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Trost 2

Kapitel 182-185

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Inhaltsverzeichnis

182

Misstrauisch nickte Kai einmal und fand die Frau viel zu jung. Sie war außerdem sehr aufmerksam. Ihre feinen grauen Augen funkelten ein wenig, dann lächelte sie und sagte: "Ich habe Holger mit siebzehn bekommen, Kai." Ihr Lächeln wurde etwas spitz: "Genau wie du bin ich jung Mutter geworden, Tini."

"Und was hat das Gerede mit dem Geld auf sich? Muss ich jetzt auch noch für die schei... Renovierung zahlen oder was?! So einen Kasten zu mieten ist Wahnsinn und Horror und saudumm!"

Holger grinste breit, von Kais Ausfall unbeeindruckt: "Nein, nein! Noch besser. Tini und ich kaufen das Haus. Der Preis ist wegen des Zustands total gut. Meine Mutter ist gekommen, weil sie mit ihrer Lebensversicherung gebürgt hat. Sonst hätten wir es nicht bei der Bank durchbekommen. Morgen ist der Termin beim Bänker."

Kai blinzelte und musste sich dann abrupt auf die Motorhaube von Tinis Auto fallen lassen: "Ihr habt was?!"

Tini schob die Unterlippe vor. Ganz sture Vierjährige: "Das Haus ist perfekt, Kai. Wir schaffen das schon. Es ist nur fünf Minuten mit dem Fahrrad von euch und zehn von der Uni, die Lage ist super und... und..."

"Und mein Vater darf jetzt schön renovieren, bevor euch der Kasten dann die nächsten Jahre um die Ohren zerbröselt!" Wütend verschränkte Kai die Arme. Mit einem Mal wirkten die Fenster bedrohlich, der Garten lauernd und das Nebengebäude schien nur so darauf zu warten, dass Tini und Holger den Kaufvertrag unterzeichneten, um zusammen zu fallen.

"Scheiße! Ist euch klar, wie ihr jetzt fest sitzt?! Den verrotteten Misthaufen werdet ihr doch im Leben nie wieder los! Außerdem, musst du nicht dauernd weg, Holger? Nach Afghanistan oder wo man sonst noch totgeschossen wird?!" Es war unfair, aber Kai war am Ende und zu wütend für Takt.

Holgers Schultern strafften sich etwas, dann nickte er: "Ich muss sicherlich auch mal weg, solange ich Soldat bin. Aber ich werde nach Ende des Studiums versuchen, aus dem Deal raus zu kommen. Dazu muss man auszahlen, aber dann ist man frei."

"Frei? Frei, nennst du das?! Scheiße, dass Tini so naiv ist, klar, aber du? Holger, du bist doch sonst nicht so bescheuert, verdammt noch mal! Hast du auch Schwangerenhormone oder was?"

Holger zog den Kopf ein und murmelte, dass die Idee doch gut sei. Ein fester Wohnsitz, auch um Tinis Eltern zu zeigen, wie ernst es ihnen war. Die Renovierungen würden noch etwas brauchen, daher wollte Holger seine Einzimmerwohnung die nächsten drei Monate noch behalten, Tini hatte ihre WG ja aufgegeben, aber die Lösung war doch klar. Kai wurde merkwürdig sonnig betrachtet.

"Ding... Ari kann hier doch ewig nicht wohnen, ist euch das klar?! Das ist zu ungesund. Hier ist sicherlich überall Schimmel! Bei Holger ist kein Platz, da bringt ihr euch nach zwei Wochen um, wenn die Nachbarn das nicht erledigen, auch klar. Ich sehe nicht, wo hier eine gute Lösung in Sicht ist, Holger!"

"Wir dachten, dass..."

Kai fuhr zu Tini herum und starrte sie an. Er erriet ihre Gedanken und riss die Augen auf: "Oh Gott! Oh mein Gott! Du willst bei uns wohnen?! Mit Ding?! Oh mein Gott! Oh mein Gott! Und Jan hat schon 'ja' gesagt, was?! Ist es das?! Seid ihr vollkommen irre?!"

"Du benutzt dein Zimmer doch kaum, Kai". Tini blinzelte ihn an: "Es wäre nur bis das Dach fertig ist und innen die ersten Räume."

Holger trat ebenfalls zu ihnen und Olli folgte ihnen langsam: "Kai, wir lassen das Dach noch im Oktober machen, da hab ich schon Kontakt mit einer Firma. Gleich danach können wir innen anfangen. Es wäre nur für ein bis zwei Monate."

Kai kniff die Augen zu und rieb sich den Nasenrücken. Stress breitete sich in ihm aus, wenn er nur daran dachte, dass Tini in seiner Wohnung sein könnte. Mit dem Ding dazu noch. Das würde tags und nachts plärren, ihren Schlaf ruinieren, keine Ruhe zum Lernen lassen und außerdem könnten sie dann keinen Sex mehr haben wie sie wollten.

"Ich muss mich abregen, ich gehe!", verkündete er dann an niemanden speziell, wandte sich abrupt ab und stakste so energisch er konnte davon.

Ollis Stimme hielt ihn auf, als er an der Ecke zum Fahrradweg war. In der Ferne hörte Kai die Geräusche vom Zoo und aus dem Wald, Tierlaute, Blätterrauschen, Vogelrufen und Menschenstimmen vermischt mit Kinderlachen vom nahen Abenteuerspielplatz. Je weiter er raus lief, desto mehr kam Autolärm dazu. Beim Haus hinten war der von den Bäumen geschluckt worden.

Olli trat zu ihm, hakte sich unter und fragte freundlich interessiert: "Darf ich dich begleiten? Links runter, ja?"

Er nickte mechanisch, wagte es nicht, sich von ihrem Arm zu befreien und stapfte brütend weiter.

"Tini ist rücksichtslos, verzogen und zugleich unglaublich naiv."

"Hört, hört."

Olli lachte: "Sie ist aber auch optimistisch, schlau und energiegeladen."

"Leider."

"Du hingegen bist realistisch, sehr gut erzogen und kompromissbereit. Natürlich wird sie jemanden wie dich hin und wieder überrollen oder auszunutzen versuchen."

Kai brummte nur, dann seufzte er und nickte: "Wir sind ein gutes Team. In diesem Fall war ich weg, im Urlaub, sonst hätte ich diesen..., diesen...".

"Schiet?", schlug sie vor und er nickte dankbar.

"Megasch..., sonst hätte ich das verhindert. Darin bin ich gut."

"Ich weiß. Holger hat mir von dir erzählt. Davon, wie du Tini zu lenken weißt, wie du sie zu bremsen verstehst und zugleich immer wieder in der Lage warst, ihre Energie nicht überquellen zu lassen, in die richtige Richtung zu lenken. Als er mich anrief, weil die Erbengemeinschaft den Termin zum Verkauf des Hauses vorverlegen wollte, war es aber Holger, der vorgeschlagen hat, das Haus zu kaufen. Er hat einen Haufen Geld für einen Gutachter ausgegeben und erfahren, dass die Substanz ausgezeichnet ist. Mit der Lage zusammen ist es keine Verschwendung, ich gebe ihm Recht. Dieses Mal war es Holger, der Tinis Energie entzündet hat. Jetzt müssen wir alle mit der Explosion leben."

"Ich ganz besonders, mal wieder."

"Als ich meinem Schatz hinterher gewinkt habe, ich sechzehn, gerade am Beginn meiner Konditorlehre, er deutlich älter und auf dem Weg zur See, für einige Monate, da wusste ich, dass wir am Abend zuvor etwas begonnen hatten, das nicht mehr aufzuhalten war. Eine Dummheit, aus Liebe vielleicht, aber kopflos und zum falschesten Zeitpunkt. Er kam zurück und ich sah aus wie unsere Tini jetzt. Ich sehe noch seinen Gesichtsausdruck. Er hat nichts davon gewusst, weil ich es nicht per Funk durchsagen wollte. Es war mir peinlich. Unverheiratet und mittellos. Meine Eltern hatten den Bauch gesehen und mich aus dem Haus geworfen. Mein Lehrmeister hatte den Bauch gesehen und mich im Betrieb bleiben lassen. Ich durfte aber nicht mehr nach vorn in den Verkaufsraum. Ich war eine Schande, ausgestoßen.

Doch er, er sah mich samt schwangeren Bauch, ist von Bord und hat mich sofort in die Arme geschlossen, mir gleich dort den Heiratsantrag gemacht. Später hat er mir gesagt, dass er es auch gewusst hatte. Er hat gewusst, dass ich ihn glücklich mache, während er im Eismeer fährt und einsam ist. Er war drei Monate zu Hause, wir haben geheiratet. Er musste los, um auf einem Lotsenboot zu helfen und ich hab Holger bekommen, einen gesunden Sohn, ganz allein mit einer Hebamme. Die Taufe sollte sein, bevor der Vater wieder in See stechen muss, aber das klappte nicht, Grippewelle, die den Pastor erwischt hat. Er musste wieder los, die Taufe war zwei Wochen später, wir waren ganz allein in der Kirche. Nur ich, mein Kind und als Pate mein Meister von der Bäckerei. Als mein Mann das nächste Mal zuhause war, konnte Holger schon laufen. Holgers Vater wollte nicht, dass ich arbeite, aber heimlich habe ich das doch getan. Es hätte mich sonst verrückt gemacht, so allein da zu sitzen in der kleinen Dachwohnung."

Sie hob den Blick in die Bäume: "Holger und ich haben alles allein gemacht, immer schon. Sein Vater war nur sehr selten da für uns. Er ist auch sehr früh gestorben. Die Schwangerschaft, seine ersten Schritte, die ersten Worte, die Schule, die erste Liebe und ihre dummen Folgen für ihn. Ich freue mich deswegen für ihn, dass er jetzt eine Familie hat, die hinter ihm steht, die dabei ist, wenn etwas Wichtiges passiert."

"Familie?"

"Tini, dich und deine Eltern und Jan? Das ist dein Freund, nicht wahr? Holger hat mir gesagt, dass Jan sich noch mehr auf das Baby freut, als alle anderen zusammen: Stimmt das?"

"Jan ist...", Kai zögerte, dann lachte er hilflos. "Der ist nicht ganz richtig im Kopf. Das werden Sie sehen."

"Du und Olli. Wir sind jetzt eine Familie, Kai." Sie drückte seine Hand und Kai wusste nicht warum, aber die pragmatische Art, mit der sie davon ausging, dass der schwule Freund ihrer neuen 'Fastschwiegertochter' Teil ihrer Familie war, tat ihm gut. Von seiner Rührung abgelenkt hatte Kai den Weg zu ihrer Wohnung hinter sich gebracht, Olli im Schlepp.

Sie kamen nach sehr raschem Anstieg, den Olli ohne Beschwerden mit den für sie offenbar üblichen brüsken Bewegungen meisterte, in die Wohnung. Dort angekommen führte Kai sie ein wenig hilflos herum und zeigte ihr sein Zimmer, das vermutlich mal wieder nicht sein Zimmer war.

Er bot ihr etwas zu trinken an, sie einigten sich auf Kaffee. Sie entschuldigte sich nur für einen Moment ins Bad und Kai grübelte, was er noch mit ihr anfangen sollte. Noch bevor er unter der Atmosphäre leiden konnte, rappelte es an der Tür und Jan kam herein.

Sein Schienbein blutete und er hatte einen seiner Fußballjungs im Schlepp, der verheult war und aus der Nase und einer Handverletzung blutete. "Baby, gut, dass du da bist! Arne hat es voll erwischt!"

Kai blinzelte, dann dirigierte er den Jungen im Autopilot in ihr Badezimmer, aus dem Olli gerade heraus getreten war. "Ich kümmere mich darum", verkündete er, erleichtert, ihr ein Weilchen zu entkommen. Im Hintergrund hörte er im nächsten Moment, wie Olli und Jan sich miteinander bekannt machten.

Arne schnüffelte erstickt, während Kai die Hand säuberte und erleichtert sah, dass es nur eine tiefe Schürfung war und sich dann der Nase zuwandte. Der Junge war aus der Gruppe, die an Jans Geburtstag mit an der Küste gewesen war. Einer dieser hübschen, durchtrainierten Jungs, die aber zugleich noch nicht so ganz ausgewachsen schienen, ein wenig aus der Form geratene Hände und Füße, ungelenke Bewegungen und Gesten. Wie ein junger Hund, tapsig, unbeholfen, noch nicht fertig. Die blutige Nase dominierte das Gesicht. Dazu aber wunderschöne, dunkle, große Augen zu einem dichten Mob dunkler, glatter Haare, ein gebräuntes, etwas zu schmales Gesicht, in dem die Proportionen noch nicht ganz zu stimmen schienen und ein kantiges Kinn, das ihm einen sturen Ausdruck verlieh.

Kai entfernte die Versorgung aus Tempotaschentüchern von der Nase, kühlte mit einem Waschlappen und putzte ein wenig herum. Es blutete nicht mehr. Daher wischte Kai die Nase nur vorsichtig ab und schmierte dem Jungen etwas Wundsalbe auf eine Schramme darunter: "Wie ist das passiert? Doch nicht beim Fußball, oder?" Routiniert tastete er den Kopf einmal ab.

"Fahrradunfall, wir waren gerade auf dem Rückweg, da mussten wir so einem Radikalopa mit Elektrorad ausweichen."

