holger nahm die Wasserflasche und trank sie auf Ex. Es dauerte eine ganze Weile, aber er setzte nicht ab.
Kai schleppte sich derweilen taumelnd in die Küche und fügte erklärend hinzu "Schwölfte Woche." Sein Blick huschte unruhig zum Gesicht seines Freundes, dann drehte er sich zum Kühlschrank und klaubte auch für sich ein Wasser raus. Allerdings wurde ihm in dem Augenblick auch schon schlecht. Sein Magen schwappte unangenehm. Scheiß Whiskey-Cola!
Jan tat gern blöde, aber sein Hirn war auf Zack. Kai zuckte zusammen, als die Sporttasche mit dumpfem Laut auf dem Dielenboden aufprallte. "Ach. Du. Scheiße!"
Holger grinste, dann lachte er laut. "Hat Kai auch geschagt."
Kai drehte sich in Zeitlupe zu seinem Freund um, unglücklich überlegte er sich, wie er aus dieser Falle rauskommen konnte. Der Abend hatte für ihn jedenfalls aus Paniksaufen, einem gemiepten Bolero und einer innerlichen Urschreitherapie bestanden.
Jan hingegen war sowohl nüchtern als auch sein kurioses Selbst. Er zog sich den Pullover aus und ließ sich am Tisch nieder. "Und jetzt? Warum seid ihr so betrunken?"
"Ischschollte..." Kai hielt sich den Bauch und kniff die Augen zu. "… erzählen, wer es war." Hastig torkelte er ins Bad und verbrachte die nächsten Minuten mit qualitativ hochwertigem Reihern, um den Scheiß Alkohol samt Cola wieder loszuwerden. Zu seinem Glück hatte er noch gar nichts gegessen, um Jan zum Essen in dem niedlichen Bistro bei ihnen auf der Ecke überreden zu können. Kotzen war immer der Untergrund. Hinterher fühlte er sich allerdings um Klassen besser. Fast schon wieder gut. Er trank das Wasser aus, das er sich mitgenommen hatte und sammelte sich allmählich.
Nachdem er ein frisches T-Shirt angezogen und sich ungefähr zehn Minuten lang die Zähne geputzt hatte, ging es schon wieder. Dann gurgelte er mit der medizinischen Lösung von Jan, die ihm durch den ekeligen Geschmack fast schon wieder Übelkeit bereitete. Als er in das Wohnzimmer zurück wankte, war Holger gerade dabei zu erzählen und auszunüchtern, und Kai fühlte sich auch auf gutem Wege dorthin.
Holger war bei der dritten Wasserflasche angelangt. Jan hatte gleich den ganzen Kasten aus dem Keller hoch geholt. Holger ging auch erst mal ins Badezimmer, allerdings nur zum Dauerpinkeln. Sein Magen war offensichtlich robuster.
Jan zog Kai mit einem Arm gegen sich und küsste ihn auf die Wange. "Armer Schatz."
Kai blinzelte ihn unruhig an. "Bist du nicht sauer?"
Jan lächelte. "Nein. Ich war sauer, als ihr es getrieben hattet, aber irgendwie konnte ich auch verstehen, dass sie zu dir hin ist. Darüber, was nun draus geworden ist, kann man doch nicht noch einmal sauer sein, Kai. Das hattet ihr nicht geplant."
"Hm." Der Abend verlief komplett anders, als Kai sich das vorgestellt hatte. Eigentlich hatte er vorgehabt, mit Jan in das Bistro zu gehen, dort rasch etwas zu essen und ein Glas leckeren Wein zu trinken. Wieder Zuhause hätte er die Türen und Fenster geschlossen, die Telefone ausgestellt und dann hätte er seinen Freund ins Schlafzimmer verschleppt. Jetzt war sein Leben mit einem Schlag irgendwie kompliziert und alptraumhaft. Ein Abend mit Jan im Schlafzimmer erschien weder angebracht noch möglich. Es machte ihm Panik. Rasch kämpfte Kai das Gefühl nieder. Er schmiegte sich hilflos an seinen Freund und murmelte betrunken an sein Ohr "Ich hab dich so lieb. Danke, dass du da bist."
Jan drückte ihn einmal und lachte. "Mein Baby. Du musst ja echt betrunken sein. Ich hätte im Leben nicht gedacht, dass aus der Nummer mit Tini mal eine Lebenslang-Geschichte wird."
Kai kniff die Augen zu. "Hör auf! Ich muss sonst gleich noch mal speien!"
Jan lachte. "Haste verdient."
Das fand die Abteilung Abartigkeiten im Übrigen ja auch und war gerade damit befasst, Tini eine Art Denkmal zu errichten. Abartiger würde vermutlich nie wieder jemand sein. Kai wurde wieder schlecht.
Jan blickte Holger entgegen und fragte nach kurzem Grübeln "Und wie ist das jetzt alles rausgekommen? Ist dir aufgefallen, dass sie dicker geworden ist oder was?" Er strich sich mit dem Finger über das Kinn. "Ich fand ja die Tage, dass sich am Bug was getan hatte, irgendwie hatte sie sonst ja nicht so viel in der Bluse."
"Hey! Lasch die Augen gradeausch, Bug und Heck an meiner Fregatte gehen dich nüscht an, klar?"
Jan grinste. "Kein Thema. Alles deins."
Holger trank noch mehr Wasser und erklärte Jan unter Irrungen und Wirrungen recht umständlich, wie Tini mit ihm Schluss gemacht hatte, und wie er dann nach ein paar Glas irgendwas auf die Idee gekommen war, Kai um Hilfe zu bitten. "Er hat dasch vorher auch immer... immer wieder..." Holger machte eine schwimmende Bewegung mit einer Hand. "Konnte janichahnen, dasch er... dasch er..." Verwirrt brach Holger ab und starrte Kai an.
Jan stand auf. "Ihr braucht erst mal eine Grundlage. Ich mach Essen."
Kai stöhnte auf. Das konnte ja nur heißen, dass Jan selber was essen wollte. Hastig stand er auf. "Lass mich!"
Holger lachte. "Besser is, du kannscht nich kochen, Jan."
Kai machte jedoch genau wie Jan das getan hätte Nudeln. Da er fest davon ausging, dass er den Morgen auch noch mit Kotzen beschäftigt sein würde, ohne Tomatensoße, dafür mit Ei und Schinkenwürfeln. Der derbe salzige Geschmack tat gut, beruhigte den über die restliche Cola wütenden Magen. Der Alkohol wurde von einer jammernden Leber in Überstundenarbeit abgebaut. Nach zwei Stunden, je zwei Tellern Nudeln, einem halben Kasten Wasser, vorsorglichen Aspirin und einer sehr mühseligen Unterhaltung über Tini und ihre Macken, waren Kai und Holger der Sprache wieder halbwegs mächtig. Jan hatte sich auf ihre Kosten schon ganz gewaltig amüsiert.