"Hast du dir auch den Kopf gestoßen oder so?"

"Nee, der Helm ist aber Schrott."

"Gut, dass du den hattest." Kai blinzelte sich selber im Spiegel an und erschrak. Er trug keinen Fahrradhelm, hatte er sich einfach nie angewöhnt. Er fuhr auch recht selten Rad. Das war ein schlechtes Vorbild für Ari, oder? Oder nicht? Die Verantwortung, die im Hintergrund lauerte, begann ihn zu stressen.

Der Junge schnüffelte noch mal und unterbrach Kais Gedanken. "Bist du..., bist du..."?

Kai packte die Sachen weg und erneuerte den Waschlappen: "Bin ich was? Arzt? Nein, noch eine ganze Weile nicht, ich studiere noch."

"Nein... ich mein, bist du nicht der Freund von Jan? Du warst beim Geburtstag am Meer doch dabei!"

"Hm." Kai konnte sich nicht erinnern, ob er mit dem Jungen vielleicht gar geredet hatte. Aber andererseits war Jans Geburtstagsfeier auch von Stress überlagert gewesen. Von Stress und einem erstaunlich verschlagenen Thilo. In Gedanken an die grünen Katzenaugen von Jans Schulfreund wrang Kai den Waschlappen aus und legte ihn zur Seite, bevor er die Pflasterbox aus dem Spiegelschrank suchte, eine Kondompackung kam Kai entgegen, hastig knallte er die Schranktür wieder zu.

"Also ja?" Ungeduldig tupfte Arne mit dem Waschlappen: "Ich mein nicht nur so, ich mein...". Hilflos brach er ab.

"Wir sind...", Kai stockte, blätterte die Pflaster durch, um die richtige Größe zu finden, dann hob er die Schultern. "... zusammen, ja. Klar." Kai klebte Arne das Pflaster auf und warf den Müll in den kleinen Eimer neben dem Waschbecken.

"Krass." Es klang ehrfürchtig und genervt zugleich.

Verwirrt trat Kai von dem Jungen zurück und ging zur Tür. Im Hintergrund hörte er Jan und Olli lachen. "Krass?"

"Na, weil du so gar nicht Fußball spielen kannst und nix davon verstehst, das muss ihn doch voll nerven, oder?". Herausfordernd starrte Arne Kai an.

"Warum?" Kai versuchte einen genervt dummen Gesichtsausdruck und fand, dass es ihm gut gelang. Er fühlte sich so richtig schön schwer von verstehen und blöde. Leider nahm der Junge Fahrt auf.

"Na... ich mein, was habt ihr denn gemeinsam? Nix doch, oder?!"

Kai blinzelte, konnte das nicht so richtig beantworten, aber vernahm Jans Stimme von der Tür her. Ruhig und lehrermäßig, wie wenn er jemanden seinen Strafvortrag hielt: "Arne, zu einer Beziehung gehört mehr als nur ein gemeinsames Interesse."

"Be..., Beziehung?" Der Blick das Jungen huschte zwischen ihnen hin und her. Kai sah zu wie der Groschen fiel und Arnes Gesicht sich rötete. "Krahaaass." Jetzt klang es ehrfurchtsvoll und etwas angeekelt. Unruhig ruckelte Arne von Kai weg und zupfte ihm mit spitzen Fingern das Pflaster aus der Hand.

"Was dachtest du denn? Wir leben zusammen, Arne." Gelassen trat Jan zu ihnen ins Bad, zog sich das verdreckte Trikot über den Kopf, legte seinen sommerbraunen, endgeilen Oberkörper frei und betrachtete eine breite Strieme die Rippen lang. "Es ist eine Mischung", hielt er dem Jungen derweilen den verdienten Vortrag, von dessen roten Ohren unbeeindruckt. "... aus vielen Faktoren. Kai und ich passen einfach gut zusammen, auch wenn wir in Sachen Musik, Klamotten oder Sport nicht den gleichen Geschmack haben. Aber mal ehrlich, haben deine Eltern doch auch nicht, oder? Stört es dich bei denen?" Jan, dieser Fiesling, zog sich die Shorts und Unterhose aus und schlang sich nachlässig ein Handtuch um die Hüften.

"Aber zusammen..., zusammen? Ich mein...". Die Mundwinkel zucken nach unten, Arne schien die Situation als Beleidigung zu empfinden. "Bäh..."

Kai starrte böse. Schlecht erzogenes Balg. Ding würde einen Einlauf bekommen für solche Sachen, wenn er erst einmal in dem Alter war. Im nächsten Moment machten Kai Sorgen um Erziehungsfragen Herzklopfen.

Jan zuckte mit den Schultern: "Ich bin bi. Es war Kai oder Bianca, Kai ist einfach mehr mein Fall. Aber das müsste doch seit der Geburtstagsfeier jeder wissen."

Hastig starrte Arne auf den Fußboden: "Da war ich..., ehm..., blau. Hätte nicht gedacht, dass ihr was habt. Irgendwas, mein ich..., was zu einer..., ehm, Beziehung taugt."

Jan lachte, dann beugte er sich dichter zu Kai. "Na, ein paar Sachen auf jeden Fall." Er knutschte Kai auf die Wange, dann sagte er mit leiser, etwas gemein lasziver Stimme: "Aber die sind privat." Dann ächzte er und forderte an Kai gewandt auf: "Baby, kannst du mal das Sprühpflaster aus dem Kühlschrank holen? Ich will Olli nicht mit dem Zeug eindieseln. Sauber genug müsste die Schramme nach der Dusche gleich sein."

Kai warf einen Blick aus schmalen Augen, dann schüttelte er den Kopf. "Das sifft doch noch, Jan. Da kannst du frühestens morgen den Sprühverband machen. Jetzt musst du erst mal alles abduschen und dann ein Pflaster draufkleben, wie alle normalen Menschen."

Jan lehnte sich dichter zu Kai: "Muss ich? Küsst du es denn dann, damit ich mich besser fühle?"

Kai verschränkte die Arme: "Idiot!"

Arne stolperte gleich drauf aus dem Badezimmer und Kai lehnte sich dichter zu seinem Freund: "Was war das denn?"

Jan zuckte mit den Schultern: "Arne steht ein wenig auf mich, aber so als Fußballgott oder großen Bruder. So die Art, die einem Weisheiten vom Leben vertellt..., ist anstrengend und ich bin nicht so ein Typ, so ein Vorbild-Typ zum Anbeten. Hab mich heute deswegen etwas schwuler benommen als sonst." Er grinste: "Er ist, glaub ich, etwas homophob, das wird schon."

"Jedem sein Bambi", murmelte Kai mit erleichtert ätzendem Tonfall, dann ließ er seinen Freund mit Pflaster, Wundsalbe und der Dusche allein.

Sie verfrachteten Arne nach einigen Telefonaten mit den Eltern zu dessen Mutter in einen Kombi, in dem noch zwei andere Kinder vom Rücksitz kreischten. Das kaputte Fahrrad musste in den Kofferraum gequetscht werden. Kai machte das, Jan versorgte sich derweilen mit Pflasterstreifen. Zum Abschied bekam Kai von Arne einen missgelaunten Blick, der fast wie ein Mittelfinger rüberkam und ihn ziemlich ärgerte. Scheiß Teenager!

Als Kai wieder in die Wohnung kam, hatte Jan eine seiner alten Jeans an, das eine Hosenbein aufgekrempelt. Ein breites weißes Pflaster versteckte seine Schramme. Außerdem hatte er mit Olli bereits über das Essen gehen und Renovieren geredet, über den Kauf des Hauses und ihre Übernachtung in der Pension. Natürlich lehnte er das ab und lud sie ein, bei ihnen in Kais Zimmer zu schlafen.

"Kai, die Pension ist ja auf der ganz anderen Seite der Stadt! Wenn wir uns gleich hier beim Griechen treffen, dann ist es doch so viel einfacher. Holger und ich können ein Bier trinken, keiner muss sie rüber fahren. Olli meinte gerade, dass sie nicht fest reserviert hat."

Kai ging schweigend in ihr gemeinsames Schlafzimmer durch, Jan folgte ihm, vielleicht instinktiv, vielleicht auch nur, um sich Socken zu holen. Kai drehte sich um, holte Luft, stellte zu spät fest, dass sein Filter verbraucht schien, dann kreischte er auch schon los, dass es – verdammt noch mal – sein Zimmer sei, dass er es satt habe, wenn er übergangen wurde, dass er nicht auf seinen Rückzugsort verzichten wolle, dass er es satt habe, wenn sein Vater für das Ding total ausrastete, dass er nicht renovieren oder Baby hüten oder Tini bei sich haben wollte, und dass..., ihm gingen die Dinge aus, die er nicht wollte.

Jan stand verblüfft mit dem Handy in der Hand vor ihm und blinzelte: "Baby? Alles okay?"

"Tini...", Kai holte tief Luft: "Tini will hier ein bis zwei Monate, mit Ding... Ari, wohnen! In meinem Zimmer! Ich will das nicht!" Kai rang keuchend nach Atem und sank auf dem Bett nieder, um das Gesicht in den Händen zu verstecken.

Jan legte den Kopf schief, dann zog er sich mit gerunzelter Stirn einen seiner schweinegeilen grauen Pullover über. Der stand ihm zwar gut, aber wirkte merkwürdig deplatziert zur zerschlissenen Jeans samt zerschlissenem Schienbein. Er blickte sich, nervend gelassen, im Zimmer um, als könnte er sich bereits bildlich vorstellen, wie sich das Zusammenleben gestalten würde. Dann nickte er und sagte mit seiner Stimme für ernste Gespräche: "Das schaukeln wir schon, atme durch, keine Panik. Heut übernachtet erst einmal bloß Olli hier, ganz ohne Baby. Sie fährt morgen doch schon wieder. In Zukunft kannst du dein Zimmer wieder für dich haben. Bis Oktober ist es noch etwas hin." Er hockte sich vor Kai hin, berührte sachte sein Knie und lächelte auf seine entwaffnend schöne Art. Kai begegnete seinem Blick schmollig, dann nickte er knapp.

Jan strich fest über seine Schultern, löste die Anspannung daraus. "Hey, zu Tini und Leeve kommen wir, wenn es so weit ist." Dann senkte er den Kopf und murmelte leise: "Es tut mir so leid, Baby. Ich schäme mich ein wenig."

"Hä?!"

"Ich schäme mich, Kai, dass ich mich so freuen kann, wenn du nichts als genervt bist."

Kai stand abrupt auf. Scheiß Jan mit seiner gefühlvollen Ehrlichkeit. Er verschränkte die Arme und wandte den Blick zum Fenster. Warme Arme umfingen ihn einen Moment später und Jan schob sein Kinn auf Kais Schulter. "Tief atmen. Ding wird kaum hier sein. Wenn die Renovierungspläne so hin hauen, wie Holger sich das ausgerechnet hat, kommen wir um ein Baby in der Wohnung vielleicht komplett herum."

Kai konnte es nicht ändern, er musste sich entspannen. Es war wie verhext, Jan konnte er nichts entgegen setzen. Er spürte förmlich, wie die Körperwärme von Jan ihn zusammensinken ließ. Jan küsste seinen Hals und murmelte, gegen die Gänsehaut, die Kais Oberkörper entlang zu wandern begann: "Siehst du. Allens jut."

183

'Allens jut' war die Devise. Jedenfalls für Jan. Für Jan bedeutete das eine zurückgelehnte Sicherheit, dass wirklich nichts Schlimmes passieren konnte. Für Kai bedeutete es, dass er angespannt grinste, obwohl er zu wissen glaubte, dass jeden Moment sein Leben um ihn her explodieren würde. Uni, Job, Ding und Jan. Alles schien drauf aus, an ihm zu zerren.

Jan musste Kai in den nächsten Wochen einige Male abregen, während nicht nur die Uni mit den ersten klinischen Kursen startete und damit auch das Lernen. Unipartys, auf die Jan Kai zu schleppen versuchte, die Arbeit im LPP, zugleich mit der Arbeit an Tinis verdammten Schrott-Haus im Wald, alles zerrte an Kais Zeit, Energie und Nervenkostüm.

Direkt hatte Kai nur wenig mit der Renovierung zu tun. Er weigerte sich in der Regel, auch nur wieder hin zu fahren und kam fast immer auch damit durch. Aber Norbert war an jedem Wochenende da, vertrat ihn würdig und schlief in Kais Zimmer in der Wohnung. Morgens am Samstag schleppte er sein Werkzeug, gleich nach einem Kaffee im Stehen, zum Haus. Er verschwand über Stunden, kam dreckig, müde und grinsend mit Essen vom Chinesen, Griechen oder einer Pizzaschachtel, wieder zu ihnen, aber war zu erschöpft, um mehr zu tun, als mit Bier in der Hand vor dem Fernseher einzuschlafen, während Fußballergebnisse vom Wochenende abgespult wurden.

Kai nickte immer die Änderungen am Haus ab und entzog sich dann mit gemurmelten Ausreden, die meist Lernen beinhalteten, Vorbereitungen für die Doktorarbeit bei Jans Vater oder seinem Job im LPP, während nicht selten Jan sich dann anhören musste, wie viel irgendwelches Holz kostete, welche Farbe besser war, mit welchem Bandschleifer man viel besser auf der alten Holztreppe voran gekommen sei, oder welche merkwürdigen Funde sich auf dem Dachboden eingestellt hatten oder in den Tiefen des Dschungels, den Tini weiterhin wagte, als entzückenden Garten zu bezeichnen.

Kai konnte sich eigentlich nicht beschweren. Ihr Verhältnis war ausgezeichnet, wenn Kai das so nennen durfte. In seinem Zimmer in der Wohnung stand aber schon jetzt seine alte Babywiege samt den weißen Spitzenvorhängen, die frisch gebügelt und gestärkt waren und am Esstisch direkt neben Kais Stammplatz sein alter, rotlackierter Babyhochstuhl mit Tischchen. Darin saß ein Teddybär mit Designeranzug aus Kunstleder, den Lolli bei einem Kurzbesuch abgeworfen hatte. Die Aussicht, Tini bei einer Renovierung helfen zu müssen, hatte Lolli aber zum Glück in Rekordzeit nach Berlin vertrieben. Von dort war er wegen der Aussicht auf einen Umzug mit Pascal auch geflohen, wie Kai später erfuhr.

Die Arbeiten am Haus waren, dank Tinis Energie und Norberts Begeisterung, gut organisiert. Sie hatte sich aus den für Holger abonnierten Fachzeitungen informiert und wurde zur Fachfrau für Renovierungsarbeiten so ziemlich jedweder Art mit einer Horde Internetforen für jede noch so knifflige Arbeit. Norbert las dieselben Fachzeitungen, besuchte bald auch dieselben Foren im Internet und blühte auf wie nie zuvor. Nur Martina teilte Kais miese Laune bei dem Thema. Hauptsächlich, weil die Arbeiten am Schrebergarten nun fast vollständig an ihr hängen blieben und weil sie außerdem noch immer nicht ihren Frieden mit dem Dasein als Großmutter hatte schließen können.

Etwas anderes störte Kais Frieden mit Ari aber mehr als Tini zu allen Stunden per Handy, Mail oder auch in Person, oder Norberts Enthusiasmus beim Renovieren. Ein Gefühl, dass er zuvor nicht gekannt hatte. Es fraß sich in ihn, machte die Wochenenden mit Norbert zur Hölle. Und das, obwohl ihr Verhältnis zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder als entspannt bezeichnet werden konnte. Kai schalt sich irrational, idiotisch, pessimistisch. Es half nichts.

Er hatte Panik. Nackte Panik vor der Verantwortung und außerdem, peinlich aber wahr, war er eifersüchtig auf das Ding. Auf Norberts Begeisterung dafür, auf den Graben, den diese Begeisterung dadurch zwischen ihm und Kai schuf, dass Kai sie nicht teilen konnte. Kai wusste sehr genau, dass er diese Art Begeisterung niemals für das Ding aufbringen wollte, vermutlich nicht einmal aufbringen konnte. Er wollte genervt sein von der Last, den Terminen und von dem ganzen Tralala, den das bedeutete.

Außerdem erinnerte er sich noch sehr genau daran, dass Norbert zwar kein mieser Vater gewesen war. Bis er Kai und Pascal im Bett gefunden hatte. Aber ganz gewiss nicht der immer pfeifende Sonnenschein mit Dauerbegeisterung, zu dem er nun mutierte. Kai fühlte eine tiefe Eifersucht auf das Ding, dem all diese Freude und Begeisterung allein zu gehören schienen.

Und nicht nur Norbert, nein. Alle. Alle um Kai herum waren Begeisterung pur. Von Carl einmal abgesehen. Aber mit dem redete Kai nur selten, weil er nicht über Pascal reden wollte, was unausweichlich war.

Es war wie sich zu outen, nur nicht als schwul, wenn niemand dann was dazu sagte außer: "Ah, gut... ehm..., ich bin dann mal weg.". Nein, über Ding konnte so ziemlich jeder was sagen. Die Mitstudenten, die es mit bekamen, wussten über Babys aus Erfahrung mit Geschwistern, Cousinen oder dergleichen schon Erfahrungen zu berichten. Lolli hatte eine Kollegin in London mit Kleinkind. Die Sekretärin der Anwälte unten links hatte eine Patentochter. Die scheiß doofe Bianca war sogar schon Tante, weil ihre älteren Geschwister alle schon losgelegt hatten.

Allerdings war sie kein Fan von Tini und Tini hasste Biancas neuen Freund. In der Cafeteria bürdete sie Kai in einer Pause zwischen zwei Kursen ihre Meinung auch einmal auf, als sie Holger abholen kam. Ärgerlich warf sie ihre rotgeblümte Mütze auf den Tisch zu ihren Bechern mit abgestandenem Kaffee. "Biancas Neuer ist schrecklich, Kai! Ich kann das nicht mehr ab! Der ist tausend Jahre älter als sie und so ein reicher Megaschnösel. Vaterfigur mit begütigendem Grinsen, wann immer er sie mit seinem scheiß Sportwagen abholen kommt. Ekelig."

Kai blickte von seinem Skript auf: "Ekelig?"

"Die scheinen ständig wilden Sex zu haben, im Auto, im Stall, in seinen Häusern..., Häuser allein. Er hat wohl eins in Nizza. Gott!" Sie fuhr sich mit den Fingern in die Haare und ließ sich in den Stuhl neben Kai fallen. "Du kennst ja Bianca, indiskret war sie schon immer. Früher fand ich das immer geil. Als sie noch über Jan geredet hat, als der noch mit dir befreundet war, als ich immer an dich hab denken können, wenn sie über Jans Fähigkeiten beim Oralsex geschwärmt hat..., ist der echt so gut, sag mal?"

"Kein Kommentar." Kai wandte sich an Holger. "Hast du in Innere auch schon die Herzrhythmusstörungen drauf, oder brauchen wir die noch nicht zu morgen?"

"Hab ich drauf, werden aber erst im Testat nächste Woche gefragt. Heute wollte uns Schröderchen noch mal Beispiel-EKGs mitbringen." Holger atmete erleichtert durch.

Kai seufzte. Schröderchen hörte sich niedlich an. Der Typ sah aus wie die totale Sahneschnitte, immer gepflegt, mit seinem symmetrischen schönen Gesicht und den intelligenten Augen, aber der war maligne, wie Holger so schön sagte. Böse wie ein Krebs. Schröderchen hatte seine Lieblinge, zu denen Kai dankbarerweise gehörte. Aber wenn man nicht dazu gehörte, dann zog er einem in Testaten aus der Hölle vor versammeltem Kurs die Hosen runter.

Zum Glück für ihre Gruppe hatten sie Jan, der so eine Art nicht schätzte und Schröderchen, nachdem er es einmal mit ihm versucht hatte, in den folgenden Kursen seinerseits die Hosen stramm zog, dass der Kursleiter schließlich aufgeben und sich mit leicht hinterfotzigen Fangfragen begnügen musste.

Kai fand Schröderchen nicht ängstigend, nur scheiße, aber er wollte ihm nicht ins Visier geraten. Tini, Bombe kurz vor der Detonation, wenn man den Bauch betrachtete, war voll gegen Schröderchen, weil der Holger im Visier hatte. Kai hatte schon Mitleid, Schröderchen konnte Soldaten nicht ab. Holger war, samt laserblauer Augen, hartem Gesicht und megakurzem Haar, der Paradesoldat in seinen Augen. Einzig seine Freundschaft mit Kai rettete Holger das Leben in diesem Kurs.

Da Tini eine Antwort erwartete, wandte Kai sich mit pissigem Blick an sie zurück. "Biancas Liebesleben interessiert mich nicht. Thilo ist über sie weg, kann wieder normal lernen, ohne Panik vor der Prüfung, und wir sind in unterschiedlichen Gruppen. Thema durch."

Sie wippte auf dem Stuhl: "Okay. Willst du mal wieder bei uns vorbei schauen? Benni und Lukas gestalten das Kinderzimmer für Ari. Norbert kommt auch am Freitag lang."

Kai warf einen schrägen Blick aus schmalen Augen: "Nein? Nein!" Er wollte Sex haben mit Jan und nicht in Tinis Schrotthaus Tapeten abreißen, irgendwas rasch mal ablaugen oder Grundierungen streichen, wenn er sich nicht genug dagegen wehrte.

Kai ließ Tinis Enttäuschung an sich abperlen, packte seine Sachen und hörte im Weggehen noch, wie sie Holger abverlangte, Biancas Kerl bei der Einweihungsfeier nicht ins Haus zu lassen, weil sie sich nicht traute, ihr das Mitbringen zu verbieten.

Es dauerte nicht mehr lang, da konnte Kai auch vor Norbert nicht mehr grinsen und auf Sonnenschein machen. Das Novum einer entspannten Beziehung zu seinem Vater war verbraucht. Und nicht nur das. Sehr bald schon war Kais Energie verbraucht..., er wurde wehrlos.

Kai hatte am Samstag im LPP die Spätschicht geschoben und war davor noch, fast in der Nacht, rücksichtslos zur Hilfe beim Streichen der Türrahmen ins Haus geschleppt worden. Seine präzise Art hatte sich beim Abkleben der altmodischen Fenster bezahlt gemacht, rigoros wurde er daraufhin vergattert, auch im Obergeschoss auf Knien zu rutschen, auf Zehenspitzen zu balancieren, sein Leben zu riskieren, indem er sich aus den Fenstern lehnte und zu kleben. Norbert hatte Tinis Fahrrad geliehen und, mit seinen Arbeitsklamotten, grinsend und pfeifend am Küchentisch gesessen. Den Samstag über hatte er im Haus gestrichen und mit Tini später noch Teile für die Küche eingebaut, die sie gebraucht irgendwo erstanden hatte.

Als Kai am Sonntag dann, gegen halb sieben, davon wach wurde, dass Norbert ihn an der Schulter rüttelte und, schon wieder, oder noch immer, grinsend verkündete, dass sie an diesem Tag das Streichen komplett schaffen würden, schüttelte Kai nur den Kopf, sagte knapp: "Ohne. Mich!" und ergriff prophylaktisch die Flucht.

Er tappte mit höllischem Muskelkater und schmerzenden Knien vom Abkleben und Streichen am Vortag ins Bad und verbarrikadierte sich in der Dusche.

Von seinen eigenen Gefühlen vollkommen überfordert blieb er in der Duschkabine, die Knie an die Brust gezogen, auf dem Boden sitzen, ohne auch nur das Wasser angestellt zu haben, bis er Norbert die Wohnungstür schließen hörte. Danach hörte er Jan, der auf Klo ging, an die Duschtür klopfte und sagte, dass Kai es mit der Haarkur nicht übertreiben solle. Jan meldete sich ab zum Fußballtraining, darauf klappte noch einmal die Wohnungstür und Kai war allein. Allein mit seinen Gedanken, mit Gefühlen, derer er nicht mehr Herr werden konnte. Außerdem kühlte er unangenehm aus, was ihn dann endlich aus der Lethargie erweckte.

Er duschte zu heiß, wusch die Haare, verwendete allein aus Bockigkeit die Haarkur, duschte noch mehr, noch heißer. Es half nicht. Er begann zu zittern. Panik machte ihm mit einem Mal den Brustkorb eng, das Atmen schwer. Die Hände bebten, als er das Wasser abstellte. Nüchtern analysierte er sich selber, wie von außen, ohne sich helfen zu können. Er hatte eine Panikattacke.

Eine, aus der er sich nicht selber herausfinden sah. Seine Atemübungen von Felix halfen nicht. Die Welle ließ ihn ans Ertrinken denken. Gedanken daran, dass er nur hysterisch und unter Umständen einfach genervt oder übermüdet war, halfen nicht. Die Welle verschlang ihn, zerrte ihn immer weiter in die Tiefe. Verzweifelt biss er sich auf die Lippe, als er in der Küche das Kaffeepulver verschüttete, so sehr zitterten seine Finger. Er tat das einzige, das ihm zu so einer Krise einfiel. Er rief Lukas an.

Das Handy hatte kaum Gelegenheit, einmal zu Klingeln, schon war Lukas dran: "Hey, Engelchen."

Die raue Stimme ließ Kai vermuten, dass Lukas grad aufgestanden war. Kai holte Luft, spürte seine Finger noch immer zittern, im nächsten Augenblick brach er in Tränen aus und rutschte an der Ofenklappe vorbei auf den Fußboden: "Lukas..., ich…, ich kann nicht..., mehr..., atmen..., nicht mehr..." .Kai brachte die Worte nicht mehr heraus.

Lukas zögerte nicht. Er stellte kaum Fragen, keine einzige blöde Frage. Er versuchte nicht, am Telefon mit ruhiger Stimme zu labern. Er fragte trocken und distanziert: "Panikattacke?" Kai röchelte nur matt. "Ich ..., ich glaub..., ja."

"Bist du zu Hause?"

Auf Kais verheultes 'Ja' legte Lukas auf und war nur eine viertel Stunde später an der Wohnungstür. Kai ließ ihn noch immer nur mit Handtuch bekleidet ein, ein weiteres Handtuch auf dem Kopf und mit noch immer zitternden Fingern.