Aber immerhin war er sehr verständnisvoll, und weil Holger und Kai blau genug waren, um locker zu sein, durfte und wollte Kai auf Jans Schoß sitzen und sich trösten lassen und ankuscheln.
Mit einem Mal hob Jan den Kopf. "Aha! Deswegen ging es mit dir so gut, Kai! Natürlich! Ihr habt es ohne Kondom getan!"
Kai blinzelte trübe vor sich hin und lehnte sein Gesicht an Jans Schulter, dann seufzte er. "Gott sei dank. Wenn ich mir vorstelle, wir hätten die Nacht in der Notaufnahme verbracht... so ist doch vielleicht besser." Er bemerkte Holgers Gesichtsausdruck. "Oder nicht?"
Jan brach lachend zusammen und küsste ihn auf die Stirn. "Kai! Du bist... wirklich..." Er sprang auf und schob Kai vor sich her. "Jetzt geit dat schon wieder, ihr seid nicht mehr total duun. Kommt, auf geht das!"
Unsicher starrten Kai und Holger ihn an. "Was?"
"Zu Tini. Noch bin ich nüchtern und kann fahren und ihr könnt wieder vernünftig sprechen."
Kai flüchtete ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Jan tauchte hinter ihm auf, als er zwischen der blauen Jeans und der schwarzen Stoffhose abwog. "Wow, das Bett ist sehr geil geworden. Schade, dass wir das jetzt nicht einweihen können, Baby." Er lehnte sich an den Schrank und blickte ihn mit seinen lachenden Augen an. "Also ehrlich, Kai. Du hattest mir ja eine Szene versprochen, aber dass du dich so reinhängst... mit so einer Geschichte hab ich nicht gerechnet."
"Ich bin auch im Schock." Kai hangelte sich in die schwarze Hose und warf die grüne zur Wäsche auf den Fußboden.
"Was willst du jetzt machen?"
"Nichts." Kai sank auf dem Bett nieder.
"Nichts?!"
"Wenn sie wollte, dass ich was mache, hätte sie es dann nicht mal gesagt?"
Jan seufzte und rieb sich über die Augen. "Ich kann verstehen, dass sie nichts gesagt hat. Du bist total zickig, kannst Kinder total nicht ab und du bist total schwul. Da muss sie ja Angst haben vor der Aussprache."
"Hat sie jetzt gedacht, dass das nicht auffällt, oder was?!"
"Nein. Sonst hätte sie Holger nicht abgesägt, sondern ihm gesagt, dass es von ihm..."
"Der kann auch rechnen."
"Die vier Wochen... dann ist es eben früh dran oder so. Passiert doch dauernd."
"Meinst du? So ist Tini nicht."
"Vermutlich hat sie die ganzen letzten Wochen nichts anderes gemacht, als darüber nachgedacht, wie sie die Sache jetzt angeht. Allein das permanente Schlussgemache mit Holger. Ehrlich. Vermutlich kann sie ihm jetzt immerhin sagen, dass sie es versucht hat zu beenden."
Kai ließ sich auf dem Bett nieder. "Holger meinte, dass sie erst jetzt was gesagt hat, weil sie es unbedingt behalten wollte und Angst hatte, dass irgendwer, ihre Eltern oder Holger... oder sogar ich, ihr eine Abtreibung empfehlen. Gott, ist die hysterisch. Als ob da wer anderes eine Meinung haben dürfte!"
Jan warf sich neben ihn und schob seine Finger in Kais Haare. Sein Blick wurde weicher. Sachte küsste er Kai auf die Wange: "Der Schock von eben hat mir meinen eigentlichen Plan total ruiniert. Schön dich zu sehen, Baby. Du hast mir gefehlt."
Kai schloss die Augen und lehnte sein Gesicht an Jans. "Du mir auch. Total." Und es war noch untertrieben, gleich wie besoffen und schockiert er gewesen war, Kai hatte eine körperlich zu spürende Erleichterung bei Jans Anblick in der Tür durch sich durchrieseln gespürt und gerade jetzt, als sie sich berühren konnten, zusammen waren, beschloss er erneut, dass er Jan nicht wieder so lang weg lassen wollte. Nie wieder.
Jan dachte pragmatischer. Seine Finger hoben Kais Kinn an, sie sahen sich in die Augen, dann lachte Jan leise auf: "Hab schon gesehen. Du hattest deine scharfe Hose an. Deswegen war ich im ersten Augenblick auch so peinlich eifersüchtig."
"Gott, Jan! Du hattest doch angerufen, dass du losfährst! Natürlich war das für dich, für wen sonst?"
Jan belohnte Kais Planung mit einem weiteren Kuss. Holger beendete diese Unterhaltung, bevor sie zu angenehm werden konnte. Er lehnte sich um den Türrahmen und fragte leise "Meinst du, dass das eine gute Idee ist? Mann, sollten wir nicht vielleicht warten, bis wir morgen wirklich nüchtern sind und erst dann ausrücken?"
Jan sprang auf. "Auf keinen Fall. Dann traut ihr euch nix mehr, Kai und du. Ich hab außerdem morgen was vor und Tini hat sich dann schon viel zu viel ausgeheult bei den komplett falschen Leuten. Renate und Bianca zum Beispiel."
Holger machte ein entsetztes Gesicht. "Mann, beeil dich!"
Beim Autofahren musste man das zu Jan nicht sagen. Die dicke Seekuh schoss aus der Garage und durch die regennassen Straßen. Seekuh hatte Jan das Auto seiner Mutter genannt, weil es fett war und meergrün. Sie waren schneller als gedacht in der kleinen Einbahnstraße, in der Tinis WG lag. Nach schweigsamer Fahrt und schweigsamem Aufstieg in den fünften Stock, versperrte Renate ihnen erst einmal den Weg. "Holger, weißt du eigentlich wie spät... Jan?!"
Jan schob sich um Holgers Körper herum und grinste Renate samt ihrem Bärchenschlafanzug an. Er umfing ihre Schulter und nickte. "Wissen wir, Renate. Is schon spät. Mach dich locker und schieb ab ins Bett. Danke, dass du uns die Tür geöffnet hast." Er knutschte sie auf die Wange, was ihr einen roten Kopf bescherte.
Als auch noch Kai sich in den Flur stapelte und sie alle die Schuhe auszogen, also offenkundig länger bleiben wollten, schlappte Renate murrend in ihr Zimmer davon. Vor Tinis Zimmertür hielt Jan Holger auf. "Nicht du... du!" Er schob Kai an den Schultern zur Tür, dann zerrte er Holger mit sich. "Du kommst natürlich mit mir zur Küche. Da lang, oder?"
Kai ging zwar, aber erst einmal auf Toilette. In dem Mädchenbad begutachtete er missmutig die Auswahl Haarpflegeprodukte, rosa Rasierer, OB-Kartons und zweifelsfrei süßen Parfüms und seufzte sich durch die Pinkelaktion. Verspätet fiel ihm ein, dass im Stehen pinkeln sicherlich von Renate geahndet werden würde. Die war aber auch ätzend und spießig manchmal.
Bevor er noch Ärger bekam, weil Jan mitkriegte, dass er sich zu verstecken versuchte, tappte Kai zu Tinis Zimmer und ging hinein. Er schloss die Tür und legte den Kopf in den Nacken. Das Zimmer lag dunkel da, aber er hörte Tini oben rascheln, dann sagte sie mit ekelig verheulter Stimme. "Holger, ich..."
Da reichte es Kai. Diese dämliche Tante war schuld, dass sein Leben jetzt ätzend wurde. Und wie! "Tini, du hysterische, bescheuerte Kuh! Komm runter!"
Es war kurz still, dann klickte es leise und die Lichterkette am Bett erleuchtete die bunten Fische. Wütend starrte Kai hoch auf das Bett, sie beugte sich über die Brüstung. "Kai?"
Er verschränkte die Arme, der Alkohol verflüchtigte sich so allmählich jetzt schon. Oder er war zu sauer auf sie, um noch betrunken sein zu können. "Dachtest du, dass du mir Holger zuschieben kannst, nachdem du ihn psychisch voll alle gemacht hast, oder was?!"
"Holger ist zu dir?!"
"Zu wem sonst? Er kommt immer zu mir, wenn du mal wieder doof bist."
Ihr Kopf verschwand, dann kam ihre Stimme dumpf von oben. "Du kannst mir nicht helfen."
"Hab ich auch nicht vor. Komm runter!"
"Komm rauf."
Er blinzelte gestresst und fügte sich drein. "Blöde Tante", begrüßte er sie dann auch. Es war zu warm auf dem Bett und sie trug auch nur eine Shorts und ein ärmelloses Top. Misstrauisch beäugte er ihren Bauch und ihr entging der Blick nicht.
"Oh nein! Holger hat es dir gesagt?!"
"Er kann rechnen."
"Oh Gott."
"Ich kann auch rechnen." Unstet plumpste er auf das Bett.
"Bist du betrunken?"
"Natürlich! Dachtest du, dass ich 'das' ohne Alkohol aushalten kann? Außerdem dachte ich, dass Holger mich umbringt."
Tini seufzte und streckte sich aus, dann drehte sie sich von ihm weg.
Gereizt warf Kai sich neben sie, zerrte ihr etwas von dem Kopfkissen weg und verschränkte die Arme. "Spucks aus!"
"Ich weiß es schon, seit ich in der vierten Woche war." Sie seufzte und berichtete ihm dann, wie sie nach der Latexaktion zu ihrer Frauenärztin hin war, um sich Cortinsonsalbe aufschreiben zu lassen und um sich eine Überweisung zum Allergologen zu holen und natürlich für die Pille danach. "Ich hab meine Pille im Januar absetzen müssen und wollte auf ein Dauerprodukt umsteigen. Davor sollte ich mal drei Monate Pause machen, das wollte meine Frauenärztin so. Da Holger und ich sowieso mit Kondom anfangen wollten, war es auch... erst mal egal, dachte ich. Tja. Dann ist das Kondom gerissen und ich hatte diese schreckliche allergische Reaktion und brauchte die Pille danach für alle Fälle. Vor der Pille danach wird immer ein Test gemacht, weil man sie ja sonst auch als Abtreibungspille missbrauchen könnte. Und da... war der Test schwach positiv. Nichts Richtiges."
Mit einem Mal erinnerte Kai sich, wie Tini verheult und wirklich wirklich schlecht drauf in der Tür gestanden hatte. Er spulte in seiner Erinnerung zu dem Tag zurück und seufzte. Er hatte schon keinen leichten Tag gehabt mit Leons Krebstherapie und Lollis HIV-Hysterie. Das war dann ja kein Vergleich zu dem Scheißtag, den Tini gehabt hatte.
Sie bestätigte ihm das. "Das war vielleicht ein Scheißtag. Ich erfahre, dass mein Leben vielleicht zu Ende ist. Gleich nachdem ich diesen Unfall mit Holger hatte und fest dachte, dass mein Sexleben zu Ende sein muss. Und das genau in dem Augenblick, in dem ich mich endlich so richtig in ihn verknallt hatte. Erst war er ja nur ein toller Typ, der mir irgendwie fast schon Angst gemacht hat. Er ist so... Er war so... ernsthaft. Von der ersten Sekunde an hat er das so abgestrahlt. Da war nix mit 'wir sehen uns dann mal' oder 'wollen wir mal wieder was zusammen machen?' Holger war gleich so 'Das ist eine Beziehung, die ist wichtig. Du bist mir wichtig, nimm mich ernst'." Seufzend rollte Tini auf den Rücken und drehte den Kopf ein wenig. "Das ist stressig für mich gewesen."
Kai nickte und ruckelte sich gemütlicher zu recht. "Es ist fest und sicher. Wie es sich eben gehört."
"Was?"
"So ernsthaft, so ist Jan auch. Ich will es auf keinen Fall anders haben. Was Lockeres hatte ich mit Lukas und das ist gar nicht gut."
"Oh, Gott. Ja." Sie raufte sich die Haare. "Und ich hab eben davor Angst bekommen und zugleich hast du Recht. Ich fand es toll, was Festes zu haben. Außerdem finde ich Holger toll." Ihre Stimme wurde dünn.
"Das haste ja auf ganz super Art gezeigt, Tini. Wie schwachsinnig bist du eigentlich noch? Schluss machen, wieder was anfangen, wieder Schluss machen... und jetzt?"
Tini seufzte. "Erst bin ich gleich, nachdem es sicher war, der zweite Ultraschall schon war eindeutig, zu dir hin, um dich zu fragen, was du denkst. Aber es ist mir nicht gelungen, dich mal allein zu erwischen. Gott, hast du eigentlich immer Besuch da? Außerdem warst du superätzend, hast dauernd über Kinder gelästert und so."
"Natürlich! Dachtest du, dass ich jetzt hetero werde? Selbst wenn. Geil kann man das ja wohl nicht finden! Du hast sie ja nicht mehr alle!"
"Nein! Aber irgendwie... es war eine romantische Vorstellung, dass du dich freust."
"Auch gerade!"
Sie seufzte. "Erst wollte ich es unbedingt behalten, nur weil es von dir ist, dann wollte ich es unbedingt wieder weg haben, aus demselben Grund. Ich hab ganz lange Nächte durch mit meinem Bruder Torben gechattet und der hat mir von einer Abtreibung abgeraten, aber irgendwie war er zu weit weg. Du warst zu zickig und egoistisch und doof und... egal."
"Und?"
"Und ich wollte mich nicht von deinem Urteil abhängig machen... nicht noch mehr meine ich."
"Bist du doch gar nicht."