Lukas trug seine farbverschmierte alte Jeans, ein enges T-Shirt und ein Sweatshirt, das schon einmal bessere Tage gesehen hatte. Er hatte einen Dreitagebart, sah aber ansonsten fit und geil und gestylt aus, wie immer. Wortlos zog er Kai an sich, eine Hand im Nacken massierte die angespannte Muskulatur etwas zu derb. Kai holte zittrig Luft, dann erschlaffte er und lehnte sich an ihn, schloss die Augen und ließ zu, dass er komplett auseinander fiel. So geweint hatte er erst einmal in seinem Leben. In der Nacht im Regen, als Norbert ihn mit Passi erwischt hatte. Es tat zugleich weh und gut.

Etwa zwei Stunden später hockten Lukas und er auf dem Fußboden vor der Terrassentür. Jeder auf einem dicken Stuhlkissen. Jeder hielt einen Becher Kaffee mit Schuss aus Jans Alkoholschrank in den Händen, sie schwiegen. Überhaupt hatte Lukas kaum geredet. Er hatte Kai ins Schlafzimmer und dort in ein T-Shirt und eine Jeans bugsiert, danach hatte er ihn reden und reden und heulen lassen.

Irgendwann hatte Lukas langsam genickt und leise gesagt: "Kein Wunder, war nur eine Frage der Zeit." Endlich hatte er Kai auf die Polster geschoben, Kaffee gekocht, Alkohol reingekippt und für Kai Milch, nun saßen sie beide schweigend da und Kai holte Luft, versuchte keine Beklemmungen mehr zu fühlen und sich nicht zu schämen. Er konnte nix mehr sagen und nicht mehr heulen, fühlte sich komplett ausgetrocknet. Die Augen und der Hals taten ihm weh.

Kai hatte alles rauslassen dürfen, seine Ängste, seinen Frust und seine Wut darüber, dass es ihn, ausgerechnet ihn, hatte treffen müssen mit dem scheißverdammten Ding. Nun schwieg er, nippte Kaffee mit Schuss und betrachtete Lukas im schrägen Sonnenlicht des späten Vormittags.

Lukas strich sich über das stoppelige Kinn, dann verzogen sich seine Lippen zu einem kleinen Lächeln. "Engelchen, warum hast du das nicht in Spanien gemacht?"

"Was?" Kais Stimme war rau und leicht erstickt. Man hörte ihm deutlich an, dass er gerade eben noch nicht nur geheult sondern gar geschluchzt hatte. Mit zitternden Fingern versuchte er vergeblich, Ordnung in seine Haare zu bringen.

"Auseinanderfallen, dir den Nervenzusammenbruch nehmen. Dort warst du so entspannt, glücklich, nicht?"

"Da war..,. es war...", Kai räusperte sich, aber er konnte nur flüstern: "... alles so weit weg. Nicht wirklich."

"Und hier?"

Kai hob das Kinn in Richtung des rot lackierten Hochstuhls. "Ich fall täglich drüber. Die Verantwortung, diese..., Gewitterwolke über mir. Ich warte nur noch auf den Blitz, der mich erschlägt."

Lukas grinste kurz, nippte seinen Kaffee und schwieg. Kai spürte wie er sich entspannte. Lukas versprach nicht, dass alles gut würde, schimpfte nicht, dass Kai sich anstellte, dass er so viel Unterstützung hatte. Er hörte einfach nur zu, bewertete nicht und versuchte auch nicht, etwas besser zu machen, ohne Ahnung zu haben.

Im Gegenteil. Er stellte seine geleerte Tasse zur Seite und betrachtete Kai einen Augenblick lang schweigend, dann gab er zu "An deiner Stelle hätte ich die Hosen auch voll, Kai."

Kai musste grinsen. "Echt?"

"Hm." Lukas erwiderte das Grinsen, dann hob er eine Hand und schob sie in Kais Locken im Nacken. "In deinen Schuhen mag ich nicht stecken. Aber... vielleicht hilft dir das ja... ich glaube, wirklich, dass du die beste Person für diese Art Scheiße bist."

"Was ? Echt?" Kai ließ sich von Lukas dichter ziehen, aber blickte ihn verwirrt an. "Ich? Warum?"

"Weil du sortiert bist und voller abgezirkelter Pläne. Ich glaube... das ist mein Ernst, Kai... ich glaube, dass es dich trifft, um dich zu retten. Vor deiner eigenen Planung, vor dieser Kälte, die du immer um dich hast."

Kai blinzelte, von dieser Diagnose überrascht. Lukas hatte ein Stück weit Recht. Klar. Er plante gern alles, aber für Chaos hatte er doch schon wirklich genug Kandidaten in seinem Leben. Jan natürlich, vorneweg, aber auch Lolli oder Benni, die Meiersche oder sogar den beknackten Pascal.

Lukas erriet seine Gedanken: "Keiner deiner Freunde, nicht einmal der Wauwau, haben dich so im Griff, wie dein Sohn es haben wird. Keiner wird diese Macht über dich haben."

"Macht? Und das soll mir helfen? Scheiße, Lukas, ich krieg gleich die nächste Panikattacke!"

Lukas lachte, knutschte Kai einmal fest auf den empört geöffneten Mund, dann erhob er sich ächzend. "Mein Rücken findet auf dem Fußboden hocken nicht mehr so gut, Engelchen." Er blickte zur Uhr. "Ich hab gleich einen Termin, ist wieder alles gut?"

Kai lauschte in sich, stellte überrascht fest, dass alles wieder gut war und nickte leicht. "Danke, Lukas. Echt."

Lukas stellte die Tasse in die Spüle und kam zu Kai ans Fenster. Er schob die Hände in die Taschen und blickte ihn an: "Hm. Wenn du mich so anschaust..., so Marke gefallener Engel, dann...". Er lachte und fuhr sich mit einer Hand über den Mund: "Scheiße, du bist immer noch so wunderschön und gefährlich für mich. Ich hau lieber ab. Auf Stress mit Noppi kann ich verzichten." Er winkte, drehte sich fort und Kai senkte den Blick auf seinen halbvollen Becher. Gleich drauf klappte die Wohnungstür.

Die Panik war nicht vollkommen überstanden, sie schien im Hintergrund zu lauern, aber Kai konnte damit besser umgehen. Er konnte sogar mit wenig Anstrengung lächeln, als sein Vater am Abend mit zwei Schachteln Pizza und einem Träger Bier in der Tür stand und Kai darum bat, dass er seiner Mutter einmal Bescheid geben möge, dass Norbert am nächsten Sonntag natürlich wieder zur Verfügung stehen konnte.

Kai warf seinem Vater einen kiebigen Blick zu.:"Sag das deiner Frau schön selber!" Er nahm ihm die Pizzaschachteln weg und entschied sich für seine Lieblingssorte, Thunfisch, leider hatte Norbert vergessen, dass Kai die Zwiebeln nicht mochte. Aber es war entspannt. Norbert berichtete wie die neuen Fenster und der endgültige Anstrich der Treppe vorangekommen waren. Kai pickte Zwiebeln von seinem Pizzastück und musste nur nicken. Auf Norberts Frage, warum er so heiser sei, antwortete Kai nur knapp, dass er sich beim Streichen erkältet haben musste und kam durch damit.

Als Jan wenig später durch die Tür gewankt kam, vollkommen ausgepowert von seinem Tag mit Punktspiel in seinem Team, einem Spiel, das er als Trainer für die Jugendmannschaft begleitete und einem Straftraining, weil besagte Jugendmannschaft sich auf dem Feld nicht sonderlich geschlagen hatte, waren Norbert und Kai bereits durch mehr als die Hälfte ihrer Pizza.

Jan fiel wie ein Wolf über die Reste her, kippte in der Zeit, die Kai für das Zähneputzen brauchte, schon drei Bier drauf und fiel nach einer Dusche ins Bett. Kai räumte mit seinem Vater die Küche auf. Sie schwiegen, wie immer bei solchen Gelegenheiten. Aber Norbert schwieg nicht so abweisend und eisig, sondern einfach wegen seiner Erschöpfung und vielleicht auch weil er keine Ahnung hatte, was er mit seinem Sohn besprechen sollte.

Norbert war nicht der aufmerksamste Vater. Aber selbst er hatte mitbekommen, dass die Themen Tini, Baby, Renovierung und 'kann xyz bei dir im Zimmer übernachten' nicht auf Kais Hitliste standen.

Nach einem kurzen Telefonat mit seiner Frau verabschiedete Norbert sich dann ins Bett, reichte Kai vorher aber noch den Hörer. "Gute Nacht, Kai."

"Hm." Kai blickte seinem Vater nach. "Mama?"

"Mama mich nicht, du hast mich zur Großmutter gemacht!"

"Hm, aber so will ich dich nicht nennen, Mama. Das passt nicht."

"Wie dann? Oma Martina? Pah!"

Kai schwieg einen Augenblick, dann murmelte er willenlos: "Ich hatte heute eine Panikattacke."

"Wie bitte?"

"Panikattacke, hab kaum Luft bekommen, musste..., einen Freund anrufen, damit er mir einen Kaffee kocht."

"Jan war nicht da?"

"Nee, Fußball. Er hat selber gespielt, Handy war aus. Außerdem ist der voll für das Ding... Ari mein ich. Das konnte ich nicht mehr... ab."

"Panikattacke, Kai, das ist ernst." Sie klang nicht überzeugt, ein wenig als wollte sie sagen, dass er medizinisch doch ausreichend gebildet sein müsste, um keinen hysterischen Unsinn zu erzählen.

Hastig ruderte Kai zurück: "Nee... geht schon wieder. War einfach alles zu viel in dem Moment."

"Aber du hattest doch schon einmal Probleme in der Art." Das altbekannte mütterliche Misstrauen.

"Hm. Hab deswegen aber Therapie gemacht. Es war wegen des Überfalls und bei Dunkelheit und jetzt ist alles wieder gut." War gelogen, aber er hatte sich bei Dunkelheit schon ganz gut im Griff und konnte seine Angst vor dem Motorengeräusch in der Regel gut weg atmen.

"Und jetzt hast du Angst, weil deine Zukunft im Dunkeln liegt." Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Die Stimme seiner Mutter war nüchtern, wie immer. Rational und zugleich beruhigend ernsthaft. Sie lachte nicht, schimpfte nicht, sie nahm sein Problem als eine lösbare Unannehmlichkeit auf, anstelle ihn zu verurteilen.

Einen Augenblick lang schwiegen sie beide. "Das klingt zu leicht", meinte er endlich: "Nein. Ich glaube, dass ich einfach..., ich sehe nicht, wie alles gut laufen kann, es wird mir zu viel."

"Zu viel? Verantwortung?" Der Ton seiner Mutter wurde hart: "Kai, so bist du nicht erzogen. Verantwortung ist etwas, das du zum Frühstück übernimmst. Mach dir da man keine Sorgen. Aber lass dich nicht von dieser Tini so vereinnahmen. Du hast ein Recht auf dein eigenes Leben und Glück, Kai! Ich glaube eher, dass du Angst hast, dass mit so einem Baby so viel schiefgehen kann. Die Angst erinnere ich von meiner Schwangerschaft. Unfälle, Unglücke und all die Ärgernisse, die möglich sind. Das ist normal."

"Das ist es auch." Eigentlich nicht. An Unfälle oder dergleichen hatte Kai in Verbindung mit dem Ding noch nie gedacht. Zynisch dachte er: 'Vielen Dank, Mama. Eine Millionen Sorgen mehr.' Dann meinte er leise. "Na ja, ein wenig vielleicht, aber auch... es ist auch unsicher, ich kann nichts planen."

"Die Natur sucht sich den Weg, sollst du sehen, Kai. Kann ich von hier etwas für dich tun, Junge?"

"Hm. Kannst du Norbert mal verbieten, herzukommen? Ständig übernachtet der hier und das ist... irgendwie ist das..." Fast hätte er 'scheiße' gesagt. Kai sah sich hastig um, aber er war allein in der Küche. "... merkwürdig", endete er schwach. Außerdem behinderte das sein Privatleben mit Jan.

Seine Mutter lachte leise. "In Ordnung. Der Wunsch geht in Erfüllung. Und du passt auf dich auf, mein Junge. Ja? Schläfst du genug?"

"Hm. Ja. Schon." Nein, aber das war okay. Schlafmangel war okay gegen die Panik.

"Kümmert Jan sich genug um dich?"

Das eher nicht, aber Kai murmelte nur, dass Jan wie immer alles richtig machte. Er bekam noch Grüße zu bestellen und legte mit dem Gefühl auf, dass er Gewicht von den Schultern hatte ablegen können. Am nächsten Wochenende war Norbert in der Tat nicht da, sondern musste kurzfristig sehr dringend seinem Schwager bei Reparaturarbeiten am Gartenhaus helfen.

Tini war Kai auch los, die hatte ein Aussprachewochenende mit ihrer Oma geplant, die vom anstehenden Status als Urgroßmutter noch eher unbegeistert war, aber zugleich einer der größten Geldgeber beim Hauskauf. Holger war auf einem Lehrgang in Bayern. Jan war auf Fußballturnieren. Lolli in London, schon wieder, oder immer noch, am Umziehen in seine neue Wohnung. Die Meiersche und Pascal hatten in Berlin Sex, worüber Kai nicht nachdenken wollte. Auch wenn ein leider sehr mit unerwünschten Details dekoriertes Telefonat mit der Meierschen zum Thema, warum Schwule es besser hatten als Heteros, und warum Kai das nun bald am Allerbesten wusste, frisch hinter ihm lag.