"Doch. Hättest du gleich am Anfang gesagt: 'heilige Scheiße, weg damit!' Ich hätte es gemacht."
Kai drehte sich auf die Seite und schloss die Augen kurz, dann sagte er leise :"Das hätte ich nicht. Es ist Mord, da bin ich gegen. Hättest du auch wissen können."
Tini starrte ihn aus dunklen Augen eine Weile lang an, dann blinzelte sie und biss sich auf die Unterlippe. "Scheiße. Tut mir leid, dass ich dich so falsch eingeschätzt hab." Sie seufzte leise, aber nahm ihren Bericht wieder auf. "Ich bin endlich zu Lena. Zum Glück war die komplett dafür, aber zugleich distanziert. Sie hat mir von ihren Erfahrungen berichtet und war super hilfreich. Sie ist mit mir zur Beratung hin, hat mich gezwungen, mich wirklich mit dem Thema auseinander zu setzen, eine Entscheidung zu treffen. Sie hat mich allerdings auch total lange vollgelabert von ihren verpassten Chancen und davon, dass sie jetzt vermutlich selber keine Kinder mehr wird haben können. War sehr... emotional die Sache. Sie musste mir schwören, dass sie dicht hält. Das war sicherlich nicht leicht für sie, aber hat hingehauen. Sogar bei der Fotoaktion hat sie nichts verraten. Und im Endeffekt hab ich versucht, herauszufinden, was mit Holger ist. Leider wurde das immer schöner mit ihm. Er ist so..."
"Danke, ich hab keinen Bock auf das Thema."
Tini murmelte etwas, das verdächtig nach 'Arsch' klang. "Im Endeffekt bin ich jetzt in der zwölften Woche gelandet. Jetzt ist eine Abtreibung nicht mehr drin und jetzt muss ich weiterdenken. Im Urlaub in Kanada wollte ich es meinen Eltern sagen. Torben hilft mir." Sie stützte sich auf. "Ich wollte es dir morgen sagen. Ehrlich."
"Jaja. Du bist total psycho! Und jetzt?"
"Hm. Und jetzt? Willst du ein Ultraschallbild sehen?"
"Nein!"
Aber Tini kramte schon ein hellblaues Heft hervor und hielt ihm den Papierausdruck vor die Nase. Ein helles Leselicht wurde angeknipst und nadelte sich durch die beginnenden Katerschmerzen in seinem Kopf. Kai stöhnte leise auf, dann nahm er das Blatt und blinzelte die verschwommenen Strukturen scharf. "Okay." Er drehte das Bild ein wenig, dann sah er es doch. "Ach du Scheiße! Da ist ja alles schon dran!"
Tini nickte. "Wahnsinn, oder?"
Er schielte mit ungutem Gefühl auf ihren nahezu flachen Bauch. "Ich hab Embryologie komplett auf Lücke gesetzt."
"Hm. Ich auch, bis vor ein paar Wochen." Sie lehnte sich dichter. "Und stell dir mal vor. Das war letzte Woche, da hätte ich es theoretisch noch umbringen lassen können."
Hastig gab er das Blatt zurück, dann schob er sich hoch, um sich aufzusetzen und sagte "Holger ist zu mir, weil er weiter mit dir zusammen sein will, Tini. Und das war, bevor er wusste, von wem das Ding hier ist. Gott weiß, wie er das aushält, du bist megabeknackt!"
"Ich weiß! Gott, ich weiß! Ich hab so Angst, dass es mit ihm irgendwie deswegen schief geht jetzt." Sie klopfte sich auf den Bauch und er kniff die Augen.
"Warte es doch einfach ab. Ich bin sehr dafür, dass du mal aufhörst, so ein Hormonschiff zu sein und mich mit deinem Scheiß in Ruhe lässt. Ich hab grade selber genug Sorgen!"
"Egoistenarsch!"
"Egoistenkuh!"
"Du blöder..."
"Hey! Ich erinnere daran, dass du mich rumgekriegt hast, und ich nicht im Geringsten mitgemacht hab. Zudem erinnere ich jetzt auch mal daran, dass wir froh sein können, dass es so gelaufen ist, sonst hätten wir die Nacht nämlich besoffen beim Notarzt verbracht. Dich hätten sie vielleicht nochmal nähen müssen. Und du hättest bis heute keinen Sex! Vielleicht nie mehr!"
"Das hier ist dir lieber?!" Sie wedelte mit dem Schallbild.
Er stockte und hob die Schultern. "Mir persönlich irgendwie schon. Und ehrlich gesagt, für dich ist es doch auch besser... immerhin hast du Holger und war der Sex mit ihm nicht mittlerweile so geil, dass du das jetzt regelmäßig machen willst?" Etwas tuckig wedelte Kai mit den Händen umher.
Sie kicherte leise. "Das ist auch wieder wahr. Danke noch mal dafür."
"Ganz ehrlich, was hab ich schon groß damit zu schaffen?"
Sie ließ den Kopf ein wenig hängen und seufzte. "Ja. Irgendwie haste Recht. Es ist ja eh nur mein Problem."
Renate klopfte an und stand mit auf die Hüfte gestützten Fäusten in der Tür. "Tini, wenn du Jungs abends zu Besuch hast, dann kannst du ja..."
Kai lehnte sich über die Brüstung vom Bett. "Hau ab, Renate! Wir besprechen was Wichtiges!"
"Ach ja?! Und in der Küche fressen Jan und Holger die Vorräte weg und trinken Bier und grölen rum!" Wütend stapfte sie davon.
Tini seufzte. "Renate ist total spaß frei und nervig. Seit Holger ihr mal nach dem Duschen auf dem Flur begegnet ist, nur mit Handtuch bekleidet, ist sie komplett spießig geworden, was das Thema Männer angeht. Dabei ist er doch nun echt geil gebaut. Sie hätte sich ja auch mal freuen können, dass sie was Vernünftiges auf die Augen kriegt."
Kai stöhnte auf, aber verfolgte eine weitaus schlimmere Sorge. "Scheiße. Jan trinkt Bier?! Scheiße! Bei seinem Tempo ist er mindestens beim dritten!"
"Ist okay, das gehört mir." Tini kletterte vom Bett runter.
"Nein, ist nicht okay! Wie sollen wir jetzt nach Hause kommen?!" Wütend hangelte Kai sich auf den Fußboden runter, aber Tini hielt ihn in der Tür auf. "Kai, was... ist denn jetzt?"
"Wie?"
"Na... hallo? Ich bin schwanger und ich..."
Renate tauchte auf wie eine Pop-up-Figur. "Du bist was?!"
Tini seufzte auf und ließ den Kopf hängen. "Scheiße."
Kai verzog den Mund, dann entschied er "Vertrag dich erst mal mit Holger, dann ist der Teil schon mal weg. Er ist eh scharf drauf, endlich mal nicht mehr dauernd Schluss zu haben und mit dir laben zu müssen wegen irgendwelcher Hormone oder so... obwohl er meinte, dass der Versöhnungssex große Klasse war."
Renate hustete und Tini wurde etwas rot. Nach dieser Rache wanderte Kai in die Küche. Holger trank Wasser und Jan kippte sein drittes Bier in sich hinein. "Erde an Idiot! Wie sollen wir jetzt nach Hause kommen?!" Kai stemmte die Fäuste in die Seiten, dann stieß er Holgers Stuhl mit dem Fuß an. "Geh dich aussöhnen, aber mach nicht zu doll. Renate ist eh schon auf hundertachtundachtzig."
Holger grinste breit und betrunken und umarmte Kai einmal fest, dann schob er ab zu Tinis Zimmer, vor dem Renate und Tini gerade dabei waren, das Ultraschallbild zu begutachten und hormonlastig rum zu kichern. Jan trat dazu und zupfte das Bild aus Tinis Fingern. "Hm." Er drehte das Bild unsicher hin und her, dann setzte bei ihm das Erkennen ein und er pfiff leise. "Alles schon dran? Embryo hab ich auf Lücke gesetzt."
Kai entwand ihm das Bild und giftete. "Bei dir ist es schon ein Wunder, dass du überhaupt was gelernt hast!" Er gab Tini einen derben Stoß in Richtung Holger und zog Jan zu sich. "Was machen wir jetzt? So kannste nicht mehr fahren und nun? Nach dem Krach mit Benni will ich nicht in die WG."
Tini ließ sich von Holger drücken und entschuldigte sich bei ihm, samt dieser ätzenden Babystimme. Zum Glück drehte sie irgendwo dazwischen mal den Kopf und verkündete. "Ihr pennt hier. Kein Problem."
Renate schnaubte, aber war von der Schwangerschaftsneuigkeit noch zu schockiert, um so richtig spießig zu werden. Sauer stob sie in ihr eigenes Zimmer davon.
Im Endeffekt schliefen Tini und Holger auf dem Gästesofa und Jan und Kai auf dem Hochbett, weil Holger sich weigerte, da hoch zu klettern. Als Tini nach Zahnbürsten suchen gegangen war, nuschelte er hinter vorgehaltener Hand "Mann, ich geh da nur rauf, wenn ich das nicht vermeiden kann."
Jan hatte mit dem Hochbett kein Problem, er zog sich noch unten bis auf die Shorts und ein T-Shirt aus und war in Sekunden hochgeklettert, als Kai noch damit kämpfte darüber nachzudenken, welche Klamotten er jetzt ausziehen sollte. Tini reichte eine Gästedecke rauf und Jan wedelte mit den Händen, als sie fragte, ob sie zwei Decken wollten. "Nö, werden wir nicht brauchen. Ist viel zu warm hier oben."
Kai, bereits bei Shorts und T-Shirt angekommen, hob die Brauen, aber folgte Jan dann kommentarlos hoch. Unten löschte Tini das Licht und tuschelte mit Holger rum. Es ging darum, dass sie sich jetzt wirklich nie wieder mit ihm streiten und Schluss machen wollte. Von seiner Seite aus bestand die Unterhaltung, soweit zu hören war, aus Entschuldigungen, dass er so besoffen war.
Kai konnte sich gleich darauf nicht mehr auf die Geräusche von unten konzentrieren, weil Jans Finger sich unter sein Hemd schoben und es ihm über den Kopf zerrten. Erst jetzt sah Kai, dass Jan sich auch von seinem T-Shirt befreit hatte. "Jan? Ist das so eine gute Idee?"
Jan lächelte und schob seinen Arm um Kais Schultern. Allein der Hautkontakt ließ Kai erschaudern, umgehend komplett willenlos schmiegte er sich dichter und lehnte sein Gesicht an Jans Halsbeuge. Gleich darauf umfing Jans Hand seinen Po mit festem Griff und zog ihn über sich. Sein raues Flüstern machte Kai Herzrhythmusstörungen und Gänsehaut. "Sch. Natürlich ist das keine gute Idee. Die Woche, das war zu lang. Ich kann nicht mehr, Kai. Ich will dich jetzt bei mir haben."
Kai seufzte leise, dann schmiegte er sich enger an Jan heran, sachte küsste er Jans Hals und Wange entlang. "Mir ging das auch so. Scheiß Tini."
Unter ihnen erzählte Tini Holger jetzt noch einmal eine etwas längere Version der Geschichte, die sie Kai erzählt hatte und Kai lehnte sich von Jan fort über die Treppe. "Hey, macht es euch was aus, in der Küche zu labern?"
Holger stimmte zu und führte Tini in die Küche ab, was ein absolutes Glück war. Auch wenn Tini zum Abschied kichernd sagte "Macht bloß nicht zu doll da oben, klar?"
"Du mich auch!", hielt Kai dagegen und erntete ein 'hmpf'.
Die Tür klappte und im nächsten Augenblick schob Jan seine Hand unter Kais Unterhose und zwischen seine Beine. Kai half hastig mit, sich auszuziehen und schob eine Hand zwischen sie, um Jan auch schon streicheln zu können. Gott, er hatte seinen Freund so sehr vermisst. Jan hatte Recht gehabt. Die Trennung war einfach zu lang gewesen, obwohl es doch nur diese eine Woche gewesen war.
Kai schob sich an Jans Körper entlang abwärts und küsste seinen Oberkörper, streichelte seine Seiten entlang, die geilen Bauchmuskeln und bis an seine Hüften. Er setzte sich etwas auf, stieß sich an der Decke den Kopf und fluchte leise über das Hochbett. So ein Scheißding. Kein Wunder, dass Holger das nicht abkonnte. Gleich darauf zerrte er Jan die Hose runter und umfing seinen Penis mit den Lippen.
Jan hatte sich frisch geduscht, er schmeckte noch ein wenig nach Seife und Kai lächelte. Dann war sein Instinkt ja richtig gewesen, was den Sex anging. Jan streckte sich auch sofort genießerisch und öffnete seine Beine. Kai ließ sich wenig Zeit, spielte nicht, sondern machte es Jan so direkt und schnell er konnte, streichelte sich selbst dabei und ließ ihn nicht entkommen, bis er kurz davor war und Kai schon warnend mit den Fingern in die Haare griff. Erst dann ließ er von Jan ab und kniff ihn sachte, pustete kalte Luft über ihn, um ihn wieder runter zu holen. Jan ächzte, schob seine Hände unwillkürlich zwischen sie, wollte sich selbst weiter berühren, aber Kai fing seine Hände ab. Mit den Lippen streichelte er über den angespannten Bauch und die Brust wieder zu Jans Gesicht hinauf, dann ließ er seine Hände gehen und legte sich auf ihn. "Nee, komm noch nicht", flüsterte er. "Dafür hab ich mich schon zu lang auf dich gefreut."