Einzig verschollen war das Bambi. Es fiel Kai verspätet auf, als er ganz allein in der Wohnung saß, Kaffee trank und niemand, absolut niemand, ihm auf den Geist ging, bis sein Bambi ihm eine Bildnachricht schickte, die ihn mit Paddelboot zeigte. Im Hintergrund eine Handvoll anderer Teenager und ein extrem durchtrainierter Jeremiah mit nacktem Oberkörper und pissigem Androidenmörder-Blick aus eisblauen Laseraugen. Gruselig. Darunter stand, passend naiv vom Bambi: "Meine Freunde von der Paddelgruppe, alle wollen dich kennen lernen. Kommst du ins Café Eckchen?"

Kai starrte auf das Bild, antwortete passend zu seiner Stimmung: "Natürlich nicht!", aber musste über Bambis Antwort, dass er damit eine Wette gewonnen hätte, schon wieder grinsen. Sein Bambi kannte ihn eben. Aber dieser Jeremiah..., komischer Typ. Den würde er im Auge behalten müssen.

Misstrauisch beschloss Kai, dass er dem Bambi mehr Fragen stellen würde, wenn sie sich im LPP zur gemeinsamen Schicht trafen. Dann stellte er das Handy komplett aus und genoss, dass niemand etwas von ihm wollte, bis Jan, mal wieder mit Schramme an der Hüfte, durch die Wohnungstür gehumpelt kam. Aus der medizinischen Versorgung ergaben sich aber glücklicherweise ganz amüsante weitere Spiele. Endlich einmal ein panikfreies, ungestörtes und dazu noch befriedigendes Wochenende, jedenfalls kamen sie auf ein positives Sexkonto.

184

Kai traf im LPP nicht nur an einigen seiner Wochenenden wieder auf Bardo, der wie immer Geld für die geplante Reise brauchte. Er traf erneut auf den megasüßen Typen, dessen Freund Jeremiah Bardo im Sommer im Sub Zero das Leben gerettet hatte.

Leon passte Kai im Flur hinter der Küche auf dem Weg zum Umziehen ab und zog das niedliche Jungchen hinter sich her: "Ah, da ist unser Kai ja!"

Misstrauisch sah Kai von seinem, irgendwie unpassend, frohgelaunten Chef zu dem Typen, der in zu knappem T-Shirt unter langarmigem Netzhemd und zu enger Lackhose wirkte, als habe man ihn aus einem Musikmagazin gepellt. Die schwarzen, lockigen Haare fielen ihm schwer ins Gesicht, hellgraue, große Augen wurden mit nervig verlogener Unschuld zu Kai aufgeschlagen.

Leon wies mit eleganter Geste auf das Jungchen: "Kai, Pax. Ich hab euch heute zusammen an der Bar eingeteilt. Pax, Kai wird dir die Maschinen und Abläufe zeigen, deinen Dienstplan maile ich dir zu, wenn du die Probezeit überstanden hast." Leon blickte zwischen ihnen hin und her und grinste froh. "Pax wollte unbedingt mit dir arbeiten..., ich muss sagen, dass der Effekt berauschend ist. Freue mich schon auf den Umsatz. Kai, leih ihm für heute bitte eines deiner T-Shirts."

Kai nickte stumm, um höfliche Worte verlegen. Er drehte sich zu seinem Spind um, nahm das für den Tag dunkelblaue T-Shirt aus dem Schrank und klatschte es Pax vor den Latz. Leon hatte sich bereits abgewandt und sprach in sein Handy, während er in Richtung seines Büros davon strebte.

"Oh, Leon ist so sexy. Mir wird ganz heiß." Pax grinste und fächelte sich Luft zu: "Und mit dir zusammen arbeiten zu können, ist ein Traum von mir..., einer von den Unartigen."

Misstrauisch blickte Kai das Jungchen an: "Echt jetzt?"

Pax grinste froh und leicht notgeil. Hastig rückte Kai etwas ab.

"So wundervoll! Oder? Oder? Ich bin so glücklich! Arbeit, die ganz okay bezahlt wird und dann auch noch mit dir! Du bist soooo geil! Leon hat mir eine Cocktailkarte mit Bild von dir zum Lernen gegeben. Hätte ich das gewusst, hätte ich die gar nicht klauen müssen. Außerdem freu ich mich über den Wechsel. Catering war anstrengend und ich musste dauernd sehen, wie ich zu den Veranstaltungsorten komme. Trinkgeld war auch voll mies." Er zog sich sein enges Shirt samt Netzhemd schamlos auf dem Flur über den Wuschelkopf.

Kai starrte seinen Körper an, zu überrascht, um sich rechtzeitig umzudrehen. Etwas zu dünn, mit dunklem Teint, mit teurem Tattoo von Tanja auf der Hüfte und kleinen Ringen in den Brustwarzen. Außerdem zeigte sich an den Oberarmen und Ellenbeugen eine Horde verdächtiger Narben.

Pax streifte sich das blaue Shirt mit LPP-Aufschrift über und zog die dreiviertel-Ärmel über die Ellenbeugen runter. "Hm, das ist gut, dass meine Narbenarme versteckt sind", murmelte er dann zufrieden.

Kai holte Luft, wagte es dann nicht, nachzufragen und Pax plapperte zugleich auch schon wieder los. Wie viel Glück er mit dem überraschend freigewordenen Job gehabt hätte und wie geil er Kai fand. Dass er allergisch gegen Zitrusfrüchte war. Ob Kai es schlimm fand, die Zitronen und Orangen aufzuschneiden, bis sie die bestellten Handschuhe da hatten. Dass die neue Kellnerin mal mit dem Make-up langsamer machen sollte, und dass der Koch mit den Zwiebeln echt langsamer machen sollte, und dass die Kundin geile Schuhe trug, leider nicht passend zum Outfit. Die ganze Zeit erzählte er, während er Kai folgte und sich zugleich anzog. Im Flurspiegel neben dem Bad wurde das Outfit dann noch einmal geprüft. Von allen Seiten. Nach zwei kurzen Zupfbewegungen schob er etwas Stoff vorn in die Hose, ließ den Rest hinten locker raushängen und sah Kai erwartungsvoll an.

"Ehm... okay. Ich geh mich umziehen, wir treffen uns vorn hinter dem Tresen", ordnete Kai an und ging betont zackig ins Bad davon, um einen neuen Wortschwall abzuschneiden.

Er war genervt, weil er sich gefreut hatte, auf der Arbeit seine Ruhe vor Leuten zu haben, die was von ihm wollten. Und jetzt war da dieses perverse Jungchen, das ihn öffentlich anhimmelte, was ihm total peinlich war. Außerdem schien Pax keinerlei Filter zu besitzen. Zwischen Hirn und Mund war offenbar eine Art Autobahn eingerichtet. Fremdschämen auf der Überholspur. Gereizt machte Kai sogar noch einen Umweg über die Küche, aber Bardo war nicht da.

Doch Kais Befürchtungen in Bezug auf Pax erfüllten sich nicht. Der Arbeitstag wurde super. Pax und er ergänzten einander nicht nur optisch oder akustisch, auch bei der Arbeit hinter der Bar war der dünne Junge auf quirlige, quasselige Art effizient. Außerdem extrem ordentlich, fast übertrieben. Der Tresen wurde nach jedem Kunden gewischt, kein leeres Glas stand im Weg, der Kaffeesatz-Kasten wurde immer geleert, lange bevor er überlaufen konnte. Wasserflecken um die Kaffeemaschine hatten keine Chance. Die Zapfanlage blitzte poliert. Die Spiegel hinter der Theke waren fleckenlos und die Regale staubfrei. Die Besteckkästen waren irgendwann entkrümelt und die Milch in den Maschinen wurde nie leer.

Kai, zu Hause immer eher schlampig, war auf der Arbeit diese Ordnung auch gewohnt und hasste es, wenn er mit anderen am Tresen stand, die ein Schlachtfeld hinterließen.

Darauf angesprochen zwinkerte Pax Kai niedlich zu und meinte mit eben gerade zu lauter Stimme: "Ja, bin nicht nur im Bett anal fixiert, geil praktisch. Oder ist dir das zu viel hier? Ich finde, dass du auch anal fixiert sein musst, so wie hier immer alles blitzt und blinkt."

Verschreckt zog Kai sich darauf in die Küche zurück, um sich von den roten Ohren zu erholen. Pax konnte, anders als Kai, sehr gut kellnern und räumte häufiger auch mal die Tische in der Umgebung ab, schaffte es dabei unglaublich viel Geschirr geordnet und scheinbar mühelos auf einem Arm zu tragen, dabei elegant zu gehen und mit Gästen zu flirten. Bestellungen konnte er sich allerdings nicht merken, stetig war ein kleiner Schreibblock sein Begleiter. Ab zwei Getränken in einer Bestellung musste er ihn schon nutzen und tat es mit einer absurd schrecklichen Handschrift, die Kai oder andere kaum entziffern konnten.

Er flirtete schamlos mit allen, die in seine Reichweite kamen. Da bot er das totale Kontrastprogramm zu Kais pissigen Blicken für jeden, der ihn auch nur freundlich ansprach. Vom Schulmädchen zum rentennahen Bänker, niemand war vor Pax sicher. Fast erschien es Kai wie eine für ihn natürliche Reaktion auf Ansprache, genau wie bei ihm selber das Zurückzucken und Verschließen. Man sagte Pax etwas Gewöhnliches wie: 'Holst du bitte noch mal zwei Milchtüten?' Und er erwiderte nicht das logische 'Klar, gern.' oder 'Hols dir selber'. sondern er schlug die Augen auf, lächelte freudig und sagte schockierende Dinge wie 'Oh, ganz allein? Bist du sicher, dass du mir im dunklen Kühlraum nicht die Hand halten musst? Ich könnte dafür sorgen, dass dir nicht kalt wird.' Er sagte auch nicht 'Rück mal, ich muss ans Kühlfach', sondern kickte Kai mit einem Hüftschwung zur Seite, der von einem frechen Blick oder Zwinkern gefolgt wurde.

Nachdem Kai zwei Stunden auf diese Art mit Pax gearbeitet hatte, fiel ihm auf, dass er abhärtete. Die Sprüche kamen bei ihm an wie leeres Blabla um die eigentliche Aussage herum und er entspannte sich. Die tiefen Blicke in die Augen oder die zarten Berührungen, wenn sie sich zu dicht am Kaffeeautomaten oder Kühlfach drängten, fühlten sich nicht mehr aufdringlich an, sondern wie Teil der Arbeit. Vielleicht war es auch so, dass Pax allmählich ruhiger wurde. Die Sprüche wurde mit der Zeit weniger, am Ende der Schicht konnte Kai fast schon normale Sätze mit ihm wechseln. Sie hatten die Frühschicht, wie Leon es gern mit neuen Angestellten machte, aber Kai wusste nach einem Blick auf das zufriedene Grinsen seines Chefs, dass Pax und er einander noch viel mehr sehen würden.

Gleich die nächste Spätschicht am Donnerstag war tatsächlich die dünne Quasselstrippe hinter der Bar, in grünem T-Shirt mit langen Ärmeln, aber natürlich fast schon bauchfrei und voller Wonne, als Kai durch die Tür geschlappt kam. Und dieses Mal war einer seiner Lover auch schon zur Stelle, Espressotässchen in der riesengroßen Hand, so dass es wirkte, als hätte man ihm Puppengeschirr gereicht. Thies. Als er Kai sah, lächelte er freundlich, seine Augen wurden von zarten Fältchen umrahmt, die das Lächeln um Strahlkraft erhöhten. Kai nickte ihm einmal zu und erlaubte, dass er in eine Unterhaltung über Bardo und Jeremiah gezogen wurde. Die Zwei schienen häufig etwas miteinander zu unternehmen.

Kritisch beäugte Kai Thies, der sein Tässchen betont vorsichtig wegstellte und fragte ihn: "Ist das denn so passend? Wie alt ist Jeremiah überhaupt?"

Der Mann rollte die kräftigen Schultern einmal und machte eine unbestimmte Bewegung: "Er ist fast dreißig. Schwer zu glauben, bei dem Baby-Gesicht, nicht?"

"Hm." Kai entriss Pax ein Glas und das Poliertuch und begann pro forma sein Geld zu verdienen.

"Er ist in Ordnung. Jerry kommt immer etwas krass rüber. Er ist auch krass, das muss man sagen. Aber wenn er sagt, dass er mit dem Jungen paddeln geht, um ihm Leute in seinem Alter vorzustellen, dann macht er das und nur das. Bei ihm ist Bardo sicher."

"Hm." Kai polierte noch zwei Gläser, dann fragte er: "Und was gibt uns die Sicherheit, dass Jeremiah ihn nicht in was reinzieht? Bardo ist..., naiv. Leicht zu beeindrucken."

"Jeremiah ist..., ehrlich. Er kann nur ehrlich. Anders kann ich das nicht sagen."

"Er hat mein Handy gehackt. Nennst du sowas ehrlich?"

Thies lachte laut auf und lehnte sich dann vor: "Das ist was anderes. Er ist Hacker, das ist sein..., Job. Passwortschutz oder dergleichen nimmt er einfach nicht wahr."

"Wie bitte?!"

"Nicht was du denkst, Kai. Er ist besonders. Hyperintelligent, er hat vermutlich Asperger-Syndrom oder etwas in der Art. Er hat nebenher in den letzten Jahren zwei Doktortitel erworben, aus Langeweile. Einen in Mathematik und einen in Religionswissenschaften. Seine Eltern haben ihn als Kind nie testen lassen. Er ist mit siebzehn von zu Hause ausgerückt und hat sich bis heute selber auch nie testen lassen, findet das irrelevant. Aber er arbeitet für eine Bundesbehörde als Berufshacker, seit er keine achtzehn ist. Alles legal, aber den Job hat er sich bei der Behörde wohl selbst arrangiert, wenn ich das richtig verstanden habe. Sein Gerechtigkeitssinn würde ihn nie etwas tun lassen, das anderen schadet. Dein Handy hat er sicherlich nur durchgesucht, um zu sehen, ob du Bardo schaden könntest... oder Novi."

"Novi?"

"Pax. Er heißt November Pax, seine Mutter war schräg und eine Chaotin, außerdem auch nicht sonderlich gut für ihn."

"Ja, okay. Er ist mit Jeremiah zusammen, richtig?" Jedenfalls hatte der kühle Typ Pax mit dem Fahrrad abgeholt und sie hatten vor der Tür geknutscht: "Und wie passt du ins Bild?" Noch deutlich hatte er vor Augen, wie Thies und Pax geknutscht hatten.

Thies hob die Schultern. "Wir sind zusammen. Novi, Jerry und ich."

"Alle drei?"

"Hm. Alle drei. Es ist..., zugleich komplizierter und einfacher, als es sich anhört."

"Einfach? Wenn du das so sieht. Und wieso baggert der dann alles an, was Beine hat?"

Thies grinste.:"Nein, das ist nur... Novi. Er hat keine Bremse. Wenn er aufgeregt ist, dann wird es immer schlimmer. War mir früher auch unangenehm." Thies lachte auf, dann zuckte er mit den Schultern. "Was er denkt, sagt er oft auch sofort. Hat mir mal gesagt, dass das Leben zu kurz ist, um sich dauernd zurückzuhalten oder zu schämen. Man gewöhnt sich daran. Novi meint das nicht ernst. Klar, er hat auch seine ernsten Seiten. Seine dunklen Ecken. Aber das Schlimmste ist zum Glück überstanden...". Der Ton legte nahe, dass Thies das eher hoffte als wusste.

Kai dachte an die Narben und nickte langsam. Kunden lenkten ihn zum Glück für eine Weile ab, bis das Gefühl, indiskret nachfragen zu müssen, sich gegeben hatte. Erleichtert blickte er Thies hinterher, als der Mann sich wenig drauf zum Gehen wandte.

Bis Ende Oktober, als es kalt und stürmisch zu werden begann, war Pax eine Konstante im LPP. Er schien noch einen anderen richtigen Job zu haben, über den er nicht sprach, aber hopste ansonsten total distanzlos hinter dem Tresen oder auch einmal als Kellner durch das LPP. Er flirtete mit jedem, der sich nicht sofort wehrte. Da Leon die Optik mit ihnen Ben sehr gut gefiel, waren Kai und Pax bald dauernd zusammen eingeteilt. Da Pax und Kai beide sehr fleißig und ordentlich waren, oder anal, wie Pax kichernd immer sagte, kamen sie auch ausgezeichnet miteinander aus. Kai erwischte am Donnerstagabend fast immer den frühen Bus. Das war einige Pluspunkte wert.

Und Pax machte sich in dem Job dermaßen gut, dass er schon nach zwei Wochen allein den Samstag übernehmen konnte, so dass er und Kai sich auch in Zukunft abwechseln würden. Sein erstes dadurch komplett freies Wochenende war für Kai aber leider schon verplant.

Es war auch das Wochenende, an dem er sein Versprechen für Jan einlösen musste. Er musste mit Jan zu dessen Großeltern auf den Bauernhof und mit seinen Cousinen und Cousins das Herbst-Familienfest feiern. Schon Tage vorher schob Kai Panik und überlegte, ob es peinlich war, wenn er lange Unterhosen trug, ob er Gummistiefel brauchte oder vielleicht einfach nur eine Grippe, um der Sache zu entgehen.

Jan hatte echt coole, an ihm zumindest, scharf aussehende Thermounterwäsche, für das Training. Kai spielte kurz mit dem Gedanken, dass er auch solche haben wollte. Dann erfuhr er beim Shoppen den Preis von solchen Teilen und die Frage erübrigte sich. Im Endeffekt erstand er aber ein günstiges Paar Gummistiefel, weil sein einziges Paar im Ferienhaus an der Küste, im Flur, auf ihn wartete.

Am Tag der Abreise gab es Stress zwischen Jan und ihm, weil er zu viel gepackt hatte und lauter Klamotten, die beim Herbstfest keinen Sinn machten. So Jan. Kai brauchte einfach das Wissen, dass er alle Eventualitäten bedacht hatte, auch die Eventualität, dass er schick in eine Disco musste. Für Jan war es unlogisch, weil er davon ausging, dass sie die drei Tage besoffen am Kartoffelfeuer abhängen würden.

Und dann..., war das Wochenende einfach nur geil. Kai war hinterher selber im Schock darüber, aber es war geil, geil, geil. Das war vor allen Dingen, weil Jan und er gar nicht mit allen Anderen in der Scheune schliefen, sondern im Kinderzimmer des Cousins Eike. Kai kam mit leichten Halsweh und beginnendem Husten bei dem Treffen an. Jans Tante sah dies, runzelte die Stirn und bestimmte dann, dass sie nicht in der Scheune schlafen sollten, damit Kai nicht noch richtig krank wurde. Die Diskussion darum wurde auf Platt geführt, so dass Kai verwirrt zwischen Jan und seiner Tante hin und her blickte, bis sie ins Haus abgeführt wurden. Es wurde das Kinderzimmer eines Jungen erwählt und Jan schien keinen Widerspruch zu wagen.

Die kleine Dachstube war saugemütlich, nur für sie beide gedacht und nach einigen Runden Alkohol am Lagerfeuer und einer Fahrt mit Traktor über das Stoppelfeld und noch einer Runde Alkohol in der Scheune beim Abendessen, schlief Kai einfach ein, ohne Sorgen, Nöte oder kalte Füße. Die mit lauter roten Autos versehene Bettwäsche konnte da auch nicht mehr stören.

Außerdem mochte Kai die Cousinen und Cousins von Jan, auch wenn er das nie laut gesagt hätte. Vom Alter von vier Jahren bis über dreißig Jahre waren alle Altersgruppen dabei. Besonders die Teenager beteten Jan an, er war ein Fußballgott für die Jungs und der 'Ich fahre euch rasch in die Disco'-Gott für die Mädchen. Kai und Jan waren die einzigen, die schwul waren, aber niemand verlor auch nur mehr als ein Wort darüber. Es war wie verhext. Genau wie das Dachzimmer gestaltete sich das Zusammensein mit der Familie unerwartet komplikationslos und gemütlich.

Jan war von Beginn an auf Krawall gebürstet, was die Autofahrt für Kai anstrengend gestaltet hatte und er war auf Konfrontationen aus. Den ganzen Weg zum Oktobertreffen hielt er Kais Hand, außerdem hielt er Kai Vorträge darüber, dass er dazu stehen würde, und wie! Aber seine Kampflust musste ungenutzt verpuffen.

Es began,n für Krawallabsichten vollkommen ungünstig, bereits damit, dass Jans Oma ihn in die umfangreichen Arme schloss, auf die Wange knutschte und dann in Platt-Hochdeutschem Kuddelmuddel in Richtung Küche verkündete: "Jan und sin Freund sind doa! Wir können mit der Vergabe der Lose für die Scharade anfangen! Jan, nu komm, hest du dran decht, uns den Fußball mitzubringen?"

Nachdem er seinen Freund überall hatte vorstellen dürfen, aber niemand sonst auch nur ein Wort darüber verlor, dass Kai männlich war und nicht nur so ein Kumpel-Freund, gab sogar Jan auf. Einzig eine Cousine meinte verwirrt: "Ach, warst du nicht neulich noch mit Bianca da? Was ist denn aus der geworden?", was dazu führte, dass Jan den Schluss mit dieser Tante noch ein wenig auswalzen durfte. Er tat dies, inklusive einem Bericht über die Wecker-an-den-Kopf-Geschichte, die alle ringsum zum Lachen brachte. Auch wenn Jan mit einer Andeutung darüber, wobei Bianca sie gestört hatte, für rote Ohren bei Kai sorgte. Außerdem löste Jan damit eine Unterhaltung über Exfreunde und peinliche Beziehungsprobleme aus.

Jan war das Übernachten in einem normalen Zimmer zwar erst etwas zu unromantisch, aber er änderte seine Meinung, als Kai ihn am Morgen mit einem Becher Tee und einem Blowjob versorgte, bevor er ihn eine gute Runde durch Eikes Kinderbett scheuchte. Das kam hauptsächlich daher, dass sie wegen Tini, Olli oder Norbert, die nahezu dauerhaft auf die eine oder andere Art bei ihnen übernachteten oder abhingen, kaum noch zu so richtig gutem Sex kamen.

Kai war einfach komplett notgeil und unausgeglichen gewesen. Eine geschlossene Tür, durch die sie auch nicht zu hören waren, weil das restliche Haus leer war, während alle Bewohner in der Scheune Frühstück aufbauten, half ihm dazu noch, sich locker zu machen.

Jan, in Sachen Sex natürlich immer nahezu unersättlich, hatte alles für die Vorbereitung, außerdem Gleitgel und Kondome dabei. Er gab, nach der zweiten Runde recht vehementem Analsex in ebenso vielen Stunden, schließlich zufrieden seufzend zu, dass dieses Cousinentreffen ausnehmend geil war, er aber jetzt gern etwas Erholung für seine Rückseite bräuchte: "Lass uns nachher noch mal gegenseitig einen blasen oder so, Kai, wenn du noch nicht genug hattest."

Kai hatte die Rücksicht, auf diesen Vorschlag hin zu erröten, aber tat kund, dass er jetzt genug gehabt hatte. Sie beide waren sich einig, dass ein Cousinentreffen mit Eikes Kinderzimmer als Rückzugsort eine sehr geile Sache war und gern wiederholt werden durfte. Somit war der Herbst zwar stürmisch und arbeitsreich, aber zugleich auch unerwartet harmonisch und befriedigend.

185

Ein wenig war die neue Harmonie im Herbst auch darin begründet, dass Kais Mutter und Lukas seine Panikattacke vor Jan verheimlicht hatten. Kai selber waren die ganzen Sorgen, die in dem Moment erdrückend erschienen waren, hinterher nicht mehr so schlimm vorgekommen, ja, eigentlich fast schon peinlich. Jans mangelndes Verständnis für seine Probleme war mit einem Mal nicht mehr so kränkend, sondern nur Jans übliche unbeschwerte Art.

Und die Sorge, dass Ding bei ihnen einziehen würde, erübrigte sich tatsächlich nur wenige Tage darauf. Die Renovierungsarbeiten waren soweit fertig, dass im Haus gewohnt werden konnte. Auf Baustellenniveau, aber mit fertigem Dach und schließenden Fenstern ohne Schimmel im Rahmen und mit halbwegs eingerichteter Küche.

Kai musste die Räumlichkeiten an der Seite seines Vaters begehen, danach den Fortschritt loben und am Ende konnte er dann als Preis Tinis Zusagen nach Hause nehmen, dass sie nicht mehr bei ihm und Jan wohnen würde. Tatsächlich konnte der Einzug in die Bruchbude im Wald dann in der ersten Novemberwoche, vor dem errechneten Termin der 'Explosion der Riesentonne', wie Lolli es erschaudernd nannte, durchgezogen werden.

Zu der von ihnen umgehend verkündeten spontanen Einweihungsfeier meldeten sich natürlich ihre Clique, Freunde von der Uni, Tinis Sportfreunde, Holgers Soldatenfreunde und, seitens Kai ungefragt und ungebeten, wie auch unerwünscht, die Meiersche und Lolli als Besuch an. Lolli, weil er schon länger nicht mehr da gewesen war und noch immer Sachen bei Kai untergestellt hatte, die Meiersche, weil Pascal an dem Wochenende sowieso auf einem Lehrgang war und er sich sonst einsam fühlte.

Kai hörte die Nachricht, dass Pascal nicht mit von der Partie sein würde, mit Erleichterung. Pascal hatte aber in den letzten Wochen auch keinerlei Bemühungen unternommen, mit Kai auch nur zu reden, so dass Kai annahm, das er und Pascal nie wieder Freunde werden würden, auch ohne Eifersucht um Lukas.

Pascal war ein bis zwei mal im LPP aufgetaucht, hatte von Kai einen Kaffee gekauft, einmal sogar ausgegeben bekommen, aber mehr als drei Sätze waren nicht gewechselt worden. Alle diese Sätze hatten beinhaltet, wohin Pascal mit der Meierschen in den Urlaub wollte und welche Möglichkeiten Pascal sah, nach Berlin zu wechseln und welche Möglichkeiten es gab, sein neues Designersofa bei der Meierschen in der Wohnung zu platzieren. Fragen zu Kais Studium, zum Ding, zu Jan oder wie es ihm ging, waren Pascal nicht in den Sinn gekommen und kaum war der Kaffee im To-Go-Becher verstaut, schon trennten sich auch wieder ihre Wege. Als Pascal am Samstag drauf mit Sporttasche, zu teuren Designersportklamotten und seinem teuren Sportwagen zum LPP kam, ließ Kai ihn deswegen eiskalt von Pax anflirten und bedienen und verzog sich für den Moment in die Küche zu Bardo.