Jan stöhnte leise und etwas gequält auf, dann umfing er Kais Hintern und ließ die Finger zwischen seine Beine wandern, berührte ihn gleich darauf den Hoden entlang und drängelte mit der anderen Hand noch zwischen sie, um die Reibung fester zu machen. Sie küssten sich sachte, wie um sich wieder kennen zu lernen. Es machte Spaß, Jans Wangen und Hals zu erkunden, ihn erschaudern zu spüren. Jans Finger wurden forscher, seine Bewegungen drängender, aber er machte mit, ließ sich ablenken. Mit festem Griff gegen seinen Freund gepresst, konnte Kai sich diesem Drängen leider nicht mehr lange widersetzen. Nachdem er sich ein kleines Weilchen gesperrt hatte, weil er nicht so hektisch fertig werden wollte, schreckte Kai auf, weil auf dem Flur eine Tür klappte. Er gab Jans Händen nach und öffnete seine Beine weiter. Geschickt passte er sich an Jans Bewegungen an, rollte seine Hüften im Rhythmus gegen ihn und ließ sich vereinnahmen. Er ließ zu, dass Jan sich schneller bewegte und ihn hart an sich presste, bis sie beide kamen.
Es war ein Rausch, aber noch lange nicht genug. Wären sie Zuhause gewesen, wäre dies erst der Auftakt zu einer wirklich anstrengenden Nacht geworden, aber nun blinzelte Kai seinen Freund unzufrieden an, dann nahm er sich von Tinis Taschentüchern und schob sich etwas auf Abstand.
Jan ließ sich von Kai abputzen und knipste dann sogar das Licht an. Gähnend streckte er sich und sah unglaublich lecker aus. "Hm. Das war nicht genug, aber wir machen besser morgen weiter, sonst bekommen wir noch Ärger mit den Tanten." Er hangelte sich samt seiner Shorts auf den Boden runter, um sie unten nachlässig überzuziehen.
Kai suchte sein T-Shirt und folgte ihm wenig später wenigstens halbwegs bekleidet, um noch einmal auf Klo zu gehen. Er hatte sicherlich eine halbe Kiste Wasser intus und musste dauernd pinkeln. Schrecklich. Nie wieder Whiskey-Cola, nahm er sich jedenfalls schon einmal vor für sein Lebensmotto. Das endete einfach nicht gut.
Im Flur vor der Badezimmertür begegnete er Holger. Tini lehnte in der Küchentür und grinste. Sie blickte von Kai zu Holger und zurück. "Dürfen wir jetzt ins Zimmer kommen?" Kai zeigte ihr den Mittelfinger und sie lachte auf.
Endlich kam Jan aus dem Bad und Holger schloss die Tür direkt vor Kais Nase. Kai ballte eine Hand zur Faust. Er war einfach zu langsam gegen diesen Kerl! Jan aber umfing Kai mit einem Arm und küsste ihn auf den Hals. Tini trat näher und sah sie an. Sie blickte an Kai vorbei Jan ins Gesicht. "Tut mir leid." Ihre Stimme war mit einem Mal leise, klang schüchtern. "Jan, ich weiß, was ich dir versprochen hab, ich hab es sogar geschworen, aber..."
Jans Finger strichen über Kais Hals und zogen ihn gegen seinen kräftigen Körper zurück. Kai hätte das toll gefunden, wenn Tini nicht vor ihm gestanden hätte und wenn er nicht so sehr hätte pinkeln müssen. Jans Stimme klang nett heiser direkt an sein Ohr. "Dat is hüt 'n hitten Dag, sä de Hex."
"Hä?"
Jan lachte leise. "Schicksal, Tini. Wir können nichts daran tun."
Holger gab zum Glück das Bad frei und Kai hechtete auf Klo, bevor Jan und Tini sein Schicksal noch weiter ausführen konnten. Als er raus kam, standen sie noch immer alle im Flur, Renate leider auch. Sie starrte Kai und Jan kurz an, war rot im Gesicht und sauer und hatte mal wieder eine Faust in die Hüfte gestützt. Allerdings kam sie gar nicht mehr zum Meckern. Jan trat zu ihr und verwirrte sie mit seinem nackten Oberkörper offensichtlich ausreichend, um sie zum Schweigen zu bringen. Er grinste sie an, legte den Arm um sie und sagte "Hör auf so spießig rumzumeckern, Renate, das steht dir nicht. Wenn du so niedlich lachst, schaust du um Klassen besser aus." Er piekte ihr in die Wange. "Ich mag diese Grübchen total."
Renate starrte ihn verwirrt mit rotem Gesicht an und ließ sich zu ihrem Zimmer zurück schicken. Mal wieder sah Kai, warum Jan bei den Mädchen so gut durch kam, obwohl er nicht selten eine Nummer zu macho und auch ansonsten nicht gerade einfach war. Der Mann konnte flirten, ohne schleimig zu sein. Im Gegenteil war er auch noch schmerzlich ehrlich dabei. Das war echt nicht mehr feierlich.
Tini hustete leise, aber führte Holgi-Baby ab ins Zimmer und Kai und Jan folgten ihr. Oben auf den Bett zog Jan Kai das Hemd gleich wieder aus. Flüsternd schob er sich weiter durch und raffte Kai an sich. Es war definitiv zu warm auf dem Bett, die Decke brauchten sie gar nicht, wenn sie so eng zusammen lagen. Kai legte sich auf den Bauch und ließ sich den Rücken und Po streicheln. Er drehte gerade den Kopf und küsste Jan, als Tinis Kopf neben ihm an der Leiter auftauchte.
Kai zuckte zusammen, aber konnte nicht fort, weil es zu eng war.
Tini blickte sie kurz an, dann seufzte sie. "Ich brauch Schluffi."
"Hä?"
Holgers Stimme von unten brachte erklärend an "Wenn ihr ein Ding seht, das ausschaut als hätte ein alter Waschlappen mal was mit 'ner rosa Unterhose gehabt, dann ist das Schluffi."
"Oh Gott!" Kai drehte sich um, rollte damit über Jan, der das ausnutzte, um ihn anzufummeln, aber sah tatsächlich einen grau-rosa Lappen, der passend aussah. Mit spitzen Fingern hielt er den Tini hin. Sie schnappte das Teil und schob offenbar zufrieden ab.
Jan lachte leise "Schluffi... gut, dass sie dich nicht so nennt, Kai. Dann würd ich mir Sorgen machen. Echt."
"Klappe. Finger weg! Ich will schlafen!" Und das schaffte er dann auch erstaunlich gut. Jans Arm schob sich unter ihm hindurch und Kai umfing Jans Finger mit einer Hand, bevor er wegschlummerte.