Ihre Beziehung schien Kai eingefroren, in einen Zustand des Misstrauens und schlechten Gewissens. Es tat ihm um Carlchen sehr leid, aber zu Pascal nett zu sein, kostet ihn einfach zu viel Kraft. Daher sagte er auch einem Besuch in Berlin nicht zu, als Lolli und die Meiersche, erfolgreich bei ihnen angelangt, daran zu planen begannen.

Es gab die üblichen halbherzigen Proteste, dass Kai nicht so unsexy und langweilig sein sollte. Carl und Lolli bewarfen Kai eine Weile lang mit Kügelchen aus Küchenpapier und Glitzer aus Lollis Arsenal im Kosmetikkoffer, während er noch am Esstisch zu lernen versuchte. Aber Kai konnte die beiden mit einem elendig langweiligen Strafvortrag über seine Doktorarbeit und die vielen Prüfungen in den Kursen rasch vertreiben.

Bardo tauchte, nach dem herbstbedingten Abklingen der vielen Aktionen mit Jeremiah, auch nicht wieder bei Kai auf. Allerdings, weil er unglaublich viel für die Schule schuften musste. Sein Ziel, im nächsten Sommer nach New York fliegen zu dürfen, begleitete jeden seiner wachen Gedanken. Seine Noten zeigten einen Aufwärtstrend, aber mehr auch nicht, was ihn besorgte. Wann immer sie sich im LPP trafen, wo Bardo am Wochenende noch immer in der Küche half, erzählte er von den neusten Plänen für die magische Stadt seiner Träume und, teils ein wenig sorgenvoll, von seinen letzten Noten.

Das Rudern mit Jeremiah hatte ihn zudem in eine Sportgruppe gebracht, in der er sich offensichtlich ganz wohl zu fühlen schien. Jeremiah kam in den Erzählungen nicht mehr vor, aber dafür lauter neue Leute, die Kai alle nichts sagten. Gelegentlich versuchte Kai herauszuhorchen, ob Bardo in einer bestimmten Person einen besonderen Freund, oder vielleicht gar mehr, gefunden haben mochte. Aber Bardo war, wie immer, ein wenig naiv und fröhlich, aber offensichtlich komplett ahnungslos.

Kai fühlte sich etwas außen vor, war zugleich vordergründig erleichtert und irgendwie unzufrieden. Vor Jan behauptete er immer, dass Bardo endlich, endlich von ihm ablassen würde. Aber insgeheim fragte er sich, ob der Junge ihm nicht etwas verheimlichte.

Pax schien eines Abends dann sogar mehr über Bardo zu wissen als er selber und das war etwas, das er nicht gut ertragen konnte. Misstrauisch krebste Kai auf der Arbeit am Samstag im Frühdienst vor Tinis Einweihungsfeier dichter an das Küchenfenster, in dem Pax lehnte, um mit Bardo und ihrem Koch zu flirten, während er dem Rest der Bevölkerung einen ausgezeichneten Ausblick auf seinen Hintern und den nackten Rücken bot, weil seine Arbeitsshirts nach und nach immer kürzer zu werden schienen.

Kai entriss Pax eine Bestellung für Suppe und Käsetoast und kramte nach Besteck, während er die Ohren spitzte. Bardo erzählte vom letzten Samstag, vom Ausgehen mit einem geheimnisvollen Mister X, dessen Erwähnung ihm rote Ohren bescherte. Verdächtig.

Kai musste die drei Schritte zum Tresen gehen, um das Essen an die Studentin zu geben und abzukassieren. Er konnte daher eine kurze Zeit nicht mithören. Als er wieder zum Küchenfenster krebste, fragte Pax gerade mitfühlend. "Hat er wirklich nicht gewusst?"

Bardos Stimme klang etwas verschnupft. "Nee, vermutlich nicht. Aber... aber... egal."

Sehr verdächtig. Kai lehnte sich zu Pax in das Küchenfenster. "Worum geht es eigentlich?"

Bardos Ohren erhitzten sich noch mehr. Er senkte den Blick. "Vielleicht meinen neuen Freund", meinte er dann, seine Blicke huschten unruhig über die Bestellzettel und dann zum Koch zurück, der gerade mit der Fritteuse kämpfte.

Kai blinzelte Bardo dumm an. "Vielleicht Freund?!"

"Hm." Treudoof lächelte Bardo ihn an: "Ich hab Novi gerade erzählt, dass wir seit gestern wohl zusammen sind..., glaub ich... ,denk ich..., irgendwie." Unsicher verwand Bardo die Finger.

Kai starrte Bardo an. Allein, dass er Pax mit dem Spitznamen Novi anredete! Alles sehr verdächtig. Er wurde sich dann einer Präsenz hinter ihnen gewahr. Gleich drauf verkündete Leon: "Wenn ich wollte, dass meine Kunden eure Hintern bewundern, wäre es im Vertrag enthalten. Frontalservice, wenn ich bitten darf."

Kai starrte seinen Boss böse an, dann sah er zu Pax rüber, der sich zum Flirt bereit umgedreht und dichter zu Leon gelehnt hatte: "Wir hatten etwas mit der Küche zu klären."

Pax kicherte. "Frontalservice gehört bei uns doch zum Standartprogramm, Chef. Ich bin mir sicher, dass einige Kunden auch gern mal von hinten bedient werden wollten." Die großen Augen wurden aufgeplinkert, Kai wandte sich, ätzig gestimmt, fort und blendete aus, dass Pax wirklich haarscharf genau die Sachen laut sagte, die man gerade so nicht zu denken wagte.

Leon blickte amüsiert zwischen ihnen hin und her, dann sah er zum Koch, der gerade eine große Dose rote Bohnen öffnete und beschäftigt wirkte. "So? Und habt ihr es klären können, Kai?"

Kai verschränkte die Arme, dann schüttelte er den Kopf: "Nee, ich bin gleich zurück." Hastig wand er sich um Leon und Pax herum und stürmte zur Küchentür, wo er Bardo am Handgelenk in den kleinen Raum mit der Kühltruhe zerrte.:"Wie bitte?! Warum weiß ich da nichts von?!"

Bardo blickte teils beschämt, teils überrascht auf Kai hinunter: "Na... ich hab doch erzählt von der Paddelgruppe."

"So? Wo kommt da der Freund her?"

"Artur. Hab doch von dem erzählt."

"Nee, mir nicht." Teils gelogen, Kai hatte sich die vielen neuen Namen nicht gemerkt. "Was ist das für ein Typ?"

"Er ist kleiner als ich."

Kai blickte an seinem Freund hoch. "Hm." Das war keine Kunst, Bardo wuchs wie Unkraut. "Und?"

Bardo zählte an den Fingern ab. "Er ist dunkelhaarig, spielt Cello, so wie ich. Er ist schon achtzehn, aber geht zur Schule, wie ich, in die HGS aber, nicht in meine. Wir haben uns beim Paddeln kennen gelernt."

"Und? Spielt Cello, paddelt, geht zur Schule und ist vermutlich schwul, ist doch kein Grund, gleich mit dem was anzufangen!"

"Bist du..., bist du...?"

"Sauer?"

"Nee, ich mein, eifersüchtig?" Es klang verdächtig hoffnungsvoll.

"Nee. Vielleicht doch, aber nicht, wie du denkst. Warum wusste Pax denn davon?"

"Na. Du hast doch so viel Stress gehabt, mit Tini und Ari und deinem Vater. Du hast die ganze Lernerei wieder und so, da wollte ich dir nicht auf die Nerven gehen, Kai."

"Nicht auf die Nerven gehen? Bardo! Ist denn alles klar mit diesem Artur?"

"Hm. Das ist es ja. Wir passen gut und gestern war eine Geburtstagsfeier, da haben wir uns geküsst. Ein wenig."

"Und?"

"Und jetzt weiß ich nicht, ob wir zusammen sind oder nicht! Der hat so komische Sachen gesagt, als ich nach Hause musste. Was mach ich denn jetzt?!"

Kai blinzelte Bardo perplex an. "Ihn fragen?"

"Das meinte Pax auch, aber ich trau mich nicht!" Bardo seufzte und knetete die Ecke seiner Schürze in den großen Händen. Seine Rehaugen ruhten voller Hoffnung auf Kais Gesicht. "Ich hab Angst, dass es kompliziert ist, wegen Alkohol oder so..." Hastig wedelte er mit den Händen. "Ich hab nix getrunken! Ich schwöre, aber er hatte etwas und dann... haben wir eben..."

"... geknutscht. Verstehe. Du brauchst einen Spezialisten in diesen Dingen. Moment!" Kai zückte sein Handy und blickte in den Spiel- und Trainingsplan von Jan. Sie hatten Glück. Er war frei. Rasch wählte Kai die Nummer und lächelte, als sein Freund sich mit leicht rauer Stimme meldete. "Na, Baby? Sehnsucht?"

Im Hintergrund war Stimmengemurmel zu hören, dann surrte ein Bohrer. Jan musste offenbar beim Renovieren helfen.

"Hey, Bardo hat ein Problem. Ein Beziehungsproblem. Sag mal was dazu." Kai reichte weiter, nickte Bardo zu und huschte nach vorn hinter den Tresen, wo Pax gegen eine Meute durstiger Leute ankämpfte, die alle das eine oder andere überteuerte Weihnachtsspezial probieren wollten. Es war für eine gute Stunde hektisch im LPP, so dass Kai erst zum Dienstschluss wieder an sein Handy und das Bambi denken konnte.

Sie trafen sich beim Bad wieder, als Kai sich umziehen wollte. Bardo trug einen Ökopulli und hatte den Cellokoffer auf dem Rücken. Er strahlte Kai an. "Jan hat mir gesagt, dass ich Attacke machen soll und hat mir genau vorgesagt, was ich per Nachricht an Artur schreiben soll, damit das nicht peinlich wird. Das hat total gut geklappt." Er reichte Kai das Handy zurück.

"So?"

"Hm. War nur Knutschen auf Party für den. Ich bin so erleichtert."

"Erleichtert? Was? Wieso? Wolltest du nicht einen Freund? So, Tralala, wir passen so gut?" Gereizt knüllte Kai sein Arbeitshemd in den Wäschesack.

"Ja. Einen." Bardo lächelte Kai nachsichtig an. "Aber, doch nicht unbedingt Den."

Kai nahm sein Handy in Empfang und seufzte. "Natürlich nicht, wie konnte ich das denken? Was haste jetzt vor?"

Bardo hopste kurz. "Ich komm vor Tinis Party rasch mit zu euch. Bin auf die Einweihungsfeier eingeladen und hab ihr versprochen, dass ich dort spielen werde."

Die Feier hatte Kai schon wieder verdrängt. Gereizt zerrte er am Reißverschluss seiner Jacke und schob die Hände in die Taschen. "Oh. So edel soll das werden?"

"Wieso edel?" Unsicher blickte Bardo an seiner Cordhose entlang zu den Ökoschuhen. "Nö. Ich soll nur etwas spielen, dann darf ich was essen. Darf ich bei euch übernachten? Ist doch Wochenende."

Kai sagte zu, freute sich insgeheim, dass sein Bambi wieder normal war, das alte Tapsige selbst. Außerdem würde er Bardo gegen zehn Uhr dringend nach Hause bringen müssen und wusste so schon, dass er sich früh genug von dieser scheiß Einweihungsfeier mit Mega-Bojen-Tini würde absetzen können.

Und mit einem Höhepunkt der Verschlagenheit schaffte Kai es tatsächlich nach nur wenig Zeit mit lauter Musik, zu lautem Gelächter und all den bescheuerten Witzen auf seine Kosten und Geschenken zum Thema Baby, davon zu kommen.

Das Haus nahm Gestalt an, das musste Kai Tini und Holger zugestehen. Überall verbreiteten die mühsam abgeschliffenen und lackierten Holzfußböden Gemütlichkeit, die Treppenstufen waren in ansteigenden Rotschattierungen lackiert, die Küche fast fertig und ein Badezimmer hatte immerhin schon ein funktionierendes Klo und eine Dusche. Tinis und Holgers Stil voller fröhlicher Farben gefiel Lolli. Der stürzte sich in eine lange Unterhaltung zum Thema Design und Ideen mit Tini, was Kai davor rettete, mit ihr eine Hausbegehung zu machen.

Die Meiersche hatte für Essen gesorgt, in Kais Küche, aber immerhin schmeckten weite Teile des Büffets hervorragend. Der Abend war nicht gänzlich verloren. Kai konnte in der Ecke der Küche beim Büffet von drei Seiten vor Angriffen geschützt stehen, Bardo beim Spielen zuhören, weil der im Esszimmer gleich bei der Küche saß und sich vollfressen.