Und als Kai am Morgen an Jan gekuschelt aufwachte und sich über einen nur eben spürbaren Kater freuen konnte, war die Welt fast wieder in Ordnung. Sein Magen war zumindest wieder mit ihm versöhnt und seine Augen schmerzten nicht. Er hörte Türen klappen und streckte sich eine Weile lang und rangelte rum, bis Jan wach wurde. Als er über die Brüstung linste, lagen Tini und Holger auf dem Schlafsofa aufeinander und knutschten rum. Holger hatte kein T-Shirt mehr an und war auch auf Entfernung betrachtet tatsächlich so richtig gut gebaut. Davon ab hatte er eine kräftige Hand unter Tinis knappe Unterhose geschoben und streichelte ihren Po. Hastig zog Kai den Kopf zurück und rief "Ich komme runter, hört mal auf mit was auch immer."
Unter dem unangenehm dröhnenden Lachen von Holger hangelte er sich runter und flüchtete ins Bad. Renate schlief offenbar nicht gern aus, ihr Schlafanzug war schon auf der Heizung drapiert. Kai warf seine Sachen dazu und duschte schnell, nahm Holgers Deo, das er in Tinis Schrank fand und putzte sich die Zähne noch einmal so tüchtig er konnte. Als er damit fertig war, war Holger auf und wollte Brötchen besorgen.
Ein wenig zerknautscht aber nicht unfroh kam Jan gerade herunter und brachte die Bettdecke mit. Als erstes riss er ein Fenster auf und pfiff mit dem Radio mit, das er auch schon angestellt hatte. Im nächsten Moment stürzte Jan sich in sein T-Shirt und schickte Holger duschen, um selber die Brötchen zu besorgen, damit er Bewegung bekam.
Tini schüttelte den Kopf. "Jan ist sowas von stressig morgens." Sie raufte sich die Haare und gähnte, dann führte sie Kai in die Küche ab und deckte den kleinen Tisch.
Sie hockten nebeneinander auf der Eckbank und warteten darauf, dass der Vollautomat sich aufgeheizt hatte. Endlich fragte Tini leise "Und? Was jetzt?"
Kai merkte an seiner Panik und schlechten Laune, dass er nüchtern sein musste. Am Abend zuvor hatte er die Situation deutlich besser im Griff gehabt. "Was erwartest du von mir?"
"Nichts."
"Gelogen."
"Ja. Nein. Ich erwarte nichts. Ich hab mir ein paar Sachen ausgemalt, gehofft und so, aber das war nur Wunschträumen. Erwartet hab ich nichts."
"Denn ist ja gut, mehr gibt’s nämlich auch nicht."
Sie knuffte ihn fies in den Oberarm. "Arsch."
"Nee. Ganz und gar nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du irgendwelche Hilfe brauchen kannst. Geld hast du viel mehr als ich, oder deine Eltern haben das wenigstens. Energie für so Sachen wie, keine Ahnung, was man halt so braucht, hast du auch. Und was fehlt noch?"
"Moralische Unterstützung?" Sie blickte ihn aus großen dunklen Augen an. "Ich meine, kann man sich in so einer Situation überhaupt freuen?"
"Das tust du doch. Sieht man."
"Echt?"
Er nickte unglücklich. Tini sah man so eine innere Hochstimmung an, die er immer der Verliebtheit zugeschrieben hatte. Jetzt wurde ihm ein wenig übel, sie so zu sehen.
"Aber... was ist jetzt mit Holger?"
"Musste eben schnell noch eins machen, mit ihm dann besser. Jetzt weißte ja wie es geht. Vier oder so Whiskey-Cola und los. Das heißt, gib ihm besser nicht so viel, er kann nach drei nicht mehr."
Sie lachte und lehnte ihren Kopf kurz gegen seine Schulter, dann stand sie auf und kämpfte mit der Kaffeemaschine und dem Milchschäumer. "Als ich das von der Ärztin gehört hab und sie mir den verdammten rosa Strich gezeigt hat, als ich ihr alles dann erzählt habe, da musste die so lachen. Die ist aber auch immer gemein. Mann war mir das peinlich." Tini stellte die ersten zwei Kaffee auf den Tisch und wandte sich wieder der Maschine zu. "Da komm ich für die Pille danach wegen der Kondomgeschichte mit Holger und dann bin ich schon schwanger, weil wir das ganz vergessen haben in der Nacht. Als ob ich so ein hurzdummes Mädchen bin, die von Verhütung keine Ahnung hat."
Nachdenklich sah sie Kai in das Gesicht. "Ich hab nicht aufgepasst, wir waren echt zu besoffen. Aber in dem Moment hat irgendwie nur gezählt, dass es ging. Dass du mitgemacht hast, dass du tatsächlich mitgemacht hast. Der Sex an sich war unwichtig, das Gefühl, dass du mich doch gern hast, war wichtiger. Das Wissen, dass du mich gern genug hast, etwas zu tun, das dir keinen Spaß macht. Das war wunderschön. Gut, mit dir zusammen sein zu können, das war auch sehr nett, auch wenn ich mich nicht sonderlich gut daran erinnern kann."
Kai seufzte und rieb sich die Augen. "Ich auch nicht... hatte das ehrlich gesagt auch schon längst wieder vergessen." Verdrängt war vielleicht eine bessere Umschreibung. Und so hätte er es auch supergern gelassen, in Vergessenheit, eine dumme Episode aus grauer Vorzeit.
"Nachdem ich meiner Ärztin das damals alles erzählt hab, meinte sie, dass ich es in Ruhe durchdenken und wieder kommen soll. Das hab ich dann. Als ich wiedergekommen bin, meinte sie, dass sie es auch durchdacht hätte und sie mir raten würde, es zu behalten, weil ich mich in meiner Erzählung schon aufgeführt hätte, wie jemand mit Sechser im Lotto."
Tini stellte die zwei anderen Kaffeebecher auf den Tisch und ließ sich neben ihm nieder. "Und du hast irgendwie Recht. Sie auch. Ich freu mich. Ich hab Angst und ich freu mich." Sie legte die Hände um den Becher und starrte hinein. "Solange Holger zu mir hält, kann es eigentlich nicht schief gehen."
Im nächsten Moment wurde sie von Holger angefallen und geknutscht, weil er den letzten Satz mitbekommen hatte.
Genervt wollte Kai sich aus der engen Küche winden, aber Jan kam auch noch hinein und befahl den beiden, sich mal zu benehmen. "Sonst fangen Kai und ich auch an und Renate ist gerade wiedergekommen, die hat dann einen Apoplex."
Jan schlang sein Frühstück runter und meckerte, dass kein Tee zu bekommen war. Dann sah er auf die Uhr und schimpfte rum, dass er in einer halben Stunde zum Training musste. Gerade wollte er Kai abführen, der komplett dafür war, als Holgers Hand sich schwer auf Kais Schulter niederließ. "Moment noch. Kai leihe ich mir für ein bis zwei Stunden aus."
"Was?" "Brauche den noch für was."
Jan zuckte mit den Achseln und sprang auf. Er ließ Kai doch tatsächlich mit der offiziell gefährlichen Tini und dem echt irgendwie gefährlich aussehenden Holger zurück.
Und Tini nahm, ganz das Hormonschiff, Kurs auf das Bad und verschwand. Holger blickte ihr einen Moment lang hinterher, dann schloss er die Tür. "Okay. Abmachung ist angesagt, Mann." "Was?"
Der Blick aus Holgers hellen Augen nahm einen sehr stur-entschlossenen Charakter an. "Ich kümmere mich um Tini. Gleich was es ist. Hab ich ihr versprochen, verspreche ich hiermit dir ebenfalls." Kai nickte das ab, aber erstarrte, als Holger fortfuhr. "Du kümmerst dich um den Bauch und alles, was drin ist und alles, was raus kommt. Für immer."
Erschaudernd zuckte Kai zurück. So formuliert klang es echt nach Horrorfilm. "Bitte?! Sie will das gar nicht. Lena macht das."
"Willste jetzt etwa den Schwanz einklemmen und alles den Weibern überlassen? Ausgerechnet der chaotischen, bescheuerten Tante? Natürlich nicht."
"Aber was ist denn da jetzt schon groß zu machen?"
"Glaub mir, Mann, da ist total viel zu entscheiden. Schon jetzt in der Schwangerschaft. Frauen, in dem Zustand, die sind echt gefährlich, die kaufen tonnenweise Sachen, die nicht gekauft werden sollten. Sie besuchen zu diesem Zweck Flohmärkte an jedem Wochenende und schleppen tonnenweise dämliche Babyklamotten an, die keiner braucht. Sie besuchen Atemkurse, Yogakurse, Schwimmkurse, Gymnastikkurse und Bastelkurse und treffen sich mit anderen beknackten Tanten. Die suchen hirnverbrannte Namen aus und klöppeln die überall rein, obwohl der Name komplett nicht geht. Wir brauchen einen Mann, der sie aufhält. Wir brauchen einen hormonstabilen Kerl, der mit zum Shoppen geht, mit den Namen aussuchen muss und einen, der verhindert, dass die Kinderzimmermöbel komplett beknackt und davon abgesehen horrormäßig teuer sind. Das bist du. Erstens hört sie nicht auf mich und zweitens hab ich keinen Bock das für dich zu machen, klar?"
Drämelig nickte Kai, aber muckte dann doch noch mal auf. "Woher kennst du dich eigentlich damit aus, was Tini so alles machen wird? Vermutlich ist die vernünftig und wird alles ganz toll mit Lena schaffen und sicherlich..."
"Ich kenn mich aus und weiß, dass sowas schief geht, aber wie!"
"Aha?"
Holger seufzte und rieb sich die Augen. "Ich hab schon ein Kind. Von meiner Exfreundin. Ein Mädchen. Die Kleine hat meine Freundin allein bekommen, hat alles allein mit ihrer Freundin entschieden und eingekauft und... total verbockt eben. Das arme Ding heißt Violetta und dann hatte sie auch noch alles in Schweinerosa im Kinderzimmer und... na ja, kannst dir ja vorstellen. Ich nenne sie Krümel, weil sie so klein ist. Ist jetzt schon fast zehn Jahre alt."
"Und wo warst du?"
"Bin zur See gefahren, wir hatten da auch schon ein Weilchen Schluss, haben nur selten telefoniert, uns an Weihnachten gar nicht gesehen damals. Sie hat mir am Telefon nie was erzählt, das Biest. Hatte auch schon rumgevögelt mit dem Typen, den sie dann auch geheiratet hat. Er hat die Kleine adoptiert und seitdem bin ich raus aus der Nummer. Hat mich aber echt umgehauen, als ich das auf Heimaturlaub so nebenbei erfahre. Da war Krümel schon fast zwei Jahre alt."
"Und du siehst sie nicht mehr?"
"Doch. Hin und wieder darf ich antreten. Ostern, Weihnachten, zu Krümels Geburtstag und so. Wir machen einmal im Jahr zusammen Urlaub. Das hab ich damals ausgehandelt, hat mich eine verdammte Latte Geld gekostet der Handel." Ungemütlich ruckelte er etwas herum. "Tini weiß noch nichts davon. Ich wollte ihr das sagen, wenn wir ein wenig länger zusammen sind. Aber sie war so dermaßen unrund bis jetzt, dass ich mich nicht getraut hab."
"Ach, deswegen warst du an den Wochenenden so oft weg?"
"Hm. Nicht nur, der Bund scheucht mich auch ganz gut rum. Aber verstehst du jetzt, dass es mir nicht so richtig was ausmacht, wenn Tini jetzt auch ein Kind hat, das nicht von mir ist? Davon mal ab von dir. Das passt mir ehrlich gesagt ganz gut. Gestern Nacht hab ich mir das überlegt. Du bist eh nicht aus ihren Gedanken weg zu bekommen. Du bist mir um so vieles lieber als dieser beknackte Ex von ihr. Immerhin bist du schwul... mehr als Freunde werdet ihr nie sein. Eigentlich bist du sowas wie ihre beste Freundin, läuft ganz gut auf die Art. Ist 'ne sichere Sache mit dir und... " Holger betrachtete Kais Gesicht forschend. "… ehrlich, ich mag dich. Bin gespannt auf die Mischung." Er lachte. "Wird bestimmt der Hammer das Balg, Mann!"
Kai schloss gepeinigt die Augen. "Du findest das echt gut?!"
"Hm. Solang sie dann auch mal welche mit mir zusammen haben will..."
"Das planst du jetzt schon?!"
"Hm. Ist bescheuert, ich weiß das, aber kann es nicht abstellen. Ich wollte schon immer eine Familie. Als ich Tini kennen gelernt hab, in den ersten Wochen vom ersten Semester schon, wollte ich sie und diese Familie mit ihr. Da bin ich mir total sicher."
"Kein Wunder, dass Tini Angst hat vor dir."
"Also. Ich überrede sie jetzt mal, mit mir zusammen zu ziehen, pass auf, dass sie das Studium nicht schmeißt, schau, dass sie nicht zu viel Sport macht und hör immer zu, wenn sie Hormone bekommt, oder ihre Eltern scheiße sind. Versprich du mir, dass du mit ihr diesen ätzenden niedlichen Kram shoppen gehst, dass du dir die Namen anhörst, den Ultraschall anschaust, den scheiß Atemkurs besuchst, den Bauch bewunderst, eincremen mach ich dann gern. Und dann versprichst du, dass du auch immer da bist, wenn sie rumjammert wegen Baby oder den Sorgen deswegen. Sonst werd ich unbequem, klar?!"
Kai nickte ermattet. "Im Ernst, Holger, ich glaube kaum, dass Tini mich da in irgendeiner Weise verschont hätte. Auch ohne deine Drohungen wär ich doch zu all diesen Sachen hingeschleift worden."
Holger lachte dröhnend und das löste dann doch irgendwie Kopfschmerzen aus, die Kai den restlichen Tag nicht mehr loswerden konnte.
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