Außerdem hatten Tini und Holger Norbert und Olli nicht eingeladen, nur Unifreunde und ein paar Leute von Tinis Sportkursen. Bianca stand im Minirock zu hohen Stiefeln an der Theke zwischen Küche und Esszimmer, trank zu viel Sekt und hatte einen älteren Typen dabei, der wohl ihr neuer Freund war. Jan bezeichnete ihn prollig und herablassend als 'den reichen Stecher'. Jan und sie nickten einander nur knapp zu, dann verschwand er mit Holger und einigen anderen zum Saufen in ein Nebenzimmer, in dem dazu noch eine Fußballübertragung lief.

Kai machte es wie immer. Er hörte Bardo beim Spielen zu, nippte einen Sekt mit Saft, überhörte sämtliche arsch-doofe Sprüche zum Thema Tini, Baby oder Verhütung und genau um zehn Uhr lehnte er sich kurz zu Jan über den Sessel, rüttelte an seiner Schulter und sagte "Ich bin müde, bring das Bambi nach Hause, der pennt bei uns."

Jan lehnte den Kopf in den Nacken, blickte prüfend in Kais Gesicht, dann lächelte er. "Siehste, besser das Bambi als das Baby."

Kai grinste, als ihm klar wurde, dass es stimmte. Jan mal wieder. Der wusste immer so gut Bescheid über die Dinge, die Kai brauchte. Jan umfing kurz seine Finger und sagte leise: "Ich werde von hier noch zu Matze mitgehen, vielleicht penne ich heute Nacht dort."

"Okay. Bis morgen." Sie küssten sich nicht, zu viel Trubel drum herum, aber Kai ließ seine Finger einmal sachte über Jans Nacken streichen, bevor er sich abwandte.

An der Haustür umarmte und drückte Tini Kai noch eine Runde, bis er sich frei machen konnte. Sie war hibbelig, hielt sich den umfangreichen Kugelbauch und konnte nicht einmal mehr hopsen. "Ach Kai! Ich freu mich so! Es ist alles perfekt, nicht? Wie findest du das Bild im Babyzimmer? Das ist von Benni, ist das nicht wunder-wunderschön?"

"Habs nicht gesehen, interessiert mich nicht, will ich nicht wissen, tschüss!"

"Ach Kai..." Aber Tinis Protest war zu schwach, zu routiniert, um ihn aufhalten zu können. Kai entkam. Bardo fest an der Hand hinter sich her schleifend grummelte Kai sich den düsteren Radweg am Wald entlang.

Kalter Wind fegte gegen ihre Beine und Gesichter, es roch nach Winter und modrigem, nassen Verfall. Endlich an der Ampel vor dem Haus meinte Bardo, nachdenklich sein Cello besser auf die Schulter hochhievend "Das war irgendwie unhöflich, oder?"

"Hm?" Kai kramte mit steifen Fingern nach dem Hausschlüssel und drückte auf den Knopf an der Fußgängerampel. "Was?"

"Na, Tini so sitzen zu lassen. Du hast nicht mal das Babyzimmer ansehen wollen, Kai."

"Ne. Will ich auch nicht. Ist noch kein Baby drin. Wenn es erst mal da ist, dann muss ich sicherlich dauernd da abhängen und einhüten."

Die Ampel sprang um und Kai strebte zu ihrem Haus. "Wenn du noch bleiben wolltest, Bambi, dann wär es doch geil gewesen, das vorhin zu sagen."

"Nein... nein. Ich bin doch gar nicht Tinis Freund. Ich war nur wegen dir dort."

"Hm?" Kais Finger waren derart klamm, dass er die Schlüssel nicht vernünftig ins Schloss bekam. Kai bereute eh schon den ganzen Weg, dass er nicht schon seine Winterjacke angezogen hatte.

"Na," Bardo nahm Kai den Schlüssel aus den zitternden Fingern und schloss die Haustür auf. "Ich hab schon so lang keine Zeit mehr gehabt, mal mit dir zu reden, oder nur so was zu machen. Du hattest ja Recht, vorhin. Pax wusste vor dir von Artur. Das war nicht richtig."

Misstrauisch studierte Kai das Bambi. Aber es stimmte. Das Bambi hatte Kai auch schon gefehlt. Müde überlegte Kai, ob er seinem Freund das sagen sollte, oder ob er damit dann falsche Hoffnungen weckte, die schlummern mussten, wenn sie weiter gut auskommen wollten. Statt einem Outing in Sachen Freundschaft fragte er mürrisch: "Reden? Worüber?"

"So über alles irgendwie." Bardo hob die Schultern, dann lief er mühelos die Treppen hoch: "Einfach so." Der Blick der Rehaugen huschte über Kais Gesicht, dann auf die Stufen zurück.

"Bambi, was hast du angestellt?" Genervt stellte Kai fest, dass er etwas beim Sprechen keuchte. Wurde echt Zeit, dass er sich dienstags wieder zum Unisport zu quälen begann.

Sie erreichten die Wohnungstür und Kais Finger waren soweit aufgetaut, dass er sie problemlos selber öffnen konnte. Schweigend zogen sie im Flur die Schuhe von den Füßen und hängten die feuchten Jacken auf. Kai winkte Bardo: "Komm... Glühwein oder so muss jetzt sein. Ich friere vielleicht!"

Großzügig stellte Kai zwei Becher Glühwein her, einen mit Schuss Orangensaft und weniger Wein für Bardo, einen mit extra Schuss Rum für sich selber, beide mit fertigem ekelsüßen Glühwein aus dem Karton.

Er ließ die Becher in der Mikrowelle drehen und zog sich im Schlafzimmer die klammen Sachen aus. Mit einer Schlafanzughose und Jans dickem, grünen Pullover fühlte er sich dann dem Bambi und dem nasskalten Abend gewappnet.

Bardo hatte den Glühwein für sie beide auf ihren Esstisch gestellt und war über den Keksteller von ihrer Lernsession am Vortag hergefallen, aber Kai nahm sich seinen Becher, startete Jans Musikprogramm und ließ sich auf dem Sofa nieder. Nach kurzem Zögern folgte Bardo ihm.

"Artur meinte, dass wir nur so geknutscht haben", murmelte er nachdenklich, den Blick in die dunkle, dampfende Flüssigkeit gerichtet.

"Ja. Das passiert." Kai nippte am Glühwein. Ehrlich gesagt passierte so etwas sogar deprimierend häufig, wenn er so an die letzten Studentenpartys dachte. Ihm fiel ein, dass Nadine und Thilo nach der Knutscherei im Spätsommer auch kein Paar geworden waren. "Vor allem mit Alkohol passiert vielen das. Ist nicht mal nur bei Schwulen so", führte er aus und berichtete Bardo vom schönen Thilo.

"Hm. Aber... das ist nicht das Problem", meinte Bardo endlich und nippte noch einmal vom Becher, dann stellte er ihn rasch fort und verschränkte die Arme: "Artur meinte, dass ich man besser noch mal mehr üben sollte!" Entrüstet blickte er Kai an: "Der klang wie meine Cello-Lehrerin!"

"Hm. Kritik. Abturnend auch noch. Wie war er denn so?"

Bardo blinzelte und hob unsicher die Schultern: "Keine Ahnung, so ganz normal halt...". Bardo blinzelte Kai an: "Oh, oh ja! Jetzt verstehe ich! Der Artur war nicht gut, richtig?"

Kai grinste in seinen Becher: "Der Artur muss schlecht gewesen sein, wenn du sowas wie 'normal' sagst. Klingt wie labberig, oder lahm." Kai dachte kurz an seine Knutschereien mit Jan. 'So normal' würde er dazu nie sagen. Eher lecker, scharf, machte Lust auf mehr, viel mehr, es machte Kai den Kopf leer und sehr rasch vollkommen geil, wenn Jan ihn knutschte und es ernst meinte. Diese Erinnerungen brachten ihm die Eingebung: "Warste denn geil?"

"Geil?"

"Na, in der Hose, war da was los? In deinem Alter müsste das doch dauernd der Fall sein."

Unglücklich schüttelte Bambi den Kopf.

"Dann war es auch nur 'so normal', Bardo, wenn überhaupt. Das klingt gar nicht heiß oder scharf. Außerdem musste dann wohl doch selber auch noch mal mehr üben, was?"

"Ja, aber ich hab doch schon etwas Übung. Immerhin küssen wir uns..." Er sah Kais Blick und hob eine Hand. "Hin und wieder, nur als Freunde!", versicherte er hastig und errötete.

"Ja. Hin und wieder. Und nur als Freunde! Das ist doch das, was ich meinte. Du musst eben üben, nicht nur als Freunde zu knutschen. Such aber besser mal wen, der mehr Ahnung hat als dieser abturnende 'so normale' Artur, mein Lieber." Kai trank noch einen Schluck Glühwein, Bambi starrte ihn weiter an. "Willst du mir irgendwas sagen?"

"Nee... nur, bin ich echt so schlecht?"

Kai blinzelte, weil sich das schlanke Gesicht mit den lustigen Sommersprossen vom letzten Sommer mit einem mal derart besorgt zeigte. Sonst war Bardo doch in diesen Dingen immer von einer nervigen Ruhe und Selbstsicherheit gekennzeichnet, die Kai in seinem Alter sehr gern gehabt hätte. Endlich wurde Kai klar, dass Bardo ernstlich eine Antwort wollte und sich nicht nur über Artur, den unhöflichen Schlechtküsser, ärgerte.

"Nein. Du küsst nicht schlecht... für das, was wir immer machen."

"Was wir machen?"

"Na, so nur zur Begrüßung und beim Abschied eben." Kai nippte seinen Glühwein und spürte die Hitze vom Alkohol. Er stellte den Becher neben Bardos auf den Couchtisch. "Das ist ja nicht Knutschen wie wenn man es ernst meint."

"Hm. Ohne Zunge meinst du, oder?"

"Sowieso!" Kai beäugte das Bambi, dann stupste er ihn mit dem Ellenbogen an. "Hey, das machste aber gut, wenn es um meine Meinung geht."

"Hm."

Genervt blickte Kai das Bambi weiter an. "Bitte sag jetzt nicht, dass wir knutschen müssen, nur um dein angekratztes Teenager-Ego wieder auf Vordermann zu bringen."

Hoffnungsvoll hob Bardo den Blick, aber die Türklingel unterbrach sie in diesem Moment und rettete Kai vor einem Erziehungsausbruch. Hastig hechtete er aus dem Sofa hoch und in Richtung Flur. Er hoffte sehr, dass es Jan war, der nur den Schlüssel vergessen oder verkramt hatte, aber natürlich versorgte das Schicksal ihn mit Lolli und der Meierschen, angetrunken und frierend. Außerdem mit der Party unzufrieden. Zu lahm, zu brav, zu wenig Drogen oder hübsche Männer. Hinter ihnen her trabte dazu noch Henri, die Sexplage, in ihre Wohnung.

Misstrauisch starrte Kai ihn an. Quirlig, fröhlich, mit geflickter Jeans und einem buntgeringelten Ökopulli bekleidet und irgendwie weder eingeladen noch erwartet. "Können wir was für dich tun?" Ganz deutlich konnte Kai sein 'Hau ab' heraushören. Henri leider nicht. Der grinste ihn nur lustig an.

"Kai", es klang nachsichtig. Henri war auf Strümpfen zu ihnen hoch gelaufen gekommen und brauchte nicht einmal die Schuhe ausziehen wie Lolli und Carl, so dass er noch vor ihnen in das Wohnzimmer gelangte. "Und der hübsche Junge mit dem Cello ist da! Du bist ja schon wieder gewachsen!", rief Henri fröhlich aus, was Bardo vermutlich den letzten Rest Selbstwert raubte.

"Du brauchst mich, hab ich gehört", wandte er sich dann an Kai und kniete sich auf einen Barhocker, um mit ausgebreiteten Armen dort zu balancieren.

Nervös dachte Kai an seine Panikattacke zurück und daran, dass Lukas ihn sicherlich an Henri verraten und verkauft hatte.

Lolli kam allerdings ins Wohnzimmer getrabt und verlangte lautstark nach einem Strip, um seine Stimmung zu heben. "Ihr Lieben! Ich gehe nie wieder auf eine Babyeinweihungsfeier! Das kratzt ja meinen Style an, sag ich euch. Her mit der nackten Haut, Henri!"

Henri lachte, und zog sich schamlos mit den Hüften kreisend den Pulli hoch, zeigte für einen Augenblick seinen trainierten Bauch, aber ließ den Pulli dann wieder fallen. "Ich bin für Kaichen hier. Habt ihr nicht irgendwas anderes vor an so einem schönen Abend?"

Lollis Blick pendelte neugierig zwischen Kai und Henri hin und her, dann sah er zur Uhr am Backofen. Carl kicherte und begann die Küche etwas aufzuräumen, die nach seiner Kochaktion vollkommen zugemüllt war. "Nee, zu früh für Subzero. Eckchen hat vermutlich schon die letzten Leichen rausgekehrt, Express ist mir zu teuer geworden. Wir nehmen hier ein Proseccöchen für den Weg, dann lassen wir euch in Ruhe perverse Spiele treiben."

"Perverse...." Kai stemmte eine Faust in die Hüfte, bemerkte einen Hauch zu spät, wie schwul das wirkte und ließ die Hand rasch wieder fallen.

Er holte Luft, aber Henri kam ihm zuvor. "Mit dem Kindergarten dabei mach ich nix über sechszehn", versprach er ernsthaft und plinkerte Bardo an.

Vollkommen deprimiert ließ Bardo den Kopf auf den Unterarm sinken und stöhnte leise.

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